image

image

Andreas Knipping

101 Dinge

die man über

Dampfloks

wissen muss

image

Inhalt

Vorwort

1Warum Dampflok? | Kohle und Stahl vor 200 Jahren

2Entstehung wann und wo? | Die Wiege in England

3Karl Marx ist amüsiert | Eine Lokomotive mit Füßen!

4Dampflokbau experimentell | Die Pionierzeit

5Dampflokbau vom Fabrikpatriarchen | Große Industriegeschichte

6Dampflokbau von der Aktiengesellschaft | Die Wachstumsexplosion

7Dampflokbau in Krieg und Krise | Die großen Umbrüche

8Dampflokbau in großer Masse und später Klasse | Letzte Anstrengung

9Genial einfach | Funktionsweise der Dampflok

10Einfach genial | Funktionsweise der Dampflok

11Stahlglänzendes Stangenspiel | Steuererklärung

12Schwarze Magie | Kohle und Rauch

13Wasser wird Wolke | Namensgeber Dampf

14Schnaufen? Fauchen? | Versuch einer verbalen Hörschule

15Woraus das Dampfross besteht | Ein Kapitel von Metall

16Die alten Farben | Grün und Glanzmetall

17Vertraut im 20. Jahrhundert | Schwarz-Rot-Norm

18Edle Schwärze, bunter Lack | Farbe international

19Schwerer Maschinenbau | Die großen Organe

20Raffinierte Mechanik | Die kleinen Organe

21Kohle, Hitze, Druck | Zentralorgan Kessel

22Oben auf der Dampflokomotive | Die Kesselaufbauten

23Zylinder, Kessel, Führerhaus, Tender! | Warum die Reihenfolge?

24Heizer ohne Schaufel | Deutscher Sonderweg Kohlenstaubfeuerung

25Kesselexplosion technisch bedingt | Ursache Materialfehler

26Kesselexplosion nach schwerstem Fehler | Ursache Bedienungsfehler

27Blech für besseren Blick | Windleiden und Windleiten

28Blech für höchstes Tempo | Seitenlinie Stromlinie

29Kohlenwagen? | Love me tender!

30Lok ohne Tender | »Tenderlok!«

31»Die sehen doch alle gleich aus?« | Kleine und große Räder

32Klassifizierung | Kriterium Achsfolge

33Achsfolge und Kodifizierung | 1A1 bis 1'F in Mitteleuropa

34Darwin wäre neidisch | Evolution der Achsfolgen

35Dampf zweimal genutzt | v = Verbund

36Erst zwei, dann vier, dann drei | Zylinderzahlenzauberei

37Manche mögen’s heiß | h wie Heißdampf

38Lokomotive am Taufbecken | Der Name

39Stadt, Land, Fluss | Welche Namen sie nahmen

40Nummern statt Namen | Ziffer und Zahl

41Der große Reifungsschritt | Reihen- und Ordnungsnummern

42Beruf mit Feuer und Wasser | Der Heizer

43Beruf mit Regler und Bremse | Der Lokführer

44Mit Gefahren gefahren | Problem Promille

45Achtung Bruchgefahr! | Achtung Lebensgefahr!

46Fingerspitzengefühl von Vorteil | Frauen im Bahndienst

47Außendienst an der Dampflok | Betriebsarbeiter in Sonne und Regen

48Innendienst an der Dampflok | Schuppenheizer in der Düsternis

49Behörde für Lokomotiven | Das Bahnbetriebswerk 1

50Behörde vieler Menschen | Das Bahnbetriebswerk 2

51Intensivstation Ausbesserungswerk | Von der Zerlegung bis zur Kesselprobe

52Lok und Leute Tag und Nacht | Kunstwerk Umlaufplan

53Deutschlands Erste | Der ADLER

54Gedenkblatt 19. Jahrhundert | Die Veteraninnen

55Typengalerie: Sieg der Heißdampflok | Preußische P 8

56Typengalerie: Münchner Schönheit | Bayerische S 3/6

57Typengalerie: Fahrt in den Schützengraben | Die Brigadelok des Weltkriegs

58Typengalerie: Kaiser- und Reichsbahnzeit | Die G 12

59Traum von der Endgültigkeit | Die Einheitslokomotive

60Physikalischer Jahrhundertstreit | Heizflächenverhältnis

61Mutter aller Einheitsloks | Legende 01

62Deutschlands große Güterzuglok | Die 44

63Gelobt und kritisiert | Schnellzugalternative 03

64Ideal für fast alles | Mit der 50 in Krieg und Frieden

65Für Wiederaufbau statt für den »Endsieg« | Kriegslok 52

66Glückloser Glanz | Stromlinie 1939

67Wunder 1951 | Die »Entstromten«

68Edler Renner 1906 | Bayerische S 2/6 schafft Weltrekord

69Größe und Grenzen | 05 schafft 200

70Das Wunder von Halle | 18 201

71Britische Wildente | A 4 für Rekord und Reichweite

72Nachklang zum Radetzkymarsch | k .k .öst . 310

73Hohe Kunst des Dampflokbaus | Frankreich

74Unbekanntes Dampflokland Tschechoslowakei | Neubau bis 1957

75Breite Spur und große Serien | Russland und Sowjetunion

76Dampf für alle Welt | Deutschland exportiert

77Paradies der Giganten | USA fährt zwölfachsig

78Die Kleinen | … und die ganz Kleinen

79Sonderfall ohne Kohle und Feuer | Dampfspeicherloks

80Hightech aus der Kraftwerktechnik | Turbinen- und Kondensloks

81Triebwerk mal zwei | Mallet und Meyer

82Lok mal zwei | Garratt

83Zur Heidi auf die Alp | Dampf auf der Zahnradbahn

84Für Berg und Tal | Zahn und Reibung

85Republikflucht mit Dampf | Lokführer machen Schlagzeilen

86Tief gesunken | Lokomotiven unter Wasser

87Lebensdauer | Lebensleistung

88Willkommen im Biedermeier | Dampflok kommt an!

89Heizlok oder Denkmal | Leben nach dem Leben

90Feinmechanik im Garten | Miniaturdampfloks

91Eine verlässliche Freundschaft | Kinder und Dampflokomotiven

92Züge nicht nur im Kursbuch | Dampfloks in der Literatur

93Mit Pauken und Trompeten | Dampfloks in der Musik

94Kamera, Kunst und Komik | Dampfloks im Film

95Strom und Öl | Konkurrenz ohne Kohle und Kessel

96Dampfloks heute auf 1000 mm | Harz

97Dampfloks heute auf 900 und 750 mm | Molli und Rasender Roland

98Dampfloks heute auf 750 mm | Sachsen

99Am Tropf des Ehrenamts | Die Dampflok lebt!

100Kran und Walze | Dampfende Verwandtschaft

101Leidenschaft ganz persönlich | Lebensthema Dampflok

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

Vorwort

Über Wesen, Funktionsweise, Unterscheidungsmerkmale, Bedeutung und Einsatz der weltweit vielleicht halben Million Dampflokomotiven in 220 Jahren in einem einzigen Büchlein angemessen Auskunft zu geben, ist eine Aufgabe nicht der Sammlung von Material, sondern seiner schmerzhaften Begrenzung. Diese Aufgabe übernimmt vorliegend ein Autor, der in 40 Berufsjahren als Lehrer und Richter sowohl die kompromisslose Erforschung des Details als auch die Vermittlung des radikal gestrafften Überblicks geübt hat. Und auf das Thema bezogen: Basis dieses Buches ist bei mir nicht der schnelle Griff ins Internet, sondern eine systematische Beschäftigung mit Dampflokomotiven über inzwischen 55 Jahre mit dem Niederschlag von gut und gerne 50 Regalmetern Literatur und einer nicht mehr zählbaren Menge von Fotos und Dateien. Kein Zweifel: Die Epoche der Dampflokomotive ist am Ende des Zeitalters der Nutzung fossiler Brennstoffe unwiderruflich ein Stück Vergangenheit. Eine Botschaft sei aber allen Erläuterungen vorangestellt: Sie war nicht – wie es museale Reste von Dampfbetrieb manchmal erscheinen lassen – eine liebenswerte Kuriosität der »guten alten Zeit«, sondern eine zentrale Triebkraft des Industriezeitalters. Schnellzüge von 12 oder 14 Wagen mit Geschwindigkeiten von 90 bis 130 Stundenkilometern und 1500 Tonnen schwere Güterzüge mit 60 bis 90 Stundenkilometern über Berg und Tal zu fahren, das würde auf dem heutigen Mobilitätsmarkt nicht mehr genügen, aber es hatte mit einer Idylle im Sinne von »Blumen pflücken während der Fahrt verboten!« wirklich nichts zu tun. Wir müssen über den längst vollzogenen Abschied von der zwischen 1840 und 1975 so unerhört dominierenden Maschine nicht weinen, wir sollten aber ihre Konstrukteure, ihre Lokführer, ihre Heizer und alle anderen an ihr und mit ihr arbeitenden Menschen nicht belächeln.

image

Vorsicht! Anzug und Krawatte sind bei der Annäherung an die Dampflok eher unpraktisch.

Ich danke meinem Bruder Martin Knipping und den Dampflokfreunden Klaus-Henning Damm und Thomas Hartogs für ihre wertvolle Mitarbeit an diesem Buch sowie Petra Nitsch für einen musikalischen Beitrag.

Andreas Knipping, Juli 2021

1

Warum Dampflok?

Kohle und Stahl vor 200 Jahren

Vor 250 Jahren war Europa weitgehend abgeholzt. In unserer Zeit mit ihren ökologischen Sorgen wirkt es eigenartig, dass es zu Zeiten von Goethe weniger Wald gab als heute. Fast alle Häuser und Schiffe wurden aus Holz gebaut, man kochte und heizte mit Holz; und vor allem erfolgte Metallgewinnung aus Erz und jede weitere Verarbeitung von Bronze und Eisen mit Hitze aus Holz und Holzkohle. Man brauchte neuen Brennstoff. Steinkohle. Wollte man hinab zu den riesigen Vorkommen unter Großbritannien, Belgien, Nordwestdeutschland oder Oberschlesien, musste man das in die Schächte fließende Grundwasser abpumpen. Dies gelang mit der von James Watt 1769 entwickelten Dampfmaschine. Ihr Wirkungsgrad war aus heutiger Sicht anfangs rührend gering. Gewaltiger Wärmeaufwand erzeugte ein Druckgefälle, mit dem ein Kolben bewegt wurde, der über Gestänge und Seile das Wasser aus dem Schacht schöpfte. Ein epochaler Fortschritt! Erstmals konnte die Menschheit über die Naturkräfte von Wind, Wasserlauf und Feuer sowie Zugtieren hinaus Bewegungsenergie zielgenau anwenden.

image

Ein Versprechen von Aufbau und Wohlstand auf dem Bundesbahn-Kalender von 1950: Volkswirtschaft auf Kohlebasis!

Mit der massiv gesteigerten Kohleförderung konnten Gießereien und Walzwerke nun auch die Eisenverarbeitung auf eine neue Basis stellen und Stahl als führenden Baustoff liefern. Holz gibt es überall, Steinkohle und Eisenerz nur in bestimmten Regionen. Transport von Massengütern wurde vordringlich. Schon mit geringer Muskelkraft können Mensch oder Tier auf einem Kanal eine beträchtliche Last befördern. Doch der Kanalbau im Hügelland war zu schwierig und zu teuer. Man konnte steinige Landwege mit Stahlschienen versehen und so die Reibungsverluste für den Pferdetransport halbieren. Aber die Dampfmaschine wurde inzwischen immer schlanker und effektiver und bewährte sich schon auf ersten Schiffen. Man könnte doch versuchen, eine leichte Variante auf Räder zu setzen und damit Wagenladungen zu schleppen …

2

Entstehung wann und wo?

Die Wiege in England

Schon 1769 gab es in Frankreich erste Versuche mit einer Art dampfbetriebenem Traktor. Er blieb genauso erfolglos wie verschiedene Nachfolger. Ab 1801 experimentierte der Engländer Richard Trevithick auf diesem Gebiet. Wir werden nicht mehr erfahren, welche Empfehlungen dafür maßgeblich waren, dass er 1803 von den Pennydarren Eisenwerken den Auftrag zum Bau einer Lokomotive für eine 13,5 Kilometer lange Bahn mit eisernen Schienen erhielt. 1804 ging seine INVICTA als unzweifelhaft erste Dampflokomotive der Welt in Betrieb. Mit 6 bis 8 Stundenkilometern volle 10 Tonnen zu befördern: Das war viel effektiver als der Pferdebetrieb! Trotz Bewährung blieb die originelle Lok mit ihrem riesigen Schwungrad zunächst ohne Nachfolge. Im Auftrag eines Unternehmers Blenkinsop baute Murray 1812 eine Lok mit einem Zahnrad, das in eine Zahnstange neben dem Gleis eingriff.

1814 wagte Ingenieur Hedley einen neuen Versuch mit dem PUFFING BILLY, der bis 1862 (!) eingesetzten und heute ältesten weltweit erhalten gebliebenen Lok. Trotz einer mit senkrechten Zylindern und kompliziertem Hebelwerk immer noch eigenartigen Konstruktion war damit der Schritt zur Alltagstauglichkeit geglückt.

image

Der PUFFING BILLY hat sich seinen Platz im geschichtsbewussten England redlich verdient.

image

Stephenson wird Weltmarktführer

Im selben Jahr 1814 stellte ein weiterer Erfinder und Unternehmer, George Stephenson, seinen Erstling vor, im Jahr nach der Völkerschlacht mit dem populären Namen BLÜCHER. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern blieb er seinem großen Thema lebenslang treu. 1825 baute er die LOCOMOTION. 1829 stand die weltweit erste Fernbahn Liverpool–Manchester vor der Vollendung. Die Nachwelt amüsierte sich über die typisch britische Idee, zur Auswahl der tauglichsten Lokomotive einen Wettbewerb mit Preisgeld auszuschreiben. Die Vergleichsfahrten am 6. Oktober 1829 lockten zahllose Schaulustige an, die wie beim Pferderennen wetteten. Eine Maschine wurde als untauglich ausgeschieden, eine andere, weil sie nicht von einer Dampfmaschine angetrieben wurde, sondern von einem Pferd auf einem internen Rollband. Mit großem Abstand siegte Stephensons ROCKET. Damit war die Dampflokomotive im öffentlichen Verkehr angekommen. Weiterentwicklung und Weiterbau kannten keine Grenzen mehr; und Stephenson exportierte nach ganz Europa und in die USA.

image

Auch die »Locomotion« mit immer noch senkrechtem Zylinder ist erhalten geblieben.

3

Karl Marx ist amüsiert

Eine Lokomotive mit Füßen!

image

Ein gewisser Brunton baute 1813 die Lok mit den Füßen.

Die bleibende Bedeutung des unermüdlichen Journalisten, Schriftstellers, Politikers und Philosophen Karl Marx (1818–1883) resultiert bekanntlich nicht aus einem plakativen Aufruf zur Revolution und dem naiven Versprechen paradiesischer Zustände in ihrer Folge, sondern aus einem literarischen Werk von schier unfassbarem Umfang. Allein die zu seiner Zeit bei Weitem sorgfältigste Analyse der Volks- und Betriebswirtschaft, das dreibändige »Kapital«, umfasst mehr als 3000 Buchseiten. Die technischen Grundlagen der Industrialisierung, beginnend mit mechanischen Webstühlen und frühen Dampfmaschinen, nehmen darin einen großen Raum ein. Im ersten Band von 1867 finden wir folgende schöne Passage:

»Wie sehr im Anfang die alte Form des Produktionsmittels seine neue Form beherrscht, zeigt u. a. die oberflächliche Vergleichung des modernen Dampfwebstuhls mit dem alten, der modernen Blasinstrumente in Eisengießereien mit der ersten unbehilflichen mechanischen Wiedergeburt des gewöhnlichen Blasbalgs, und vielleicht schlagender als alles andere eine vor der Erfindung der jetzigen Lokomotiven versuchte Lokomotive, die in der Tat zwei Füße hatte, welche sie abwechselnd wie ein Pferd aufhob.«

4

Dampflokbau experimentell

Die Pionierzeit

In den 1830er-Jahren besaßen Vater und Sohn Stephenson im englischen Newcastle upon Tyne eine Monopolstellung für den Lokomotivbau. Mit den Maschinen exportierten sie auch die bis heute in fast ganz Europa sowie Nordamerika und China gültige Normalspurweite von 1435 Millimetern. Auch die ersten in Deutschland fahrenden Lokomotiven stammten aus England, weitere kamen aus den USA (von Norris in Philadelphia). Nicht überraschend wagten belgische, französische, deutsche und österreichische Fabrikanten alsbald die Nachahmung.

Wir müssen uns für die Zeit um 1840 vor Augen halten, dass es damals Hochschulausbildungen und akademische Grade für Ingenieure genauso wenig gab wie Normen für Metallqualitäten und Legierungen oder Formeln für das Verhalten von Stahl, Kupfer und Bronze bei Erhitzung oder dynamischer Beanspruchung. Maschinenbau war auf reine Erfahrung gestütztes Schmiede- und Schlosserhandwerk. Auf der Basis von Beobachtung, Mut und Versuch baute die Aktien-Maschinenfabrik Uebigau bei Dresden 1839 unter Anleitung von Prof. Andreas Schubert die erste betriebstüchtige Dampflokomotive in Deutschland, die unter dem Namen SAXONIA auf der Leipzig-Dresdner Eisenbahn zum Einsatz kam. Weitere Baumuster folgten in Aachen, Sterkrade, Barmen, Chemnitz und Berlin von Herstellern, die aber sämtlich den Schritt ins Seriengeschäft nicht anstrebten oder nicht schafften.

image

Vom Experiment zur Industrie

Der Beginn des industriellen Lokomotivbaus in Deutschland ist auf das Jahr 1841 zu datieren, in dem August Borsig in Berlin, Joseph Anton Maffei in München und Emil Keßler in Karlsruhe ihre Erstlinge auf die Schienen stellten. Im damaligen staatlichen Zusammenhang des Deutschen Bundes waren auch die frühen österreichischen Hersteller inländisch tätig. Die Werkstätte der dortigen Nordbahn baute 1840 die erste Lok Österreichs. Auch hier war 1841 das Schlüsseljahr des Übergangs zur regelmäßigen Fertigung, nämlich in der Maschinenfabrik der Wien-Raaber Bahn in Wiener Neustadt. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands folgten 1846 Georg Egestorff in Hannover-Linden und wiederum Keßler, nunmehr mit einem Werk in Esslingen, und schließlich 1848 die Gebrüder Henschel in Kassel, Friedrich Wöhlert in Berlin sowie die Sächsische Maschinenfabrik Chemnitz (Richard Hartmann). Die damals zahlreichen Privat- und Staatsbahnen im Bereich des Deutschen Bundes konnten je nach Attraktivität von Preis und Leistung zwischen den Herstellern wählen. Fast alle großen Bahnen bedienten sich bei mehreren Anbietern. Konkurrenz belebte das Geschäft.

image

Feuerbüchse, Röhrenkessel, Blasrohr: Stephensons Rocket verkörperte bereits die Grundform der Dampflok. Allerdings wechselte die Zylinderpartie alsbald ihren Platz nach vorne unter den Schornstein.

5

Dampflokbau vom Fabrikpatriarchen

Große Industriegeschichte

Ab etwa 1840 wurden in Europa Eisenbahnen in einem, gemessen an der damaligen Technik, unfassbaren Tempo gebaut. Tausendschaften von Arbeitern schütteten ohne irgendeine Baumaschine Dämme auf, gruben Einschnitte und bohrten Tunnel, mauerten Viadukte und Bahnhofsgebäude und legten Schienen. Schon eineinhalb Jahrzehnte nach der ersten Zugfahrt 1835 konnte man mit der Eisenbahn – abgesehen von ein paar innerstädtischen Droschkenfahrten und von einigen Flussüberquerungen per Fähre –1850 die Verbindung Wien–Breslau– Berlin–Hamburg–Kiel befahren und von der belgischen Grenze auf dem Schienenweg über Aachen–Köln–Dortmund–Hannover–Braunschweig– Magdeburg–Halle–Leipzig–Dresden–Görlitz–Breslau–Kattowitz zur russischen Grenze reisen.

image

Gleicher Rang mit England und USA

Entsprechend wuchs das Lokomotivgeschäft. Weitere Hersteller wie die Maschinenfabrik Heilbronn 1857, die schon im Schiffsbau erfolgreiche Stettiner Maschinenbau AG Vulcan 1858, Ferdinand Schichau in Elbing 1860, Louis Schwartzkopff 1866 in Berlin und Georg Krauss in München 1867 traten hinzu. Den zahlenmäßig größten Erfolg verzeichnete zunächst Borsig mit 1000 Lokomotiven bis 1858, gefolgt von Maffei mit derselben Zahl bis 1874. Borsig war 1875 hinter Baldwin in den USA der zweitgrößte Lokomotivbauer der Welt. Wirtschaftsgeschichtlich sicher erwähnenswert: Anders als in manchen Nachbarländern bauten sich deutsche Bahnverwaltungen nur wenige Dutzend Lokomotiven in eigenen Werkstätten, sondern beauftragten fast durchwegs private Unternehmen. Einen Epochenwandel in der Kaiserzeit ab dem Jahr 1871 markiert der Übergang von Familienunternehmen zu Aktiengesellschaften. Laufende Gewinne genügten nicht mehr für die ständigen Vergrößerungen der Fabriken und für Zweigwerke im Ausland. Der breite Kapitalmarkt investierte mit Blick auf gute Renditen gern.

image

Die Jubiläumskarte von 1935 überzeichnet den Abstand von Borsigs erster Lok von 1841 zur modernen Einheitslok.

6

Dampflokbau von der Aktiengesellschaft

Die Wachstumsexplosion

Der deutsche, europa- und weltweite Bau inzwischen auch von Neben- und Kleinbahnen kannte in der Wachstumsphase 1880 bis 1914 keine Grenzen, ebenso die Lokomotivherstellung. Borsig hatte von 1841 an fünf Jahre, Egestorff von 1846 an zehn Jahre, Maffei von 1841 an elf Jahre und Henschel von 1848 an 17 Jahre gebraucht, um die jeweils ersten 100 Loks zu bauen und zu verkaufen. 100 Maschinen: Das war bei jedem dieser Hersteller ab etwa 1890 die Leistung nur einiger Wochen!

image

Großindustrielle Produktion, aber noch keine Fließbandfertigung: Die Maschinenfabrik Esslingen baut um 1920 die im Ersten Weltkrieg entwickelte G 12.

Die gesamte deutsche Lokindustrie baute bis 1860 etwa 2500 Loks. Borsig als anfänglicher Marktführer vergab 1870 seine Fabriknummer 2500, Henschel brauchte für diese Stückzahl fast 40 Jahre bis 1887, hatte als der sodann dynamischste Lokhersteller der Kaiserzeit die nächsten 2500 Loks anno 1899 fertig, weitere 2500 im Jahre 1907, die nächsten 2500 im Jahre 1910 und wiederum die nächsten 2500 im letzten Friedensjahr 1913. Der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 änderte die Lage grundsätzlich. Firmenübergreifende Zusammenarbeit trat an die Stelle von innovativer Konkurrenz; die Exportmärkte waren verschlossen. Abgeleitet von der Durchsetzung exakter Normen bei der Fertigung von Maschinengewehren, Geschützen und Munition wurde die Normung im Sinne der garantierten Austauschbarkeit aller Teile auch auf den Lokomotivbau angewendet. Die industrielle Fertigung siegte endgültig über handwerkliche Traditionen. Die Verlängerung und Intensivierung der Kriegsführung über jedes je geplante oder geahnte Maß hinaus generierte gegensätzlichen Lokomotivbedarf.

Für frontnahe Feldbahnen mit der Spurweite 600 Millimeter wurden riesige Zahlen kompakter Maschinen gebaut, für die uferlose Kriegswirtschaft im Heimat- und Besatzungsgebiet Großserien leistungsfähiger Güterzugloks.

7

Dampflokbau in Krieg und Krise

Die großen Umbrüche