Dort war nichts. Nichts, außer der alles verschlingenden Finsternis, die mich gefangen hielt. Aus der es für mich kein Entkommen gab. Flammen knisterten um mich herum und ihre sprühenden Funken drohten, mir stückchenweise das Fleisch von den Knochen zu brennen. Alles in mir brannte. Mein Herz zerbarst in tausend Teile und lag nun vor mir wie der Scherbenhaufen eines zerbrochenen Spiegels. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Wusste nicht, wo ich mich befand. Ich konnte nichts sehen. Nichts, außer das dunkle Schwarz.
Leere. Stille. Einsamkeit.
Verzweifelt versuchte ich gegen die Dunkelheit und die innere Ruhelosigkeit anzukämpfen, doch es gelang mir nicht. Ich wollte schreien, doch aus meinem Mund drang kein Laut. Ich wollte weinen, doch die Tränen kamen nicht.
Alles schien zu rauschen. Aber die Geräusche kamen aus weiter Ferne und es gelang ihnen nicht, zu mir durchzudringen. Ich fühlte mich wie versteinert. Meine Arme und Beine wollten mir nicht mehr gehorchen und meine Gedanken kreisten nur um eines.
»Nerina.« Die vertraute Stimme riss mich endlich aus der Schwärze und brachte mich zurück ins Hier und Jetzt. In die Realität, in der Jalmari als kümmerliche und verdreckte Gestalt vor mir am Lagerfeuer saß und mir noch immer tief in die Augen schaute. Das Leuchten, das sie einst bargen, war verblasst, wenn nicht gar verschwunden. Nichtsdestotrotz konnte ich noch immer seine Gefühle aus dem hellen Blau herauslesen. Er wirkte traurig, aber in seinem Blick lagen ebenso Freude und Furcht zugleich. Ich wollte auf ihn zugehen, doch mein Körper verweigerte mir weiterhin den Dienst.
»Nerina!« Es war die gleiche Stimme, die mich eben bereits erreicht hatte. Langsam drehte ich meinen Kopf in ihre Richtung und sah Tero an. Sorgenfalten umspielten seine Augenwinkel. Ich vernahm das leise Tuscheln der anderen im Hintergrund, mein Prinz jedoch sprach noch immer kein Wort.
Meine Beine zitterten, als ich vorsichtig versuchte, einen Schritt vor den anderen zu setzen, um auf Jalmari zuzugehen. Dabei ließ er seinen Blick nicht einen einzigen Moment von mir gleiten.
Es tat mir in der Seele weh, den einst so stolzen Mann in einer so schrecklichen Verfassung zu sehen. Er erinnerte mich ein kleines bisschen an die Schattenwesen, von denen die anderen mir erzählt hatten. Die Wesen, die nicht mehr als ein Schatten ihres alten Selbst waren. Genau so konnte man auch Jalmari beschreiben. Sein Gesicht war zwar von einem ungepflegten Bart bedeckt, doch erkannte ich bei genauerer Betrachtung, wie eingefallen es wirklich war. Es schien, als wäre er binnen kürzester Zeit um Jahre gealtert. Alles an ihm wirkte fahl und auch das Strahlen, das ihn stets umgeben hatte, war verblasst.
Trotzdem erkannte ich in ihm den Prinzen, in den ich mich damals Hals über Kopf verliebt hatte. Den Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens teilen und eine Familie gründen wollte.
Nur noch wenige Schritte trennten mich von ihm und langsam stiegen die Tränen empor, die vor einigen Augenblicken noch nicht kommen wollten. Niemals in meinem Leben hätte ich damit gerechnet, ihn wiederzusehen, ihn wieder in meine Arme schließen und mit Küssen übersäen zu können. Jalmari nun vor mir zu haben, war wie ein wahr gewordener Traum, den ich noch immer nicht ganz begreifen konnte.
Ich strahlte über das ganze Gesicht. Vollkommen gleich, wie er hierhergekommen war, es machte mich überglücklich. Als ich endlich vor ihm stand, streckte ich langsam meine Hand aus. In mir breitete sich der Drang aus, ihn zu berühren. Doch hatte ich ebenso Angst davor, dass eine Berührung ihn zu Staub zerfallen lassen würde und der Wind die Partikel in alle Himmelsrichtungen mit sich riss.
Jalmari blinzelte ein paar Mal unbeholfen, so als schiene er nicht sicher zu sein, wie er mit unserer Situation umgehen sollte. Ich versuchte ihm mit meinem Lächeln zu signalisieren, dass er keine Angst zu haben brauchte. Dass ich für ihn da war und ihn nicht verlassen würde.
»Stopp, Nerina!«, schrie Kasim inbrünstig und schlug meinen Arm zur Seite, bevor ich Jalmari mit den Fingerspitzen berühren konnte. Dieser zuckte zusammen und blickte unsicher zwischen Kasim und mir hin und her.
»Was ist los?«, fragte ich verwirrt. Kasim schaute mich zornig an. Im sanften Schein der Flammen wirkten seine dunklen Augen noch angsteinflößender, als sie es sonst immer taten. Wut loderte in ihnen und gab mir das Gefühl, dass nur ein einziges falsches Wort genügte, um das Feuer aus dem Schwarz ausbrechen zu lassen und mich zu verschlingen.
»Findest du es nicht ein kleines bisschen seltsam, dass der Prinz, der eigentlich tot sein sollte, genau hier auftaucht, wenn wir aufbrechen wollen? Wo kommt er her? Wo war er die ganze Zeit? Und wieso ist er nicht tot, verdammt?« Ich konnte nachvollziehen, dass es den anderen etwas merkwürdig erschien. Natürlich überschlugen sich auch in meinem Kopf jene Fragen. Am liebsten hätte ich Jalmari augenblicklich geschüttelt und gefragt, wo er all die Zeit gewesen war, was er im vergangenen Jahr durchlebt hatte und wie es sein konnte, dass er noch lebte. Doch vor mir kauerte eine verängstigte Gestalt, umzingelt von Fremden, die alle ein wachsames und misstrauisches Auge auf ihn warfen. Fremde, die sich sein plötzliches Auftauchen nicht erklären konnten. Es war verständlich, weshalb die Reaktion meiner Freunde nicht so freudig ausfiel wie die meine, dennoch mussten wir Jalmari erst ein wenig Vertrauen entgegenbringen, ehe wir mit Antworten seinerseits würden rechnen können.
Asante trat aus den Schatten und stellte sich an meine Seite. »Er hat recht, Nerina. Wir müssen erst sichergehen, dass es sich bei diesem Mann wirklich um den echten Prinzen handelt.«
Es war eine Sache, Jalmari nicht zu vertrauen, doch eine vollkommen andere, zu denken, es könne sich nicht um den echten Prinzen von Lenjas handeln. Es fiel mir schwer, ein Augenrollen zu verkneifen, da mir die Reaktion etwas lächerlich erschien. Dennoch war die Neugierde groß genug, um mich mit zusammengezogenen Augenbrauen vor Asante aufzurichten und ihn fragend anzuschauen.
»Denkst du nicht, ich würde Jalmari erkennen, wenn er vor mir steht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Mann der Prinz ist.« Weder Asante noch die anderen waren von meiner Erklärung überzeugt. »Schaut ihn euch doch einmal genauer an. Ist es nicht eindeutig, dass es ihm nicht gut geht? Ich verstehe euer Misstrauen durchaus, aber wir müssen ihm helfen. Dann können wir all die Fragen stellen, die uns auf der Zunge brennen.«
Der Anführer schaute mich traurig an und legte mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. Mein Körper bebte mittlerweile vor Aufregung.
»Wir können ihn noch nicht mit ins Haus nehmen«, begann Asante mit gebieterischer Stimme. »Erst müssen wir überprüfen, ob er noch … menschlich ist.«
Ein leises Lachen entfuhr mir und ich schüttelte ungläubig den Kopf. Langsam fühlte ich mich auf den Arm genommen. Ein flüchtiger Blick zu den anderen machte mir allerdings bewusst, dass Asante wohl keineswegs zu Scherzen aufgelegt war.
»Wie meinst du das? Was sollte er denn sonst sein?«
»Ein Saugergeist«, kam es flüsternd von Ode.
Ich wusste zwar nicht, was ein Saugergeist war, es klang allerdings fürchterlich und jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Unruhig ließ ich meinen Blick schweifen. Dabei traf er auf Tero.
Tero! In diesem Moment fühlte ich mich grausam, so als hätte ich den Jäger hintergangen. Er sah unglaublich verletzt aus. Ich hatte ihm das Herz, das er mir noch vor wenigen Minuten unwiderruflich geschenkt hatte, gebrochen. Schlagartig verringerte sich meine Freude über Jalmaris Wiederkehr, denn Teros schmerzverzerrter Gesichtsausdruck trieb mir die Tränen in die Augen.
Wie konnte ich nur so unbedacht sein? Der Jäger musste in der Vergangenheit unglaublich viele Grausamkeiten über sich ergehen lassen, hatte viel Trauer zu verarbeiten gehabt. Es hat lange gedauert, ehe er sich einem Menschen wieder voll und ganz öffnen und sein Herz wieder voller Vertrauen in die Hände einer Frau legen konnte. Nun hatte ich ihn vor den Kopf gestoßen und er musste denken, dass ich mit seinen Gefühlen gespielt hatte. Meine Zuneigung für Tero war wahrhaftig und greifbar, aber auch meine Liebe für Jalmari war noch nicht erloschen.
Das Feuer tobte in meinem Inneren und mein Herz spielte verrückt. Ich hatte dem Prinzen ewige Treue versprochen, in dem Augenblick, in dem er mir den Verlobungsring an den Finger gesteckt hatte. Nun sehnte ich mich danach, mich in Teros starke Arme zu schmiegen, aber auch danach, Jalmari mit Küssen zu bedecken.
Es lag an mir, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die mir schwererfiel als alles andere auf der Welt. Ich musste in mich gehen, darüber nachdenken, was ich wollte. Vor allem, wen ich wollte. Jalmari war meine Vergangenheit – konnte er auch meine Zukunft sein? Das würde allerdings bedeuten, dass ich mich von Tero abwenden musste. Es war eine Entscheidung, die vielleicht mein restliches Leben beeinflusste, weshalb ich sie nicht leichtfertig treffen durfte. Also entschied ich, mich vorerst nicht zu entscheiden.
Ich blickte zwischen beiden Männern hin und her und kehrte einem von ihnen für den Moment den Rücken. Hinter mir vernahm ich einen resignierten Seufzer, als ich mich wieder an den tot geglaubten Prinzen wandte.
»Was genau sind Saugergeister?«, fragte ich an Ode gerichtet. Allein das Wort ließ ihn schaudernd zusammenfahren.
Angsterfüllt schaute er mich an. »Blutleere Untote, die die Lebenden heimsuchen und ihnen das Leben aus den Körpern saugen.«
Meine Augen weiteten sich vor Schock.
»Meistens steigen sie aus ihren Gräbern empor, um sich an einem Lebenden, der ihnen Unrecht getan hat, zu rächen. Allerdings gibt es ein Problem. Man kann auf den ersten Blick nicht sehen, ob es sich um einen Saugergeist handelt. Das weiß man erst, wenn man es getestet hat«, erklärte nun Desya.
»Wie soll man das testen?«, wollte ich wissen.
»Man muss ihm ins Fleisch schneiden. Da Saugergeister blutleere Kreaturen sind, dürfte bei ihnen kein Blut aus einer ihnen zugefügten Wunde tropfen. Sollten sie sich allerdings gerade erst am Körper eines Lebenden bedient haben, ist es dennoch möglich, sie für einen Menschen zu halten. Deshalb muss man mit der Klinge schön tief ins Fleisch schneiden. Hört die Wunde nach kurzer Zeit zu bluten auf, haben wir vermutlich einen Saugergeist vor uns.« Während sie weitersprach, funkelte Desya Jalmari wütend an. Es sah ihr nicht ähnlich, eine solche Wut auf jemand anderen zu verspüren. Ich habe sie damals als jemanden kennengelernt, der in anderen Menschen stets das Gute sah, sich weder von Äußerlichkeiten noch von Fehlverhalten blenden ließ. Desya glaubte an zweite Chancen und versuchte immer hinter die Fassade einer Person zu blicken. Als Tero und ich zu unserer Gruppe gestoßen waren, vertraute Desya uns. Und als es darum ging, über die Zukunft zu entscheiden, stand sie mir ohne zu zögern zur Seite, wollte für mich kämpfen und, wenn nötig, für mich sterben. Weshalb sie es also auf den Prinzen abgesehen hatte, war mir schleierhaft.
Nun traten auch die anderen langsam auf uns zu – in ihren Blicken lag purer Hass und sie alle griffen bereits nach ihren Waffen. Der Prinz schaute sie nacheinander ängstlich an. Hinter ihm begann der finstere Wald, es gab keinen Ort, an den er hätte fliehen können. Instinktiv sprang ich vor ihn und breitete schützend meine Arme aus.
»Seid ihr plötzlich verrückt geworden?« Ich versuchte sie mit einem wütenden Blick zurückzudrängen.
»Nerina, geh bitte aus dem Weg, bevor er dich noch angreift.« Laresa schaute mich flehend an, doch ich schüttelte bloß den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass sie wie wilde Bestien gemeinsam auf Jalmari losgingen, der kraftlos war und sich nicht wehren konnte. Wieso konnten sie nicht sehen, dass es ihm nicht gut ging? Er war eindeutig menschlich.
»Keiner von euch rührt ihn an. Gebt mir ein Messer«, sagte ich in die Runde und streckte meine Hand aus. Sie verharrten reglos auf ihren Positionen. Schließlich trat Tero nach vorne und reichte mir eines seiner kleineren Messer. Ich nickte ihm zu und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Doch anstatt es zu erwidern, drehte er sich wortlos um und verschwand wieder hinter den anderen.
Jalmari ließ seinen Blick schweifen und starrte auf die Klinge, die nun in meiner rechten Hand lag. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Behutsam legte ich meine Linke auf sein zitterndes Knie und fixierte seine Augen, die mich auf der Stelle wieder in ihren Bann zogen.
»Gib mir bitte deinen Arm«, flüsterte ich. Zwar schaute er mich an, zögerte allerdings. »Bitte, Jalmari, du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«
Er öffnete seine Lippen einen Spaltbreit. »Habe ich nicht.« Seine Stimme war heiser, kaum mehr als ein leises Krächzen. Nachdem er die Worte gesprochen hatte, begann er zu husten. Er hob seine Hand, um sich damit den Mund zu verdecken, wobei die alte Wolldecke, die um seine Schultern lag, herunterrutschte und sich mir ein Blick auf sein zerrissenes Oberteil bot. Unwillkürlich sog ich scharf die Luft zwischen meinen Zähnen ein, als das zarte Licht der Flammen auf seinen Arm fiel.
Das Messer glitt mir aus der zitternden Hand und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem erdigen Boden. Mit einer schnellen Handbewegung zog ich den Stoff hoch. Vor mir offenbarte sich der Blick auf unzählige, schlecht verheilte Narben. Mit den Augen suchte ich Jalmaris restlichen Körper ab und zog das Oberteil an seiner Brust zur Seite. Auch hier bot sich ein ähnlicher Anblick. Der Prinz war übersät von frischen, offenen Wunden. Einer der Schnitte an seinem Brustkorb ließ mich erschaudern. Eine dünne Schorfschicht hatte sich gebildet, doch dickflüssiger Eiter bahnte sich den Weg an die Oberfläche der nässenden Wunde.
»Oh nein. Was ist mit dir geschehen?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Jalmari sah mich schmerzverzerrt an und senkte den Kopf. Langsam griff ich wieder nach dem Messer, das ich hatte zu Boden fallen lassen. Ich wischte die verschmutzte Klinge an meiner Hose ab, ehe ich sie wieder auf den Prinzen richtete. Meine Hand zitterte, als ich sie ungeschickt an seinen Unterarm führte. Was auch immer ihm im vergangenen Jahr zugestoßen war, es musste grausam gewesen sein. Und nun musste ich ihm erneut Schmerzen zufügen. Heiße Tränen rannen über meine Wangen, als ich die Schneide an seiner Haut ansetzte.
»Es tut mir so leid«, sprach ich, während ich ihm das Messer immer tiefer ins Fleisch drückte und eine neue zukünftige Narbe verursachte. Ich presste meine Augen fest zusammen, sodass ich nur schemenhaft erkennen konnte, was ich da tat. Ich konnte Jalmaris Anblick nicht ertragen. Seine gequälten Laute mit anzuhören war grauenvoll genug.
Erst als der rostige Geruch von Blut in meine Nasenhöhlen stieg und sich festsetzte, ließ ich das Messer zitternd auf den Boden gleiten und wagte es, die Augen wieder vollständig zu öffnen. Jalmari hielt seine Zähne zusammengepresst und sein Gesicht glänzte vom Schweiß. Es war allzu deutlich, unter welch großen Schmerzen er zu leiden hatte, doch er versuchte, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen. So war mein Prinz schon immer gewesen – niemals würde er freiwillig Schwäche zeigen.
Dunkles Blut floss aus der tiefen Wunde, die nun in seinem Arm prangte. Ich riss mir meinen Mantel vom Leib und wickelte dessen Ärmel so fest wie möglich um den Schnitt, um die Blutung so gut es ging zu stoppen. Auf der Stelle färbte der beigefarbene Stoff sich dunkelrot.
»Könnt ihr ihm jetzt vielleicht endlich helfen? Ihr habt schließlich gesehen, dass er durchaus menschlich ist!«, fauchte ich die anderen an, die noch immer regungslos in einiger Entfernung hinter mir standen. Vorsichtig legte ich seinen gesunden Arm um meine Schulter und versuchte ihm aufzuhelfen. Doch trotz der Tatsache, dass Jalmari nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, war er zu schwer, als dass ich ihn hätte allein hochheben können. Seine Beine waren zittrig, sodass er mir nicht entgegenkommen konnte. Als seine Knie einknickten, fiel er unsanft zu Boden und gab erneut einen gequälten Laut von sich.
»Wirklich, Leute?« Zu meinem Erstaunen war es Tero, der mir nun zu Hilfe eilte und sich augenrollend hinhockte, um Jalmari anzuheben. Widerwillig trat ich einen Schritt zur Seite und sah dabei zu, wie der Jäger sich den Mann, den er im Moment vermutlich mehr hasste als jeden anderen, über seine Schulter warf und mit ihm in Richtung Haus schritt. Schnell folgte ich ihm und kurz darauf liefen auch die anderen zurück hinein.
Tero schmiss Jalmari eher unsanft auf eines der Betten, aber ich verkniff mir einen Kommentar. Ich konnte es ihm schließlich nicht wirklich verübeln, dass er über die Anwesenheit des Prinzen nicht sehr erfreut war.
»Danke«, sagte ich an ihn gewandt, aber Tero zuckte lediglich mit den Schultern, ehe er den Schlafsaal verließ. Kurz darauf fiel die Eingangstür scheppernd ins Schloss.
Mit ein paar schnellen Handgriffen verarztete Asante den Arm des Prinzen. Er entfernte sein Oberteil gänzlich und begutachtete auch die anderen Narben und Wunden, die sich über seinen kompletten Oberkörper zogen. Der Anführer rührte irgendwelche Zutaten zusammen und verschmierte die bräunliche Paste auf Jalmaris nackter Haut.
»Was ist das?«
»Ach, nur ein Wundheilmittel. Einige der Narben sind noch relativ frisch und teilweise aufgekratzt. Ich hoffe, dass ich damit wenigstens ein bisschen retten kann«, erwiderte Asante nachdenklich. Dabei fuhr er über einige der Striemen, die Jalmaris Brustkorb zierten. Ich beobachtete das gleichmäßige Heben und Senken, wobei mir auffiel, dass er bereits in eine Bewusstlosigkeit gefallen war.
»Was glaubst du, wie ihm all diese Wunden zugefügt wurden?« Sein schlimm zugerichteter Zustand bereitete mir ernsthaft Sorgen.
»Hmm, ich bin mir nicht sicher. Der Schnitt deutet auf jeden Fall auf einen Messerstich hin. An seinem Rücken konnte ich einige verschorfte Striemen ausmachen, als wäre er ausgepeitscht worden. Und hier«, er zeigte auf eine Stelle am rechten Oberarm, »das sieht aus, als hätte man ihn gebrandmarkt.«
Ich kniff meine Augen zu einem kleinen Spalt zusammen. Mehr als ein großer, verkohlter Fleck war nicht zu erkennen. So als wurde ihm wahllos ein Stück Fleisch aus dem Arm gebrannt. Es mussten Monster am Werk gewesen sein. Kein Mensch bei klarem Verstand würde jemandem so etwas antun.
»Wir können ihn nicht einfach hierlassen.« Valeria sprach genau das aus, was auch ich dachte. In wenigen Tagen wollten wir aufbrechen, um das Schattenreich zu durchqueren und in das Feenreich zu gelangen. Doch Jalmari war nicht in der Verfassung, eine solche Reise anzutreten. Allerdings konnten wir es uns auch nicht erlauben, einen von uns zurückzulassen, um den Prinzen zu versorgen. Wir brauchten jedes Schwert im Kampf gegen die Gefahren des düsteren Ortes.
»Ich würde vorschlagen, dass wir ein bisschen später abreisen. In zehn Tagen kriegen wir den Burschen schon wieder halbwegs auf die Beine und dann kann er sich entscheiden, ob er lieber wie ein Feigling hierbleiben oder uns begleiten will.« Ich warf Kasim einen bösen Blick zu. Jalmari war vieles, aber ganz sicher kein Feigling.
»So machen wir es«, beschloss Asante und ich nickte im Einverständnis. »Und nun sollten wir uns schlafen legen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht.«
Er stand auf und lief in den Waschraum. Einen kurzen Moment noch blieb ich an der Seite meines wiedergefundenen Prinzen sitzen und betrachtete ihn. Dabei strich ich ihm sanft mit meiner Hand durch sein verklebtes Haar. Noch immer war er wunderschön, trotz der Wunden, die nun seinen Körper zierten.
Als Valeria, Kasim, Asante und Resa sich in ihre Betten gleiten ließen, verließ ich widerwillig den Schlafsaal. Ich war im Moment nicht müde. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, sodass ich hellwach war und unzählige Gedanken in meinem Kopf umherkreisten.
In der Küche fand ich die anderen drei, die mich neugierig musterten. Ich kochte mir etwas Wasser auf, gab einige Kräuter hinzu und ließ mich anschließend auf einem hölzernen Stuhl am Esstisch nieder.
»Wie geht es ihm?«, fragte Eggi sichtlich mitgenommen. Ich schüttelte bloß leicht den Kopf.
»Nicht sehr gut. Wir reisen erst in zehn Tagen ab, um Jalmari vorher noch etwas auf die Beine zu bringen. In seinem Zustand können wir ihn hier nicht einfach liegen lassen«, murmelte ich mit den Lippen an dem heißen Becher.
»Das ist wohl am besten so«, sagte Desya sanftmütig. »Wir haben schließlich genug Zeit, um ins Feenreich zu kommen.« Sie lächelte mir aufmunternd zu. Ihre vorherige Wut auf den Prinzen war wie weggeblasen. Als hätte sie meine Gedanken lesen können, schaute Desya entschuldigend zu mir und räusperte sich verlegen.
»Du brauchst nichts zu sagen«, versicherte ich ihr.
»Doch«, beharrte sie. »Mein Verhalten vorhin tut mir leid. Es liegt an der Anspannung, auch wenn das keine Entschuldigung ist. Jalmari ist sicherlich ein guter Mensch und meine Wut hat sich nicht gegen ihn gerichtet, sondern gegen die Kreaturen des Schattenreiches.«
»Das verstehe ich.« Einen Augenblick hatte Desya gedacht, dass es sich bei dem Prinzen um ein Schattenwesen handelte. Ein Wesen, das vor ihr saß, auf das sie all ihre Wut richten konnte. Das konnte ich ihr nicht verübeln.
Gedankenverloren schaute ich mich im Raum um. Ode schien meinen mitgenommenen Blick zu bemerken, von dem ich selbst nicht genau wusste, woher er rührte. »Vielleicht solltest du mal mit ihm reden?« Er neigte seinen Kopf in Richtung Tür, doch ich tat, als wisse ich nicht, wovon er sprach.
»Komm schon, Nerina. Das bist du ihm schuldig. Du hast ihn ziemlich vor den Kopf gestoßen. Ich kann das völlig verstehen, schließlich ist der Prinz deine erste große Liebe, aber was glaubst du, wie Tero sich jetzt fühlen muss?« Ode versuchte mich davon zu überzeugen, mit Tero zu sprechen, und einerseits wusste ich, dass er recht hatte, andererseits schämte ich mich viel zu sehr, um ihm unter die Augen zu treten.
»Du hast ja recht«, gab ich widerstrebend zu. »Aber was soll ich ihm denn sagen?«
»Dass es dir leidtut, wäre wohl der logischste Anfang für eure Unterhaltung«, sagte nun Eggi. »Er wird es schon verstehen.«
Ich schaute die drei an, die mir lächelnd Mut zusprachen. Desya hob grinsend beide Daumen in die Höhe und brachte mich damit zum Lachen. Noch einmal nippte ich an meinem Tee, ehe ich den Becher auf dem Tisch abstellte und mich von meinem Stuhl erhob.
»Wünscht mir Glück«, waren meine letzten Worte, bevor ich die Eingangstür öffnete und mitsamt Fackel in die kühle Nacht schritt.