SHADOWRUN:
EIN GANZ
NORMALER AUFTRAG
MEL ODOM
Pegasus Press
35001G
Übersetzung aus dem Amerikanischen:
Christina Brombach
Redaktion:
Tobias Hamelmann
Umschlagillustration:
Víctor Manuel Leza
Umschlaggestaltung und Satz:
Ralf Berszuck
Lektorat und Korrektorat:
Lars Schiele
Umsetzung eBook:
SiMa Design
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Deniable Assets« bei Catalyst Game Labs.
© 2015 Topps, Inc. Alle Rechte vorbehalten.
Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.
in Deutschland und anderen Staaten.
© der deutschen Ausgabe 2017 bei Pegasus Spiele.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
eBook-ISBN 978-3-95789-139-6
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Danksagung
Für Loren Coleman und John Helfers,
die mich zurück in die Schatten führten
und dafür sorgten, dass ich mich willkommen fühlte.
Für meinen Sohn Chandler,
der mit mir in den tiefen Schatten von Hongkong lief.
Kapitel 1
»Sie sagen nicht viel.«
Mister Johnsons Stimme war angespannt. Natürlich war Johnson nicht sein echter Name. Jede Kontaktperson eines Konzerns, die einen Shadowrunner anheuern wollte, benutzte diesen Decknamen, oder einen ähnlich nichtssagenden.
Hawke musterte den Mann. »Im Vergleich zu wem?«
Mister Johnson starrte ihn einen Moment lang an. »Für jemanden in Ihrem Geschäft. Ich hatte einfach erwartet, dass Sie mehr reden würden.«
Hawke seufzte und rutschte auf der Bank der Tischnische herum. Er war ohne Schuhe fast zwei Meter groß und wog um die 120 Kilo. Der Fußraum in Tang’s Rice and Noodle Bar war nicht unbedingt für ihn gemacht, aber er hatte es immer noch besser als ein Troll. Hawke rasierte sich regelmäßig den Schädel und hielt sein Gesicht sauber. Hochgewachsen und durchtrainiert wie er war, fiel er in einer Straße voller Kleinkrimineller auf, doch sein langer Kapuzenmantel ließ die harten Linien weicher erscheinen und warf Schatten auf sein Gesicht. Seine dunkle Hautfarbe hatte er von seiner kubanischen Mutter, seine grünen Augen waren ein Geschenk seines irischen Vaters.
Mister Johnson war ein typischer junger Konzernangestellter. Er war Mitte dreißig, was bedeutete, dass er auf der Konzernleiter nicht mehr viel höher klettern und eines Tages als Kanonenfutter für den Megakonzern enden würde, für den er arbeitete. Nichts an ihm schien besonders gefährlich; er wirkte eher defensiv als proaktiv. Seine Fingernägel waren sorgfältig manikürt, doch seit der letzten Maniküre hatte er sie sich wieder abgekaut. In den Nagelbetten des Zeigefingers und des Mittelfingers seiner linken Hand klebte altes Blut.
Das glattrasierte Gesicht und zurückgegelte Haar des Mannes spiegelten das Neonlicht wider, das durch die Scheiben des Tang’s im Old-Town-Distrikt von Santa Fe drang. Sein modischer Anzug war gepflegt, aber seine Körperpanzerung war so schwer, dass die Kleidung schlecht saß, wenn ihr Träger sich so wie jetzt auf einer Bank niedergelassen hatte. Der Anzug war so geschnitten, dass er die Panzerung verbarg, ein weiteres Zeichen, dass Mister Johnson entbehrlich war. Die ganz großen Creds verdiente man nicht im Stehen – es sei denn, man hielt dabei eine Pistole in der Hand.
Das Tang’s war ein billiges Restaurant, aber es war geräumig, sodass sich die Gäste in Nischen und an Tischen verteilen konnten. Es gab nicht viel Security, aber die versteckte Technik und das erfahrene Personal konnten ein Lone-Star-Einsatzteam meilenweit riechen. Bis die Bullen ankämen, wäre jeder Runner hier schon längst im Gassenlabyrinth rund um die Kaschemme verschwunden.
Der Raum war in Türkis und Gelb getaucht, typisch für den Südwesten, aber hier drinnen führten die hellen Farben einen ewigen Kampf mit japanischen Rot- und Schwarztönen. Gemeinsam hielten sie gerade so die tiefschwarze Nacht zurück, die draußen vor dem Fenster auf der Straße herrschte. Zwei Barfrauen sorgten dafür, dass Drinks und endloses Geschnatter flossen, doch Hawke wusste, dass beide Frauen schwere Cyberware trugen. Sie bewegten sich, als hätten sie Kugellager in den Gelenken. Die Kameras enthielten Saeder-Krupp-22-Millimeter Miniguns. Aus der Küche hinten im Gebäude drang der Duft von Gewürzen in den Raum.Von den gesalzenen Preisen auf der Speisekarte wurde auch die Security bezahlt. Das Geld war gut investiert.
Hawke tippte den unauffälligen White-Noise-Generator von Mitsuhama Computer Technologies an. »Wir sind nicht hier, um uns zu unterhalten. Sie sind hier, um mir einen Run anzubieten. Ich bin hier, um zu entscheiden, ob ich ihn annehme oder nicht. Wenn die Bezahlung nicht stimmt, verschwinde ich. Wenn mir der Run nicht gefällt, verschwinde ich. Wenn ich nicht glaube, dass ich den Run schaffen kann, verschwinde ich.«
In der Dunkelheit, die vom Neonlicht zerschnitten wurde, hing ihm Mister Johnson an den Lippen.
»Wenn ich denke, dass Sie mir eine Falle stellen«, fuhr Hawke im gleichen sachlichen Ton fort, »bringe ich Sie um und verschwinde.«
Mister Johnson lehnte sich zurück.
»Gibt es sonst noch etwas, das Sie besprechen wollen?«, fragte Hawke.
»Nicht unbedingt«, sagte Mister Johnson, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«
»Okay.«
Zu schnell griff Mister Johnson in sein Jackett, dann merkte er, was er da tat, und bewegte sich langsamer. »Ich bin beauftragt, Ihnen diesen Credstick zu geben.«
»Alles klar.« Hawke hielt eine Raecor-Sting-Holdout-Pistole in seiner großen Hand versteckt. Die kleine Waffe verschoss Flechettes, die das Gesicht oder die Kehle des Mannes auf der anderen Seite des Tischs in blutigen Brei verwandeln konnten.
Mit zitternden Fingern, die verrieten, wie selten er solche Aufgaben bisher übernommen hatte, legte Mister Johnson den Credstick auf den Tisch. »Darauf sind fünftausend Nuyen. Nur dafür, dass Sie mich anhören. Wie besprochen.«
»Okay.« Die Vorkasse war einer der Hauptgründe, warum Hawke zu diesem Treffen bereit gewesen war. Aufzutauchen und einfach mit so vielen Creds in der Tasche wieder wegzugehen war nichts, worüber man lange nachdenken musste.
»Wollen Sie ihn nicht überprüfen?« Mister Johnson deutete auf den Schlitz im Tisch.
»Nein.« Den Credstick einzustöpseln würde ihm zwar erlauben, zu sehen, wie viele Creds sich darauf befanden, aber es würde auch jedem einzelnen Chiphead in der Gegend auf der Suche nach dem nächsten Better-Than-Life-Download verraten, dass er einen ungesicherten Credstick bei sich trug, der nicht mit einer Systemidentifikationsnummer verknüpft war. Da Hawke keine offizielle SIN hatte, erhielt er für seine Jobs meistens Creds auf die Kralle.
»Sie vertrauen mir.«
»Nein. Wenn die Creds nicht drauf sind, finde ich Sie schon wieder. Und dann wird unser Meeting nicht so angenehm.«
Mister Johnson fuhr sich mit dem Finger in den Hemdkragen und zog daran.
»Der Run«, erinnerte ihn Hawke. Er wurde langsam unruhig. Ein Treffen mit einem Mister Johnson, das zwei Minuten dauerte, war anderthalb Minuten zu lang. Man traf sich, um Informationen und Creds auszutauschen, keine Lebensgeschichten.
»Es geht um eine Person unten in Aztlan, die Sie … rekrutieren sollen«, sagte Mister Johnson.
»Und ist diese Person bereit, sich rekrutieren zu lassen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Jemanden gegen seinen Willen zu entführen kostet extra.« Hawke hatte schon öfter Konzerneigentum beschafft. Dieses Eigentum war oft menschlich oder metamenschlich. Manche der Zielpersonen wollten den Konzern wechseln, andere nicht. Hawke versuchte, sich von »Rekrutierungen« fernzuhalten, bei denen das Objekt nicht mitspielen wollte. Es war schwierig genug, dem Druck von außen zu widerstehen, da brauchte man nicht auch noch interne Auseinandersetzungen.
Mister Johnson schob einen Datenchip in Schutzhülle über den Tisch. »Alles, was Sie wissen müssen, ist hier drauf.«
Hawke rührte keinen Finger. »Hat der Rekrut eine Verbindung zu einem Konzern?«
»Soweit ich es verstehe, ist der Rekrut ein Subunternehmer, der irgendwo in Aztlan an einem Spezialprojekt arbeitet. Ich weiß nicht genau, wo.«
»Wie speziell ist das Projekt?«
»Der Konzern, für den der Rekrut arbeitet, hat keine Ahnung, was das Projekt in Wirklichkeit wert ist.« Mister Johnson atmete angespannt aus. »Das ist alles, was ich weiß.«
Hawke glaubte ihm. Ein entbehrlicher Mister Johnson bekam gewöhnlich nicht allzu viele wichtige Informationen. Hawke nahm den Datenchip und schob ihn sicher in ein Spezialgehäuse, das ihn gegen GPS-Tracking und RFID-Identifikation abschirmte. Falls jemand dem Datenchip durch die Matrix folgte, sah es jetzt für ihn aus, als sei der Chip in ein schwarzes Loch gefallen.
Es sei denn, der Verfolger hatte bessere Matrixware als er selbst.
»Nehmen Sie den Auftrag an?«, fragte Mister Johnson.
Hawke steckte sich das Gehäuse in die Tasche und stand auf, sodass er den kleineren Mann um Längen überragte. »Ist auf dem Datenchip eine Kommlink-Adresse, unter der ich Sie erreichen kann?«
»Ja, aber ...«
»Dann gebe ich Ihnen Bescheid.« Eine Bewegung, die sich im Fenster spiegelte, machte Hawke darauf aufmerksam, dass drei Männer aus unterschiedlichen Richtungen auf ihn zukamen. Einen von ihnen erkannte er sofort. Es gab Ärger.
Kapitel 2
Hawke drehte sich langsam um und sah die drei Neuankömmlinge an.
»Hoi, Hawke«, sagte Deckard mit einem kalten Grinsen. Der Ausdruck verzog sein breites Gesicht zu einer Grimasse, durch die man die riesigen Reißzähne deutlich erkennen konnte, die aus seinem massiven Unterkiefer ragten.
Deckard war riesig, fast zweieinhalb Meter groß. Muskelstränge zogen sich über seinen Trollkörper, und die Cyberware in seinem Arm und Gesicht spiegelte das Neonlicht wider. Silberne Ringe hingen von seinen spitzen Ohren. Große Hörner bogen sich nach hinten über seinen Kopf und flankierten einen scharlachroten Irokesenschnitt. Seinen Bart hatte er ebenfalls rot gefärbt. Natürliche Knochenformationen ließen sein Gesicht wie eine zerklüftete Landschaft erscheinen.
Er trug eine enge, ärmellose, gepanzerte Weste, um seine prallen Armmuskeln und seine Cyberware zur Schau zu stellen. Seine Beine steckten in einer gepanzerten Ripp-Hose, die in schweren Kampfstiefeln verschwand. Ein Halfter an seiner Hüfte zeigte links und rechts ein zusammenpassendes Paar Ares Predator IVs, wie bei einem Revolverhelden im Wilden Westen.
Zwei weitere Trolle, ähnlich gekleidet und ausgerüstet, standen zu Deckards Rechten und Linken.
»Haben wir Biz?«, fragte Hawke ihn mit leiser Stimme.
»Du und ich nicht«, antwortetet Deckard, der ihn deutlich überragte. »Das Biz zwischen uns beiden ist Geschichte. Das hast du mir klar gemacht.«
Hawke wartete, denn der Troll machte keine Anstalten, zur Seite zu treten.
»Ich bin hier, um mit Mister Johnson ins Geschäft zu kommen«, sagte Deckard, immer noch an Hawke gerichtet.
»Ich … ich kenne Sie nicht.« Mister Johnson sah aus, als sei ihm schlecht vor Angst. Er duckte sich in seinen Sitz.
Deckard grinste. »Können Sie auch gar nicht. Hawke redet nicht gern über die Chummer, mit denen er arbeitet. Er heimst lieber selbst den ganzen Ruhm ein. Aber die Arbeit macht nicht immer er.«
Der einzige Ruhm, der für Hawke zählte, war es, in den Schatten zu überleben, ohne auf dem Radar von zu vielen Megakonzernen zu erscheinen. Ein Runner nahm manche Jobs an, andere lehnte er ab, wenn er nicht kaltgemacht werden wollte. Dieses Konzept war Deckard jedoch fremd. Dem Troll ging es nur um die Creds. Seine Gier setzte sich allzu oft gegen seinen Verstand durch.
»Ich habe mit Hawke zusammengearbeitet«, sagte Deckard. »Habe Feuerkraft für ein paar seiner Runs gestellt. Habe ihm mehr als einmal den Arsch gerettet. Um es kurz zu machen, ich bin besser als er. Wer auch immer Sie geschickt hat, wäre besser dran, wenn er mich anheuert.«
Hawke spürte Mister Johnsons Blick in seinem Rücken, doch er drehte sich nicht um. Deckard war gefährlich.
»Ich bin nicht befugt, mit jemand anderem über die Sache zu sprechen«, sagte Mister Johnson. »Hawke wurde namentlich erwähnt. Meine Auftraggeber wollen ihn.«
Deckards Miene verdüsterte sich, als er das hörte. »Dann ist es ja gut, dass Sie Hawke den ungesicherten Credstick und den Datenchip gegeben haben, stimmt’s? Wenn ich die habe, sind wir im Geschäft. Sie können Ihren Vorgesetzten im Konzern sagen, dass Sie jemand Besseren gefunden haben, und vielleicht sogar eine Beförderung für Sie selbst raushauen. Wir reden noch mal über den Preis, wenn ich so weit bin.«
Hawke lächelte, als er das hörte, und aktivierte seine Reflexbooster. Die Nervenverstärker und Adrenalin-Stimulatoren, die in seinem ganzen Körper implantiert waren, feuerten, und die Welt um ihn herum bewegte sich plötzlich langsamer.
»Hawke?«, fragte Mister Johnson. Seine Stimme hallte ein wenig, weil sie so langsam war, dass Hawke jeden Teil der Sprachmelodie unterscheiden konnte. »Was hat das zu bedeuten?«
»Deckard versucht, meinen Run zu klauen«, erklärte Hawke. »Wir haben ein paar Mal zusammengearbeitet.«
»Wir waren Partner«, knurrte der Troll.«
»Ich arbeite nicht mit Partnern.« Es kostete Hawke einige Mühe, Wörter in normaler Geschwindigkeit auszusprechen. Sein Instinkt, zu fliehen oder zu kämpfen, war in voller Alarmbereitschaft und hämmerte auf seinen Körper und seinen Geist ein. Er war so aufgeputscht, dass er sich kaum mehr unter Kontrolle hatte. Er war das fleischgewordene Chaos und wartete nur darauf, explodieren zu dürfen.
»Hawke hat mich gedisst«, sagte Deckard. »Dachte wohl, er kann mich ausnutzen und wegwerfen wie ein billiges Sexspielzeug, nachdem die Action vorbei war.« Er warf dem großen Mann einen finsteren Blick zu. »Scheint nicht geklappt zu haben, was?«
»Unser Biz war vorbei«, sagte Hawke. »Wir hätten in Zukunft weitere Geschäfte miteinander machen können.«
»Ach ja? Hattest du vor, mich hier mit an Bord zu holen?«
»Ich weiß noch gar nicht, worum es hier geht.« Hawke wusste, dass er Santa Fe besser verlassen hätte, nachdem er entschieden hatte, dass er mit Deckard keine Runs mehr machen würde. Der Troll war zu gierig geworden und wollte führen, anstatt sich führen zu lassen. Hawke hatte andere Pläne.
»Worum es hier geht«, sagte Deckard, »ist meine Sache. Her mit dem Credstick und dem Datenchip. Dann lasse ich dich gehen.«
»Das dürfen Sie nicht«, sagte Mister Johnson. Er stand auf und stellte sich neben Hawke.
Hawke antwortete nicht, aber die Reaktion des Burschen überraschte ihn und flößte ihm ein wenig Respekt ein. Sie verriet ihm außerdem, dass sein unbekannter Auftraggeber mächtig war – und skrupellos.
Mister Johnson blickte den Troll finster an. »Der Konzern, für den ich arbeite, macht so kein Biz. Die lassen den Auftrag lieber sausen.«
Deckard zuckte die Achseln. »Mir egal. Wenn ich die Info auf dem Datenchip habe, finde ich garantiert einen anderen Konzern, der bereit ist, dafür zu zahlen, dass ich den Job erledige. Oder vielleicht sogar nur dafür, dass ich herausfinde, was auf dem Chip ist.«
Einige der Gäste des Tang’s hatten sich klammheimlich von ihnen entfernt. Hawke wusste, dass die Miniguns auf ihren Tisch gerichtet waren.
»Vielleicht«, sagte Hawke ruhig, »setzt der Konzern hinter Mister Johnson auch ein Kopfgeld auf dich und deine Chummer aus.«
Die beiden Trolle, die Deckards Verstärkung bildeten, blickten sich an. Straßensamurai waren nicht unbedingt die Hellsten, ihre Spezialgebiete waren für gewöhnlich Muskelkraft und Draufhauen. Genau wie bei Deckard. Nur dass dieser darüber hinaus noch über ein wenig Heimtücke und Gier verfügte.
»Geschäft ist Geschäft«, sagte Deckard. »Wenn sie es wirklich wollen, verhandeln sie mit mir.«
Und damit hatte er wahrscheinlich recht. Konzerne brauchten Leute, die für sie durch die Schatten liefen, und wollten sich nicht mit Blut an den Händen erwischen lassen. Eventuell ließ der Konzern die ganze Sache fallen. Vielleicht war auf dem Datenchip nichts, was den Auftraggeber mit dem Run in Verbindung brachte.
Vielleicht kamen alle sauber aus der Sache heraus.
Alle, außer Hawke. Deckard würde die Nachricht verbreiten, dass er eingeknickt war. Es würde sich herumsprechen. Und in den Schatten sprach sich alles mit Cybergeschwindigkeit herum – egal, ob es die Wahrheit oder nur ein Gerücht war.
»Gib mir den Datenchip«, verlangte Deckard erneut.
Hawke griff mit der linken Hand in den Mantel und zog den Datenchip mit Daumen und Zeigefinger heraus. Außerdem trug er in der linken Handfläche immer noch die versteckte Raecor Sting. Mit lang eingeübter Fingerfertigkeit hielt er den Chip nach vorn. Als Deckard das Schutzgehäuse sah, vergaß er alles andere.
Hawke drückte die Sting, und winzige, rasiermesserscharfe Flechettes schossen aus dem verkürzten Lauf zwischen seinem Mittel- und Ringfinger.
Kapitel 3
Die erste Salve von Metallsplittern zerschoss Deckards rechtes Auge. Das war noch biologisch. Gewesen. Die rasiermesserscharfen Splitter verwandelten den Augapfel in eine geleeartige Masse aus Blut und Tränenflüssigkeit, die dem Troll über die raue Wange rann.
Deckard schrie auf und schlug sich eine Hand auf das erblindete Auge. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts, bis er in die Trolle hinter ihm hineinlief. Beide hatten schon ihre Waffen gezogen.
Hawke wirbelte herum und packte Mister Johnson am Revers seines Jacketts. Er hob ihn in die Luft und wuchtete ihn durch das Transplas-Fenster. Dann sprang er ihm hinterher, während im Restaurant die Miniguns das Feuer auf ihren Tisch eröffneten.
Sein Mantel bot laut Garantie Schutz vor Kugeln bis 20 Millimeter, aber er schützte ihn nur vor Einschlägen. Der Gewebeschock – die Auswirkungen, die Kugeln auf ein biologisches Ziel haben konnten – kam trotzdem durch und konnte ernsthafte Verletzungen verursachen. Er konnte sich auch immer noch Knochen brechen.
Mister Johnson stürzte vor dem Tang’s auf den Gehweg und versuchte sofort aufzustehen. Hawke verfluchte die Dämlichkeit des Mannes und stieß sich vom Fenstersims in seine Richtung ab, wobei noch mehr Glassplitter in alle Richtungen davonstieben. Mindestens eine der Kugeln aus den Miniguns oder aus einer Ares Predator IV schlug zwischen seinen Schulterblättern ein, während er im Sprung war, und raubte ihm den Atem.
Hawke landete auf Mister Johnson und warf ihn zu Boden. Mit seinem letzten bisschen verbleibendem Atem krächzte er: »Bleiben Sie unten, sonst bringen sie Sie um!« Er hoffte, dass das Kreuzfeuer der Miniguns Deckard und die Trolle erwischt hatte.
Die Straße vor dem Tang’s leerte sich schnell. Einige der Passanten waren bewaffnet, aber niemand wollte in einen Schusswechsel mit drei Trollen verwickelt werden. Hawke war dankbar dafür.
Deckard und ein verbliebener Troll sprangen durch das kaputte Fenster und rollten sich in Deckung. Dann rappelten sie sich beide auf die Knie hoch und hoben große Pistolen. Hawke riss Mister Johnson auf die Beine, während die Trolle zielten. Die Zeit wurde für sie alle langsam knapp. Lone Star war mit Sicherheit bereits alarmiert worden, und die Einsatzfahrzeuge waren gewiss schon auf dem Weg zu ihnen.
Alles um Hawke herum bewegte sich zähflüssig. Mister Johnson konnte nicht mit ihm Schritt halten, dabei war es nur Hawkes zügige Gangart, die sie gerade eben außerhalb der Reichweite der Schießkünste von Deckard und dem anderen Troll hielt. Er musste Mister Johnson halb tragen, indem er ihn vorwärtsschubste und ihm gleichzeitig half, auf den Beinen zu bleiben.
Sie bogen um eine Ecke und rannten in eine relativ sichere dunkle Gasse. Hawke gab Mister Johnson einen weiteren Stoß. »Verschwinden Sie!«
Völlig verängstigt rannte der Mann um sein Leben die Gasse hinunter.
Hawke blieb kurz hinter der Ecke stehen, wo Deckard und sein Partner ihn nicht sehen konnten. Die Stiefelsohlen der Trolle klatschten schwer auf den Gehweg. Hawke, der mittlerweile bei der vollen Geschwindigkeit angelangt war, die seine Reflexbooster zuließen, griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Blendgranate heraus, die er in die Beuge seines linken kleinen Fingers nahm.
Dann griff er nach hinten und zog die beiden Katare, die er auf den Rücken geschnallt trug. Die Stoßdolche verlängerten sich, als ihr Programm die einzelnen Teile an den richtigen Stellen einrasten ließ. Die Griffe der beiden Waffen waren wie ein H geformt und die Klingen waren ausgefahren je vierzig Zentimeter lang. An ihrem vorderen Ende befand sich eine panzerbrechende Nadelspitze, nach hinten verbreiterten sie sich auf elf Zentimeter. Ihre glänzenden Monofilamentklingen schnitten problemlos durch Fleisch, Knochen und die meisten Panzerungen. Für gewöhnlich verbluteten Hawkes Gegner rasch, wenn er ihnen den Dolch bis zum Heft in den Leib stieß und ihn dann wieder herauszog.
Mister Johnsons Schritte entfernten sich schnell und klatschten dabei laut auf das Pflaster der Gasse, doch ein gut trainiertes Ohr konnte leicht erkennen, dass jetzt nur noch eine Person weglief. Hawke hätte das sofort gemerkt und gewusst, dass ein Überraschungsangriff auf ihn wartete. Er hoffte, dass Deckard und sein Kumpel nicht ganz so aufmerksam waren, vor lauter Furcht, ihr großer Fang könnte ihnen entkommen.
Deckard kam zuerst um die Ecke, eine Pistole in jeder Hand. Im Mondlicht glänzte sein Cyberauge silbrig, als er Mister Johnson nachsah, aber im Vergleich zu Hawke wirkte er behäbig.
Hawke schnippte die Blendgranate an die gegenüberliegende Mauer der Gasse. Der zweite Troll tauchte neben Deckard auf. Beide bemerkten die Bewegung in der Luft und eröffneten das Feuer.
Eigentlich hatte Hawke damit gerechnet, dass der Aufprall gegen die Mauer die Blendgranate explodieren lassen würde, doch stattdessen besorgte das eine der Kugeln der Trolle. Die Granate ging zu früh hoch, noch bevor er es geschafft hatte, sich ganz wegzudrehen. Das gleißende Licht und der Donnerschlag der Detonation nahmen ihm die Sicht und den Großteil seines Gehörs.
Der Strudel aus Licht und Lärm fällte Deckard und seinen Komplizen geradezu. Offenbar hatten sie beide vercyberte Augen und Ohren. Einen langen Augenblick blieben sie vor Schmerzen wie gelähmt.
Hawke sprang vorwärts. Er plante, Deckard zuerst aus dem Spiel zu nehmen. Stattdessen bemerkte der zweite Troll jedoch eine Bewegung oder ein Geräusch, als Hawke sich näherte, und begann wieder zu feuern. In schneller Abfolge hallten die Schüsse durch die Gasse.
Als wolle er in einem Fußballspiel seinem Gegner eine Blutgrätsche verpassen, duckte sich Hawke weg und schaffte es, unter den Kugeln hindurchzurutschen, die nur wenige Zentimeter über seinem Kopf durch die Luft pfiffen. Der Asphalt schürfte an seinen Beinen und Hüften, als er den Troll rammte. Es fühlte sich an, als wäre er mit voller Wucht in einen Baumstamm gerast, und der Troll bewegte sich keinen Millimeter weiter, als nötig war, um seine Pistolen nach unten auf Hawke zu richten.
Gegen Straßensamurai in den Nahkampf zu gehen war ein Fehler, der an Selbstmord grenzte. Zusätzlich zu ihrer äußeren Panzerung hatten viele von ihnen subdermale Schichten in ihr Fleisch einarbeiten lassen, die ihre empfindlichsten Stellen schützten. Sie waren groß, schwer und fast unverwundbar.
Es sei denn, man wusste, was man tat. Wie Hawke. Er rollte sich zur Seite und warf sich herum, sodass er rückwärts nach den Fußknöcheln des Trolls schlagen konnte. Die Monofilamentklinge des Katars fuhr durch die Achillessehnen seines Gegners, der augenblicklich die Kontrolle über seinen Stand verlor.
»Er hat mich erwischt, Deckard! Der Drekhead hat mir die Beine zerschnitten!« Der Troll feuerte in den Asphalt, doch Hawke war schon wieder weg. Die Kugeln rissen kleine Krater in das raue Pflaster.
Deckard drehte sich blind um, das eine Auge zerschossen und das andere immer noch von dem gleißenden Licht geblendet, und schoss auf seinen Begleiter, offenbar in der Hoffnung, Hawke zu erwischen. Die Kugeln schlugen in den anderen Troll ein. Die meisten von ihnen prallten an der Panzerung und den subdermalen Verstärkungen des Metamenschen ab, doch ein paar davon rissen auch Wunden in ungeschütztes Fleisch.
Der Troll brüllte vor Schmerz und Angst und versuchte, auszuweichen. Dabei stolperte er jedoch über seine verkrüppelten Füße und brach zusammen.
Mit seinem rechten Katar schlitzte Hawke ihm die Kehle durch. Die Monofilamentklinge fuhr durch den verstärkten Knorpel über dem Kehlkopf des Trolls wie durch Butter. Dickes Blut spritzte auf die Gasse. Der unverwechselbare Geruch stieg Hawke in die Nase und er begann, durch den Mund zu atmen.
Das Brüllen des Trolls wich einem gedämpften, würgenden Gurgeln, als er verblutete.
»Cobb!«, bellte Deckard, wich zurück und lud nach. »Cobb!«
Hawke rollte sich zu einer Kugel zusammen und kam auf die Beine. Geräuschlos bewegte er sich von der Seite auf Deckard zu. Der Straßensamurai wandte sich um. Offenbar hatte er doch gehört oder gesehen, dass Hawke sich näherte. Er stieß seine Pistolen nach vorn und begann wieder zu feuern.
Hawke duckte sich unter der rechten Pistole durch und ließ sie sich über die Schulter gleiten. Mit dem linken Katar schob er die andere Pistole weg. Dann verdrehte er seine Schulter und seine Hüfte und stieß Deckard mit seinem ganzen Gewicht die Klinge in die Brust.
Einen Augenblick lang hielt die Panzerung, und einen weiteren Moment hielt die subdermale Keramikverstärkung über dem Brustbein, doch schließlich schnitt Hawkes Hieb direkt ins Herz des Straßensamurai.
Der Troll stand wie eingefroren vor Schmerz und Schock. Ungläubig blickte er mit seinem heilen Auge nach unten.
»Leck mich, Hawke«, knurrte Deckard durch blutige Spucke.
»Das hier hätte nichts Persönliches werden müssen. Es war nur Biz.«
»Alles ist persönlich, du verräterischer Drekhead.«
Nur für den Fall, dass Deckard ein Backup-Herz und irgendein Sicherungsrelais für das verletzte hatte, zog Hawke das rechte Katar wieder heraus und verpasste Deckard einen mächtigen Aufwärtshaken mit dem linken. Die Klinge fuhr durch die subdermale Panzerung an der Kehle des Trolls und hinauf in sein Gehirn.
Deckard sackte in sich zusammen, dann kippte er um. Bis ein Crash-Cart oder einer der anderen Notrufservices ihn erreichte, wäre es zu spät für eine Wiederbelebung. Dann wäre er nur noch als Organspender und Cyber-Schrotthaufen zu gebrauchen, der auf Plünderer wartete.
Dieses Schicksal erwartete viele Shadowrunner. Das Geschäft war nicht gerade nachsichtig, und die Lernkurve war tödlich.
Hawke sprintete Mister Johnson hinterher. Hinter ihm schallten die Sirenen von Lone Star durch den Sprawl.
Kapitel 4
Mister Johnson war nicht gut in Form und hatte es kaum aus der Gasse heraus geschafft. Hawke holte ihn mühelos ein und packte ihn am Ellbogen. Überrascht von dem plötzlichen Widerstand schrie Mister Johnson auf und versuchte, seinen Arm wegzureißen.
»Langsam«, riet ihm Hawke. »Ich habe mich um sie gekümmert.« Da der dritte Troll nicht aufgetaucht war, war sich Hawke ziemlich sicher, dass er das Feuer der Miniguns nicht überlebt hatte. Dennoch führte er seinen Schutzbefohlenen weiter zügig die Straße entlang.
»Ich werde niemandem davon erzählen.« Mister Johnson stolperte an Hawkes Seite mit. Er war blass und schwitzte. »Ich schwöre es.«
Hawke war sich zunächst nicht sicher, wie er mit dem Mann umspringen sollte. Oft waren Mister Johnsons genauso gefährlich wie ihre geheimen Auftraggeber. Viel zu viele versuchten, sich der Shadowrunner, die sie beauftragt hatten, später wieder zu entledigen, um keine Spuren zu hinterlassen.
Auf der Straße rasten Autos vorbei. Aus den Bars, Bodegas und Stuffer Shacks links und rechts von ihnen strömten Leute, bildeten Gruppen und verliefen sich dann wieder in den Schatten und dem Neonlicht. Ein schweres Fahrzeug von Lone Star in Santa Fe hielt vor dem Tang’s. Der Manager und die Köche knieten auf der Straße, die Hände am Hinterkopf verschränkt. Der Johnson wollte es ihnen nachtun.
»Stehen Sie auf.« Hawke verdrehte die Augen und zog Mister Johnson am Kragen wieder auf die Beine. »Ich bringe Sie hier raus.«
»Was ist mit den Trollen?«
»Gefraggt. Die folgen uns nirgendwo mehr hin. Lone Star ist ein ganz anderes Problem.« Hawke schubste den Mann vor sich her. »Sind Sie mit dem Auto da?«
»Nein. Ich habe ein Taxi vom Flughafen genommen.«
Also war Mister Johnson nicht von hier. Hawke speicherte die Information ab. »Wie steht’s mit einem Hotel?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das war nur ein kurzer Zwischenstopp. Entweder würden wir ins Geschäft kommen oder nicht. Ich hatte nicht vor, mich hier länger aufzuhalten.«
Hawke schritt schnell weiter denn Gehweg entlang. Er hielt Mister Johnsons Arm fest umklammert, sodass dieser sich seinem Gang anpassen musste.
»Danke, dass Sie mich da hinten gerettet haben.«
Hawke nickte. Dass er keine andere Wahl gehabt hatte, erwähnte er nicht. Zuzusehen, wie Mister Johnson ermordet oder entführt wurde, wäre sehr schlecht fürs Biz gewesen. Und wenn Lone Star sich seine Kontaktperson geschnappt hätte, hätte das für Hawke wahrscheinlich noch mehr Drek am Schuh bedeutet.
»Was ist mit den Kameras im Restaurant? Jemand könnte mich erkennen.«
»Haben Sie Dreck am Stecken?«
»Nein.« Mister Johnson sah empört aus. »Keine Polizeiakte. Aber eine gewisse Stellung in meinem Konzern.«
Hawke warf dem Mann einen Blick zu und fragte sich, ob das wirklich der Wahrheit entsprach, ob Mister Johnson nur paranoid war oder ob er ein besonders aufgeblasenes Ego hatte. Wer auch immer ihn geschickt hatte, hätte wohl kaum jemanden ausgesucht, der leicht wiederzuerkennen war.
»Im Tang’s gibt es nichts, woran man Sie erkennen könnte.« Hawke rief sein Personal Area Network auf und taggte Screamsheets, die über die Action im Restaurant berichteten. Die Details waren dünn gesät. Namen wurden nicht genannt, dafür liefen verschwommene Aufzeichnungen aus dem Tang’s. »Haben Sie gesehen, wie die Angestellten auf den Knien auf die Straße gekommen sind? Das machen sie, damit sie nicht versehentlich erschossen werden.«
»Aber das Video ...«
»Ist gerade deutlich genug, dass man erkennen kann, dass kein Angestellter von Tang in die Schlägerei verwickelt war, aber nicht so scharf, dass man Gäste identifizieren könnte. Deshalb sind die Preise dort auch so gesalzen. Außerdem hatte ich einen White-Noise-Generator mit Videoschutz dabei. Unser Tisch und alles, was sich dort abgespielt hat, werden dadurch verzerrt. Ich möchte auch nicht erkannt werden.«
»Oh.«
Zwei Blocks weiter führte Hawke Mister Johnson in eine Gasse. Am anderen Ende schob er einen Credstick in einen Schlitz, um das Tor eines Privatparkplatzes zu öffnen, der von Sicherheitsdrohnen bewacht wurde. Hawke gab den Drohnen im Vorbeigehen die richtigen Passwörter und verlinkte sich dann mit der dunkelroten Shin-Hyung-Limousine, die er derzeit fuhr.
Er hatte den Heckspoiler des Fahrzeugs entfernen lassen, damit er besser im Verkehr untertauchen konnte. Leistung hatte er jedoch keine geopfert, und er hatte verschiedene Angriffs- und Verteidigungssysteme einbauen lassen. Ein Auto zu unterhalten war teuer. Dauerhaft das gleiche Auto zu unterhalten war teuer und gefährlich, vielleicht sogar ein wenig dumm. In dieses hier hatte er nur zu seinem persönlichen Schutz auf der Straße investiert.
»Wohin fahren wir?« Mister Johnson trat einen Schritt zurück, als der ferngesteuerte Shin-Hyung vor ihm zum Stehen kam.
»Zum Flughafen.« Hawke glitt in den Fahrersitz, der ihn sofort umschloss und anschnallte. Im Auto, sicher in seiner Panzerung und seiner Bewaffnung, entspannte er sich ein bisschen. »Sie müssen die Stadt verlassen.«
Mister Johnson eilte um das Auto herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Windschutzscheibe leuchtete blau und scannte ihn mit einem Lichtbalken von Kopf bis Fuß.
Hawkes PAN lud die Informationen, die das Sicherheitssystem des Autos durch die Cyberware erhalten hatte, als es den Beifahrer ausspioniert hatte. Der Upload legte sich dünn wie ein Geist über sein Gesichtsfeld. Der Scan hatte erkannt, in welchen Läden Mister Johnson seine Kleidung, seine Schuhe, seine Geldbörse und seine Accessoires gekauft hatte. Außerdem wusste er nun, welches Aftershave und welches Deodorant der Mann trug.
Nichts an Mister Johnson war vercybert oder sonst wie umgebaut. Sein Blinddarm fehlte, aber es saß nichts anderes an dessen Stelle. Die Gurte, die sich um den Mann wickelten, konnten sich auf das kleinste Kommando in Fesseln verwandeln.
UNBEKANNTER PASSAGIER, blinkte Hawkes PAN. Er gab die Passcodes ein, um die Selbstverteidigungssysteme des Autos auszuschalten, während er gleichzeitig durch das offene Tor des Parkplatzes und die Gasse entlang raste. Sekunden später war er auf der Straße und rollte durch den Sprawl Richtung Flughafen, vorbei an geschäftigen Läden und Bars.
Mister Johnson wand sich unbehaglich. »Was soll ich jetzt machen?«
Hawke sah auf das Radar-Overlay seines PAN. Die Systeme des Autos zeigten an, dass sie allein waren und sich niemand um sie scherte. Aus alter Gewohnheit sah er trotz der Technik auch noch in die Rück- und Außenspiegel.
»Verschwinden Sie aus Santa Fe. Gehen Sie nach Hause. Bringen Sie sich in Sicherheit.«
Mister Johnson leckte sich nervös die Lippen. »Und was ist mit dem Run?«
»Wenn ich ihn annehme, melde ich mich bei Ihnen.«
Kapitel 5
»Zeig mir dein Gesicht!«
Der Befehl kam aus einer Edelstahl-Box neben den schweren Sicherheitstoren eines Schrottplatzes außerhalb des Sprawls von Santa Fe. So weit draußen bohrten nur die Scheinwerfer des Schrottplatzes Löcher in die Dunkelheit.
Hawke rollte seine stark getönte Scheibe herunter und wandte sein Gesicht der Kamera zu, die auf die Box montiert war. Ein unbedarfter Beobachter hätte vermutet, dass das Gerät zwei Linsen hatte. Hawke dagegen wusste, dass sich hinter der einen die Mündung einer Enfield AS-7 Schrotflinte verbarg. Falls ein Netzhautscan das falsche Ergebnis brachte, pustete die Flinte dem Eindringling den Kopf weg.
»Komm rein, Chummer«, quiekte die mechanische Stimme durch einen altmodischen Lautsprecher.
Das große Tor öffnete sich, während Hawke das Fenster wieder schloss. Die Limousine rollte über die stählerne Zugbrücke, die ein Auto in einem einzigen Herzschlag verschwinden lassen konnte, wenn der Besitzer des Schrottplatzes es wünschte. In vier Metern Tiefe warteten Spieße, und anschließend konnte die Grube mit Napalm geflutet werden.
Krank liebte seine Einsamkeit und verteidigte sie mit Zähnen und Klauen.
Drohnen und ungezähmte Schweine liefen zwischen den hoch gestapelten Autowracks und schweren Maschinen frei herum und dienten als zusätzliche Security. Die Drohnen waren bewaffnet und darauf programmiert, anzugreifen und Ausweichmanöver durchzuführen. Krank behauptete, die Schweine seien Arkansas-Razorbacks und darauf abgerichtet, Eindringlinge zu töten und zu fressen.
Eine kleine Drohne flatterte vor Hawkes Windschutzscheibe in Position und schwebte dort einen Augenblick lang in der Luft. Sie blieb allerdings nicht lange genug dort stehen, dass er hätte erkennen können, welche Art von Bewaffnung sie trug.
Ein kleines Stück weiter rempelte eines der Schweine – ein mindestens dreihundert Kilo schweres Exemplar – den Sportwagen so heftig an, dass er ins Schwanken geriet.
Hawke öffnete einen Kommunikationskanal zum Hauptgebäude. »Wenn dieses mutierte Stück Speck mir eine Delle in den Wagen haut, schlitze ich ihm die Kehle durch und spende seinen Kadaver an das nächste von Obdachlosen besetzte Haus.«
»Lass Alice in Ruhe!« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war tief und musikalisch. »Sie ist schwanger. Wird mir einen ganzen neuen Wurf Wachschweine bringen. Das war doch nur ein liebevoller Stupser. Wenn sie es ernst gemeint hätte, hätte sie dich umgeworfen.«
Das Hauptgebäude war zwei Stockwerke hoch und mit billigem Metall verkleidet. Es sah nicht besonders stabil aus, doch wie bei der Box am Vordertor täuschte dieser Eindruck. Das Gebäude konnte Volltreffer von Miniguns und sogar von einer Kanone überstehen. Der langgezogene Quader hatte ein paar runde Fenster, die sich als Schießscharten nutzen ließen.
Als Hawke sich dem Gebäude näherte, öffnete sich dort ein großes Tor. Er fuhr hinein und die Tür schloss sich hinter ihm. In dem geräumigen Lagerhaus befanden sich nur ein paar Autos, Trucks und Motorräder. An dem einen Ende war ein Platz zum Parken, auf der anderen Seite eine Werkstatt, wo Flaschenzüge über drei Gruben baumelten.
Drinnen war es kühl, obwohl es draußen sehr heiß gewesen war. Kranks Geschäft brachte ihm eine Menge Creds ein, insbesondere so nah an der Grenze zu Aztlan, deshalb konnte er es sich leisten, den ganzen Raum zu klimatisieren.
Hawke steuerte einen Parkplatz an, schaltete den Motor ab, aktivierte die Sicherheitssysteme des Wagens und stieg aus. Seine Stiefel klapperten auf dem Boden, als er auf die Werkstatt zuging. Das Geräusch übertönte das Heulen eines Bohrers, das aus einer der Gruben drang.
Krank stand unten in der Grube. Der Zwerg war knapp eins zwanzig groß und fast genauso breit. Ein zottiger, graubrauner Bart rahmte seine groben Gesichtszüge ein. Aus einem Winkel seines nach unten verzogenen Munds ragte ein Zigarrenstummel. Er trug einen Overall und einen Ausrüstungsgürtel. Eine Schutzbrille bedeckte seine Augen und zeigte ihm gleichzeitig das Securityvideo über sein PAN.
Hawke kniete am Rand der Grube nieder und warf einen Blick auf den Rover SUV, an dem Krank arbeitete. Ein Großteil der Seitenverkleidung war entfernt worden, um Platz für kugelsichere Panzerung zu schaffen.
Krank blickte kurz zu ihm hinauf. »Na, hattest wohl ein bisschen Ärger?«
Hawke starrte nur hinunter.
Krank deutete mit einem ölverschmierten, behandschuhten Finger auf ihn. »Ein paar schwere Kugeln in die Brust hast du abbekommen. Gut, dass deine Panzerung gehalten hat, Chummer.«
Hawke schob eine Hand unter sein Hemd und steckte die Finger durch die Einschusslöcher. »Ja.«
»Und das Auto?«
»Alles okay. Kein Schaden.«
Krank nickte, dann nahm er die Zigarre aus dem Mund und spuckte auf den ölverschmierten Boden. »Sucht dich jemand?«
»Lone Star wahrscheinlich.«
Diese Bedrohung tat der Zwerg mit einem Schulterrollen ab. »Kein Ding. Wenn die dich nicht sofort finden, hören sie auf zu suchen, es sei denn, sie werden dafür bezahlt. Wer hat versucht, dich zu durchlöchern?«
»Das war persönliches Biz. Ich habe mich darum gekümmert.« Hawke gefiel es nicht, Krank so viel zu erzählen, aber der Zwerg führte sein Geschäft mit eiserner Hand.
»Ich mag dich, Hawke.« Krank wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fahrzeug zu. »Aber von mir bekommt keiner was extra. Bring mir keinen Ärger, sonst bezahlst du dafür. Bleibt es dabei, dass du heute abreist?«
Hawke nickte, stand auf und ging zu den Räumen im ersten Stock. Die Metalltreppe, die im Zickzack die Wand hoch lief, sah gefährlich aus. Die Stufen zitterten unter seinem Gewicht.
Die Zimmer hier waren teuer, aber es lohnte sich. Krank bot nicht nur die beste Privatsphäre, die man für Creds bekommen konnte, sondern zusätzlich auch noch einige schnelle Fluchtwege unter der Erde, die sich unter dem zerklüfteten Gelände außerhalb des Schrottplatzes hindurchschlängelten. Vor vielen Jahren hatte er aus diesem Lagerhaus Dinge aus und nach Aztlan geschmuggelt, und auch wenn Krank diese Art von Grenzverkehr nicht mehr betrieb, blieben die Tunnel dennoch zugänglich – natürlich nur, wenn die Bezahlung stimmte.
Ein Bett, eine kleine Küchenzeile und ein Bad: Das Zimmer war nicht gerade eine Luxusunterkunft, aber seine Matrixjackpoints waren garantiert sauber und ließen sich nicht zurückverfolgen.
Hawke ließ seine Ausrüstung auf das Bett fallen und zog den Datenchip von Mister Johnson heraus. Er stöpselte ihn ein und setzte sich, um sich die Einzelheiten des Runs anzuschauen.
Kapitel 6
Siebzehn Stunden später stand Hawke in einer namenlosen Cantina in einem Grenzort zwischen Aztlan und Texas. Er trank Bier und aß Tortillas, während er sich ein Trideo ansah, das ein Schmugglerrennen aus Aztlan hinaus zeigte. Drohnen übertrugen das Trideo auf illegale Kanäle, die für den Zugriff bezahlten. Manche Leute betrachteten solche Rennen als Sport, andere nutzten es für das Training von jungen Möchtegernschmugglern, die hier die Fahrer und das Equipment kennenlernen konnten.
Hawke teilte sich den Tisch mit Doggle, einem Ork-Rigger, der ein Genie war, wenn es um das Entwerfen von Maschinen ging, der aber kein Händchen fürs Fahren hatte. Die Gesichtszüge des Mannes waren hart, hager und sowohl durch seine Arbeit als auch durch Nahkämpfe vernarbt. Seine beiden unteren Hauer trugen Kappen aus blauem Silber und standen über seine Oberlippe nach oben. Dickes, schwarzes Haar hing wirr von seinem Kopf, verdeckte seine spitzen Ohren jedoch nicht. Seine zweiteilige Lederuniform war abgeschabt und voller Fettflecken.
Der Barmann nahm Hawkes Bestellung entgegen und zapfte ihm ein großes Glas Bier. Außerdem stellte er ihm eine neue Schale Salsa hin.
»Für das Rennen hier?«, fragte er und steckte den Credstick, den Hawke ihm hinhielt, in ein Lesegerät.
»Ja.«
Der Barmann deutete mit dem Kinn auf einen Elf, der an einem Tisch in der Ecke saß. »Crief nimmt noch Wetten an. Die Rennfahrer sind zwanzig Minuten vom Ziel entfernt und der örtliche Sicherheitsdienst ist alarmiert. Jeder könnte das Rennen machen.«
Hawke nickte, rollte eine mit Salsa gefüllte Tortilla zusammen und steckte sie sich in den Mund.
»Niemand weiß, wer den Sicherheitsdienst in Aztlan gerufen hat.« Doggles Stimme war rau und tief. Er wandte den Blick nicht vom Trid ab. »Die kommen mit Helis rein. Wer auch immer ihnen gesteckt hat, dass es heute ein Rennen gibt, hat ihnen auch gleich noch erzählt, dass es etwas Persönliches ist.«
»Gibt es einen Favoriten?« Hawke nahm einen Schluck Bier.
»Außer Flicker?«
»Ja.«
Doggle schüttelte seinen großen Kopf. »Ein Fremder ist dabei. Anscheinend ein echter Star, über den sie regelmäßig in den Holos und Screamsheets berichten.«
»Über illegale Schmuggelfahrten?«
Doggle grinste breit. »Bloß weil etwas illegal ist, heißt das noch lange nicht, dass es unbeliebt ist.«
Hawke füllte sich eine weitere Tortilla und sah sich das Rennen an. Er erkannte Flickers schmutzstarrenden beigen und olivgrünen Thundercloud Morgan, der mit allen vier Reifen Steine und Dreckklumpen verspritzte. Plötzlich hob das Fahrzeug ab und segelte ein ganzes Stück durch die Luft, bevor es wieder auf dem Boden aufschlug. Einen Moment lang kämpften Fahrerin und Wagen miteinander und Hawke hielt den Atem an, bis Flicker das Fahrzeug wieder unter Kontrolle hatte.
Ein Tata-Hotspur-Off-Road-Renntruck folgte dem Morgan und hob ebenfalls ab. Das größere Fahrzeug schoss genau auf den Morgan zu, während Flicker noch darum kämpfte, Boden gut zu machen.
»Dieser Drekhead!«, rief einer der jüngeren Männer, die sich an den Tischen versammelt hatten. »Gunther will Flicker an den Kragen!«
Die ganze Bar brüllte wütend.
Der Hotspur landete Zentimeter von Flickers Fahrzeug entfernt, als sie abdrehte. Sie warf das Steuer des Morgans nach rechts herum, doch der Hotspur holte sie in Sekundenschnelle ein und schlug an ihrer hinteren Stoßstange Funken.
»Er versucht, sie abzudrängen«, keuchte Doggle, gefolgt von einem Strom von Flüchen.
»Gibt es zwischen ihnen böses Blut?« Hawke trank sein Bier und sah sich die Action an. Sein Blick schweifte über die versammelten Zuschauer, auf der Suche nach jemandem, der sich übermäßig für das Rennen interessierte. Wahrscheinlich standen nicht alle von Gunthers Fans in der Boxengasse.
»Seit ein paar Jahren.« Doggle spuckte auf den mit Sägespänen bedeckten Boden. »Gunther ist schuld am Tod von einem von Flickers Freunden unten in Baja.«
»Sie hat nicht viele Freunde.«
»Sie könnte mehr haben. Will sie aber nicht.«
»Freunde kosten am Ende zu viel.«
Doggle schnaubte. »Hat sie den Drek etwa von dir?«
»Nein. Wir sind darin simpatico.«
Doggle betrachtete Hawke aus dunklen Augen. »Aber wenn du einen Fahrer brauchst, tauchst du trotzdem hier auf.«
»Manchmal.« Hawke erwiderte den Blick des Orks, ohne mit der Wimper zu zucken. »Manchmal tauche ich hier auf. Manchmal nicht.«
»Hat sie dich schon mal abblitzen lassen?«
Hawke dachte einen Moment lang darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«
Auf dem Bildschirm zog Flickers Thundercloud nach links und raste einen Anstieg hinauf, der viel zu steil aussah. Gerade als die Schwerkraft und die lose Erde unter den durchdrehenden Rädern des Wagens ihn wieder hinunterzuziehen begannen, stieß das hintere Ende des Thunderclouds eine Pressluftdruckwelle aus. Der zusätzliche Schub trieb ihn vorwärts und über den Kamm.
Ein wilder Beifallsruf entfuhr den Kehlen der Zuschauer, als Flickers Thundercloud auf allen vier Rädern auf dem Plateau landete. Die Reifen gruben sich in den weichen Sand, dann fanden sie Halt und schleuderten das Fahrzeug nach Norden, Richtung Texas.
Ein Helikopter eröffnete das Feuer mit seinen Miniguns und zerfurchte die rote Erde von oben. Der Wind trug wirbelnde rote Staubwolken durch die Luft und verdeckte damit einen Moment lang das Bild, das die Low Earth Orbit-Satelliten übertrugen.
Eine Nanosekunde später spuckte Flickers Fahrzeug etwas unfassbar Schnelles aus, das auf den Helikopter zuraste. Die Rakete traf den Hubschrauber und begann sofort, zunächst seine Plexiglasnase und dann den Rest in gelb-grünen Schaum einzuhüllen. Der Antrieb des Helikopters fiel aus und er ging in einen fast sanften Sinkflug.
»Sie hätte sie töten können.« Doggle schüttelte den zottigen Kopf. »Hat sich dagegen entschieden, damit Aztlan es nicht persönlich nimmt.«
Gunther feuerte drei Geschosse auf einen weiteren Verfolgungshelikopter ab.
Die Zuschauer stießen einen Chor von Flüchen aus, während sie den Raketen zusahen, die auf den Hubschrauber zurasten. »Er bringt sie um. Wegen Gunther haben wir alle Aztlan auf den Hacken.«
»Gunther spielt also nicht nach denselben Regeln, wie ich sehe.« Hawke sah sich den dem Untergang geweihten Helikopter ungerührt an.
»Nein.« Doggle beugte sich nach vorn.
Die Raketen explodierten einen Sekundenbruchteil, bevor sie den Helikopter berührten. Die Druckwelle ließ die Plexiglasnase splittern und der Pilot drehte ab, während sich der Nachthimmel mit Donner und Flammen füllte. Der Helikopter blieb jedoch ganz.
Das Publikum in der Cantina brach in Beifallsgebrüll aus.
»Flicker hat spitzenmäßige Störsender an Bord des Thunderclouds.« Doggle grinste. »Ich habe ihr beim Einbau geholfen. Diese Rennen sind nur ein Spiel für sie. Keiner soll dabei verletzt werden.«
»Bis sie geschnappt wird.«
»Bisher hat sie noch keiner geschnappt.« Doggle leerte sein Glas und bestellte per Handzeichen ein neues.
Hawke schob dem Ork den Teller Tortillas hin. Doggle zögerte, dann nahm er davon. Der Blick aus seinen dunklen Augen durchbohrte Hawke. »Die größte Gefahr für sie wartet immer dann, wenn sie mit dir zusammen ist.«
Hawke fand diese Einschätzung ungerecht, aber er sagte nichts. Er war nicht der einzige Shadowrunner, der Flicker anheuerte.
»Wenn du sie in diese Sache verwickelst, was es auch immer ist, dann sieh bloß zu, dass du sie auch wieder herausholst.«
Hawke nickte. »Das ist immer der Plan.«