Peter Handke

Nachmittag eines Schriftstellers

Suhrkamp Verlag

für Francis Scott Fitzgerald

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Seit er einmal, fast ein Jahr lang, mit der Vorstellung gelebt hatte, die Sprache verloren zu haben, war für den Schriftsteller ein jeder Satz, den er aufschrieb und bei dem er noch dazu den Ruck der möglichen Fortsetzung spürte, ein Ereignis geworden. Jedes Wort, das, nicht gesprochen, sondern als Schrift, das andere gab, ließ ihn durchatmen und schloß ihn neu an die Welt; erst in solch einer glückenden Aufzeichnung begann für ihn der Tag, und es konnte ihm dann auch, so meinte er jedenfalls, bis zum nächsten Morgen nichts mehr geschehen.

Aber war diese Furcht vor dem Stocken, dem Nicht-weiter-Können, ja dem Abbrechenmüssen für immer, nicht schon ein Leben lang dagewesen, und nicht nur, was das Schreiben anging, sondern auch all seine anderen Unternehmungen: das Lieben, das Lernen, das Teilnehmen ‒ überhaupt alles, was erforderte, bei der Sache zu bleiben? Gab das Problem seines Berufs ihm nicht das Gleichnis für das seiner Existenz und zeigte ihm, in sinnfälligen Beispielen, wie es um ihn bestellt war? Also nicht: »Ich als Schriftsteller«, vielmehr: »Der Schriftsteller als ich«? Und redete er sich nicht erst seit jener Epoche, da er gedacht hatte, über die Grenze der Sprache hinausgeraten zu sein und nie wieder heimzukommen, und dem folgenden, Tag für Tag ungesicherten Neuanfang ernsthaft mit »Schriftsteller« an ‒ er, der dieses Wort bis dahin, obwohl doch mehr als die Hälfte des Lebens allein von dem Gedanken an das Schreiben geleitet, höchstens ironisch oder verlegen gebrauchte?

Und nun schien, mit Hilfe einiger Zeilen, durch die ihm selbst sich ein Sachverhalt geklärt und belebt hatte, wieder solch ein Tag gutgegangen, und der Schriftsteller stand von seinem Tisch auf in dem Gefühl, es könne ruhig Abend werden. Er wußte nicht, wie spät es war. Die Mittagsglocken von der Kapelle des Altersheims am Fuß der kleinen Anhöhe, wie üblich so jäh losbimmelnd, als sei da jemand gestorben, waren in seiner Vorstellung gerade erst verklungen, und doch mußten seitdem Stunden vergangen sein; denn das Licht im Zimmer war zum Nachmittagslicht geworden. Von dem Teppich auf dem Fußboden stieg ein Schimmer auf, was er als ein Zeichen las, in der Arbeit sein Zeitmaß gefunden zu haben. Er hob beide Arme und verbeugte sich vor dem Blatt, das in der Maschine steckte. Und zugleich, wie schon so oft, schärfte er sich ein, am nächsten Tag nicht wieder in seine Tätigkeit zu versinken, sondern diese, im Gegenteil, zum Öffnen der Sinne zu benutzen: Der über die Wand zuckende Schatten eines Vogels, statt ihn abzulenken, sollte den Text begleiten und durchlässig machen, ebenso wie das Kläffen der Hunde, das Sirren der Motorsägen, die Umschaltgeräusche der Laster, das ständige Gehämmere, die unaufhörlichen Kommandoschreie und Trillerpfiffe aus den Schul- und Kasernenhöfen unten in der Ebene. Und wie schon an all den Vortagen fiel ihm nun auf, daß in der letzten Stunde am Schreibtisch von der ganzen Stadt wieder nur die Sirenen der Polizei- und Krankenwagen zu ihm hereingedrungen waren und daß er kein einziges Mal, wie doch noch am Morgen, den Kopf vom Papier hin zum Fenster gewendet hatte, sich sammelnd in der Betrachtung eines Baumstamms im Garten, der ihn außen vom Fensterblech beäugenden Katze, der im Blickfeld von links nach rechts landenden, von rechts nach links aufsteigenden Verkehrsflugzeuge am Himmel. So hatte er zunächst für nichts in der Ferne den Brennpunkt und sah selbst das Muster des Teppichs wie ausgewischt; in den Ohren ein Summen, als sei die Schreibmaschine ‒ was nicht der Fall war ‒ elektrisch.

Der Arbeitsraum des Schriftstellers, sein »Haus im Haus«, war im ersten Stock. Er ging, die leere Teeschale in der Hand, benommen in die Küche hinunter und sah an der Herduhr dort, daß es nicht mehr lang Tag bleiben würde. Es war Anfang Dezember, und wirklich glänzten die Kanten der Gegenstände wie vor Einbruch der Dämmerung. Zugleich erschienen der Luftraum draußen und das Innere des vorhanglosen Hauses verbunden zu einer einzigen Klarheit. Es hatte in dem Jahr noch nicht geschneit. Aber schon am Morgen hatte das bestimmte Vogelpfeifen ‒ zarte, wie rufende Eintonlaute ‒ den Schnee angekündigt. Der Schriftsteller stand im Licht, das ihm allmählich die Sinne wiedergab, und es zog ihn hinaus ins Freie. An jedem Tag bisher, da er erst mit der Dunkelheit aus dem Haus getreten war, hatte er ein Versäumnis empfunden. Eigenartig, daß gerade jemand mit seinem Beruf sich seit jeher im Freien am meisten am Platz gefühlt hatte.

Zuerst sammelte er noch die Post vom Boden, die der Briefträger durch den Türschlitz in den Vorraum geworfen hatte. Von dem dicken bunten Stapel blieb dann zum Lesen gerade eine einzige Ansichtskarte übrig. Das andere waren Reklamezettel, Parteizeitungen, »gratis an einen Haushalt«, und Einladungen in Galerien oder zu sogenannten »Bürgerversammlungen« ‒ und der Hauptteil bestand wieder aus den vertrauten grauen Umschlägen, insgesamt ein ganzer Kartenspielpacken, alle beschriftet von derselben Hand jenes Unbekannten, der ihm schon seit über einem Jahrzehnt nahezu täglich zumindest ein Dutzend solcher Briefe aus einem entlegenen Ausland schickte. Der Schriftsteller hatte ihm seinerzeit auf den Anfangsbrief kurz geantwortet, aus dem einzigen Grund, daß er des anderen Handschrift auf den ersten Blick mit der eigenen verwechselt hatte; und seitdem redete ihn der Absender an wie seinen Kindheitsfreund, oder wie einen alten Nachbarn über den Gartenzaun. Die Kuverts enthielten jeweils Zettel mit kleinen Nachrichten, in der Regel kaum einen Satz lang, aus des Fremden Familienleben, über die Frau und die Kinder, bloße Andeutungen wie »Nun ein eingeschriebener Brief der Frau« und »Sie hat mir verboten, die beiden zu sehen«, Rätselsprüche wie »Lieber sterben, als gegen meinen Willen eine Flugkarte bestellen« oder »Sie könnte bezeugen, daß ich gestern das Unkraut ausgejätet habe«; oder bloße Ausrufe wie »Ich möchte, ich dürfte mich endlich freuen« und »Es soll auch für mich die andere Zeit beginnen« ‒ so als wüßte der Empfänger ohnedies seit jeher die ganze Geschichte. In den ersten Jahren hatte er noch jeden der vereinzelten Sätze und sogar die bloßen abgerissenen Wörter sorgsam gelesen. Doch mit der Zeit hatten diese Flugzettel ihn mehr und mehr bedrückt, vor allem an den gar nicht seltenen Tagen, da dieser Schwall seine einzige Post war. Er wünschte, der andere sähe dann seinen Zorn, mit dem er immer öfter den Mülldeckel über dem Haufen der ungeöffneten Kuverts zuschlug. Wenn er zwischendurch trotzdem noch, in einem seltsamen Pflichtbewußtsein, eines aufschnitt, war es geradezu beruhigend, daß die Neuigkeiten die immergleichen zu sein schienen. Zwar waren es zugleich spürbar Hilferufe, sogar flehentliche, aber sie konnten ein Leben lang, auch wenn niemand sie hörte, munter so fortdauern. Und das war wohl, zusammen mit seiner Trägheit, der Grund, daß er die Briefe nicht zurückgehen ließ ‒ wozu er sich freilich angesichts des täglichen grauen, scharfkantigen Einheitspakets, von keinem Lebenszeichen sonst einer Menschenseele untermischt, immer wieder gedrängt fühlte. So übergab er nun heute wie gestern die ganze Sammlung ungelesen dem Papierkorb, ein Stück nach dem andern da hineinschlichtend, als sei das schon eine Art Kenntnisnahme. Die Ansichtskarte, von einem früheren Freund in Amerika, der nun verwirrt durch den Kontinent irrte, steckte er für unterwegs in den Mantel.

Er duschte sich und zog sich um; schnürte die Schuhe, die ebenso gut für Gehsteige und Rolltreppen wie für das Unwegsame waren. Er ließ die Katze ins Haus und stellte ihr die Schüsseln mit dem Fleisch und der Milch hin. Im Fell des Tiers hatte sich gleichsam der Frost angesammelt, und er glaubte an den Haarspitzen schon eine Ahnung der Schneekristalle zu spüren. Aber der Körper darunter wärmte ihm die mit den Stunden des Schreibens kalt gewordenen Hände.