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Kinderärztin Dr. Martens Classic
– 28 –

Nicki, das Findelkind

Eine junge Frau setzt ihr Baby aus - und will es doch behalten

Britta Frey

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-110-5

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Es gab in diesem Jahr einen so schönen und zeitigen Frühling wie seit langem nicht, und der Garten hinter dem Doktorhaus war schon Ende April ein richtiges kleines Paradies.

Das Mandelbäumchen, von Dr. Kay Martens im vergangenen Herbst selbst gepflanzt, prunkte mit einer Fülle rosenroter Blüten, und leuchtend goldgelb standen die Forsythienbüsche vor den dunklen ernsten Dreiecken der Fichten, die in schnurgerader Reihe als Sichtschutz und Begrenzung gesetzt worden waren.

Überall gab es unübersehbare Vorboten des Frühlings: Unter der Weißdornhecke, freundlich geschützt vor allzu rauhen Winden, blühten die Schlüsselblumen gleich büschelweise. Und unter den Haselsträuchern lagen bereits erste abgefallene Kätzchen verstreut.

»Das wird ein Jahrhundert-Frühling, Hanna«, sagte Jolande Rilla, als die junge blonde Ärztin die Frühstücksecke des weiträumigen, modern eingerichteten Wohnzimmers betrat. »Ich wünsche dir einen guten Morgen und einen wunderschönen Montag.«

»Ich mir auch«, lachte Dr. Hanna Martens und nahm am Eßtisch in dem sonnendurchfluteten Erker Platz. »Der Wochenanfang ist immer schlimm, insbesondere wenn man am Sonntag auf der faulen Bärenhaut lag. Grüß dich, Jolande. Was gibt’s Neues?«

Sie griff nach der Zeitung und überflog die Schlagzeilen auf der ersten Seite. »Politik, ach ja«, fuhr sie mit hochgezogenen Brauen seufzend fort und legte die Zeitung zurück auf den Tisch. »An einem so schönen Morgen wie diesem mag ich nichts von Katastrophen lesen. Im Frühling sollte man sich sowieso nur mit Erbaulichem beschäftigen, finde ich.«

Jolande Rilla, eine attraktive schwungvolle Vierzigerin, führte der Ärztin seit gut einem Jahr den Haushalt. Längst hatte man sich angefreundet und duzte sich, kam bestens miteinander aus. Obwohl oder vielleicht gerade weil man vom Temperament her so verschieden war.

Wegen ihrer schönen fuchsroten Haare wurde Jolande von Freund und Feind auch Füchsin genannt, ein Spitzname, gegen den sie gar nichts einzuwenden hatte. Im Gegenteil, sie war ja stolz auf ihre fuchsrote Haarpracht und freute sich, wenn sie darauf angesprochen wurde.

»Kaffee?« Jolande hob die bauchige Kaffeekanne und sah Hanna fragend an. »Ich habe einen schön starken Montagskaffee gemacht.«

»Gern. Danke, Füchsin.« Die Kinderärztin warf der rothaarigen Jolande einen aufmerksamen Blick zu. »Du siehst niedergeschlagen aus. Das kenne ich ja gar nicht an dir. Was ist los?«

»Ach, gar nichts, Hanna.« Jolande reichte ihr den Brotkorb.

Hanna schüttelte sacht den Kopf. »Gar nichts, aha. Du glaubst doch nicht, daß ich dir das abnehme. Komm, setz dich zu mir, Jolande, und erzähl mir, was dich bedrückt.«

»Lieber nicht. Du hast so wenig Zeit und andere Sorgen…«

»Quatsch«, war Hannas markige Antwort. »Wir beide wohnen unter einem Dach, da wäre es doch gelacht, wenn ich dich mit deinem Kummer hängen ließe. Also…? Wo drückt der Schuh?«

Jolande setzte sich der Freundin gegenüber. Ihr Blick ruhte auf dem hübsch­ gedeckten Frühstückstisch, ohne jedoch etwas wahrzunehmen. »Es ist aus«, gestand sie nach kurzem Zögern.

Was ist aus? hätte Hanna nun fast gefragt. Im letzten Moment hielt sie die Frage zurück, die Jolande mit Sicherheit als taktlos empfunden hätte. Schließlich hatte Jolande ihr, wie sie sich nun erinnerte, erst vorgestern ihr Herz ausgeschüttet. Hinsichtlich ihres neuen Freundes, der wie sie verwitwet und auf der Suche nach einem neuen Glück war.

»Und warum ist es aus?« fragte Hanna, während sie ihren frisch gepreßten Orangensaft in kleinen Schlucken trank. »Ist er bereits verheiratet, dein silberhaariger Märchenprinz? Oder handelt es sich um einen Heiratsschwindler, der dir dein Sparbuch abluchste?«

Ein schwaches Lächeln erhellte Jolandes ein wenig grobgezeichnetes, aber apartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

»Nein, jetzt weiß ich’s«, sagte Hanna, die mit ihrer resoluten fröhlichen Art, genau den richtigen Ton getroffen hatte, »er hat eine Mutter, die nicht will, daß er sich mit dir trifft.« Sie senkte ihre helle warme Stimme zu einem Brummbaß und setzte mit griesgrämiger Miene hinzu: »Du mußt das verstehen, Schatzi, Mutter ist so empfindlich, sie hält rothaarige Frauen für Hexen.«

»Auch falsch«, sagte Jolande, aber schon wesentlich lockerer. »Es ist nämlich so, daß ich Schluß gemacht habe.«

»Sieh an«, entgegnete Hanna erstaunt. »Und warum, bitte sehr?«

»Weißt du, Hanna«, meinte Jolande nachdenklich, während sie mit der Spitze ihres Zeigefingers verschlungene Linien auf das Tischtuch malte, »als ich Heinz kennenlernte, nahm ich mir vor, ihn zu ändern. Und jetzt habe ich ihn geändert…«

Hanna lachte. »Doch nun gefällt es dir nicht mehr, wie? Oh, Jolande, wie schrecklich!«

Jolande schaute die Kinderärztin unsicher an. »Du lachst?«

»Ich lache dich nicht aus. Ich lache nur über die Situation. Die ist nämlich ziemlich komisch. Komm, Jolande, lach mit, so tragisch ist es nun auch wieder nicht. Er hat sowieso nicht zu dir gepaßt.«

»Hat er nicht?« Jolande machte ein verdutztes Gesicht.

»Nein«, gestand Hanna mit entwaffnendem Lächeln. »Ich fürchte, ich konnte ihn nicht leiden, deinen silberhaarigen Märchenprinzen. Er war mir zu eingebildet, zu schnöselhaft und zu…«

»Ölig?«

»Genau. Ölig, das war er. Kein Märchenprinz, sondern ein Ölprinz.« Hanna biß in ihr Honigbrötchen, daß es nur so krachte.

Jolande prustete los, keine Spur mehr von Niedergeschlagenheit. »Hanna, du bist ein Goldstück. Du bringst es immer fertig, die Dinge richtig einzuordnen. Mir geht’s gleich wesentlich besser. Habe ich dir eigentlich jemals erzählt, was Heinz beruflich mach? Er ist der Pächter dieser großen Tankstelle kurz hinter Ögela.«

»Dann dürfte er ja so etwas wie eine gute Partie sein. Vielleicht war’s unklug von dir, Füchsin, mit ihm Schluß zu machen«, gab Hanna augenzwinkernd zu bedenken.

»Na ja, Heinz hat, wie’s bei uns heißt, ganz schön was unter den Füßen«, räumte Jolande lächelnd ein, »trotzdem glaube ich, das Richtige getan zu haben. Heinz und ich, wir beide waren einfach zu verschieden. Es wäre nie gutgegangen mit uns.«

»Gut, daß du das beizeiten festgestellt hast, Jolande.«

Die attraktive stattliche Jolande nickte zustimmend. »Stimmt, aber jetzt bin ich halt wieder allein. Und das ist ein Zustand, den ich fürchterlich finde. Gerade jetzt im Frühling, Hanna.«

»Wie wahr. Alles baut sich Nester nur wir beide haben unseren Herzallerliebsten noch nicht gefunden. Du träumst von einem wunderschönen Märchenprinzen, Jolande, während ich vor lauter Arbeit nicht mal zum Träumen komme. Tja, der beste Frühling taugt nichts ohne eine neue Liebe.«

Hannas klarer blauer Blick ruhte mit einem Hauch von Wehmut auf dem Sträußchen Maßliebchen, das in einer kleinen Glasvase steckte.

Jolande wollte gerade etwas dazu sagen, als sie innehielt und konzentriert lauschte. »Du«, sagte sie dann irritiert, »hast du das auch gehört? Das klang wie… das Wimmern eines Babys.«

Diese Bemerkung riß Hanna aus ihrer Versunkenheit. Sofort war sie ganz Kinderärztin und spitzte die Ohren. Doch alles blieb still. Bis auf das schmetternde Morgenlied einer Feldlerche, die sich in unmittelbarer Nähe des geöffneten Fensters in den blauen Morgenhimmel schwang.

»Es war die Lerche, Jolande, und nicht die Nachtigall«, zitierte Hanna, während sie sich erhob und dabei die Serviette neben den Teller legte. »Dein Wunsch nach einem harmonischen Familienglück scheint doch sehr stark zu sein, wenn du jetzt schon in aller Frühe Babystimmen hörst.«

»Mach dich nur über mich lustig, Hanna«, sagte Jolande, die ihrer Freundin und Chefin die Bemerkung nicht übelnahm, sich aber nicht verkneifen konnte, das letzte Wort in dieser Sache zu haben. »Ich bleibe dabei: Es war ein Baby… Gehst du gleich rüber in die Klinik, Hanna, oder hast du erst später Dienst?«

»Warum fragst du?« fragte die Kinderärztin, während sie einen Blick von fast sehnsüchtiger Qualität aus dem Fenster warf. Draußen in dem von ihr angelegten Garten blühte und wucherte es üppig.

Gartenarbeit war zwar anstrengend, doch sie hätte an diesem ersten schönen Frühlingstag sehr viel lieber Stiefmütterchen gepflanzt oder die Staudenbeete gelockert, anstatt in ihrem Sprechzimmer drüben in der Klinik zu hocken und Berichte zu schreiben.

Obwohl sie mit Begeisterung ihren Beruf ausübte und eine Kinderärztin aus Berufung war. Für sie wäre kein anderer Beruf in Frage gekommen. Und selbst wenn irgendjemand ihr ein dreimal so hohes Gehalt für eine andere Tätigkeit angeboten hätte, so würde sie den Job abgelehnt haben. Und zwar kategorisch.

Dr. Hanna Martens fühlte sich ausgesprochen wohl in ihrem vor rund einem Jahr erst erbauten Haus, das sie sich mit ihrem Bruder Kay teilte. Und die Arbeit in der Kinderklinik Birkenhain, die sie gleichberechtigt mit ihrem Bruder leitete, empfand sie als außergewöhnlich befriedigend.

Nein, nicht für Geld und gute Worte wäre sie fortgezogen. Sie mochte die Lüneburger Heide, diese einmalig schöne Landschaft, die von manchen als langweilige Einöde bezeichnet wurde, die sie jedoch ausgesprochen abwechslungsreich und aufregend fand.

Inzwischen hatte sie die Heide zu allen vier Jahreszeiten erlebt und war zu einem erklärten »Heide-Fan« geworden. Noch immer bezauberte sie der Anblick der violetten Heideflächen, die sich schier unendlich unter einem weiten Himmel bis zum Horizont dehnten, der von Kiefernwäldern begrenzt wurde.

Langweilig? Nein, entrüstete sich Hanna Martens und dachte an die großen Herden von Heidschnucken, die wunderbaren alten Fachwerkbauernhäuser, die Heidemoore, die leider immer kleiner wurden, an weißsandige Wege und Moorbirken, an dunkle Wacholderbüsche und Schafställe. Nicht zu vergessen die schmucken Städte und Dörfer, die für die Touristen viel Interessantes zu bieten hatten.

Sie beobachtete mit amüsiertem Schmunzeln einige junge Kaninchen, die fluchtartig unter der Weißdornhecke in Deckung gingen, als ein Trupp von fünf, sechs Bekassinen im Tiefflug vorbeirauschte.

Hanna stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich, um einen Blick in das Nest im Kirschbaum neben dem Fenster werfen zu können. Madame Amsel hatte vorgestern drei Eier ins Nest gelegt. Zum Glück waren sie noch vollständig dort, kein Nesträuber hatte sie dreist gemaust…

»Sag mal«, beschwerte sich Jolande, »hörst du mir überhaupt zu, du Gärtnerin aus Liebe?«

»Mit einem Ohr garantiert«, lachte Hanna. »Sieh nur mal diese frechen Kaninchen an. Eigentlich sollte ich sie vertreiben, denn sie fressen mir meine schönen Blumen kurz und klein. Aber das bringe ich nicht übers Herz. Schau nur, wie goldig sie über den Rasen hoppeln. Wie Osterhäschen.«

»Ob dein Bruder auch so begeistert sein wird, wenn sie bei ihm auftauchen, deine gefräßigen Freunde?«

»Kaum.« Hanna grinste jetzt nach Art kleiner Schwestern. »Erst am Samstag, als wir uns in Lüneburg in einem Haushaltsgeschäft nach einem Rasenmäher umsahen, beklagte er sich bitterlich über die Schäden, die die Kaninchen in seinem Garten anrichteten. Natürlich verdächtigte er mich, die Kaninchen quasi zu ihm geschickt zu haben. Ich fürchte, er denkt ernsthaft daran, unseren Garten mit einem engmaschigen Zaun zu verschandeln.«

Hanna wandte sich vom Fenster ab. »Tja, so viel zum Thema Kaninchen. Aber du hast mich vorhin etwas gefragt, nicht wahr?«

»Ja. Ich wollte wissen, ob du noch hierbleibst. An sich wollte ich die Vorhänge in deinem Arbeitszimmer abnehmen und waschen«, antwortete Jolande, die schon emsig den Tisch abräumte.

»Nur zu, ich werde mich hüten, deine hausfraulichen Aktivitäten zu bremsen. Heißt es nicht, daß alle weiblichen Wesen im Frühling von einem Putz- und Nestbautrieb befallen werden? Bevor mich dieser unheimliche Virus erwischt, mache ich mich lieber auf den Weg in die Klinik.« Hanna winkte ihrer Haushälterin lächelnd zu. »Bis heute mittag also, Jolande. Und übernimm dich bloß nicht.«

Jolande stellte die Kaffeekanne aufs Tablett und entgegnete mit verschmitzter Miene: »Gleichfalls, Frau Dr. Martens. Wer von uns beiden ist denn arbeitswütiger?«

»Zack!« Hanna nahm ihre Jeansjacke vom Garderobenhaken und zog sie an, fragte sich aber halblaut: »Brauche ich die eigentlich bei dem herrlichen Sonnenschein?«

»Meine Großmutter sagte immer: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, Hanna«, rief Jolande, die das Tablett mit dem fröhlich gemusterten Frühstücksgeschirr in die Küche trug. »Zieh die Jacke besser an, Hanna, sonst erkältest du dich noch. Und dann schmeckt dir meine Frühlingssuppe nicht, die es heute mittag gibt.«

»Oh, Frühlingssuppe!« schwärmte Hanna. »So ’ne richtig schöne altmodische Frühlingssuppe wie bei Muttern?«

»Jawohl, mit Suppengemüse und Rindfleisch.«

»Mööönsch, Füchsin, das sind ja tolle Aussichten.« Hanna lachte ihrer Haushälterin vergnügt zu und öffnete die Haustür. »Bis heute mittag also. Hoffentlich kommt nichts dazwischen, daß ich ausnahmsweise pünktlich… Du liebe Zeit, was ist denn das?«

Sie starrte entgeistert auf den Weidenkorb, über den sie fast gestolpert wäre.

Was sie zum Glück nicht getan hatte. Denn es handelte sich um einen ganz besonderen Weidenkorb: In ihm lag nämlich, sehr sorgsam in eine rosafarbene Decke gewickelt, ein Baby im weißen Strampelanzug. Jawohl, ein Baby mit Vergißmeinnichtaugen und dunklem Haarflaum auf dem wohlgeformten Köpfchen.

Es fuchtelte mit den winzigen Fäustchen vor dem Gesicht herum und richtete den himmelblauen Blick verwundert auf Hanna, die das Baby ihrerseits sprachlos musterte.

»Jolande!« rief Hanna, die ja schon eine Menge erlebt hatte in ihrem dreißigjährigen Leben, aber so etwas noch nicht. Sie war zur Abwechslung tatsächlich fassungslos, die sonst so gefaßte unerschütterliche Frau Doktor.

»Mööönsch, Füchsin, komm mal her, ganz schnell! Das ist ja… ein Ding.«

*

»Nein«, widersprach Jolande Rilla kopfschüttelnd, »das ist ein Baby, Frau Dr. Martens. Und der Beweis, daß ich mich vorhin, als ich das Babyweinen hörte, nicht irrte.«

Sie beugte sich über den großen ovalen Weidenkorb und betrachtete das Baby mit schräggelegtem Kopf. »So eine Gemeinheit, so’n goldiges Kerlchen einfach auszusetzen.«

Hanna, die ja schon etliche Babys gesehen hatte, beruflich wie privat, war hingerissen von dem winzigen rosigen Menschenbündel, das sie nicht aus den himmelblauen Augen ließ.

Das Baby bohrte sich ein Fäustchen in den Mund und sog daran.

»Es hat Hunger, Hanna!« stellte Jolande fest.