Die Menschen trampelten an der Lücke zwischen den hohen Häusern vorbei, ohne ihn zu beachten. Ohne eine Ahnung davon zu haben, dass er sich in den Schatten der Abenddämmerung vor ihnen verbarg. Bis sein Moment gekommen war.
Er hob den Kopf und schnupperte. Sofort verstärkte sich der salzige Geruch von Schweiß in seiner Nase. Die unzähligen aufdringlichen Parfums und Deodorants konnten die Ausdünstungen nicht überdecken. Für die Nasen von Erdbewohnern genügte es. Für den Höllenhund nicht.
Endlich mischte sich der sanfte Geruch darunter, auf den er gewartet hatte. Vanille mit einem Hauch von süßscharfem Zimt. Samael erhob sich. Die Gleichgültigkeit, mit der er sich tarnte, um nicht dank eines überbesorgten Bürgers in einem Tierheim eingesperrt zu werden, sorgte dafür, dass er ihr unbehelligt folgen konnte. Eine seltsame Anziehungskraft verband ihn mit der rothaarigen Frau. Bisher hatte er keine Erklärung für dieses ihm unbekannte Gefühl gefunden, doch er hatte vor herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Er wollte nicht wie sein Meister enden. Satan war so liebestrunken – bei den drei Höllenkreisen, niemals hätte jemand erahnt, dass er zu solchen Gefühlen überhaupt fähig war. Samael unterdrückte ein Würgen bei dem Gedanken, wie Satan seine Menschenfrau ansah. Gut, mittlerweile fand er Alexis ganz nett, das musste er zugeben.
Für den Moment lenkte er seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Menschenwesen. Kira Seidel. Ihren Namen herauszufinden war leicht gewesen. Seit wenigen Tagen folgte er der Frau nach Hause, wo er den Namen auf dem Klingelschild entdeckt hatte. So folgte er ihr auch an diesem Abend. Wie üblich hatte sie sich bereits auf dem Polizeirevier umgezogen. Sie bewohnte das Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses. Während sie die Haustür aufschloss und eintrat, umrundete er das Gebäude und ließ sich in dem kleinen Garten nieder, der diese Bezeichnung kaum verdient hatte. Er bettete seine Schnauze auf den Vorderpfoten und starrte gedankenverloren die Terrassentür an. Warum ging ihm der Anblick dieser Frau nicht aus dem Kopf? Seit er für Satan in ihrem Gehirn herumgewühlt und ihre Erinnerung manipuliert hatte, sah er sie regelmäßig vor sich. Und Samael vermutete, dass es weder an ihren dunkelgrünen Augen noch an ihrer Graues-Mäuschen-Ausstrahlung lag. Allerdings ahnte er, dass sich dahinter so viel mehr verbarg. Warum sie ihren wahren Charakter dermaßen verschleierte, wusste er nicht. Noch nicht.
Er konnte an den Fenstern erkennen, in welchen Räumen sie das Licht anschaltete. Zuletzt im Badezimmer. Woher er das wusste? Er hatte sich in der letzten Nacht in dem Haus umgesehen. Natürlich hatte er keinerlei Informationen entdeckt, die ihm zu dieser seltsamen Anziehung etwas verraten hätte. Stattdessen hatte er ihre wahnsinnige Katze beinahe zu Tode erschreckt, die ihm direkt ihre Krallen in die Wade gebohrt hatte. Das einzige Interessante war die Tatsache, dass ein schwacher Schutzzauber existierte. Der schien aber schon länger rund um das Häuschen gezogen worden zu sein, sodass er wohl nicht von Kira selbst errichtet worden war. Vielleicht waren die Vormieter Okkultisten oder Nachfahren von Hexen gewesen, die sich mit ein wenig verkapptem Hokuspokus sicherer gefühlt hatten. Da er nicht die Absicht hatte, Kira zu schaden, hatte der Zauber ihn durchgelassen. Oder der Zauber war einfach zu alt, um noch Schutz zu bieten.
***
Seufzend richtete er sich auf und streckte seinen Körper, machte sich lang und streckte die geschmeidigen Glieder. Er sollte wohl mal nachsehen, wie es mit Satan in der Hölle lief. Auch wenn jeder der starken Dämonen ihm einen Treueschwur geleistet hatte, musste der neue Herrscher der Hölle auf der Hut sein. Es ging das Gerücht um, dass die Menschenfrau ihn nachgiebig machte. Dagegen musste Satan dringend vorgehen, ehe jemand es wagte, ihn vom Thron zu stoßen. Er war sich sicher, dass Satan den Posten in manchen Momenten nur zu gerne abtreten würde.
Gut, dass er keine Ahnung davon hatte, dass er den rechtmäßigen Thronerben regelmäßig in seiner direkten Nähe hatte. Samael hatte nicht das geringste Bedürfnis, diese Bürde auf sich zu nehmen. Er war bereit dafür gewesen, vor vielen, vielen Jahrtausenden. Bevor er in den Hinterhalt seiner Schwester geraten war. Eine Falle der Schwarzen Königin. Samael schüttelte wild den Kopf. Seine Schwester war dank Alexis von der Seelengrube verschlungen worden und das war auch gut so. Sie war die Letzte gewesen, die die skurrile Verwandtschaft zwischen ihnen hätte öffentlich machen können. Manchmal hegte er sogar die Vermutung, dass ihr Wahnsinn diese Tatsache tief in ihr vergraben hatte. Nie hatte sie Anstalten gemacht, Satan auf die Nase zu binden, dass er es sich mit ihrem Bruder gut hielt. Doch wer wusste schon, was im Kopf dieser Irren vor sich gegangen war.
In seine Gedanken versunken bemerkte er erst, dass Kira die Terrassentür öffnete, als es zu spät war sich hinter den Büschen am Ende des kleinen Grünstreifens zu verbergen. Also blieb er stehen. Vielleicht würde sie ihn in der Dunkelheit gar nicht erst bemerken. Aufmerksam beobachtete er ihre Bewegungen. Sie war, bis auf ein großes Handtuch, dass sie sich um den kurvigen Körper geschlungen hatte, nackt. Es reichte ihr mit Müh und Not bis zur Mitte ihrer prallen Oberschenkel. Der Anblick brachte sein Kopfkino ins Rollen. Er knurrte unwirsch.
***
Kira hielt inne. Dass die große Spinne, die sie eben mit einem Wasserglas und einem Blatt Papier aus ihrer Dusche gerettet hatte, sie anknurrte, bezweifelte sie stark. Sie hob den Kopf und starrte angestrengt in die Dämmerung. Beinahe ließ sie das Glas fallen, als sie den riesigen Hund erblickte, dessen dunkles Fell mit der einbrechenden Nacht verschmolz. Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen, bis ihr der Griff der Terrassentür in den Rücken drückte.
Der Anblick des Tieres kam ihr vage bekannt vor. Sie versuchte sich zu erinnern, doch die sofort einsetzenden, stechenden Schmerzen an ihrer Schläfe brachten sie nach wenigen Sekunden wieder dazu, es sein zu lassen. Der Hund blieb stehen, sah sie nur aus seinen großen Augen an. Erst als sie leichte, kleine Beine auf ihrer Hand spürte, gewann die Spinne ihre Aufmerksamkeit zurück. Kira schrie laut auf. Sie blickte gar nicht erst auf ihren linken Unterarm hinab, stattdessen warf sie das Glas von sich, wischte sich mit der freigewordenen Hand hektisch über den Arm und hüpfte dabei von einem Bein auf das andere. Dass sie sich den Knöchel dabei nicht verstauchte, grenzte an ein Wunder.
»Fabelhafter Auftritt«, murmelte sie sich selbst zu. Es dauerte einen Moment, bis sich ihr Herz beruhigt hatte. Sie nahm die Stufe zum Rasen hinunter und hob das Glas auf. Der weiche Untergrund hatte dafür gesorgt, dass es noch heil war. Irgendwie sah der Hund amüsiert aus, fand sie.
»Schau nicht so.« Sie stellte das Glas auf dem schmalen Terrassentisch ab und zog dann das Handtuch hoch, welches Anstalten machte hinunterzurutschen. Es wurde abends richtig kalt draußen. »Spinnen retten ist ja vollkommen okay, aber auf mir herumlaufen? Nein. Nein, nein.« Obwohl ihr frisch wurde, ging sie langsam auf das Tier in ihrem Garten zu. Der Hund schien zahmer zu sein, als er aussah. Einen Meter vor ihm blieb sie stehen und streckte zaghaft die Hand nach ihm aus.
»Was machst du denn hier? Vermisst dich niemand?« Furchtbar. Sie begann wieder zu plappern. Auf dem Revier hielt sie nahezu dauerhaft den Mund, außer wenn sie angesprochen wurde. Und seit ihr Noch-Mann dort gegen sie Stimmung machte, passierte das nur noch, wenn nötig.
Seine Augen starrten sie an. Sie sahen aus wie flüssiger Bernstein mit grünen Sprenkeln. Faszinierend. Der Hund blieb, wo er war. Kira richtete sich schulterzuckend auf. »Dann eben nicht. Wehe, du hinterlässt mir ein Häufchen im Garten!« Ein Handgriff, um das störrische Handtuch wieder enger zu ziehen, und sie drehte sich um. Sie nahm das Glas vom Tisch und trat damit in ihr Wohnzimmer, das sie dank der Heizung mit angenehmer Wärme begrüßte. Jetzt würde sie aber endlich duschen. Das heiße Wasser würde hoffentlich die Verspannungen in ihrem Nacken ein wenig lindern und die aufkeimenden Kopfschmerzen in Schach halten. Seufzend schloss sie die Badtür hinter sich, legte das Handtuch auf der Heizung ab und stieg in die Dusche. Nach wenigen Momenten hatte der Wasserdampf das Badezimmer in Besitz genommen. Genau das Richtige nach einem solch nervigen Tag. Sie ließ den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen, während das Wasser auf sie hinabprasselte. Leider hatte das keine Entspannung zufolge. Sofort hatte sie wieder das zornige Gesicht ihres Noch-Ehemannes vor Augen. Gott. Warum hatte sie nur geheiratet?
Um das zu bereuen, war es zu spät. Es war nicht zu ändern, dass sie letztes Jahr mit ihm auf dem Standesamt gestanden hatte. Und dass sie damit ausgerechnet ihren Vorgesetzten geheiratet hatte, der ihr nun das Arbeitsleben gründlich vermieste, um sich für ihre Trennung zu rächen. Mehr als einmal hatte er das in den letzten Wochen durchsickern lassen. Kira liebte ihren Job. Sie war gerne Polizistin, liebte die Abwechslung, die ihr Job mit sich brachte. Seit sie sich vor drei Monaten nach langem Hin und Her von Jonas getrennt hatte, war das anders. Schon das morgendliche Klingeln des Weckers sorgte für Bauchschmerzen.
»Denk nicht daran. Denk nicht daran«, murmelte sie und versuchte ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und jetzt zu richten. Morgen auf dem Revier hatte sie genug Zeit, um sich über diesen Idioten und seine Sticheleien den Kopf zu zerbrechen. Sie wollte ihm nicht noch diesen Raum in ihrem Leben geben. Sie spülte den letzten Rest Duschschaum von ihrem weichen Bauch und den ihrer Meinung nach zu stämmigen Oberschenkeln, bevor sie das Wasser zudrehte und schließlich aus der ebenerdigen Dusche trat. Schnell schnappte sie sich das warme Handtuch von der Heizung und wickelte sich darin ein. Obwohl die Heizung lief, zitterte sie. Es lag weder an der Temperatur im Raum noch an dem schauderhaften Herbstwetter draußen. Die Kälte kam aus ihrem Inneren, von dort, wo sie sich zu viele Gedanken machte, sich zu sehr den Kopf zerbrach über längst vergangene Entscheidungen. Und dieses verdammt lebhafte Kino auszuschalten schien unmöglich zu sein. Sie konnte einfach nicht aufhören daran zu denken, was sie alles hätte anders machen müssen, um an einem anderen Punkt in ihrem Leben zu stehen. Frustriert ließ sie einen Fluch los, der der alten Dame, die über ihr wohnte, sicher rote Ohren verpasst hätte. Die grauhaarige Elisa hatte ihr empfohlen sich ein weiteres Haustier zuzulegen. Vielleicht einen Hund. Der Anblick des riesigen Hundes kam ihr in den Sinn. Ob das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen war?
»Damit du dir auf ewig langen Spaziergängen noch mehr unnötig den Kopf über vergangene Entscheidungen zerbrechen kannst?« Sie wischte mit der Kante ihrer Hand über den beschlagenen Spiegel und streckte sich selbst die Zunge raus. Außerdem wäre Nunu sicher wenig begeistert über tierischen Zuwachs. Ihre Katze hatte ein sehr einnehmendes Wesen. Jonas nannte die graue Fellnase zickig, aber das klang für Kira deutlich zu negativ. Nein, erst mal kein Hund. Außerdem waren Hunde in der Wohnung verboten. Sie schlenderte mit dem Handtuch zu ihrer Couch und zog dort direkt die Fleecedecke über sich. Ihr Blick glitt über die Wohnungseinrichtung. Sie wollte sich sowieso eine andere Wohnung suchen. In diesen Räumen hingen viel zu viele Erinnerungen. Noch dazu nervte Jonas, sobald sie irgendetwas hier änderte, als ginge ihn das noch etwas an. Sie hatte es dringend nötig, sich räumlich zu verändern. Es war unfassbar befreiend, die Schränke auszumisten und unnötigen Ballast abzuwerfen.
Jonas suchte nach Dienstschluss dauernd das Gespräch mit ihr, doch da sie damit immer wieder in einer Sackgasse landeten, ließ sie ihn gar nicht mehr in die Wohnung, was ihr natürlich wieder wüste Beschimpfungen einbrachte. Egal was sie tat, es war das Falsche. Es schien, als wäre sie ein wandelnder Fehler. Sie ergriff die Fernbedienung der Musikanlage und schaltete diese ein. Musik half immer. Musik stellte keine dämlichen Fragen, forderte keinen Mist und war einfach nur da.
Erst in der Nähe von dem Hochhaus, in dem Alexis wohnte, ließ Samael sich in die Menschengestalt fallen. Statt der höllischen Kleidung trug er schlichte Kleidung der Menschen. Auch wenn er mit seiner Fähigkeit unerwünschte Aufmerksamkeit zu verhindern wusste, musste er wachsame Menschen nicht auf seine Andersartigkeit hinweisen. Er drückte die Haustür auf, schob sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und wärmte seine Finger dann in den Taschen der schwarzen Lederjacke auf. Da Alexis den Kreidekreis in ihrem Keller neu gezogen hatte, musste er sie und seinen Meister nicht beim Herumturteln in ihrer winzigen Wohnung stören. Da der Anblick ohnehin nur Brechreiz in ihm auslöste, nahm er direkt die Stufen neben dem defekten Fahrstuhl, die in den Keller führten. Als Wesen der Hölle benötigte er nicht zwingend den Bannkreis einer Hexe, um in die Unterwelt zurückzukehren. Alexis Werk erleichterte ihm den Wechsel zwischen den Welten deutlich, weshalb er nicht zögerte es zu benutzen. Seine Energie konnte er sich somit für Wichtigeres aufsparen. Man wusste schließlich nie.
Gerade öffnete er die Tür zu besagtem Kellerappartment, als Alexis ihm praktisch daraus entgegenstolperte. »Huch!«, stieß sie noch aus, ehe sie gegen seine Brust prallte. Geistesgegenwärtig packte er sie am Arm, bevor sie zu Boden gehen konnte und sich noch ihre zarten Menschenknochen mit ihrer Tollpatschigkeit brach. Es war wirklich entsetzlich, wie fragil diese Wesen waren.
»Alles Okay?«, fragte er mit gerunzelter Stirn und sah ihr ins Gesicht. Sie wirkte durcheinander.
Alexis schüttelte seinen Arm ab. »Ja … oder auch nicht, ich habe keine Ahnung.« Sie hob die Schultern und für einen Moment bröckelte die störrische Fassade. Dann seufzte sie und ließ Samael in das abschließbare Kellerabteil treten. Es roch leicht muffig hier unten. Alexis schloss die Tür hinter ihm und schaltete das Licht ein. Die Funzel beleuchtete das wenige Gerümpel, das sie bis zum nächsten Sperrmüll hier aufbewahrte, sowie den großen Kreidekreis mit seinen schimmernden Symbolen, der einen Großteil des kahlen Betonbodens einnahm. Sie hatte ihre Arbeit wirklich gut gemacht dieses Mal. Womöglich hatte Satan recht und die Frau trug tatsächlich etwas Hexenblut in sich. Da sie sich penibel genau an die Anleitung aus diesem seltsamen Buch gehalten hatte, war klar geworden, dass Alexis bei ihrem ersten Bannkreis in ihrer Wohnung keinen Fehler begangen hatte. Irgendjemand hatte absichtlich eine falsche Anleitung für das Ritual in den dicken Wälzer geschrieben. Doch warum? Samael fiel beim besten Willen nicht ein, weshalb jemand das tun sollte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Alexis, die mit den Schneidezähnen auf ihrer Unterlippe herumkaute.
»Sag endlich, was los ist«, verlangte er ungeduldig. Er wollte nur in der Hölle nach dem Rechten sehen und sich dann anderen Dingen widmen. Andere Dinge. Er wusste genau, was er damit meinte. Wen.
Alexis strich schob eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr, ehe sie den Kopf hob und ihn ansah. »Satan. Wirkt er auf dich auch … verändert?«
Samael überlegte kurz, bevor er mit einem Kopfschütteln antwortete. »Eigentlich nicht. Was meinst du mit ›verändert‹?«
Das Licht der Glühbirne flackerte auf, dann wurde der Raum in Dunkelheit getaucht. »Ganz toll«, murmelte Alexis, bevor sie wieder auf das Gesprächsthema zurückkam. »Ich weiß nicht. Es ist schwierig zu beschreiben. Er wirkt so … abwesend.«
Samael verdrehte die Augen. Glücklicherweise sah Alexis das in dem nun dunklen Raum nicht. Frauen und ihre Interpretationen. Sofort bezogen sie alle Veränderungen im Gemütszustand eines männlichen Wesens auf sich. Das war der Grund, warum er sich mit Sex begnügte und solchen längerfristigen Verbindungen nichts abgewinnen konnte.
»Hör zu, Alexis. Er ist seit ein paar Tagen der Herrscher der Unterwelt. Auch wenn er Satan ist, er muss sich sicher erst mal an diese neue Situation gewöhnen. Es ist viel Verantwortung, die jetzt auf ihm lastet.«
Schweigen zwischen ihnen. Er erahnte ihr Nicken in dem Dämmerlicht im Raum, bevor sie ihm zustimmte. Doch ihm entging der unsichere Unterton in ihren Worten nicht. »Du hast sicher recht.« Erneut Stille.
»Tut mir leid, dass ich dich damit nerve«, sagte Alexis schließlich. Er konnte nichts mehr darauf antworten, da riss sie die Tür schon auf und rauschte ab. Mit einem Flackern ging das Licht wieder an. Samael sah ihr kurz hinterher, dann zog er kopfschüttelnd die Tür zu. Man musste diese Menschenfrauen wirklich nicht verstehen. Die höhnische Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn allerdings daran, dass Frauen dämonischer Abstammung nicht unbedingt viel besser waren. Er verdrängte den Gedanken an eine seiner aufdringlichen Ex-Gespielinnen, die ihn ständig nervte, und trat in den sorgfältig aufgemalten Kreis. Die Symbole begannen zu flackern, als er seine Energie auf deren Bedeutung fokussierte, und der altbekannte Luftwirbel riss ihn mit sich.
Nach wenigen Sekunden legte der Sturm sich und er stand inmitten des steinernen Saals, in dem der Zielpunkt des Bannkreises war. Wie immer wurde der Raum von zwei Dämonen bewacht. Er nickte den beiden zu, bevor er weiterlief. Auch wenn alle höllischen Wesen von Rang Satan die Treue geschworen hatten, Samael blieb auf der Hut. Der Einfluss der Schwarzen Königin auf ihre Untertanen war so stark gewesen, dass es ihn fast wundern würde, wenn niemand versuchte eine Revolution gegen den gefallenen Engel zu starten. Für viele hatte Satan als ehemaliger Engel nie ganz zur Hölle gehört und die Höllenwesen hatten ihn nur akzeptiert, weil die Schwarze Königin ihn als ihr liebstes Wesen vergöttert hatte. Ihre krankhafte Gier nach ihm war schon immer furchtbar gewesen, irgendwann hatte sie ihren eigenen Wahnsinn selbst übertroffen.
Bisher verhielten sich alle erschreckend ruhig. Samael hatte nicht vor sich davon täuschen zu lassen. Er ließ den äußeren Kreis der Hölle hinter sich und betrat die hohen, in Stein gemauerte Gänge des nächsten Kreises. Hier wurde der Geruch von Schwefel immer etwas intensiver. Seit er denken konnte, gehörte dieser Geruch zu seiner Heimat.
Auch wenn niemand mehr wusste, wer er wirklich war, machten ihm alle Platz. Er hatte sich den Respekt der Höllenwesen verdient, und das ohne mit einem Titel zu protzen. Einen Titel, von dem hier niemand mehr etwas wusste, und er hatte beileibe nicht vor diese Tatsache jemals zu ändern. Wenn es nach ihm ginge, blieb der Bruder der Schwarzen Königin auf ewig in den Abgründen der Seelengrube und dem toten Paradies verschollen. Stattdessen hatte er an der Seite anderer Dämonen zahllose Schlachten gegen den Himmel geschlagen und sich einen eigenen Namen gemacht. Einen Namen, der mit seinem ursprünglichen nichts mehr gemein hatte. Er lief weiter, kam dabei an den verschiedensten Dämonen vorbei.
Der Anblick, der sich ihm vor Satans Gemächern bot, überraschte ihn. Er runzelte die Stirn. Er erkannte die Frau, die von zwei grünhäutigen Wachen begleitet wurde, nur an den Augen. Alles andere an ihr hatte sich komplett verändert.
»Sukkubus«, sagte er nur und verschränkte die Arme. Was hatte Satan vor? Weshalb hatte er diesem Wesen erlaubt zu Kräften zu kommen und sie aus ihrer Zelle gelassen? Vielleicht hatte Alexis recht und mit Satans Geisteszustand war etwas nicht in Ordnung. Also … noch weniger, als man es ohnehin beim Teufel erwarten konnte. Sie lächelte breit und entblößte ihre makellosen Zähne. Die Dämonin war die pure Versuchung und Sünde in einer Person. Dennoch reizte sie Samael in keiner sexuellen Hinsicht. Weder das seidig schimmernde, lange Haar noch die strahlenden Augen. Auch ihre perfekte Figur, die sie in einem engen Kleid – der Stoff schien aus Sirenenhaar gewebt zu sein – zur Schau stellte, ließ sein Kopfkino stillstehen. Ihr schmieriges Lächeln enthüllte genug ihres Charakters, um jegliche Anziehungskraft im Voraus zu unterbinden. Ihre Lippen waren noch aufgerissen, ihre Haut ein wenig faltig – doch Samael war bewusst, dass es nur die Träume einiger Sterblicher bedurfte, um sie wieder vollkommen herzustellen. Der Gedanke machte die Anwesenheit dieser Gestalt nicht besser.
»Ihr dürft mich auch gern bei meinem Namen nennen, Höllenhund.«
»Der interessiert mich nicht«, winkte Samael ab. Ohne sich weiter mit ihr zu beschäftigen, riss er die Tür zu Satans Gemächern auf und ließ sie hinter sich zuknallen, bevor das Weib auf die Idee kam, ihm zu folgen.
»Satan?!« Er musste sich zusammenreißen, um nicht direkt herumzubrüllen.
»Was ist los, Samael?« Satan saß auf dem mit weichen Fellen ausgestatteten Podest und hatte um sich herum einige Pergamente ausgebreitet. Er hob nicht einmal den Kopf.
»Das sollte ich wohl dich fragen. Was machte der Sukkubus vor deiner Tür?« Er fuchtelte mit der Hand in Richtung Tür. »Hast du vergessen, dass sie uns gefährlich werden kann? Wir wissen nichts über sie!«
Satan hob eine Hand und Samael schloss den Mund. Er hätte sich gerne noch mehr über diese Dummheit aufgeregt, doch für den Moment gehorchte er, auch wenn er und Satan seit dem Sturz der Schwarzen Königin beim Du angelangt waren. Satan hatte keine Ahnung, dass sein Gegenüber so viel mächtiger als er selbst war. Dabei sollte es bleiben. Unterschätzung bot für jegliche Situationen aller Art die beste Grundlage, um zu gewinnen. Er hoffte, dass es nie so weit kommen würde, doch Satans eigenmächtige Entscheidung war auch überraschend gekommen.
»Nymeth. Sie heißt Nymeth und war wie ich einmal das Spielzeug der Schwarzen Königin. Sie wurde von ihr eingesperrt, weil sie versucht hat ihr zu entkommen. Warum soll ich sie noch länger vor sich hinvegetieren lassen?«
Samael presste die Lippen aufeinander. Alles, was er nun sagen würde, missfiel Satan ohnehin. Es störte ihn dennoch unheimlich, dass dieser sich über seine Empfehlung, den Sukkubus weiter in seiner Zelle zu lassen, hinweggesetzt hatte. Wie konnte Satan nur so leichtsinnig sein?
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du wirst wissen, was du da tust. Ich hoffe, dass du damit nicht die nächste Tyrannin befreit hast.« Die Ermahnung, dass Satan weiterhin auf der Hut sein sollte, blieb unausgesprochen. Damit würde er ihn nur beleidigen und seinen Zorn wecken. Satan würde schon wissen, was er tat. Und falls nicht …
Samael würde die Dämonin beobachten. Sie hatte etwas an sich, das er kaum in Worte fassen konnte. Und es war definitiv nichts Positives.
»Sonst noch etwas, Samael?« Satan begann die Pergamente zusammenzurollen. Samael hob eine Augenbraue. Warum wollte er ihn direkt wieder loswerden?
»Hast du mit Alexis geredet? Wegen der Seelengrube? Das war echt creepy.«
»Der Typ, der sich in einen monströsen Hund verwandelt, findet so was creepy?« Satan schnaubte und zuckte mit den Schultern. »Wir hatten noch keine Zeit, darüber zu reden.«
»Keine Zeit. So nennt man das also.« Samael wackelte übertrieben mit den Augenbrauen. Was Satan mit ihr angestellt hatte, konnte er sich bildhaft vorstellen. Zu bildhaft.
»Halt die Klappe. Du bist ja nur neidisch.«
»Neidisch? Darauf, dass du so eine gruselige, schon einmal gestorbene Menschenfrau wie eine Klette an dir hängen hast?« Samael schüttelte den Kopf und tat so, als würde er erschaudern.
Hart prallte sein Schädel gegen die Felswand. Schmerz durchfuhr ihn. »Du bist mein Freund, Samael. Der einzige, dem ich mein Leben anvertrauen würde. Aber wage es nicht, so von Alexis zu reden.« Satan presste seinen Unterarm gegen seine Kehle, bevor er ihn abrupt losließ.
»Verdammt«, hustete Samael und rieb sich mit den Fingern über den Hals. »Dein Humor war auch schon ausgeprägter.« Als er das wütende Funkeln in Satans Augen erneut erblickte, hob er beide Hände. »Ich habe es ja verstanden«, wiegelte er seine Worte ab.
Satan wandte sich ab und nahm wieder Platz.
»Lass Nymeth rein.«
Unwillig trat Samael an die Tür. Er überspielte seine Gefühlsregung und öffnete die Tür. »Bringt den Sukkubus herein«, befahl er den beiden Wächtern. Diese gehorchten sofort und traten mit der Dämonin in ihrer Mitte herein.
»Du hast dich gut erholt, Nymeth«, sagte Satan, ohne Anstalten zu machen aufzustehen. Die Angesprochene neigte den Kopf zur Seite, was ihre langen braunen Haare über ihre Schulter rutschen ließ. »Dank Eurer Großzügigkeit, Satan. Ich danke Euch vielmals dafür und werde mich dafür gerne erkenntlich zeigen. In jeglicher Hinsicht.«
»Ein verlockendes Angebot, doch mir genügen Informationen. Warum hat die Schwarze Königin dich in den Tiefen des Flammenkerkers eingesperrt? Die Details.«
Samael entfuhr nach Nymeths Worten ein Schnauben, was Satans Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.
»Du kannst gehen, Samael. Ich komme allein mit ihr klar.«
»Wie du wünschst.« Ohne sich sein Unbehagen anmerken zu lassen, zog Samael sich zurück. Für Alexis hoffte er, dass die Gefühle, die Satan für sie hegte, wirklich so stark waren, wie es den Anschein hatte. Denn ein Sukkubus konnte verführerischer sein, als der Paradiesapfel selbst es für Eva gewesen war. Er wusste nicht genau, warum er sich überhaupt Sorgen darum machte. Solange es die Hölle nicht betraf, konnte Satan tun und lassen, was er wollte.
Doch irgendwie war ihm Satans kleine Hexe ans Herz gewachsen. Alexis war so erfrischend anders als die dämonischen Weiber, mit denen er es sonst zu tun hatte. Nicht dass er das jemals offen zugeben würde. Der Gedanke ließ ihn mit den Schultern zucken. Statt weiter darüber nachzudenken, machte er sich daran, seine Männer zu aktivieren. Sie mussten für ihn die Ohren offen halten, solange er sich auf der Erde umhertrieb. Er vertraute Satan. Allerdings war der Sukkubus eine Gefahr, die er nicht abschätzen konnte. Die Schwarze Königin wird schon ihre Gründe gehabt haben, weshalb sie diese Frau in einer der am schwersten zugänglichen Zellen eingesperrt hatte.
Der Stapel Akten, der auf ihren Schreibtisch geworfen wurde, ließ Kira zusammenzucken. Sie hob den Blick. Vor ihr stand Ellen. Innerlich seufzte sie, behielt aber eine stoische Miene bei. Ellen war schon immer hinter Jonas her gewesen. Selbst als Kira und er geheiratet hatten, hatte dieses Miststück sich ihre Flirtereien nicht verkniffen.
»Danke schön«, sagte Kira, statt ihr den Papierstapel ins Gesicht zu schleudern, wie sie es am liebsten getan hätte. Sie setzte ein Lächeln auf und begann damit, die Akten nach ihrer Dringlichkeit zu sortieren. Es war wirklich an der Zeit, dass sie mal wieder rauskam, anstelle ständig Papierkram abzuarbeiten. So war das eben, wenn der baldige Ex-Mann gleichzeitig der Vorgesetzte war. Langsam spielte Kira mit dem Gedanken, sich auf ein anderes Revier versetzen zu lassen. Die blonde Polizistin verzog sich, warf Kira allerdings noch einen triumphierenden Blick zu. Ellen gehörte wahrscheinlich zu einem Dutzend Weiber, die sich darüber freuten, dass Kira die Scheidung eingereicht hatte. Warum sie trotzdem von allen schlecht behandelt wurde, obwohl sie ihnen scheinbar einen Gefallen getan hatte, musste sie wohl nicht verstehen.
Dass Jonas schlecht über sie redete, konnte sie sich schwerlich vorstellen. Er war sauer auf sie, aber so etwas war einfach unter seinem Niveau. Sich allerdings dennoch ohne direkte Vorwürfe als Opfer darzustellen, hatte er drauf. Mit seinen braunen Augen konnte er furchtbar mitleidsheischend schauen. Kira war sich unsicher, ob er überhaupt wusste, was er in vielen Frauen damit auslöste. Er wirkte wie ein Unschuldslamm und hätte sie es nicht selbst erlebt, hätte sie nie gedacht, dass er dazu fähig war, sie mit Worten zu vernichten und, als Sahnehäubchen auf Kiras verirrter Menschenkenntnis, sie zu betrügen. Sie sah nur zu deutlich vor sich, wie er genau hier auf dem Revier in der Asservatenkammer eine der Praktikantinnen gevögelt hatte. Ihr wurde allein bei dem Gedanken schlecht, deshalb widmete sie sich lieber ihrer Arbeit und klappte die nächste Mappe auf.
»Ich muss mit dir reden.« Kaum hatte sie sich in die Akte vertieft und damit begonnen, die fehlenden Informationen nachzutragen, riss Jonas’ Stimme sie aus ihrer Konzentration. Sie widerstand dem Drang, auf ihre Tastatur einzuhämmern. Konnte sie nicht einfach mal in Ruhe ihren Aufgaben nachgehen? Sie atmete tief durch, dann drehte sie ihm den Kopf zu.
»Worum geht es?«, verlangte sie zu wissen. Manchmal wollte er private Themen besprechen, doch da sie diese Gespräche zu sehr aufwühlten, ließ sie sich dazu nicht mehr breitschlagen. Ihre Entscheidung stand fest. Die Trennung war endgültig und nach drei Monaten sollte er das wirklich mal verinnerlicht haben.
»Komm mit«, zischte er und beugte sich über den Tisch. Er tat so, als würde er ihre Unterlagen überprüfen. Stattdessen murmelte er Wörter, die ihren Herzschlag kurz aussetzen ließen. Danach hämmerte es hektisch weiter.
»Ich weiß, dass du die Akten zu einer Fahndung vernichtet hast.« Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Kira sah sich um, wollte sichergehen, dass niemand ihr Gespräch belauschte. Natürlich lagen alle Blicke auf ihnen, bis zu dem Moment, in dem alle wieder geschäftig taten.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, log sie und stand trotzdem auf. Sie folgte ihm in sein Büro, wo er direkt die Tür hinter ihr zuschlug.
»Bist du verrückt? Warum hast du die Fahndung verschwinden lassen?«, brüllte Jonas sofort los. Gott sei Dank waren die Büroräume gut gedämmt.
»Hör auf so einen Mist zu behaupten, Jonas!« Kira blieb mitten im Raum stehen. Wenn sie jetzt zugab, dass er recht hatte, konnte sie nicht nur ihre Versetzung vergessen, sondern ihre gesamte Karriere als Polizistin. Und was hatte sie dann noch? Nichts. Ihr Job war das Einzige, was ihr momentan Struktur im Leben gab. Sie hatte die verdammte Hoffnung gehabt, in Jonas eine Familie zu finden, und sich selbst dabei verloren. Erst als es zu spät gewesen war, hatte sie erkannt, dass sie sich zuerst hätte selbst finden müssen, bevor sie sich auf eine Beziehung einließ und heiratete.
»Kira! Hör auf zu lügen!!« Jonas ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen, nur um Sekunden später wieder aufzuspringen. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, die Dateien vom Server löschen zu lassen. Ich finde keine Spur mehr davon. Aber ich habe auf Video, wie du den Fahndungsaufruf von der Pinnwand nimmst, und die dazugehörige Akte ist ebenfalls verschwunden.«
Kira verschränkte die Arme vor der Brust, während in ihrem Kopf der Schmerz begann zu hämmern. Sie wusste, dass er recht hatte. Was sie jedoch genauso wenig wusste wie er, war die Antwort auf seine Frage. Warum hast du die Fahndung verschwinden lassen?
Sie hatte es getan, ohne jeden Zweifel. Es war, als wäre ihr Gehirn auf Autopilot gewesen. Wie in Trance hatte sie den Zettel, der die Kollegen informieren sollte, von der Pinnwand genommen und ihn mit der dazugehörigen Akte vernichtet. Danach hatte sie ihre Schicht beendet und war nach Hause gegangen. Mehr Erinnerungen an diese Nachtschicht hatte sie nicht. Die halbe Stunde davor war in ihrem Kopf verschwommen. Sobald sie versuchte die merkwürdigen Gedankenfetzen zu greifen, wurde sie mit heftigen Kopfschmerzen bestraft.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Kann ich jetzt gehen?« Sie sah Jonas mit festem Blick an. Sie zwang sich dazu, weiterhin ruhig zu atmen, obwohl sie am liebsten in Panik ausgebrochen wäre.
»Dir ist klar, dass ich das weitergeben muss?« Er trat um den Schreibtisch und lehnte sich dagegen. Die kräftigen Hände stützte er an der Tischkante ab.
»Wenn du dich komplett lächerlich machen willst, dann tu das!« Vermutlich hätte sie ihn besser anbetteln sollen, dass er die Aufnahmen unter den Tisch kehrte. Doch sie hatte genug Zeit damit verschwendet, ihr Leben um diesen Mann herum zu leben. Und wenn wirklich alle digitalen Akten verschwunden waren … wie wollte er dann nachweisen, dass sie tatsächlich etwas Wichtiges vernichtet hatte?
»Komm schon, Kira.« Seine Stimme hatte einen lockenden Tonfall angenommen. »Wir wissen beide, dass du dann deinen Schreibtisch endgültig räumen kannst. Das ist dein Traumjob. Du würdest alles dafür tun.«
Sie hatte ihre Hand schon nach dem Türgriff ausgestreckt. Seine Worte ließen sie sich noch einmal umdrehen und sie stürmte auf ihn zu. Der Drang, ihm eine zu klatschen, war so stark, dass sie schon die Hand hob. Doch statt ihn zu schlagen, deutete sie mit dem Finger auf ihn.
»Wage es nicht. Wage es nicht, mich damit zu erpressen. Das wäre selbst für dich betrügendes Arschloch ein neuer Tiefpunkt!«
Er wagte tatsächlich zu lachen. »Erpressen? Das klingt sehr unfein. Ich biete dir Optionen an und dafür solltest du dankbar sein. Aber du warst schon immer ein undankbares Biest. Immer auf der Suche nach mehr, mehr, mehr. Ich sollte froh darüber sein, dass du mich beim Vögeln erwischt hast.«
Kira trat einen Schritt zurück, dann nickte sie langsam. »Ich bin es.« Es kostete sie dennoch all ihren Verstand, den Raum mit hocherhobenem Kopf zu verlassen. Ihre Menschenkenntnis war einer der Gründe gewesen, warum sie sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden hatte. Doch anscheinend konnte sie diese mitsamt ihrem Liebensleben und ihrer Karriere in die Tonne kloppen.
***
Zwei weitere Stunden musste sie ausharren, bis sie endlich die Uniform in ihrem Spind verstauen konnte. Sie verschloss ihn und fuhr sich mit den Fingern noch mal durch die unzähmbaren roten Locken. Noch im Gehen verstaute sie ihren Schlüsselbund in ihrem schwarzen Rucksack, auf dem das Logo von Hogwarts prangte. Noch etwas, mit dem Jonas sich nie hatte anfreunden können. Dass eine erwachsene Frau solchen Kinderkram zur Schau trug, war vollkommen unverständlich für ihn. Vermutlich würde die immer stylische Ellen tatsächlich besser zu ihm passen. Statt nerdiger Logos trug diese lieber Kleidung, auf denen mehr oder weniger dezent teure Markennamen zu erkennen waren. Kira wischte den Gedanken weg und versuchte aus dem Gebäude zu kommen, ohne ihrem Noch-Ehemann erneut zu begegnen. Zum Glück benutzte kaum jemand ihrer Kollegen den Hintereingang, weil die Parkplätze von dort aus etwas weiter weg waren. Sie wusste selbst, dass sie eine furchtbar schlechte Lügnerin abgab. Außerdem kannte Jonas sie zu gut. Er wusste, wenn sie log.
Sie lief um das große Haus herum, das mit seiner Sandsteinfront den Charme der Altstadt mit sich trug. Für ein Regierungsgebäude war es wirklich hübsch. Kira hastete schnell bei Grün über die Straße, bevor die Fußgängerampel wieder umschaltete. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie den Bus und ersparte sich gute fünfzehn Minuten Spaziergang nach Hause. Wobei es ihr nicht schaden würde, sich mehr zu bewegen. Sie blickte an sich hinunter. Seit sie vermehrt am Schreibtisch saß, begann ihre Hose zu zwicken. Ehe sie ernsthaft darüber nachdenken konnte, zu Fuß zu gehen, kam der Bus um die Ecke. Die Stimme ihres Gewissens ignorierend zückte sie die Busfahrkarte und stieg ein. Irgendwann käme sie schon dazu, mehr Sport machen.
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An dem kleinen Zweifamilienhaus angekommen begegnete ihr die Nachbarin, die in der Wohnung über ihr wohnte.
»Hallo, Elisa.« Kira schloss die Haustür auf und ließ die Grauhaarige eintreten, bevor sie ihr folgte.
»Hallo, Kira. Du siehst müde aus. Du solltest mehr schlafen, Liebes.« Verschwörerisch zwinkerte die Alte ihr zu. »Sonst hast du bald solche Augenringe wie ich.«
Kira lachte und deutete auf die gehäkelte Einkaufstasche, die an Elisas Arm baumelte. »Soll ich dir die Einkäufe hochtragen?«
»Untersteh dich, Kindchen. So gebrechlich bin ich noch nicht.« Das verschmitzte Grinsen nahm den Ernst aus ihren Worten. »Gute Nacht.«
»Schlaf später gut«, verabschiedete Kira sich, bevor sie ihre Wohnungstür aufschloss. Ein feiner Geruch von Vanille hüllte sie ein. Das Duftöl im Wohnzimmer verbreitete seinen sanften Duft in der gesamten Wohnung. Wie immer schaltete sie zuerst überall die Lampen an. Sie hasste es, allein im Dunkeln zu sitzen. Sie sah kurz auf ihr Handy, ehe ihr Weg sie zur Dusche führte. Auf dem Weg ins Bad ließ sie den Blick seufzend über das Chaos in ihrer Wohnung gleiten. Es war dringend an der Zeit für einen Großputz. Am Wochenende musste sie das wirklich mal in Angriff nehmen.
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Er saß erneut auf dem mickrigen Stück Rasen vor der Terrasse. Bei den drei Höllenkreisen, Samael hoffte, dass nie jemand davon erfahren würde, dass er wie ein geisteskranker Troll auf diese Frau wartete, nur um danach genauso schlau wie vorher zu sein. Endlich öffnete die Rothaarige die Terrassentür. Samael setzte sich auf, seine Ohren spitzten sich aufmerksam. Verflucht. Beinahe knurrte er. Sie trug schon wieder nichts als eines dieser Tücher um den Leib, die die Menschen zum Abtrocknen benutzten. Es genügte kaum, um ihre üppigen Rundungen zu verbergen, und obwohl sie ungeschminkt war, ihr Haar noch feucht über ihre Schultern hing, war sie deutlich heißer als der Sukkubus, der es mit jeder Faser seines Körpers auf Verführung anlegte. Samael richtete sich auf seine vier Beine auf und kam langsam auf sie zu. Doch bevor er sich aus dem Dunkel des Herbstabends schälen konnte, damit Kira ihn bemerkte, klingelte es an der Tür. Der schrille Ton ließ sie zusammenzucken und ihr Blick glitt unbehaglich in Richtung der Wohnungstür. Sie drehte sich um und ging wieder ins Haus.
Samael sah nicht, wem sie die Tür öffnete. Einem Mann vielleicht? Der Gedanke weckte Unruhe in ihm. Vorsichtig streckte er seinen Kopf durch die offen stehende Terrassentür und hob seine Pranken über die Schwelle. Gut, dass er nicht wie ein Vampir erst eingeladen werden musste. Geduckt durchquerte er Kiras Wohnzimmer, bis er die Wohnungstür sah. Gerade drängte sich ein großer Mann hindurch, obwohl Kira versuchte ihn daran zu hindern. Doch gegen den muskulösen Kerl hatte sie keine Chance.
»Du solltest jetzt gehen!« Kira presste ihre Handflächen gegen Jonas’ Brust und versuchte ihn zurückzudrängen. Doch sie hatte keine Chance, der große Mann setzte einen Fuß zwischen Tür und Türrahmen, dann drückte er die Tür auf und schob sich hinein.
»Hast du etwa getrunken?« In seinem Atem hing der Geruch von Schnaps. Kira stolperte zurück, bis sie ihren Flurschrank im Rücken hatte. Ihr Mann kam mit fahrigen Bewegungen näher.
»Ich lasse mir nicht von dir mein Leben versauen!« Er kam so nah, dass sie erneut den Alkohol riechen konnte. Übelkeit stieg in ihr auf und sie drehte den Kopf zur Seite. »Sieh mich gefälligst an, Kira!« Er konnte sich noch erstaunlich gut artikulieren, obwohl seine Augen bereits glasig glänzten. Jonas packte ihr Kinn und drehte mit festem Griff ihr Gesicht herum, sodass sie ihn ansehen musste.
»Lass mich los«, zischte Kira. Sein Auftritt war überraschend gekommen, doch jetzt meldete sich ihr Verstand zurück. Sie durfte ihm dieses Verhalten nicht durchgehen lassen! Wenn sie einmal zuließ, dass er so mit ihr umging …
Nein. Sie hob die Hände und stieß ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, von sich. Ihr Handtuch lockerte sich bei dieser Bewegung und sie musste es mit einem schnellen Handgriff festhalten, um nicht nackt vor ihrem Ex zu stehen.
»Hau ab!«, brüllte sie und griff nach dem Telefon auf der Kommode. »Oder ich rufe auf dem Revier an!«
Jonas begann zu lachen. Gott, er musste wirklich deutlich zu viel getrunken haben. »Mach das, du dummes Ding. Dann kannst du ihnen gleich erklären, warum du eine Fahndung hast verschwinden lassen.«
Kira schluckte und presste die Lippen aufeinander, bevor sie sprach. »Geh bitte, Jonas. Wir reden, wenn du nüchtern bist.« Und ich mit mehr als einem Handtuch bekleidet bin, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Nein. Ich bleibe. Ich stehe in diesem beschissenen Mietvertrag genauso wie du!«
Statt die Wohnung zu verlassen, schlug er die Tür hinter sich zu und kam dann wieder auf Kira zu. Sie wich erneut zurück.
»Genau wie du noch immer meine Frau bist, also entspann dich endlich. Es ist fast lächerlich, wie sehr du dieses Handtuch umklammerst. Das habe ich doch alles schon gesehen.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Kira schlug sie weg. »Lass deine Finger von mir. Ich warne dich. Von dir lasse ich mir nichts mehr gefallen.«
»Ach komm schon.« Er beugte sich zu ihr, engte sie zwischen seinem Körper und der Wand hinter ihr ein. »Tu nicht so prüde. Wahrscheinlich hat es dir noch gefallen zu sehen, wie ich die Praktikantin gevögelt habe.«
Ist das dein Ernst? Ihr blieb die Luft weg. Sie war so perplex über seine Worte, dass es einige Sekunden dauerte, bis die Worte aus ihr herausplatzten. »Ist das dein Scheißernst? Ich dachte, dieses Theater hätten wir hinter uns. Verpiss dich jetzt oder du wirst es bereuen!«
»Ich hab dich in der Hand, du kannst mir gar nichts.« Er kam ihr noch näher. Bevor er sie berühren konnte, spuckte sie ihm ins Gesicht. Genug. Es war genug. Das schien auch Jonas zu denken, denn er packte sie am Handtuch, kratzte dabei mit seinen Fingernägeln grob über die Haut an ihrem Dekolleté. Erst als ein tiefes Knurren durch den Flur hallte, wurde er abgelenkt.
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Der Anblick, der sich Samael bot, ließ heiße Wut in ihm aufsteigen und das Knurren stieg unwillkürlich aus seiner Kehle auf. Noch während das Geräusch durch den Flur schallte, verstummte der Mann, der gerade damit begonnen hatte, Kira anzuschreien, und Anstalten machte, sie körperlich zu bedrängen. Der Kerl starrte ihn an, bevor er sich wieder Kira zuwandte. »Ein Köter? Ist das dein Ernst? Du darfst in dieser Wohnung keinen Hund halten.«
Samael knurrte noch einmal. Lauter. Warnender.
Es brauchte keine Worte, um zu verdeutlichen, dass Kiras Ex-Mann sich dringend verpissen sollte. Nur zu gern hätte er sich in diesem Moment auf ihn gestürzt, seine Zähne in das weiche Fleisch gegraben und ihm die Kehle herausgerissen. Samael besaß viele Eigenschaften, Geduld allerdings gehörte weniger zu seinen Stärken. Doch der Mann rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte keine Ahnung, welchem Monster er gerade gegenüberstand und dass allein die Tatsache, dass Samael Kira nicht vollkommen verstören wollte, sein Überleben sicherte. Außerdem wäre sie sicher wenig amüsiert, wenn er ihren gesamten Flur mit einer Unmenge an Blut ruinieren würde. Er hatte nicht viel Menschenkenntnis, Körperflüssigkeiten in rauen Mengen schienen sie jedoch alle zu verabscheuen. Er kam näher, die Zähne gefletscht, und erneut erfüllte sein Knurren den Raum. Es war mehr ein Brüllen als ein tierischer Laut. Verstand der Kerl nicht gleich, würde er dennoch dran glauben müssen, Blutlachen hin oder her.
Endlich ließ er Kira los. Hastig zog sie das Handtuch wieder über den Ansatz ihrer Brüste zurecht. Samael richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf den Mann. Er kam auf lautlosen Pfoten gemächlich näher, bis er den Typen an die Tür gedrängt hatte und Kira hinter sich in Sicherheit wusste. Der Mann tastete in seinem Rücken nach dem Türgriff. Das dauerte zu lange. Samael fletschte die Zähne. Nun fand der Mensch doch noch die Türklinke und riss beinahe panisch die Tür auf. »Das werde ich dem Vermieter sagen!«, schrie er, ehe er die Tür zuschlug. Das Zuschlagen der Haustür ließ Kira zusammenzucken. Samael drehte sich langsam um. Kira starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, bevor sie vorsichtig in die Hocke ging. Obwohl er ihr nur als riesiger Hund gegenübersaß, zog sie das Handtuch zurecht.
»Danke«, sagte sie und hielt ihm die Hand zaghaft entgegen. Samael kam einen Schritt näher, schnupperte an ihren Fingerspitzen. Er musste dem Drang widerstehen, den Kopf an ihre Handfläche zu schmiegen. Anscheinend wirkte sein Zögern wie ein vorwurfsvoller Blick. »Glaub mir, hätte ich geahnt, was für ein Trottel der Kerl ist, hätte ich ihn nicht geheiratet«, rechtfertigte Kira sich vor ihm und strich mit der anderen Hand eine rote Locke aus ihrer Stirn.
Nachdem er an ihrer Hand geschnuppert hatte, traute sie sich seinen Kopf zu streicheln. Samael wollte zurückweichen, denn, bei der verdammten Seelengrube, er war doch kein Schoßhündchen, das man derart liebkoste! Das Gefühl von Kiras Fingern zwischen seiner wirren, schwarzen Hundemähne war zu hypnotisch, ihre gleichmäßigen Bewegungen zu verlockend. Irgendwann hörte sie auf und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »Ich frage mich, wo du hingehörst. Für einen Streuner bist du eindeutig zu gut erzogen und zu gut gepflegt.«
Gut erzogen? Wäre er nicht in seiner Gestalt als Höllenhund gewesen, hätte er laut aufgelacht. Diese Worte gehörten nicht zu denen, mit denen man üblicherweise Satans rechte Hand beschrieb. Er hoffte jedoch, dass Kira nie Kenntnis von dieser Welt bekam. Damit das so blieb, sollte er sich von ihr fernhalten. Diese seltsame Anziehungskraft, die mit ihren Berührungen noch mehr gesteigert wurde, ignorieren. Noch während ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, stand sie auf.
»Da du der Held des Abends bist, darfst du über Nacht hier bleiben.« Sie ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer. »Draußen wird es abends doch schon echt kalt!«
Hier bleiben? Er folgte ihr. Es war dumm, das zu tun. Den Anblick wollte er sich nicht entgehen lassen. Aber bevor er einen Blick auf ihren nackten Körper erhaschen konnte, hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen. Er schnaubte und drehte sich auf der Stelle um. Schade. Wirklich schade.
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Sie wurde wach, weil ihr unfassbar warm wurde. Der warme Körper, der neben ihr lag und Hitze abgab, ließ sie aufstöhnen.