Fallen Queen

Fallen Queen

Ein Spiegel weiß wie Schnee

Ana Woods

Drachenmond Verlag

Für alle Träumer,

die an den Zauber des Sternenhimmels glauben!

Egal, wie schwer der Weg auch sein mag,

verliert nie den Glauben und die Hoffnung.

Lasst eure Träume Wirklichkeit werden!

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

Die Liebe ist das großartigste Gefühl der Welt, das einen Grenzen überschreiten und vor Glück erblühen lässt. Man fühlt sich stark und könnte nach den Sternen greifen. Dass die Liebe das wertvollste Gut der Welt sei, hat man mir oft erzählt, als ich noch jünger war. Meine Eltern pflegten stets zu sagen, dass die Menschen nichts ohne dieses Gefühl seien und dass man nur lebendig und frei sein kann, wenn man einmal in seinem Leben von ganzem Herzen geliebt hat.

Doch niemals hat jemand die Schattenseiten der Liebe erwähnt. Der unsägliche Schmerz, der einem das Mark aus den Knochen saugt und das Atmen schwer macht. Krampfhaft versucht man sein Herz zu verschließen und die Gefühle darin zu ersticken, bis sie sich schlussendlich wieder in Luft auflösen. Aber ist die Liebe zu stark, zehrt sie an der Seele und man wird von ihr unweigerlich in die tiefe Dunkelheit gerissen. Aber trotz der Finsternis macht die Liebe nicht blind, denn nur wer wirklich liebt, sieht das hell leuchtende Licht in der Ferne – Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird. Dass aus dem Solo doch noch ein Duett wird und der Klang, den es davonträgt, nie verstummen wird.

Ein einziger Blick in seine Augen verriet mir, dass es das wert war. Er war es wert, all den Kummer und den Schmerz zu ertragen. Denn das, was ich für ihn empfand, war eine tiefe und niemals endende Liebe, für die sich das Kämpfen lohnte.

Kapitel Eins

Dort war nichts. Nichts, außer der alles verschlingenden Finsternis, die mich gefangen hielt. Aus der es für mich kein Entkommen gab. Flammen knisterten um mich herum und ihre sprühenden Funken drohten, mir stückchenweise das Fleisch von den Knochen zu brennen. Alles in mir brannte. Mein Herz zerbarst in tausend Teile und lag nun vor mir wie der Scherbenhaufen eines zerbrochenen Spiegels. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Wusste nicht, wo ich mich befand. Ich konnte nichts sehen. Nichts, außer das dunkle Schwarz.

Leere. Stille. Einsamkeit.

Verzweifelt versuchte ich gegen die Dunkelheit und die innere Ruhelosigkeit anzukämpfen, doch es gelang mir nicht. Ich wollte schreien, doch aus meinem Mund drang kein Laut. Ich wollte weinen, doch die Tränen kamen nicht.

Alles schien zu rauschen. Aber die Geräusche kamen aus weiter Ferne und es gelang ihnen nicht, zu mir durchzudringen. Ich fühlte mich wie versteinert. Meine Arme und Beine wollten mir nicht mehr gehorchen und meine Gedanken kreisten nur um eines.

»Nerina.« Die vertraute Stimme riss mich endlich aus der Schwärze und brachte mich zurück ins Hier und Jetzt. In die Realität, in der Jalmari als kümmerliche und verdreckte Gestalt vor mir am Lagerfeuer saß und mir noch immer tief in die Augen schaute. Das Leuchten, das sie einst bargen, war verblasst, wenn nicht gar verschwunden. Nichtsdestotrotz konnte ich noch immer seine Gefühle aus dem hellen Blau herauslesen. Er wirkte traurig, aber in seinem Blick lagen ebenso Freude und Furcht zugleich. Ich wollte auf ihn zugehen, doch mein Körper verweigerte mir weiterhin den Dienst.

»Nerina!« Es war die gleiche Stimme, die mich eben bereits erreicht hatte. Langsam drehte ich meinen Kopf in ihre Richtung und sah Tero an. Sorgenfalten umspielten seine Augenwinkel. Ich vernahm das leise Tuscheln der anderen im Hintergrund, mein Prinz jedoch sprach noch immer kein Wort.

Meine Beine zitterten, als ich vorsichtig versuchte, einen Schritt vor den anderen zu setzen, um auf Jalmari zuzugehen. Dabei ließ er seinen Blick nicht einen einzigen Moment von mir gleiten.

Es tat mir in der Seele weh, den einst so stolzen Mann in einer so schrecklichen Verfassung zu sehen. Er erinnerte mich ein kleines bisschen an die Schattenwesen, von denen die anderen mir erzählt hatten. Die Wesen, die nicht mehr als ein Schatten ihres alten Selbst waren. Genau so konnte man auch Jalmari beschreiben. Sein Gesicht war zwar von einem ungepflegten Bart bedeckt, doch erkannte ich bei genauerer Betrachtung, wie eingefallen es wirklich war. Es schien, als wäre er binnen kürzester Zeit um Jahre gealtert. Alles an ihm wirkte fahl und auch das Strahlen, das ihn stets umgeben hatte, war verblasst.

Trotzdem erkannte ich in ihm den Prinzen, in den ich mich damals Hals über Kopf verliebt hatte. Den Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens teilen und eine Familie gründen wollte.

Nur noch wenige Schritte trennten mich von ihm und langsam stiegen die Tränen empor, die vor einigen Augenblicken noch nicht kommen wollten. Niemals in meinem Leben hätte ich damit gerechnet, ihn wiederzusehen, ihn wieder in meine Arme schließen und mit Küssen übersäen zu können. Jalmari nun vor mir zu haben, war wie ein wahr gewordener Traum, den ich noch immer nicht ganz begreifen konnte.

Ich strahlte über das ganze Gesicht. Vollkommen gleich, wie er hierhergekommen war, es machte mich überglücklich. Als ich endlich vor ihm stand, streckte ich langsam meine Hand aus. In mir breitete sich der Drang aus, ihn zu berühren. Doch hatte ich ebenso Angst davor, dass eine Berührung ihn zu Staub zerfallen lassen würde und der Wind die Partikel in alle Himmelsrichtungen mit sich riss.

Jalmari blinzelte ein paar Mal unbeholfen, so als schiene er nicht sicher zu sein, wie er mit unserer Situation umgehen sollte. Ich versuchte ihm mit meinem Lächeln zu signalisieren, dass er keine Angst zu haben brauchte. Dass ich für ihn da war und ihn nicht verlassen würde.

»Stopp, Nerina!«, schrie Kasim inbrünstig und schlug meinen Arm zur Seite, bevor ich Jalmari mit den Fingerspitzen berühren konnte. Dieser zuckte zusammen und blickte unsicher zwischen Kasim und mir hin und her.

»Was ist los?«, fragte ich verwirrt. Kasim schaute mich zornig an. Im sanften Schein der Flammen wirkten seine dunklen Augen noch angsteinflößender, als sie es sonst immer taten. Wut loderte in ihnen und gab mir das Gefühl, dass nur ein einziges falsches Wort genügte, um das Feuer aus dem Schwarz ausbrechen zu lassen und mich zu verschlingen.

»Findest du es nicht ein kleines bisschen seltsam, dass der Prinz, der eigentlich tot sein sollte, genau hier auftaucht, wenn wir aufbrechen wollen? Wo kommt er her? Wo war er die ganze Zeit? Und wieso ist er nicht tot, verdammt?« Ich konnte nachvollziehen, dass es den anderen etwas merkwürdig erschien. Natürlich überschlugen sich auch in meinem Kopf jene Fragen. Am liebsten hätte ich Jalmari augenblicklich geschüttelt und gefragt, wo er all die Zeit gewesen war, was er im vergangenen Jahr durchlebt hatte und wie es sein konnte, dass er noch lebte. Doch vor mir kauerte eine verängstigte Gestalt, umzingelt von Fremden, die alle ein wachsames und misstrauisches Auge auf ihn warfen. Fremde, die sich sein plötzliches Auftauchen nicht erklären konnten. Es war verständlich, weshalb die Reaktion meiner Freunde nicht so freudig ausfiel wie die meine, dennoch mussten wir Jalmari erst ein wenig Vertrauen entgegenbringen, ehe wir mit Antworten seinerseits würden rechnen können.

Asante trat aus den Schatten und stellte sich an meine Seite. »Er hat recht, Nerina. Wir müssen erst sichergehen, dass es sich bei diesem Mann wirklich um den echten Prinzen handelt.«

Es war eine Sache, Jalmari nicht zu vertrauen, doch eine vollkommen andere, zu denken, es könne sich nicht um den echten Prinzen von Lenjas handeln. Es fiel mir schwer, ein Augenrollen zu verkneifen, da mir die Reaktion etwas lächerlich erschien. Dennoch war die Neugierde groß genug, um mich mit zusammengezogenen Augenbrauen vor Asante aufzurichten und ihn fragend anzuschauen.

»Denkst du nicht, ich würde Jalmari erkennen, wenn er vor mir steht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Mann der Prinz ist.« Weder Asante noch die anderen waren von meiner Erklärung überzeugt. »Schaut ihn euch doch einmal genauer an. Ist es nicht eindeutig, dass es ihm nicht gut geht? Ich verstehe euer Misstrauen durchaus, aber wir müssen ihm helfen. Dann können wir all die Fragen stellen, die uns auf der Zunge brennen.«

Der Anführer schaute mich traurig an und legte mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. Mein Körper bebte mittlerweile vor Aufregung.

»Wir können ihn noch nicht mit ins Haus nehmen«, begann Asante mit gebieterischer Stimme. »Erst müssen wir überprüfen, ob er noch … menschlich ist.«

Ein leises Lachen entfuhr mir und ich schüttelte ungläubig den Kopf. Langsam fühlte ich mich auf den Arm genommen. Ein flüchtiger Blick zu den anderen machte mir allerdings bewusst, dass Asante wohl keineswegs zu Scherzen aufgelegt war.

»Wie meinst du das? Was sollte er denn sonst sein?«

»Ein Saugergeist«, kam es flüsternd von Ode.

Ich wusste zwar nicht, was ein Saugergeist war, es klang allerdings fürchterlich und jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Unruhig ließ ich meinen Blick schweifen. Dabei traf er auf Tero.

Tero! In diesem Moment fühlte ich mich grausam, so als hätte ich den Jäger hintergangen. Er sah unglaublich verletzt aus. Ich hatte ihm das Herz, das er mir noch vor wenigen Minuten unwiderruflich geschenkt hatte, gebrochen. Schlagartig verringerte sich meine Freude über Jalmaris Wiederkehr, denn Teros schmerzverzerrter Gesichtsausdruck trieb mir die Tränen in die Augen.

Wie konnte ich nur so unbedacht sein? Der Jäger musste in der Vergangenheit unglaublich viele Grausamkeiten über sich ergehen lassen, hatte viel Trauer zu verarbeiten gehabt. Es hat lange gedauert, ehe er sich einem Menschen wieder voll und ganz öffnen und sein Herz wieder voller Vertrauen in die Hände einer Frau legen konnte. Nun hatte ich ihn vor den Kopf gestoßen und er musste denken, dass ich mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Meine Zuneigung für Tero war wahrhaftig und greifbar, aber auch meine Liebe für Jalmari war noch nicht erloschen.

Das Feuer tobte in meinem Inneren und mein Herz spielte verrückt. Ich hatte dem Prinzen ewige Treue versprochen, in dem Augenblick, in dem er mir den Verlobungsring an den Finger gesteckt hatte. Nun sehnte ich mich danach, mich in Teros starke Arme zu schmiegen, aber auch danach, Jalmari mit Küssen zu bedecken.

Es lag an mir, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die mir schwererfiel als alles andere auf der Welt. Ich musste in mich gehen, darüber nachdenken, was ich wollte. Vor allem, wen ich wollte. Jalmari war meine Vergangenheit – konnte er auch meine Zukunft sein? Das würde allerdings bedeuten, dass ich mich von Tero abwenden musste. Es war eine Entscheidung, die vielleicht mein restliches Leben beeinflusste, weshalb ich sie nicht leichtfertig treffen durfte. Also entschied ich, mich vorerst nicht zu entscheiden.

Ich blickte zwischen beiden Männern hin und her und kehrte einem von ihnen für den Moment den Rücken. Hinter mir vernahm ich einen resignierten Seufzer, als ich mich wieder an den tot geglaubten Prinzen wandte.

»Was genau sind Saugergeister?«, fragte ich an Ode gerichtet. Allein das Wort ließ ihn schaudernd zusammenfahren.

Angsterfüllt schaute er mich an. »Blutleere Untote, die die Lebenden heimsuchen und ihnen das Leben aus den Körpern saugen.«

Meine Augen weiteten sich vor Schock.

»Meistens steigen sie aus ihren Gräbern empor, um sich an einem Lebenden, der ihnen Unrecht getan hat, zu rächen. Allerdings gibt es ein Problem. Man kann auf den ersten Blick nicht sehen, ob es sich um einen Saugergeist handelt. Das weiß man erst, wenn man es getestet hat«, erklärte nun Desya.

»Wie soll man das testen?«, wollte ich wissen.

»Man muss ihm ins Fleisch schneiden. Da Saugergeister blutleere Kreaturen sind, dürfte bei ihnen kein Blut aus einer ihnen zugefügten Wunde tropfen. Sollten sie sich allerdings gerade erst am Körper eines Lebenden bedient haben, ist es dennoch möglich, sie für einen Menschen zu halten. Deshalb muss man mit der Klinge schön tief ins Fleisch schneiden. Hört die Wunde nach kurzer Zeit zu bluten auf, haben wir vermutlich einen Saugergeist vor uns.« Während sie weitersprach, funkelte Desya Jalmari wütend an. Es sah ihr nicht ähnlich, eine solche Wut auf jemand anderen zu verspüren. Ich habe sie damals als jemanden kennengelernt, der in anderen Menschen stets das Gute sah, sich weder von Äußerlichkeiten noch von Fehlverhalten blenden ließ. Desya glaubte an zweite Chancen und versuchte immer hinter die Fassade einer Person zu blicken. Als Tero und ich zu unserer Gruppe gestoßen waren, vertraute Desya uns. Und als es darum ging, über die Zukunft zu entscheiden, stand sie mir ohne zu zögern zur Seite, wollte für mich kämpfen und, wenn nötig, für mich sterben. Weshalb sie es also auf den Prinzen abgesehen hatte, war mir schleierhaft.

Nun traten auch die anderen langsam auf uns zu – in ihren Blicken lag purer Hass und sie alle griffen bereits nach ihren Waffen. Der Prinz schaute sie nacheinander ängstlich an. Hinter ihm begann der finstere Wald, es gab keinen Ort, an den er hätte fliehen können. Instinktiv sprang ich vor ihn und breitete schützend meine Arme aus.

»Seid ihr plötzlich verrückt geworden?« Ich versuchte sie mit einem wütenden Blick zurückzudrängen.

»Nerina, geh bitte aus dem Weg, bevor er dich noch angreift.« Laresa schaute mich flehend an, doch ich schüttelte bloß den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass sie wie wilde Bestien gemeinsam auf Jalmari losgingen, der kraftlos war und sich nicht wehren konnte. Wieso konnten sie nicht sehen, dass es ihm nicht gut ging? Er war eindeutig menschlich.

»Keiner von euch rührt ihn an. Gebt mir ein Messer«, sagte ich in die Runde und streckte meine Hand aus. Sie verharrten reglos auf ihren Positionen. Schließlich trat Tero nach vorne und reichte mir eines seiner kleineren Messer. Ich nickte ihm zu und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Doch anstatt es zu erwidern, drehte er sich wortlos um und verschwand wieder hinter den anderen.

Jalmari ließ seinen Blick schweifen und starrte auf die Klinge, die nun in meiner rechten Hand lag. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Behutsam legte ich meine Linke auf sein zitterndes Knie und fixierte seine Augen, die mich auf der Stelle wieder in ihren Bann zogen.

»Gib mir bitte deinen Arm«, flüsterte ich. Zwar schaute er mich an, zögerte allerdings. »Bitte, Jalmari, du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

Er öffnete seine Lippen einen Spaltbreit. »Habe ich nicht.« Seine Stimme war heiser, kaum mehr als ein leises Krächzen. Nachdem er die Worte gesprochen hatte, begann er zu husten. Er hob seine Hand, um sich damit den Mund zu verdecken, wobei die alte Wolldecke, die um seine Schultern lag, herunterrutschte und sich mir ein Blick auf sein zerrissenes Oberteil bot. Unwillkürlich sog ich scharf die Luft zwischen meinen Zähnen ein, als das zarte Licht der Flammen auf seinen Arm fiel.

Das Messer glitt mir aus der zitternden Hand und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem erdigen Boden. Mit einer schnellen Handbewegung zog ich den Stoff hoch. Vor mir offenbarte sich der Blick auf unzählige, schlecht verheilte Narben. Mit den Augen suchte ich Jalmaris restlichen Körper ab und zog das Oberteil an seiner Brust zur Seite. Auch hier bot sich ein ähnlicher Anblick. Der Prinz war übersät von frischen, offenen Wunden. Einer der Schnitte an seinem Brustkorb ließ mich erschaudern. Eine dünne Schorfschicht hatte sich gebildet, doch dickflüssiger Eiter bahnte sich den Weg an die Oberfläche der nässenden Wunde.

»Oh nein. Was ist mit dir geschehen?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Jalmari sah mich schmerzverzerrt an und senkte den Kopf. Langsam griff ich wieder nach dem Messer, das ich hatte zu Boden fallen lassen. Ich wischte die verschmutzte Klinge an meiner Hose ab, ehe ich sie wieder auf den Prinzen richtete. Meine Hand zitterte, als ich sie ungeschickt an seinen Unterarm führte. Was auch immer ihm im vergangenen Jahr zugestoßen war, es musste grausam gewesen sein. Und nun musste ich ihm erneut Schmerzen zufügen. Heiße Tränen rannen über meine Wangen, als ich die Schneide an seiner Haut ansetzte.

»Es tut mir so leid«, sprach ich, während ich ihm das Messer immer tiefer ins Fleisch drückte und eine neue zukünftige Narbe verursachte. Ich presste meine Augen fest zusammen, sodass ich nur schemenhaft erkennen konnte, was ich da tat. Ich konnte Jalmaris Anblick nicht ertragen. Seine gequälten Laute mit anzuhören war grauenvoll genug.

Erst als der rostige Geruch von Blut in meine Nasenhöhlen stieg und sich festsetzte, ließ ich das Messer zitternd auf den Boden gleiten und wagte es, die Augen wieder vollständig zu öffnen. Jalmari hielt seine Zähne zusammengepresst und sein Gesicht glänzte vom Schweiß. Es war allzu deutlich, unter welch großen Schmerzen er zu leiden hatte, doch er versuchte, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen. So war mein Prinz schon immer gewesen – niemals würde er freiwillig Schwäche zeigen.

Dunkles Blut floss aus der tiefen Wunde, die nun in seinem Arm prangte. Ich riss mir meinen Mantel vom Leib und wickelte dessen Ärmel so fest wie möglich um den Schnitt, um die Blutung so gut es ging zu stoppen. Auf der Stelle färbte der beigefarbene Stoff sich dunkelrot.

»Könnt ihr ihm jetzt vielleicht endlich helfen? Ihr habt schließlich gesehen, dass er durchaus menschlich ist!«, fauchte ich die anderen an, die noch immer regungslos in einiger Entfernung hinter mir standen. Vorsichtig legte ich seinen gesunden Arm um meine Schulter und versuchte ihm aufzuhelfen. Doch trotz der Tatsache, dass Jalmari nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, war er zu schwer, als dass ich ihn hätte allein hochheben können. Seine Beine waren zittrig, sodass er mir nicht entgegenkommen konnte. Als seine Knie einknickten, fiel er unsanft zu Boden und gab erneut einen gequälten Laut von sich.

»Wirklich, Leute?« Zu meinem Erstaunen war es Tero, der mir nun zu Hilfe eilte und sich augenrollend hinhockte, um Jalmari anzuheben. Widerwillig trat ich einen Schritt zur Seite und sah dabei zu, wie der Jäger sich den Mann, den er im Moment vermutlich mehr hasste als jeden anderen, über seine Schulter warf und mit ihm in Richtung Haus schritt. Schnell folgte ich ihm und kurz darauf liefen auch die anderen zurück hinein.

Tero schmiss Jalmari eher unsanft auf eines der Betten, aber ich verkniff mir einen Kommentar. Ich konnte es ihm schließlich nicht wirklich verübeln, dass er über die Anwesenheit des Prinzen nicht sehr erfreut war.

»Danke«, sagte ich an ihn gewandt, aber Tero zuckte lediglich mit den Schultern, ehe er den Schlafsaal verließ. Kurz darauf fiel die Eingangstür scheppernd ins Schloss.

Mit ein paar schnellen Handgriffen verarztete Asante den Arm des Prinzen. Er entfernte sein Oberteil gänzlich und begutachtete auch die anderen Narben und Wunden, die sich über seinen kompletten Oberkörper zogen. Der Anführer rührte irgendwelche Zutaten zusammen und verschmierte die bräunliche Paste auf Jalmaris nackter Haut.

»Was ist das?«

»Ach, nur ein Wundheilmittel. Einige der Narben sind noch relativ frisch und teilweise aufgekratzt. Ich hoffe, dass ich damit wenigstens ein bisschen retten kann«, erwiderte Asante nachdenklich. Dabei fuhr er über einige der Striemen, die Jalmaris Brustkorb zierten. Ich beobachtete das gleichmäßige Heben und Senken, wobei mir auffiel, dass er bereits in eine Bewusstlosigkeit gefallen war.

»Was glaubst du, wie ihm all diese Wunden zugefügt wurden?« Sein schlimm zugerichteter Zustand bereitete mir ernsthaft Sorgen.

»Hmm, ich bin mir nicht sicher. Der Schnitt deutet auf jeden Fall auf einen Messerstich hin. An seinem Rücken konnte ich einige verschorfte Striemen ausmachen, als wäre er ausgepeitscht worden. Und hier«, er zeigte auf eine Stelle am rechten Oberarm, »das sieht aus, als hätte man ihn gebrandmarkt.«

Ich kniff meine Augen zu einem kleinen Spalt zusammen. Mehr als ein großer, verkohlter Fleck war nicht zu erkennen. So als wurde ihm wahllos ein Stück Fleisch aus dem Arm gebrannt. Es mussten Monster am Werk gewesen sein. Kein Mensch bei klarem Verstand würde jemandem so etwas antun.

»Wir können ihn nicht einfach hierlassen.« Valeria sprach genau das aus, was auch ich dachte. In wenigen Tagen wollten wir aufbrechen, um das Schattenreich zu durchqueren und in das Feenreich zu gelangen. Doch Jalmari war nicht in der Verfassung, eine solche Reise anzutreten. Allerdings konnten wir es uns auch nicht erlauben, einen von uns zurückzulassen, um den Prinzen zu versorgen. Wir brauchten jedes Schwert im Kampf gegen die Gefahren des düsteren Ortes.

»Ich würde vorschlagen, dass wir ein bisschen später abreisen. In zehn Tagen kriegen wir den Burschen schon wieder halbwegs auf die Beine und dann kann er sich entscheiden, ob er lieber wie ein Feigling hierbleiben oder uns begleiten will.« Ich warf Kasim einen bösen Blick zu. Jalmari war vieles, aber ganz sicher kein Feigling.

»So machen wir es«, beschloss Asante und ich nickte im Einverständnis. »Und nun sollten wir uns schlafen legen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht.«

Er stand auf und lief in den Waschraum. Einen kurzen Moment noch blieb ich an der Seite meines wiedergefundenen Prinzen sitzen und betrachtete ihn. Dabei strich ich ihm sanft mit meiner Hand durch sein verklebtes Haar. Noch immer war er wunderschön, trotz der Wunden, die nun seinen Körper zierten.

Als Valeria, Kasim, Asante und Resa sich in ihre Betten gleiten ließen, verließ ich widerwillig den Schlafsaal. Ich war im Moment nicht müde. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, sodass ich hellwach war und unzählige Gedanken in meinem Kopf umherkreisten.

In der Küche fand ich die anderen drei, die mich neugierig musterten. Ich kochte mir etwas Wasser auf, gab einige Kräuter hinzu und ließ mich anschließend auf einem hölzernen Stuhl am Esstisch nieder.

»Wie geht es ihm?«, fragte Eggi sichtlich mitgenommen. Ich schüttelte bloß leicht den Kopf.

»Nicht sehr gut. Wir reisen erst in zehn Tagen ab, um Jalmari vorher noch etwas auf die Beine zu bringen. In seinem Zustand können wir ihn hier nicht einfach liegen lassen«, murmelte ich mit den Lippen an dem heißen Becher.

»Das ist wohl am besten so«, sagte Desya sanftmütig. »Wir haben schließlich genug Zeit, um ins Feenreich zu kommen.« Sie lächelte mir aufmunternd zu. Ihre vorherige Wut auf den Prinzen war wie weggeblasen. Als hätte sie meine Gedanken lesen können, schaute Desya entschuldigend zu mir und räusperte sich verlegen.

»Du brauchst nichts zu sagen«, versicherte ich ihr.

»Doch«, beharrte sie. »Mein Verhalten vorhin tut mir leid. Es liegt an der Anspannung, auch wenn das keine Entschuldigung ist. Jalmari ist sicherlich ein guter Mensch und meine Wut hat sich nicht gegen ihn gerichtet, sondern gegen die Kreaturen des Schattenreiches.«

»Das verstehe ich.« Einen Augenblick hatte Desya gedacht, dass es sich bei dem Prinzen um ein Schattenwesen handelte. Ein Wesen, das vor ihr saß, auf das sie all ihre Wut richten konnte. Das konnte ich ihr nicht verübeln.

Gedankenverloren schaute ich mich im Raum um. Ode schien meinen mitgenommenen Blick zu bemerken, von dem ich selbst nicht genau wusste, woher er rührte. »Vielleicht solltest du mal mit ihm reden?« Er neigte seinen Kopf in Richtung Tür, doch ich tat, als wisse ich nicht, wovon er sprach.

»Komm schon, Nerina. Das bist du ihm schuldig. Du hast ihn ziemlich vor den Kopf gestoßen. Ich kann das völlig verstehen, schließlich ist der Prinz deine erste große Liebe, aber was glaubst du, wie Tero sich jetzt fühlen muss?« Ode versuchte mich davon zu überzeugen, mit Tero zu sprechen, und einerseits wusste ich, dass er recht hatte, andererseits schämte ich mich viel zu sehr, um ihm unter die Augen zu treten.

»Du hast ja recht«, gab ich widerstrebend zu. »Aber was soll ich ihm denn sagen?«

»Dass es dir leidtut, wäre wohl der logischste Anfang für eure Unterhaltung«, sagte nun Eggi. »Er wird es schon verstehen.«

Ich schaute die drei an, die mir lächelnd Mut zusprachen. Desya hob grinsend beide Daumen in die Höhe und brachte mich damit zum Lachen. Noch einmal nippte ich an meinem Tee, ehe ich den Becher auf dem Tisch abstellte und mich von meinem Stuhl erhob.

»Wünscht mir Glück«, waren meine letzten Worte, bevor ich die Eingangstür öffnete und mitsamt Fackel in die kühle Nacht schritt.

Kapitel Zwei

Eine sanfte Brise umschmeichelte mein Gesicht, während ich mit meinen Stiefeln über den weichen, erdigen Boden lief, um mich auf die Suche nach Tero zu begeben. Zwar konnte ich mir nicht sicher sein, wohin er gegangen war, doch mein Herz führte mich in eine ganz bestimmte Richtung. Ich war darauf bedacht, möglichst keinen Laut von mir zu geben, aus Angst, die Schattenwesen könnten in unmittelbarer Umgebung lauern, um mich zu ihnen in die Dunkelheit zu ziehen.

Dennoch lief ich schnell genug, sodass ich bereits nach einem kurzen Fußmarsch an der Bergkette angekommen war. Ich schaute auf den kleinen Pfad, der sich direkt vor mir erstreckte und zur Hochebene führte, auf der Tero und ich vorhin noch den Sternenhimmel beobachtet hatten. Es war kaum vorstellbar, dass dies erst eine Stunde zurücklag. Manchmal konnte eine Stunde eine kleine Ewigkeit andauern, unerwartete Wendungen bringen und ein komplettes Leben auf den Kopf stellen.

Mein Herz raste wie verrückt und während ich den Pfad langsam erklomm, versuchte ich mir bereits die passenden Worte im Kopf zurechtzulegen.

Ich wusste nicht, wie ich das Gespräch anfangen sollte und wollte mir nicht einmal ausmalen, wie verletzt Tero vermutlich noch immer war. So hatte ich mir das alles auch nicht vorgestellt. Ich war ihm eine Entschuldigung schuldig, das würde aber lange nicht ausreichen. Ich hoffte einfach inständig, dass er verstehen würde, dass ich über viele Dinge in der nächsten Zeit nachdenken musste. Ich musste meine Gefühle ordnen, das Chaos in meinem Inneren sortieren.

Jalmaris Auftauchen war nicht geplant gewesen – ich habe nicht gewollt, dass all dies geschah. Doch es war nun einmal geschehen und daran konnte ich nichts mehr ändern. Auch wenn das hieß, dass Tero vielleicht mit einem gebrochenen Herzen zurückgelassen würde.

Als ich auf der Hochebene ankam, kostete es mich nur wenige Augenblicke, um Tero ausfindig zu machen. Er saß einige Meter von mir entfernt auf dem Boden und drückte die Knie mit beiden Armen fest umschlungen an seine Brust. Den Kopf hatte er auf ihnen abgelegt und den Blick gen Himmel gewandt, dessen Dunkelheit bereits zu schwinden begann und der eine wunderschöne Farbkomposition annahm, die es mir schwer machte, wegzusehen.

Schritt für Schritt trat ich näher auf Tero zu. Als er mich kommen hörte, zuckte er in sich zusammen, kaum merklich, für mich allerdings deutlich sichtbar. Sein gesamter Körper verkrampfte sich und für mich stand fest, dass er sich wünschte, ich wäre nicht gekommen. Anstatt mich anzuschauen, hielt er seine Augen starr nach oben gerichtet, so als liefere er sich ein Blickduell mit den Sternen.

Ich rammte die Fackel in den Boden, setzte mich mit kleinem Abstand neben Tero und nahm dieselbe Position wie er ein. Eine Weile schwiegen wir beide und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Nicht nur für ihn war es eine schwierige Situation, auch mir brach es das Herz, ihn so sehen zu müssen. Er bedeutete mir unglaublich viel, das wusste er. Aber er wusste ebenfalls, dass ich Jalmari wahrhaftig geliebt hatte und es vielleicht auch heute noch tat. Und wahre Liebe war nicht vergänglich, oder?

Mit einem tiefen Seufzer wandte ich meinen Kopf zu Tero und schaute ihn an. Seine Augen waren glasig und versetzten mir prompt einen Stich mitten ins Herz. Die Lippen hatte er zu einem Spalt zusammengepresst und seine Augenbrauen zusammengezogen, als würde er über etwas ganz Bestimmtes nachdenken.

»Tero …«, begann ich zögerlich. Anstatt dass seine Gesichtszüge beim Klang seines Namens aus meinem Mund weicher wurden, verhärtete sich sein Ausdruck und er spannte seine Kiefermuskulatur an. Er sah aus, als wollte er mich am liebsten anschreien. Und genau das wünschte ich mir. Er sollte all seine Wut und all seinen Kummer herauslassen und mir die schlimmsten Dinge an den Kopf werfen. Ich würde es ertragen, sollte es ihm dabei helfen, sich besser zu fühlen.

Doch anstatt all jenes zu tun, stand er plötzlich auf und lief ein paar Mal gedankenverloren im Kreis, bevor er wieder nach oben blickte.

»Ich werde immer an deiner Seite sein, solange du die Erinnerung an mich nicht verlierst«, begann er flüsternd. Ich folgte seinem Blick und sah, dass er einen der Sterne am Himmel fixierte. »Ich werde die Sonne sein, die deine Haut erwärmt. Ich werde der Schatten sein, den du stets bei dir trägst. Ich werde das Flüstern im Wind sein. Und wenn du nachts in den Himmel schaust, dann werde ich der hellste Stern sein, der dir durch sein Strahlen den Weg aus der Dunkelheit weist. Trage mein Bild und die Erinnerungen an mich stets in deinem Herzen, Tero. Und denke immer daran, dass unsere Liebe dir Kraft spenden wird. Auch wenn ich nicht bei dir sein kann, so denke immer daran, welch großes Glück wir hatten, diese Liebe erfahren zu dürfen. Ich würde sie um nichts in der Welt missen wollen. Ich bleibe auf ewig ein Teil von dir.«

Als er sprach, nahm seine Stimme einen friedlichen Ton an, so als wäre all der Schrecken mit einem Mal hinfort getragen worden.

»Dort, schau«, wies er mich an und deutete auf einen der Sterne. Auf den hellsten.

Ein zartes Lächeln umspielte nun seine Lippen, während Tero sich mir zuwandte und mich ansah. Seine Augen nahmen mich gefangen. Ich wollte seinem Blick ausweichen, doch mir war, als starre er direkt in mein Innerstes.

»Ich hoffe, du weißt, wie sehr mir das alles leidtut«, begann ich zaghaft. »Meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert, nur weil Jalmari wiedergekehrt ist. Allerdings hoffe ich, dass du verstehst, dass ich mir über einiges klar werden muss. Tero, du bedeutest mir so unglaublich viel, das musst du mir glauben. Aber Jalmari … er lebt. Und das muss doch etwas zu bedeuten haben.« Ich senkte meinen Blick und meine Stimme bebte. Meine Worte waren wirr und ergaben vermutlich kaum einen Sinn. Allerdings wusste ich nicht, wie ich ihm den Sturm, der in mir tobte, begreiflich machen sollte. Es waren zu viele widersprüchliche Gefühle, die in mir wirbelten.

Vor wenigen Monaten noch dachte ich, dass man mir alles genommen hatte. Nun hatte ich alles, was ich mir jemals erträumt hatte, und noch so vieles mehr direkt vor mir.

»Ich bin dir nicht böse, Nerina«, begann Tero schließlich. »Ich kann dich verstehen. Wäre ich an deiner Stelle, dann würde ich nicht anders handeln. Wäre Tjana wieder von den Toten auferstanden, dann hätte ich keine Sekunde gezögert, sondern hätte sie sofort in meine Arme geschlossen.«

Seine Worte waren die Wahrheit. Dennoch schmerzte es, eine solche Wahrheit zu hören. Zu hören, dass man immer nur die zweite Wahl gewesen wäre. Und doch sagte Tero bloß das, was auch ich ihm eben an den Kopf geworfen hatte.

Er schaute mich an. »Natürlich war ich verletzt in der Sekunde, in der mir bewusst wurde, dass es für uns beide vermutlich niemals eine Zukunft geben wird. Aber das war nicht der Grund, weshalb ich gegangen bin«, erklärte er. »Als du realisiert hattest, dass es dein Prinz war, der vor dir saß, begannen deine Augen vor Freude zu glühen. Ich war eifersüchtig. Nicht darauf, dass dein Blick ihm galt, sondern weil du deine verloren geglaubte Liebe zurückerhalten hast. Dir wird eine zweite Chance gewährt, die du auskosten und in vollen Zügen genießen musst.«

Tero trat einige Schritte auf mich zu und nahm meine Hand, ehe er weitersprach. »Halte ihn fest, Nerina. Halte ihn und lasse ihn niemals wieder gehen. Ich würde alles dafür geben, nur noch einen einzigen Tag mit Tjana verbringen oder nur noch ein einziges Mal ihre Stimme hören zu dürfen. Du kannst all dies mit Jalmari nun erleben. Und gerade weil ich dich liebe, möchte ich, dass du glücklich bist. Denn dich glücklich zu sehen, verschafft auch mir einen inneren Frieden.«

Ich wünschte, Tero hätte mich einfach angeschrien. Wüste Beschimpfungen hätte ich ertragen, aber diese ehrlichen Worte schmerzten um so vieles mehr. Mit dem Segen des Jägers hatte ich nicht gerechnet und auch nicht damit, dass er mir Mut zusprechen würde. Hier stand er nun, ermunterte mich, mit Jalmari glücklich zu werden und die Zukunft auszuleben, die wir uns immer erträumt hatten.

»Ich danke dir«, murmelte ich, während ich mich mit Tränen in den Augen an seine Brust schmiegte. »Deine Worte bedeuten mir mehr, als du dir vorstellen kannst. Und diese machen es mir nicht gerade einfacher.«

»Wie meinst du das?«

»Wie soll ich entscheiden, wer von euch der richtige Mann für mich ist, wenn du es mir mit allem, was du sagst, so schwer machst?«

Als Tero begriff, was ich ihm damit sagte, entspannte sein Körper sich und er schenkte mir ein sanftmütiges Lächeln.

»Du willst nicht mit ihm zusammen sein?«

»Ich weiß nicht, was ich will. Noch nicht. Und erst einmal müssen wir lebend aus dem Schattenreich kommen. Erst dann kann ich mir den Kopf darüber zerbrechen. Aber ich werde mich noch entscheiden, versprochen.«

»Das reicht mir fürs Erste.« Tero schmunzelte und knuffte mir in den Arm.

Wir blieben noch einige Minuten auf der Hochebene stehen und warfen einen letzten Blick auf die Sterne, die kaum noch am Himmel zu sehen waren. Als ich mich zum Gehen umdrehte, ließ ich Tero noch einen Moment mit seinen Gedanken allein. Ich wusste, dass er sich noch von Tjana verabschieden wollte.


»Meinst du, dass Jalmari uns begleiten kann?«, fragte mich Tero, als wir den Rückweg antraten. Ich musterte ihn eine Weile, ehe ich ihm antwortete.

»Wir reisen erst in zehn Tagen ab, damit Jalmari sich noch etwas erholen kann. Zwar kann ich mir nicht vorstellen, wie es Asante gelingen soll, ihn bis dahin wieder auf die Beine zu kriegen, aber er wird wohl sein Bestes geben.«

»Aber wird er wirklich mit ins Schattenreich gehen wollen

Nach kurzer Überlegung nickte ich. »Ich denke schon. Ehrlich gesagt würde es mich wundern, wenn er mich mit euch allein losziehen lassen würde, nachdem wir uns beinahe ein Jahr lang nicht gesehen haben. Allerdings habe ich auch Angst davor, ihn mitkommen zu lassen. Jalmari wird auch in zehn Tagen noch sehr geschwächt sein.« Bei dem Gedanken daran musste ich schlucken. Wie sollte er sich gegen Kreaturen zur Wehr setzen, von denen selbst wir nicht wussten, wie man sie bekämpfte? Ich bezweifelte, dass er imstande war, ein Schwert zu heben oder gar zu schwingen. Er hatte kaum Kraft in den Knochen, war mit Sicherheit sehr langsam und in seinen Fähigkeiten eingerostet. Wir anderen hatten den Vorteil, mehrere Monate trainiert zu haben, doch Jalmari … Ihn beschützen zu müssen, würde uns noch zusätzliche Kraft kosten, weshalb es besser wäre, ihn einfach in der Hütte auf unsere Rückkehr warten zu lassen. Danach blieb uns noch immer alle Zeit der Welt, in der wir das verlorene Jahr nachholen konnten.

Tero musste gespürt haben, wie meine Gedanken umherkreisten und sich verschiedene Szenarien vor meinem inneren Auge abspielten. Er schmunzelte und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Denk nicht zu viel nach«, riet er mir. »Dein Prinz übersteht das. Er scheint mir ein recht wackeres Bürschchen zu sein. Ihm fehlt nur ein bisschen Kraft, dann wird das schon.«

Sein Lächeln und seine Worte spendeten mir Mut. Alles würde sich zum Guten wenden. Das musste es einfach.

Während wir unseren Weg zur Hütte fortsetzten, spekulierten wir noch eine Weile darüber, welche Kreaturen wohl im Schattenreich hausten und nur auf unser Erscheinen warteten. Es war schön, sich mit Tero unterhalten zu können, ohne das Gefühl zu haben, dass Jalmaris plötzliches Auftauchen in irgendeiner Weise zwischen uns stand. Im Gegenteil. Tero gab mir den Raum, den ich im Moment benötigte, und war doch an meiner Seite. Das bestätigte mir ein weiteres Mal, was für ein großartiger Mensch er wirklich war. Er ließ sich seinen Schmerz nicht anmerken, sondern behandelte mich weiterhin so, wie er es die letzten Monate bereits getan hatte.

Die Dunkelheit war vorübergezogen und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über den Horizont, als wir im Heim unserer Freunde ankamen. Sie schliefen noch, aber ich wusste, dass ich ohnehin kein Auge zubekommen hätte, weshalb ich es gar nicht erst versuchte. Auch Tero war hellwach und so entschlossen wir uns, direkt mit der Arbeit anzufangen.

Kapitel Drei

Eira

Majestät!« Der Wachmann keuchte, als er ohne Erlaubnis in meine Gemächer eindrang. Als er die Tür öffnete und hineinstürmte, warf ich ihm einen finsteren Blick zu. Was fiel diesem lausigen Mann nur ein, meine Privatsphäre zu stören? Und das, obwohl ich in den vergangenen Wochen oft betont hatte, dass niemand, wirklich niemand mich stören durfte.

»Ihr wagt es, mich zu stören?«, schrie ich ihn an. Augenblicklich sackte er in sich zusammen, machte sich kleiner, als er war. Lächerlich. Als ob er sich so in Luft auflösen und sich meiner Strafe entziehen könnte.

Der Wachmann versuchte krampfhaft meinem Blick auszuweichen und ließ den Blick durch das prunkvolle Zimmer gleiten.

»Ich erwarte eine Antwort. Oder soll ich Euch auf der Stelle hinrichten lassen?« Nun schaute er mich wieder an, panisch.

»Ich … es tut mir leid, Majestät. Ihr sagtet, Ihr wolltet darüber unterrichtet werden, sobald es Wort von Meister Silbus gibt. Mein Klopfen, Ihr habt nicht darauf reagiert. Es … es tut mir wirklich leid. Ich …« Mit einer flüchtigen Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen.

Diese Angst, die er mit jedem gesprochenen Wort ausströmte, war nicht zu ertragen. Natürlich hatte ich meinen Bediensteten und all den Einwohnern Arzus schnell Respekt beigebracht. Doch es war kräftezehrend, von eingeschüchterten Buben umgeben zu sein. Ich brauchte Männer in meinen Reihen, Krieger, die sich vor nichts und niemandem fürchteten. Denn früher oder später musste ich meiner Schwester wieder gegenübertreten. Zwar hatte ich einen Plan, wie ich Nerina ein für alle Mal aus dem Weg räumen könnte, doch es war möglich, dass dieser scheiterte. Und dann brauchte ich noch mehr Krieger, die an meiner Seite stehen würden. Ein weiteres Problem, für das ich in nächster Zeit eine Lösung suchen musste.

»Was hat Meister Silbus ausrichten lassen?«, fragte ich den Wachmann spitz.

»Er hat nichts ausrichten lassen, Majestät«, stammelte er. »Er ist hier und möchte Euch dringend sehen.«

»Was?« Meine Augen weiteten sich. Wenn Meister Silbus hier im Palast war, dann hieß das …

»Bringt ihn zu mir. Auf der Stelle!« Der Wachmann eilte hinaus, noch bevor ich das letzte Wort gesprochen hatte. Langsam lief ich im Zimmer auf und ab. Ich hatte lange auf diesen Tag gewartet. Inständig hoffte ich, dass es gute Nachrichten waren, die der Meister überbringen wollte. Ich wusste nicht, ob ich noch eine weitere schlechte Nachricht ertragen konnte.

Seit mehreren Wochen überlegten meine Vertrauten und ich, wie unsere nächsten Schritte wohl aussehen könnten. Eigentlich wollte ich schon lange fertig sein, die absolute Macht an mich gerissen und die Königreiche in Dunkelheit gestürzt haben. Allerdings fehlte noch immer eine Zutat. Laut Meister Silbus, die letzte.

Ich konnte meinen Gedanken kaum zu Ende bringen, da klopfte es bereits laut an der Tür. »Herein!«

Der Wachmann öffnete die Tür und ließ Meister Silbus eintreten, ehe er sie hinter sich schloss. Der alte Mann war wie immer in seinen zerschlissenen Umhang gehüllt. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, so als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.

»Setzt Euch, mein treuer Freund«, wies ich Silbus an. Ich reichte ihm meinen Arm und begleitete ihn zu einem hölzernen Stuhl am Fenster, auf den er sich keuchend niederließ.

»Warum seid Ihr gekommen? Ihr hättet diesen weiten Weg nicht auf Euch nehmen müssen.« Ich schaute ihn sorgenvoll an. Sein Gesicht wirkte noch blasser als sonst. Leicht kränklich. Bevor er antworten konnte, lief ich hinüber zu meinem Beistelltisch und goss etwas Wasser aus meiner kristallenen Karaffe in ein edles Glas, das ich Meister Silbus reichte.

Mit zitternder Hand nahm er das Glas entgegen und leerte es in einem Zug. »Danke, meine Teuerste.« Er lächelte und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel über den Mund. Dann atmete er tief ein und schaute mich mit ernster Miene an.

Etwas in seinem Blick bereitete mir Sorgen. Ich kannte Silbus bereits viele Jahre. Schon immer war er ruhig und eins mit seinen Gedanken gewesen. Doch heute war es anders. Behutsam trat ich einen Schritt auf ihn zu, hockte mich vor ihn hin und legte meine Hand auf seinen Unterarm.

»Was stimmt nicht mit Euch? Was bedrückt Euch?« Mein Herz begann zu rasen. Vor Furcht. Furcht vor den Nachrichten, die er mir überbringen wollte. Unser gesamtes Unterfangen hing davon ab. Sollte etwas schiefgehen, dann würde ich mich verlieren. Ich hatte mein Leben in diesen Plan gesteckt, ihn mit Herzblut verfolgt und alles dafür gegeben, dass nichts schiefging. Es durfte nicht alles umsonst gewesen sein.

Langsam begann mein Blut aufzukochen. Ich wurde wütend und krallte mich immer fester an Meister Silbus’ Arm.

»Eira, ich habe es geschafft.« Er lächelte mich aufmunternd an und schob vorsichtig meine Hand weg.

»Ihr habt es geschafft? Die letzte Zutat?« Der Zorn von eben war wie weggeblasen. Das konnte nicht sein. Sollte das heißen, dass alles, wofür ich all die Zeit gekämpft hatte, nun endlich Wirklichkeit werden sollte?

Silbus nickte langsam, während er ein Stück Pergament aus seinem Lederbeutel zog und es langsam auf seinem Schoß ausbreitete. Ich kniff meine Augen zusammen, in der Hoffnung, etwas erkennen zu können, doch vergebens. Alles, was ich sehen konnte, waren verschnörkelte Symbole, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Striche jeglicher Art waren zu Formen verbunden, die allesamt unterschiedlich waren.

Ich schaute Silbus fragend an und er verstand.

»Dies ist ein Teil der alten Schrift, die ich für Euch übersetzt habe. Das Schwierige war, dass dieser letzte Teil ausgeblichen ist, seht Ihr?« Er deutete auf die Zeichen an der äußeren rechten Seite. Deren Ränder waren verblasst und die Übergänge der Striche kaum noch zu erkennen. Als ich nickte, sprach er weiter.

»Es hat mich sehr viel Zeit gekostet, die Symbole zu rekonstruieren. Niemals lag es in meiner Absicht, Euch so lange warten zu lassen, Majestät. Zum Verständnis habe ich die Schrift in unsere Sprache übersetzt. Blaues Blut besiegt oft den Tod. Doch was immer gewinnt, ist die Unschuld von einem Kind. Beides vereint, besiegt jeden Feind.«

Blaues Blut, Unschuld eines Kindes. Ich verstand nicht, was all dies zu bedeuten hatte. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich das Schlimmste befürchtete. Die Worte, die Silbus gesprochen hatte, ließen mich erschaudern. Ich richtete mich auf und knetete meine Handflächen mit den Fingern.

»Jungfräuliches Königsblut«, flüsterte Meister Silbus. Sofort wirbelte ich herum und schaute ihm tief in die Augen.

»Wie meint Ihr das?«, fragte ich. Meine Stimme klang ängstlicher, als ich es gewollt hatte. Ich zeigte nicht gerne Angst, sondern versuchte stets die furchtlose Königin zu sein, die imstande war, jemanden mit nur einem Blick zum Tode zu verurteilen.

»Das ist die letzte Zutat, Eira. Ich habe eine Karte der Königreiche mitgebracht.« Wieder steckte Silbus seine Hand in den Lederbeutel und suchte darin nach der Karte. Als er sie gefunden hatte, stand er mit zittrigen Knien auf und deutete zu meinem hölzernen Arbeitstisch an der gegenüberliegenden Seite.