FRIEDRICH NIETZSCHES

ÜBERMENSCH

EINE PHILOSOPHISCHE EINLASSUNG

VON

PIERRE KYNAST

JAHR

2006/ 118 N.Z.

Kynast

Prometheus schenkte den Menschen das Feuer und Nietzsche entfachte es erneut. Überwinder der Götter und Befreier der Menschen waren sie – Leidende, wissend, dass nichts geschaffen wird, ohne dass etwas zugrunde geht. Um dem Leiden einen Sinn zu geben, dazu ward der Übermensch erfunden. Und dass er wachse, dazu ward einmal kräftig in die Glut geblasen.

„Die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden…“

Friedrich Nietzsche

Dieses Buch ist ein Wagnis. Ein Wagnis, weil hier Nietzsches Philosophie des Übermenschen wiedergegeben wird, ohne sie zu kritisieren, objektivierend aufzuweichen oder zu verdammen. Wer eine Antwort auf die Frage sucht, was es mit Nietzsches Übermenschen auf sich hat, der findet sie hier – ohne belehrenden Zeigefinger und ohne besonnen warnende Stimme. Die Abhandlung verfolgt den Gedanken des Übermenschen durch Nietzsches Werk, nimmt dabei viele seiner gefährlichen Gedanken auf und bezieht diese, Nietzsches Duktus folgend, auf aktuelle Ereignisse und Gegebenheiten unserer Zeit, zum Beispiel auf die Präambel zum deutschen Grundgesetz. Mit Nietzsche steht die Welt in einem anderen Licht. Auch heute noch – und vielleicht mehr denn je – ist Nietzsches Übermensch eine Philosophie für übermorgen auf der Suche nach neuen Philosophen.

INHALT

Vorspiel

Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs1

Es ist Mittag. Nicht irgendein Mittag an irgendeinem Tage, sondern der große Mittag, der Mittag der Erde, der große Mittag der Menschheit.

Zarathustra, der Lehrer der Ewigen Wiederkunft und der Verkünder des Übermenschen2, tritt vor seine Höhle hin, umschwärmt von unzähligen Tauben und an seiner Seite ein lachender Löwe.

In der Nacht zuvor hatte er mit den höheren Menschen gefeiert und an ihnen gelitten. Nun, eben an diesem Morgen, überwindet er zuletzt noch sein Mitleid mit den höheren Menschen und verlässt seine Höhle, glühend und stark wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.3

Etwa drei Jahre später erlässt Friedrich Nietzsche, der Entdecker des Willens zur Macht, das Gesetz wider das Christentum und bestimmt – dem großen Mittag angemessen – den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Sie beginnt mit dem Tag der Gesetzgebung, dem Tage des Heils, am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung4.

In den darauffolgenden Monaten verfasst Nietzsche, auf dass er nicht verwechselt werde5, Ecce homo, eine Erklärung zu sich selbst und seinem Werk und verschwindet im Januar des folgenden Jahres für immer in die Nacht. – Auf dass der Übermensch lebe.

Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen.

Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn.

„Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“ – diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! –

Also sprach Zarathustra.6

KAPITEL 1

FRIEDRICH NIETZSCHES ÜBERMENSCH

VORBEMERKUNGEN

Friedrich Nietzsche (1844–1900) war nicht nur Philosoph und Dichter, er war auch, wenn man so will, sein eigener Prophet und Mystiker – eine außergewöhnliche Existenz. Leben und Philosophie waren bei ihm nicht vereint, sondern eins. Und soweit man schon denjenigen einen Schauspieler nennen kann, der sich selbst in einer Rolle sieht, so war Nietzsche auch Schauspieler.

Im Folgenden geht es aber nicht um Nietzsche als Schauspieler oder Nietzsche als Philosophen oder Messias oder was auch immer, es geht genau genommen überhaupt nicht um Nietzsche, sondern um eine umfassende Vorstellung seines Übermenschen – um ein Bild davon, ein Verständnis dafür und einen Grund dazu. Was bedeutet „Übermensch“, lautet die hiermit gestellte Frage, und Antwort darauf sollen die folgenden Seiten geben. Sie beziehen sich hauptsächlich auf die von Nietzsche selbst ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmten Schriften. Nietzsches schriftlicher Nachlass bleibt weitestgehend unberücksichtigt, ebenso der Zusammenhang „Leben und Werk“.

Der methodische Grundsatz der Arbeit lautet „Was steht da?!“ und meint, dass, soweit Nietzsches Schriften Auskunft geben, ihre Aussagen ernst genommen werden und der „rohe Ausdruck“ immer einer weitergehenden Interpretation vorgezogen wird, für die ansonsten derselbe Grundsatz gilt: „Was steht da!?“

Wenn Nietzsche also, wie es zum Beispiel in Ecce homo häufiger vorkommt, etwa sagt: „So ist es gemeint!“, dann wird das ernst genommen. Letztendlich soll sein Werk soweit wie möglich aus sich selbst heraus Verständlichkeit gewinnen und es soll so wenig wie möglich von außen in den Text hineingetragen werden. Es geht ja um Nietzsches Übermenschen.

Geht man dem Begriff „Übermensch“ im Werk nach, so fällt zuerst auf, dass der Begriff zum einen adjektivisch oder prädikativ, also zur Charakterisierung oder Auszeichnung von etwas als übermenschlich verwendet wird, zum anderen substantivisch, also zur Bezeichnung von etwas als Übermensch. Ausgehend von dieser Unterscheidung lässt sich eine dreifache Unterteilung des Werkes vornehmen. Also sprach Zarathustra (1883–1885) steht in jeglicher Hinsicht in der Mitte. Die Schriften von Die Geburt der Tragödie (1872) bis zu Die Fröhliche Wissenschaft (1882) bilden die Vorarbeit zu diesem Werk, sie sind sozusagen der Humus, aus dem Zarathustra gewachsen ist. Die darauffolgenden Schriften von Jenseits von Gut und Böse (1886) bis Ecce homo (1888/89) lassen sich als weiterführende Nacharbeit verstehen. Mit ihnen wird die dichterische Intuition des Zarathustra gleichsam zurückübersetzt, ausgewertet und fruchtbar gemacht – weiterentwickelt und gefüllt.

Ecce homo kommt dabei, gemeinsam mit den 1886 verfassten Vorreden zu den frühen Schriften, eine Sonderstellung zu. Insbesondere diese Texte stellen das Werk in einen Gesamtzusammenhang – Moralkritik im weitesten Sinne – und geben damit die Grundlinien einer jeden Interpretation vor.

Was den hier infrage stehenden Begriff des Übermenschen betrifft, so findet er sich im ersten Teil des Werks, mit einer Ausnahme, in eindeutig adjektivischer oder prädikativer Verwendung. Da ist zum Beispiel die Rede vom „entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen“7, vom reinen und folgenlosen, daher auch trieblosen Erkennen als im Grunde außer- und übermenschlichem Geschäft8, von übermenschlicher Güte und Gerechtigkeit9 und von einer übermenschlichen Stufe des Daseins10. In acht der insgesamt 18 AphorismenI in denen der Begriff auftaucht, findet er sich im direkten Zusammenhang mit dem von „Gott“ oder „göttlich“. Auch an der Ausnahmestelle, an der zum ersten Mal das Substantiv „Übermensch“ auftaucht, geben Götter und Heroen Beispiele dafür und werden zu Erfindungen erklärt11. Insoweit weist der Begriff also über die Wirklichkeit hinaus auf etwas, was derselben enthoben ist und deren Bedingungen nicht unterliegt – auf Fiktionen. „Übermenschlich“ ist ein Superlativ, der in den frühen Schriften seinen Gegenstand oder den Zusammenhang, in dem er angewandt wird, wenn überhaupt, dann nur an einem hauchdünnen Faden mit der Realität verbindet.

Was Also sprach Zarathustra auszeichnet, ist die Tatsache, dass hier an keiner Stelle mehr von „Übermenschlichem“ die Rede ist, sehr wohl aber vom „Übermenschen“ und dass dieser „Übermensch“ sehr viel mehr mit der Realität zu tun hat als der eben offengelegte Begriff. Der Bezug zum Göttlichen fehlt bis auf eine Ausnahme gänzlich. Der Begriff taucht, im Vergleich zu den frühen und späten Schriften, deutlich gehäuft – in 25 Reden Zarathustras – auf. Hätte Nietzsche nicht selbst darauf hingewiesen, dass der Gedanke der Ewigen Wiederkunft, diese umfassendste Formel der Bejahung allen Daseins, der Kerngedanke des Zarathustra ist12, so könnte man leicht auf die Idee kommen, es sei der des Übermenschen. Was sagt doch Zarathustra in seiner ersten Ansprache programmatisch?

Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. […]

Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.

[…]

Seht, ich lehre euch den Übermenschen!

Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!13

Im dritten Teil des Werkes finden sich sowohl die prädikative als auch die substantivische Verwendungsweise aus den ersten beiden Teilen wieder. Darüber hinaus ergibt sich aber ein neuer Aspekt. Der Übermensch des Zarathustra ist etwas eindeutig Zukünftiges, etwas, was durchaus Wirklichkeit werden kann und soll, aber eben noch nicht wirklich ist, eine Hoffnung, vielleicht die höchste14. In den späten Schriften finden sich nun Ansätze, die darauf ausgehen, „den Übermenschen“ in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt zu binden und ihn so nahezu gänzlich in die Realität zu ziehen. Dabei wird das superlativisch ins Transzendente weisende Moment des „Übermenschlichen“ aus den Werken der ersten Periode ein wenig vom Himmel herabgeholt. Es ist nunmehr zum Beispiel die Rede von Napoleon als einer Synthesis von Unmensch und Übermensch15 oder davon, dass es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle (Menschen, Geschlechter, Völker) gibt, die im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch darstellen16.

Im Rückblick auf sein Werk erklärt Nietzsche in Ecce homo, dass das Wort „Übermensch“ zur Bezeichnung eines Typus „höchster Wohlgerathenheit“ im Gegensatz zu „modernen“ Menschen, zu „guten“ Menschen, zu Christen und „andren Nihilisten“17 dient und dass es im Munde Zarathustras ein sehr nachdenkliches, zu bedenkendes Wort wird, das nicht selten missverstanden wurde.

Was bedeutet nun „Übermensch“? Worauf will Nietzsche mit der Rede vom Übermenschen hinaus? Was ist der Grund für die Rede vom Übermenschen? Und – wie sieht er letztendlich aus, dieser Übermensch? Dies sind – nochmals gesagt – die Fragen, die eine Antwort finden sollen. Einige Hinweise sind bereits gegeben. Hier nun die letzten Zeilen, die Nietzsche dazu an die Öffentlichkeit gab:

Zarathustra, der erste Psycholog der Guten, ist – folglich – ein Freund der Bösen. Wenn eine décadence-Art Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen ist, so konnte dies nur auf Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und lebensgewissen Art Mensch. Wenn das Heerdenthier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muss der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewerthet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort „Wahrheit“ für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muss der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. Zarathustra lässt hier keinen Zweifel: er sagt, die Erkenntniss der Guten, der „Besten“ gerade sei es gewesen, was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht habe; aus diesem Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, „fortzuschweben in ferne Zukünfte“, – er verbirgt es nicht, dass sein Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältniss zu den Guten übermenschlich ist, dass die Guten und Gerechten seinen Übermenschen Teufel nennen würden . . .

Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heissen!

So fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte . . .

An dieser Stelle und nirgends wo anders muss man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er concipirt, concipirt die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Grösse haben . . .18

Nietzsche schreibt diesen Aphorismus unter dem Titel Warum ich ein Schicksal bin in den letzten Abschnitt des Ecce homo. Er soll hier einen ersten Überblick über den Begriff des Übermenschen ermöglichen und den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden. Nietzsche selbst zeichnet ihn zu diesem Zweck aus, denn das, was hier aufs Engste verdichtet zum Ausdruck kommt, ist „die Stelle“, an der man den Ansatz machen muss, um „den Übermenschen“ zu verstehen. Die Dekomprimierung des darin Verdichteten ist wesentliche Absicht dieses Buches.

„SINN IST DAS, WORIN SICH VERSTÄNDLICHKEIT VON ETWAS HÄLT19

Das Verständnis von „Sinn“, welches diesen Satz Martin Heideggers trägt, ist offensichtlich ein sehr diesseitiges. Nichts Jenseitiges bleibt dieser Definition folgend am Begriff des Sinns, kein über- oder außerweltlicher Aspekt, kein Anoder Für-Sich. Der Sinn der Straßen, könnte man sagen, ist der Verkehr. Der Sinn des Verkehrs, der Umgang der Menschen miteinander und ihr Austausch untereinander, und Sinn wäre, so verstanden, ganz allgemein, die Bindung von etwas Speziellem in eine übergeordnete Struktur, seine Einbettung in ein umgreifendes Ereignis. Der Sinn des Bettes ist der Schlaf …

Fragt man nun nach dem Sinn des Übermenschen, so ließe sich etwas vorgreifend sagen: „Der Sinn des Übermenschen ist die Überwindung des Menschen.“ Zu klären, was „Überwindung des Menschen“ meint, genauer noch, was am Menschen zu überwinden ist, das hieße folglich, den Sinn des Übermenschen zu klären. Der eben zitierte Aphorismus aus Ecce homo bietet dazu alle Ansätze.

Zuerst ist hier von zwei Arten Menschen die Rede, zum einen von der décadence-Art Mensch und zum anderen von deren Gegensatz, der starken und lebensgewissen Art Mensch. Die Ersteren nun, die schwachen und lebensungewissen Menschen, sind „die Guten“, die Menschen der anderen Art „die Bösen“, und Zarathustra wurde ein Freund der Bösen, weil er die Guten durchschaut hat. Die Guten, das sind die „Herdentiere“ – eine zoologische Tatsache. Die Schwachen schließen sich zusammen, bilden Herden, die Starken streben auseinander20, sind Vereinzelte. Die „Räuber“ bilden höchstens kleinere Gruppen oder Familien.

Diese Guten nun, die Herdenmenschen, sieht Nietzsche zum Rang der höchsten Art Mensch aufgestiegen. Sie strahlen im Glanz der reinsten Tugend, ihre Werte gelten als die höchsten, als die wahren. Eben damit aber nimmt die Verlogenheit um jeden Preis das Wort „Wahrheit“ für ihre Optik in Anspruch und das Bild der Wirklichkeit wird verzerrt. Nicht das Starke und Lebensgewisse, sondern das Schwache und dem Leben bei Weitem nicht so Gewisse gilt als das Beste. Als „wahr“ gilt, was das Leben verleugnet. Der Ausnahme-Mensch, der einzelne, lebendige, starke, wird von den Guten zum Bösen heruntergewertet und infolgedessen ist der eigentlich wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden – viel schlimmere noch als „Räuber“.

Gerade im Verhältnis gegen die Guten – die Herde, die Schwachen, die Verlogenen – ist der von Zarathustra konzipierte Übermensch übermenschlich. Er rückt als Typus näher an den Starken, den Wahrhaftigen, das Raubtier und wird eben daher von den Guten und Gerechten „Teufel“ genannt. Dabei ist er „nur“ ein Mensch, der stark genug ist, die Realität zu konzipieren wie sie ist. Er ist ihr nicht entfremdet oder entrückt, er ist sie selbst und hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich. Erst dadurch kann der Mensch Größe haben – und der Übermensch hat Größe. Er erscheint furchtbar in seiner Kraft zu vernichten, ist es aber nur insoweit dem Betrachter die Kraft fehlt, das Schöpferische in der Vernichtung zu erkennen, das Jasagen im Neintun21.

Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. „Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.22

Der Übermensch ist das Leben, er ist derjenige, der sich immer wieder selber überwindet. Und im Folgenden soll klarer werden, was all das bedeutet.

ASPEKTE UND EBENEN

Wo ich stehe, entscheidet, was ich sehe. Es gibt keinen anderen Zugang zum Dasein, zu seinen Rätseln und Oberflächen als den der eigenen Perspektive.

Der Philosoph ist offen für jeden Standpunkt. Er vermag es ebenso, sich ins kleinste Detail zu stellen wie in die höchste Höhe. Die Psychologie eines Menschen wird ihm ebenso zum Gegenstand werden wie die Entwicklungsdynamik ganzer Völker oder Arten, selbst das Kosmische ist ihm nicht fremd. Nicht nebenbei sucht er die einenden Momente oder Prinzipien der verschiedenen Ebenen und hält das Größte mit dem Kleinsten zusammen, all seine Perspektiven verwachsen miteinander zu einer Gesamtschau, die, man muss es sich eingestehen, wiederum nicht mehr als eine Perspektive ist.

Zum anderen gibt es Arten von Perspektive, die das jeweils Ganze, ob nun einen Menschen, eine Art oder den Kosmos, in verschiedene Aspekte zu zerlegen suchen. So untersucht man eine Zelle zum Beispiel als organische Verbindung oder als gesellschaftliches Wesen; einen Stein nach dem, was er ist oder wie er sich in Bewegung verhält. Gerade hierbei wird deutlich, wie gefährlich es ist und wie falsch es sein kann, wenn die Perspektive sich als Perspektive vergisst. Wenn zum Beispiel nach der „Teilung“ des Menschen in ein „körperliches“ und „geistiges“ Wesen vergessen wird, dass beides nur perspektivische Aspekte ein und derselben Sache sind. Und dennoch, es bleibt etwas anderes, einen Wert zu vernichten als einen Menschen.

Von Bedeutung ist dieses kurze Schlaglicht auf das Perspektivische, weil sich Nietzsche in Hinsicht auf die erste Art von Perspektiven nahezu jeden Standpunkt an irgendeiner Stelle zu eigen macht, in Hinsicht auf die zweite Art aber seinen Gegenstand – den Menschen – hauptsächlich auf den Aspekt des Moralischen, auf seine Werte hin betrachtet und untersucht. Hier steht Nietzsches großes Fragezeichen. Das einende Band in seinem Werk ist Moral- beziehungsweise Wertkritik. Gerade darin aber ist Nietzsche weit davon entfernt, den Menschen in ein „körperliches“ und „geistiges“ Wesen zu teilen. Eine Teilung, auf die bisher noch beinahe jede Morallehre baute und abhob.

BEGRIFFE SIND OFFENE MENGEN VON BEDEUTUNG

 

I eine Übersicht sämtlicher Stellen, an denen der Begriff im Werk auftaucht, findet sich in Anhang C.I.

KAPITEL 2

MORAL UND WERT

Der Sinn der Moral ist der Wert; denn der Wert ist das, worin sich das Verständnis einer Moral hält. Worin aber ruht der Wert? Was ist der so verstandene Sinn des Wertes? Worin hält sich sein Verständnis? Mit Nietzsche könnte man sagen: „Der Sinn des Wertes ist das Leben.“ Vor dem Hintergrund des Lebens, aus dem Leben heraus wird der Wert verständlich, von da-her zeigt sich sein Sinn.

Für Platon konzentrierte sich die Philosophie in drei Ideen: der des Guten, der des Schönen und der des Wahren. Diese drei „Ideen“ sind bei Platon untrennbar miteinander verknüpft und haben auf eine Weise, für die er intensiv nach einem Ausdruck suchte, mit der Wirklichkeit zu tun. Die Idee des Guten sah er, gegenüber den anderen beiden, in einer gewissen Priorität oder Leitfunktion.

Ohne mich weiterhin auf die Ideenlehre einzulassen, glaube ich, nichts falsch zu machen, wenn ich die Ausdrücke „gut“, „schön“ und „wahr“ als die allgemeinsten Wertbegriffe bezeichne – die drei ersten und letzten Arten zu urteilen.

Auch bei Nietzsche finden sich diese drei Wertaspekte als grundlegende wieder. Die Bedeutung des „Schönen“ findet ihren Ausdruck zum Beispiel in dem Satz, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt sind.23 Die ganze Geburt der Tragödie kann meines Erachtens als Auseinandersetzung mit der „Idee des Schönen“ gelesen werden. Ebenso ist die „Idee der Wahrheit“ in Nietzsches Werk ein zentraler Punkt der Kritik, was eine Stelle aus Der Antichrist hier im Anriss verdeutlichen mag.

Der vornehme Hohn eines Römers [Pilatus], vor dem [bei der Anklage Jesus durch die jüdischen Priester] ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort „Wahrheit“ getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Werth hat, – das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: „was ist Wahrheit!“…24

Zuletzt – könnte man sagen – ist die „Idee des Guten“ der Dreh- und Angelpunkt zumindest in Nietzsches Spätwerk. Jenseits von Gut und Böse verweist als programmatischer Titel hierauf und Der Antichrist kann durchaus als Abrechnung mit der Vorstellung „des Guten“ der Moderne verstanden werden. Der gesamte Wertekanon des christlichen Abendlandes wird hier aufgerollt.

Nietzsches Sache war wesentlich Wertkritik, die grundsätzliche Infragestellung von „Wert“ überhaupt und so notwendig die Auseinandersetzung mit den genannten drei Wertaspekten. Auch für Platon, man vergisst es über die verbreitete Zentralisierung der sogenannten Ideenlehre recht schnell, war Kritik ein wesentliches Moment. Sokrates fand die Werte „gut“, „schön“ und „wahr“ in den Worten seiner Mitbürger und war, was die Gründe ihrer Wertsetzungen betraf, der penetranteste aller Fragesteller.

Aber nun zu Nietzsche und seiner Antwort auf diese altehrwürdigen Fragen – zu seiner GenealogieII der Moral, zu den Ursprüngen der Moral und der Herkunft der Werte, welche sie tragen.

DIE GENEALOGIE DER MORAL

Wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben25

DIE WERTE „GUT UND BÖSE“, „GUT UND SCHLECHT

Die Suche nach Werten im Überweltlichen und Außermenschlichen ist ein Irrweg. Es gibt keinen Wert, der nicht an einem Leben klebte. Und die größte Gefahr allen Moralisierens besteht daher darin, einen notwendig subjektiven Wert zu verallgemeinern, ihn zu einem „objektiven“ zu verklären.

Mit dem Wort „Gut!“ bringen Menschen Wertschätzungen zum Ausdruck und dem nachgehend, was sie wertschätzen oder wie, findet Nietzsche zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Möglichkeiten und damit Ursprünge von Moral. Zum einen die spontane Bejahung der eigenen Absicht, Person oder Tat, zum anderen das Ressentiment, die gefühlsmäßige Abneigung gegen irgendwas oder irgendwen. Aus diesen zwei Arten wert-zu-schätzen wachsen zwei Moralen und also zwei Begriffe von „gut“. Der Begriff von „gut“, welcher dem spontanen „Ja!“ entspringt, hat notwendig, der Zeit und der Sache nach, Vorrang. Das bestätigen auch Nietzsches etymologische Recherchen. Sie ergeben:

dass überall „vornehm“, „edel“ im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich „gut“ im Sinne von „seelisch-vornehm“, „edel“, von „seelisch-hochgeartet“, „seelisch-privilegiert“ mit Nothwendigkeit heraus entwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche „gemein“, „pöbelhaft“, „niedrig“ schliesslich in den Begriff „schlecht“ übergehen macht.26

„Gut“ ist seinen Anfängen nach das Abzeichen politischen oder sozialen Vorrangs. Die Spitzen der Gesellschaft geben ursprünglich das Vorbild für den Begriff.. Die aristokratische Wertgleichung „gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt“28