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Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

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Linda Winter

Queen of Night and Shadows. Götterfluch

**Ein göttliches Erbe, eine gefährliche Prüfung, eine wahre Liebe …**

Um Königin der Schatten zu werden, war Sayeh bereit, alles zu tun. Doch nun, da sie am Ziel angekommen ist und eine neue Generation junger Halbgötter über die Königreiche der Elemente herrscht, stellt sie das Schicksal vor eine erneute Herausforderung. Abermals gerät Sayehs Anspruch auf den Thron ins Wanken. Fünf Tage geben ihr die Halbgötter, um ins Schattenreich zu reisen und sich dort ihrer Vergangenheit zu stellen. Fünf Tage, die auch darüber entscheiden werden, ob ihre Gefühle zum Herrscher des Wassers Liebe bedeuten …

Wohin soll es gehen?

Autor

© privat

Linda Winter, 1985 in Deutschland geboren, zog es früh in die Ferne. Nach einem Auslandsjahr in Australien studierte sie Archäologie und Interkulturelle Kommunikation und arbeitete bei den Vereinten Nationen, ehe sie ihre Liebe für das Schreiben wiederentdeckte. Heute lebt sie in ihrer Wahlheimat Wien, reist am liebsten durch die Welt und schreibt fantastische Geschichten für Jugendliche.

Die elementare Einheit ist ein Bund wie kein anderer, alt wie die Götter, kostbarer als das nächste Blut, loyaler als der engste Freund und ewig wie die Liebe. Die Einheit der fünf Elemente bildet die Essenz dieser Welt. Zerbricht sie, wird auch die Welt untergehen.

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SCHATTIGE VORAHNUNG

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Das sanfte Flüstern der Schattenbaumblätter begleitete Sayeh durch die Nacht. Es hätte friedlich sein können, wäre diese trügerische Stille nicht Ausdruck von Tod und Zerstörung gewesen. Vier Elemente hatten in diesem Reich gewütet und der Schatten hatte es im Stich gelassen.

Heute – fünf Jahre nach dem Krieg – waren die Elemente zurückgekehrt. Seen hatten sich wieder gefüllt, Flüsse und Bäche bahnten sich abermals ihre Wege durch das dunkle Unterholz des Waldes, bewässerten die Gärten und ließen farbenfrohe Blumen sprießen. Ein frischer Wind streichelte ihre Haut, wenn sie auf ihrem Balkon hoch oben am Westturm die Sterne an den Himmel sang, und die knisternden Kaminfeuer des Palastes verströmten eine wohlige Wärme. Das Leben jedoch brauchte Zeit.

Es war Sayehs fünfzehnte Nacht als Königin des Schattenreichs. Herrschen aber tat sie lediglich über eine Handvoll Menschen und eine überschaubare Zahl tierischer Geschöpfe. Die Vögel waren die Ersten gewesen, die gekommen waren. Ein paar Rehe hatten sich in die Palastgärten verirrt, ein Rudel Schattenwölfe hatte eines Nachts vor ihrem Bett gestanden, einige Ziegen und Dutzende Kleintiere hatten den Weg zu ihr gefunden. Es war ein Anfang. Doch es war auch ernüchternd. Sie fragte sich, ob das Leben schneller zurückkehren würde, wenn sie eine vereidigte Halbgöttin wäre. War sie zu schwach? Zu unerfahren? Oder schlicht zu … anders?

Leichtfüßig huschte sie durch den dichten, nebelumwobenen Schattenwald des Nordens. Der aufziehende Nordostwind trug die noch frischen Erinnerungen an ihre eisigen Tage im Reich des vierten Elements mit sich und instinktiv zog sie das Biberfell, welches Gaia ihr geschenkt hatte, enger vor der Brust zusammen. Als Kind hatte ihr die Kälte nichts ausgemacht. Vielleicht war es das Feuer in ihr, das sie in letzter Zeit vermehrt die Wärme suchen ließ. Doch auch der hohe Norden des Schattenreichs musste gepflegt werden. Sie wollte keinen Ort vernachlässigen, kein Heiligtum sterben lassen. Ihre Mutter hatte das getan. Sie würde es nicht. Nyssa würde es ihr nicht verzeihen.

Kurz bevor sie die Klippe erreichte, kletterte sie die schwarzbraune Rinde eines Schattenbaums empor, hangelte sich von Baumkrone zu Baumkrone. So, wie sie es früher gern getan hatte, um den wachsamen Augen ihrer Mutter zu entkommen. Weit entfernt trällerte eine Mitternachtslärche ihr melancholisches Lied. Ein paar Glühwürmchen schwirrten um Sayehs Kopf, tanzten zu den wehmütigen Klängen des Vogels durch die sternbeleuchtete Nacht.

Das letzte Mal war sie vor über fünf Jahren am nördlichen Ende der Welt gewesen. Ihrer Welt. Damals hatte sie stundenlang am Rand der Klippe gesessen und ihre Beine in den Abgrund baumeln lassen, in der Hoffnung, die Halbgöttin der Winde würde ihr einen Besuch abstatten. Hätte sie geahnt, welch giftiges Biest Alizeh war, hätte sie diesen Wunsch vielleicht nicht gehegt. In diesem Moment jedoch wäre ihr selbst Alizehs Gesellschaft lieber als die Todesstille ihres daniederliegenden Reiches.

Sayeh ließ sich an der Waldgrenze vom Baum fallen, erhob sich und klopfte Erde und Blätter von ihrer Lederhose. Tief atmete sie die kalte Luft ein, dehnte ihre ermüdeten Muskeln. In den letzten zwei Wochen hatte sich ihr körperlicher Zustand so weit gebessert, dass sie es in einer Nacht vom Schattenpalast bis zur Nordspitze des Reiches geschafft hatte. Zu Fuß. Das war eine Leistung, auf die sie stolz sein konnte.

Zögerlich näherte sie sich dem Heiligtum Nyssas. Es war ein Schrein aus schwarzem Lavagestein, der direkt an den Klippen erbaut war. Üblicherweise umgaben Schattenmagie, Blumen und Opfergaben den menschenkopfgroßen Obsidian. Doch da waren keine Opfergaben. Der Edelstein war tot, ohne Magie. Ebenso wie dieses Heiligtum.

Warum hatte ihre Mutter Nyssas Reich derart verkümmern lassen? Fünf Jahre hatte sie nach ihrer Kriegsniederlage unter der Kontrolle der anderen Elemente regiert. Fünf Jahre, die Sayeh im Fels verbrachte, als Druckmittel, um Itza gefügig zu machen. Um sie daran zu hindern, den Krieg fortzuführen, die Welt abermals in Schatten zu hüllen und die restlichen Geschöpfe zu verschlingen. Hatte sie es aus Trotz getan? Aus Trauer? Aus Protest?

Was auch immer der Grund gewesen war, nichts rechtfertigte die Vernachlässigung des Elements, mit dem die Götter sie betraut hatten. Als Halbgötter waren sie verantwortlich für Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie brachten das Leben. Und manchmal auch den Tod. Niemand konnte seiner Bestimmung entgehen.

Sayeh kniete sich vor den Altar und fuhr mit ihren Fingerkuppen über den Obsidian, der mit grauem Staub belegt war und dessen Schwarz stumpf wirkte. Schattenschlieren entkamen ihren Fingerspitzen, hüllten den Edelstein in sein Element und legten sich wie düsterer Frühnebel um den Schrein. Sie schloss ihre Augen und rezitierte Gebete, bat Nyssa um Vergebung und ihre göttliche Macht. Das schwermütige Lied der Mitternachtslärche mischte sich mit dem beschwingten Gesang der Sterne und ihren eigenen geflüsterten Worten, verdrängte die bedrückende Stille und hüllte sie in einen friedlichen Kokon aus göttlicher Macht.

Das verräterische Knacken jedoch vernahm sie ganz deutlich. Ihre Schatten spürten eine schwache Erschütterung der Erde, auf der sie kniete.

Sie wirbelte herum. War es ein Reh, das sich anpirschte? Ein Schattenwolf, der sie gewittert hatte? Oder gar ein Mensch?

Doch da war nichts.

Langsam erhob sie sich. Ihre Schatten folgten Sayeh in den Wald. Aber ihren göttlichen Augen, mit denen sie in der Nacht sehen konnte wie andere am Tag, gelang es nicht, den geheimen Anschleicher zu finden. Das war ungewöhnlich. Es lag in der Natur eines jeden Geschöpfs des Schattens, die Nähe seiner Halbgöttin zu suchen. Selbst das scheueste Reh würde nicht vor ihr davonlaufen. Es würde zu ihr kommen, um von ihrer Macht zu kosten. Von Nyssas Magie, die ihnen allen Leben schenkte.

Stirnrunzelnd bückte Sayeh sich und untersuchte einen dicken Ast, der eine frische Bruchstelle aufwies. Es musste ein schwereres Geschöpf sein. Sie legte den Ast wieder beiseite und bewegte sich tiefer in den Wald hinein. Der gräuliche Nebel färbte sich schwarz, wo sie lief. Ihre Augen waren auf den Erdboden geheftet, suchten wie schon seit zwei Wochen nach Zeichen von Leben. Vor einem eingetrockneten Flusslauf blieb sie stehen. Waren das …?

Mit klopfendem Herzen sank sie in die Hocke. Ja, es könnten Fußspuren sein. Fußspuren eines Menschen. Der Abdruck einer Stiefelsohle. Doch sie könnte sich auch täuschen …

»Damit vergeudest du deine Zeit, wenn niemand auf dich aufpasst?«, schnitt Alizehs Stimme kalt und feindselig durch den Nebel. »Streifst durch verlassene Wälder und suchst nach überlebenden Ameisenvölkern?«

Kurz schloss Sayeh ihre Augen, bat Nyssa um Kraft und Besonnenheit. Dann kam sie aus der Hocke und drehte sich zu der Halbgöttin der Winde um. Alizehs sonst perfekt frisiertes Haar war zerzaust, ein dünner Schweißfilm glänzte auf ihrer makellosen Alabasterhaut. Das goldene Blond ihrer Haare und der funkelnde Diamant ihres Diadems, der einen unheilvollen Duft nach Windmagie verströmte, stachen aus dem finsteren Reich hervor wie ein Stern am Nachthimmel. Ihre sturmgrauen Augen beäugten argwöhnisch den schwarzen Nebel, der sie beide umgab.

»Bei Lil, solch eine Todesstille wie hier herrscht sonst nur in unseren Kerkerräumen nach den Opferungen.« Alizeh rümpfte die niedliche Stupsnase. »Was hast du die letzten zwei Wochen getrieben? Dich mit den Sternen unterhalten?«

Alizeh hatte sich vom Schattenreich in den letzten Wochen erfolgreich ferngehalten. Am ersten Tag noch hatte sie ihre Böen verteilt, die mit der Zeit schwächer geworden waren. Sayeh bedauerte ihre Abwesenheit nicht – der Wind war nie ihr liebstes Element gewesen. Der Schatten und er standen ohnehin auf Kriegsfuß. Meide den Wind.

»Was tust du hier?«, fragte sie Alizeh ungeduldig, um dieses Gespräch abzukürzen. Welchen Grund gäbe es für die Halbgöttin, mitten in der Nacht im Schattenreich aufzutauchen? Wie war sie überhaupt hergekommen?

Alizeh zuckte gleichgültig mit den Schultern, ließ ihre Schatten dabei nicht aus den Augen. »Du hast dich lange nicht blicken lassen.«

»Lange nicht blicken lassen?«, fragte Sayeh nach. »Ich war vor zwei Nächten im Wasserreich. Letzte Nacht war ich im Feuerreich. Heute ist die Nacht, in der ich die Sterne in meinem Reich an den Himmel singe. Denn du hast ja – deine Worte – die Hilfe meines Elements nicht nötig. Hat sich das geändert?«

Jede Nacht verbrachte sie in einem anderen der fünf Reiche, um ihnen in regelmäßigen Abständen die Sterne an den Himmel zu singen. Alizeh hatte auf dieses Angebot verzichtet. Sayeh war dies nur recht gewesen, so konnte sie sich eine weitere kostbare Nacht dem Schattenreich widmen. Denn auch wenn in ihrer Heimat ewige Nacht herrschte, so ging der Mond auf und wieder unter wie in den übrigen Reichen die Sonne, und ihr Sternengesang musste darauf abgestimmt werden. Sang sie die Sterne im Wasserreich an den Himmel, hatte sie nicht die Kraft, dies in der gleichen Nacht auch im Schattenreich zu tun. Erst wenn sie vereidigt waren, würde ihr Gesang ein glitzerndes Sternenzelt über die gesamte Welt zaubern.

»Der Wind braucht den Schatten nicht, um zu überleben«, ließ Alizeh sie wissen.

»Doch, das tut er«, widersprach sie ihr.

Alizehs Antwort waren ein mörderischer Blick und ein auffrischender Wind. Sayeh kuschelte sich in ihr Biberfell und musterte die Halbgöttin eingehender. Die Spitze eines Iridiumschwerts, das sie sich auf den Rücken geschnallt hatte, ragte hinter ihrem Kopf hervor. Sie trug einen weißen Fellmantel, dessen zarter Flaum mitgenommen aussah. Ein breiter Ledergürtel, auf dem zahlreiche magieangereicherte Amethysten prangten, war um ihre Taille gebunden. War sie etwa …?

»Bist du über das Meer der Winde geflogen?«

Alizeh rollte mit den Augen und entzog einigen der Amethysten die Magie. »Nein, ich bin geschwommen«, spottete sie und öffnete ihren Gürtel. Unter dem Mantel kamen ein Kettenhemd und ein schwerer Waffengürtel, der mit diversen Iridiumdolchen bestückt war, zum Vorschein. Die Halbgöttin sah aus, als würde sie in den Krieg ziehen. »Selbstverständlich bin ich geflogen«, sagte sie abfällig. »Ich bin der Wind. Schon vergessen?«

Über das Nordmeer? Vom Reich der Winde bis zum Reich der Schatten?

»Das ist … außerordentlich für eine unvereidigte Halbgöttin«, musste sie anerkennen.

»Nun ja, ich bin sehr talentiert«, erinnerte Alizeh sie. »Falls dir das noch immer nicht aufgefallen sein sollte. Aber wie sollte es? Du versteckst dich tagein, tagaus in deinem Reich.«

»Ich verstecke mich nicht, ich suche nach Leben«, korrigierte Sayeh die Halbgöttin, auch wenn sie gestehen musste, dass ein Körnchen Wahrheit in ihren Worten steckte. »Ich baue mein Reich wieder auf. Das ist mit sehr viel Arbeit verbunden.«

»Denkst du, das wüsste ich nicht?«, fuhr Alizeh sie unwirsch an. »Deine Mutter verschlang ganze schwebende Felsen in ihren Schatten. Noch immer ist der Himmel über der Wüste der Winde eine Großbaustelle. Du bist nicht die Einzige, die mit Problemen zu kämpfen hat.«

Sayeh seufzte und wünschte insgeheim, sie wäre heute Nacht gen Süden statt Norden gereist. »Was hast du hier verloren, Alizeh?«, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen. Die lange Wanderschaft hatte sie ermüdet, außerdem knurrte ihr Magen, denn ihren Proviant hatte sie bereits nach einer Stunde vertilgt.

Alizehs Zähne knirschten hörbar. »Ich brauche deine Hilfe«, presste sie schließlich hervor.

Sayeh glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Alizeh brauchte ihre Hilfe? Die Hilfe des Schattens? »Wobei könnte ich dir bitte helfen?«

Die Halbgöttin trommelte unruhig mit ihren Fingern gegen einen Dolchgriff. »Mein Vater ist verschwunden.«

Der düstere Nebel verdichtete sich, kroch Unheil verkündend über Sayehs Haut. »Dein Vater ist verschwunden?« Sie rieb sich die Arme. »War er nicht in einer Felsspalte eingesperrt?«

»Das war er. Bis gestern Abend.«

Fröstelnd dachte Sayeh an ihre acht Tage in diesem windigen Gefängnis zurück und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Wo war Azar, wenn man ihn brauchte? »Er besitzt keine Magie. Wie hat er es geschafft, sich zu befreien?«

Alizeh schnaubte erbost. »Na wie wohl?«, zischte sie. »Die Wachen haben ihn herausgelassen. Viele von ihnen sind ihm gegenüber noch immer loyal. Ich habe die Verdächtigen befragt, aber sie wollen nicht sprechen. Sicher, ich könnte sie Lil opfern, doch dann wäre ich nicht schlauer als zuvor, und mein Reich besitzt nicht genügend Felsspalten und Kerkerräume, um jeden von Vaters Loyalisten einzubunkern. Die Situation ist alles andere als leicht. Die Probleme, mit denen du zu kämpfen hast, sind lächerlich im Vergleich zu den meinen.«

Kurz grübelte Sayeh darüber nach, ob es besser war, über ein nahezu gänzlich ausgestorbenes Reich mit einer Handvoll loyaler Menschen oder ein gut bevölkertes Reich voll feindlich gesinnter Menschen zu herrschen. Eine Frage für Avan.

»Lil wacht über dich«, versuchte Sayeh, die Halbgöttin zu motivieren. Denn die Nacht war bald vorbei und ehe sie ins Bett ging, wollte sie noch die Karte des Schattenreichs vervollständigen und ihre neuesten Erkundungen eintragen. Die Nahrung für die nächste Woche musste rationiert und gemeinsam mit ihrer Köchin in den Essensplan eingetragen werden. Außerdem sollte sie Aufgaben an die beiden Menschen vergeben, die vor drei Tagen aufgetaucht waren und noch immer kränklich in ihren Betten lagen. »Demonstriere den Menschen deine göttliche Macht«, schlug sie vor. »Lade sie zu eurem Hauptheiligtum ein und beschenke es vor ihren Augen mit dem Wind. Du wurdest erwählt, Alizeh. Du bist ihre Königin.«

»Denkst du, auf solch einen trivialen Schwachsinn wäre ich in den letzten zwei Wochen nicht auch gekommen?«, entgegnete die Halbgöttin bissig. »Das Reich der Winde ist nicht das Reich der Schatten. Die Menschen dort lassen sich nicht von betörendem Gesang und hübschen Sternen überzeugen.«

Vielleicht sollte Alizeh genau das ausprobieren. Die Geschöpfe des Windes hatten seit Wochen keine Nacht gesehen. Möglicherweise war der Hass auf purer Übermüdung begründet.

»Ich habe dir bereits angeboten, die Nacht …«

»Ich brauche deine dämlichen Sterne nicht!«, fuhr Alizeh sie gereizt an.

Dämliche Sterne?

»Du solltest nicht die Sterne beleidigen, solange Schattenerde unter deinen Sohlen klebt und schwarzer Nebel dich umgibt«, warnte Sayeh sie. »Diese ›dämlichen‹ Sterne wachen im Moment über uns und sie werden ungern beleidigt.«

Um ihre Worte zu unterstreichen, bauschte sich ein wütendes Sternbild über ihren Köpfen zusammen. Fasziniert beobachtete Sayeh das Schauspiel. Die Sterne waren heute Nacht äußerst aufgeweckt. Ob das einen Grund hatte?

»Können wir bitte diesen Wald verlassen?« In Alizehs Stimme schwang Nervosität mit. »Hier ist es unheimlich.«

Sayeh riss ihre Augen von den empörten Sternen los und warf einen letzten Blick über die Schulter, hinein in den unergründlichen Schattenwald. Irgendetwas war hier. Ihre Schatten spürten es und sie spürte es mit ihnen. Jemand verbarg sich in dem undurchdringlichen Nebel. Kein Tier. Vielleicht nicht einmal ein Mensch …

»Gehen wir«, durchbrach sie ihre eigenen Gedanken, wandte ihren Blick ab und geleitete Alizeh aus dem Wald hinaus bis zum Rand der Klippe. Stolz erfüllte sie, als sie das Heiligtum Nyssas passierten, das von dichten schwarzen Dunstschleiern umgeben war. Nur das Leuchten des mit frischer Schattenmagie angereicherten Obsidians drang durch den düsteren Nebel. Die göttliche Macht würde sich nun langsam in der nördlichen Region ausbreiten und Leben schenken.

Alizeh trat an den Abgrund und atmete tief die kalte Luft ein, schüttelte die letzten Nebelreste von sich. »Du bist der Schatten«, begann sie dann. Sayeh fragte sich, wohin dieses Gespräch führen würde. »Du kannst die Wahrheit erspüren. Natürlich bist du ebenso wenig vereidigt wie ich und besitzt nur einen Bruchteil der Macht einer wahren Halbgöttin, doch …« Sie machte eine Pause und es schien, als kostete es Alizeh große Überwindung, die nächsten Worte auszusprechen. »Ich möchte, dass du meine Wachen befragst. Sollte sich die Wahrheit nicht ans Licht bringen lassen, drohe ihnen mit den Schatten. Die Menschen fürchten dich. Mich … fürchten sie nicht. Nicht so, wie sie sollten.«

Das wiederum verwunderte Sayeh. Sie fand Alizeh äußerst furchteinflößend.

»Wieso übernehmen deine Winde nicht die Spionage?«, fragte sie. »Ein paar gut platzierte Tornados und du könntest spielend herausfinden, wer an der Befreiung deines Vaters beteiligt war.«

Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, mit ihrem Element Angst und Schrecken zu verbreiten. Jedes Geschöpf dieser Welt fürchtete sich vor dem Schatten – spätestens seit dem Krieg. Wenn sie ihn nun missbrauchte, um den Menschen damit zu drohen … Der Schatten war ein friedliches Element und daran hielt sie seit den Ereignissen im Vulkan fest. Alles andere würde sie nur wieder in die Verzweiflung stürzen.

Alizeh spielte mit ein paar Minitornados auf ihrer Handfläche. »Meine Macht reicht für solch eine groß angelegte Spionage nicht aus«, gestand sie. »Die Pflege des Elements zehrt an meinen Kräften. Wind ist nicht Schatten. Die Sterne an den Himmel zu singen ist ein Kinderspiel im Vergleich dazu, die Luft in Aufruhr zu bringen.«

Sayeh schwieg und beobachtete sorgenvoll ihre aufgebrachten Sterne, die sich bereit machten, Alizeh als Sternenhagel auf den Kopf zu prasseln. »Du solltest stolz auf deine Leistung sein«, appellierte sie an das Gefühl, welches das vierte Element am machtvollsten entfesselte.

»Ich bin stolz auf mich«, fauchte Alizeh. Zornige Blitze schossen aus ihren Augen. »Behalte deine grandiosen Ratschläge für dich, Sayeh. Sie sind mir nicht von Nutzen. Was ich brauche, ist deine Hilfe. Gibst du sie mir? Ich will die abtrünnigen Wächter so schnell wie möglich Lil opfern.«

Sayeh zögerte. Zuzugeben, dass sie ausgerechnet ihre Hilfe benötigte, musste Alizeh große Überwindung kosten. Und ohne die Halbgöttin und ihren mutigen Einsatz im Reich der Winde hätte sie sich wahrscheinlich ihrem Schicksal ergeben, ohne je zu erfahren, was sie war. Das Mindeste, was sie ihr schuldete, war ein wenig Unterstützung.

Mit einem flauen Gefühl im Magen nickte sie. »Ich werde in der übernächsten Nacht in dein Reich kommen«, versprach sie.

»Danke«, rang Alizeh sich ab, ihr Blick starr auf den Horizont gerichtet. Die Halbgöttin sog mehrmals tief Luft ein, woraufhin der Wind kräftig zulegte und die Schatten um das Heiligtum auseinandergetrieben wurden.

»Willst du ernsthaft wieder zurückfliegen?« Sayeh betrachtete besorgt, wie ein Amethyst nach dem anderen auf Alizehs Gürtel erlosch, während diese die Magie anzapfte. »Wieso bist du nicht durch den Spiegel gekommen?«

»Ich musste mich abreagieren«, kam die knappe Antwort.

»Ist das nicht gefährlich? Wie lange brauchst du für den Flug?«

»Einen halben Tag.«

»Und in der Zeit lässt du dein Reich unbeaufsichtigt?«, fragte sie. »Mit rebellierenden Wachen?«

»Amythia regiert in meiner Abwesenheit«, klärte Alizeh sie auf. Ein Mensch regierte über eines der fünf elementaren Reiche? Allein? »Täusche doch keine falsche Besorgnis vor, Sayeh. Ich bin durchaus in der Lage, eine kurze Reise auf mich zu nehmen.«

»Kurz?« Sayeh deutete Richtung Nordost. »Das sind mindestens hundert Meilen.«

»Einmal Schattenreich und zurück«, sprach Alizeh. Ihr Blick war in der Ferne gefangen und ihre Stimme schweifte ab. »Damals, als der Wind mir noch nicht gehorchte, träumte ich häufig von dieser Reise. Ich wollte allen beweisen, dass ich nicht das schwache Mädchen bin, das meine Familie in mir sah.« Sie räusperte sich, als sie sich wohl gewahr wurde, mit wem sie so offen sprach. Alizeh warf ihr einen verächtlichen Seitenblick zu. »Ich ahnte damals nicht, dass eines Tages nicht ich, sondern der schwarze Tod über das Meer der Winde ziehen würde.«

Der schwarze Tod.

Eine altvertraute Angst kroch in Sayeh empor. Abermals warf sie einen Blick in den nebelumwobenen Schattenwald, zog ihren schützenden Mantel enger. »Wo, glaubst du, ist er?«, fragte sie. »Dein Vater?«

»Unsere Eltern planen etwas«, vermutete Alizeh. »Sie verhalten sich zu unscheinbar. Mein Vater ist kein Mann, der aufgibt. Wir hätten sie töten sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.«

»Sie sind machtlos. Sie zu töten wäre nicht richtig gewesen.«

Alizeh stieß verächtlich die Luft aus. »Mein Vater ist niemals machtlos«, widersprach sie ihr. »Sie wollen dich noch immer töten. Das ist dir doch klar, oder?«

Sayeh sah zu den Sternen hinauf, die in ihrer Angriffsstellung verharrten. »Nyssa wacht über mich.«

Alizeh lachte freudlos. »Nyssa wachte ebenso über dich, als man dich gefangen nahm und fünf Jahre in den Fels steckte. Sie wachte über deine Mutter und sieh, was geschehen ist«, sagte die Halbgöttin und traf sie damit an einer empfindlichen Stelle. »Ein Halbgott sollte sein Leben niemals gänzlich in die Hände der Götter legen. Wir sind zur Hälfte Mensch – und diese Hälfte ist sterblich. Hier geht es nicht um Rache, sondern ums Überleben, um unsere Zukunft. Unser aller Zukunft. Du bist Teil davon. Ich hoffe, wenn die Zeit kommt und du eine harte Entscheidung treffen musst, wählst du richtig und tust, was getan werden muss. Für deine elementare Einheit.«

Mit diesen Worten ließ Alizeh ihren Zeigefinger kreisen und zauberte einen mittelschweren Tornado herbei, der geräuschvoll an den biegsamen Ästen der Schattenbäume zerrte. Die feinen silbrigen Blätter wirbelten hilflos durch die Luft wie verlorene Sterne.

Sayeh grub ihre Fersen in die feuchte Erde und stemmte sich gegen den Sturm. »Alizeh?«, schrie sie über den tosenden Lärm.

Das entnervte Stöhnen der Halbgöttin war trotz des Wirbelsturms deutlich zu hören. »Was ist denn noch?«

»Bist du … bist du aus dem Wald gekommen?«, rief sie in einem letzten Versuch, ihre düstere Vorahnung im Keim zu ersticken.

»Wie bitte?« Alizeh sah sie über ihre Schulter verständnislos an. »Ob ich was

»Gerade eben«, präzisierte Sayeh und zeigte zum Waldrand. »Warst du im Schattenwald, als ich das Heiligtum pflegte? Hast du dort gelauert?«

»Ich bin dir in den Wald gefolgt.« Alizehs Stimme wurde von ihrem Tornado verstärkt. »Wieso sollte ich im Schattenwald lauern? Hast du in all der Dunkelheit die Orientierung verloren? Das Reich der Winde liegt dort.« Sie deutete zum fernen Horizont, wo sich das geheimnisvolle Schattenmeer und das schäumende Meer der Winde trafen.

Ohne ein weiteres Wort hüllte die Halbgöttin sich in ihre Windsäule und hob unter ohrenbetäubendem Getose ab. Die Erde bebte und die Schatten um das Heiligtum zitterten bedenklich. Sayeh schützte ihr Gesicht mit den Händen, Grasbüschel und spitze Äste flogen durch die Gegend. Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, ließ er eine bedrückende Stille zurück und ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend. Kurz wog sie ab, weiter der verdächtigen Spur zu folgen.

Ein Schattenwolf. Sicherlich war es nur ein Schattenwolf gewesen.

Entschlossen schwang Sayeh sich auf den nächsten Schattenbaum. Dann machte sie sich auf den langen Rückweg nach Hause.

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EIN FLAMMENDES GESCHENK

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Als die beleuchteten Fenster der Palasttürme in der Ferne auftauchten, war der Mond längst untergegangen und die tiefe Dunkelheit des Tages lag über dem Schattenreich. Ihre Fußsohlen schmerzten, die Handflächen waren von der rauen Rinde ganz aufgekratzt und in ihrem Magen grummelte der Hunger. Der Gedanke an die Menschen jedoch, die sich in den vergangenen Nächten in ihrem Palast ausgebreitet hatten und ihm Leben einhauchten, verlieh Sayeh neue Kraft.

Die Menschen in ihr Herz einlassen.

Das hatte sie sich in ihrer ersten Nacht als Königin des Schattenreichs vorgenommen. Ein Neuanfang. Sie wollte sich Nyssas Vertrauen und das ihrer Menschen verdienen. Daher hatte sie sich augenblicklich in die Arbeit gestürzt, in die Pflege des Reichs und ihrer Magie. Die Regierungsaufgaben zu übernehmen war ihr nicht schwergefallen, trotz der Zeit im Fels. Wahrscheinlich hatte Alizeh recht und dies lag darin begründet, dass es kaum Geschöpfe gab, über die sie herrschen konnte. Dennoch war sie bemüht, ihr Bestes zu geben. Sich zu beweisen. Denn irgendwann würde die Wahrheit ans Licht kommen. Und sie wollte, dass die Menschen dann nicht die böse Pandora in ihr sahen, sondern eine gute Herrscherin – respektiert und geliebt. So wie einst ihre Mutter.

Sayeh ließ sich vom Baum fallen und legte die letzten Schritte bis zur Waldgrenze einen zügigen Sprint ein. Der Schattenwald spuckte sie in den Palastgärten aus und sie folgte dem weißen Kiesweg zum Haupteingang. In den bezaubernden Wasserspielen zu beiden Seiten des Weges erfrischten sich Schwarzkehlchen und tschilpten fröhlich. Die fluoreszierenden violettfarbenen Köpfe der Mitternachtslilien zogen Insekten an und sorgten für hübsche Farbtupfer in der Düsternis.

Sobald der Mond im Schattenmeer abtauchte und die Sterne erloschen, hatten alle leuchtenden Geschöpfe und Pflanzen ihren Auftritt. Daher gab es trotz der allumfassenden Finsternis immer auch Licht. Nicht so aufdringlich und unerbittlich wie die Sonne, dafür umso farbenfroher.

Sayeh kappte die samtige Blüte einer Mitternachtslilie und steckte sie sich hinter das Ohr. Der süßliche Duft ließ ihren Magen laut aufknurren und sie beschleunigte ihre Schritte. Kieselsteine stoben auf, bunte Glühwürmchen umschwirrten sie. Irgendwo heulte ein Schattenwolf. In der Ferne erblickte sie Weylin, ihren Stallburschen und bis auf Weiteres einzigen Verantwortlichen für alle tierischen Geschöpfe des Reichs. Sein silbergraues Haar hob sich von der schwarzen Umgebung ab wie ein hinuntergestürzter Stern. Er führte zwei pechschwarzen Pferde mit sich, bei deren Anblick ihr Herz schneller pochte.

Der siebzigjährige Weylin war gemeinsam mit der Köchin Ygrene, einem domestizierten Schattenwolf, mehreren Ziegen und den Jägern Anisha und Cirello vor zwölf Tagen zu ihr gekommen. Sie waren an jenem Morgen geradewegs durch das weit geöffnete Tor ihres Palastes marschiert und die ersten Menschen des Schattens gewesen, die Sayeh nach fünf Jahren zu Gesicht bekommen hatte. Seit dem Ende des Krieges hatten sie im südlichen Wald gelebt und waren von den Sternen zu ihr geleitet worden.

»Weylin!«, rief sie dem Mann zu und rannte ihm entgegen.

Seine abgetragene Lederkleidung war von oben bis unten mit schwarzem Schlamm bedeckt, die Locken klebten verschwitzt an seiner von Falten durchzogenen Stirn. Trotz der offensichtlichen Übermüdung machte er eine vorbildliche Verbeugung. Und das, obwohl sie ihren Menschen schon mehrfach erklärt hatte, dass derartige Gesten nicht nötig waren, solange sie in einer kleinen Gemeinschaft lebten. Letzten Endes waren sie alle ebenbürtig und kämpften für das Überleben des Reiches.

»Du hast Pferde gefunden.« Bewundernd betrachtete sie die Tiere des Schattens. Aufgeregt schnaubend beäugten die beiden Sayeh, trippelten unruhig auf der Stelle. Ihre Mähnen mussten dringend geschnitten werden, außerdem benötigten sie Futter. Spitze Knochen ragten unter dem verschwitzten Fell hervor.

»Fünf an der Zahl. Sie verirrten sich an die Klippen südlich des Palastes«, berichtete Weylin und streichelte einem der erregten Pferde beruhigend über die Nüstern. »Sie sind erschöpft und verängstigt. Aber Nyssas Macht wird sie heilen.«

»Wir sollten einen Heiler aus dem Wasserreich konsultieren«, schlug Sayeh vor, ließ die Pferde an ihren Haaren schnuppern. »Sicherlich werden wir in den nächsten Wochen weitere Tiere auffinden, die Hilfe benötigen. Nyssa gibt ihnen Kraft und Energie, doch Krankheiten und Verletzungen kann nur Anat heilen. Nimm bitte Kontakt zum Reich des Wassers auf, Weylin.«

Betreten sah der Mann zu Boden. »Leider bin ich der Sprache des Wassers nicht mächtig, meine Königin. Zu Zeiten Eurer Mutter war ich ein Bauer …«

»Die Menschen im Palast des Wassers sind der Sprache der Schatten mächtig«, sagte sie. »Nimm dir ein paar Stunden in der Woche Zeit, um dir die wichtigsten Formulierungen in den vier übrigen Sprachen anzueignen.«

»Das werde ich, Königin Sayeh«, versicherte Weylin ihr und neigte den Kopf. »Nyssa sei mit Euch.«

Nachdenklich sah Sayeh dem alten Mann nach, während er die Tiere in die Stallungen führte. Noch hatte sie ihren Untergebenen nicht offenbart, wer sie war. Was sie war. Sie fürchtete, die Menschen könnten sich von ihr abwenden und sie nicht als Halbgöttin akzeptieren. Immerhin war sie eine Pandora. Sie war der wahre Grund für den Krieg, welchen ihre Mutter gegen die übrigen Elemente führte, und für all die Zerstörung, die sie noch heute umgab. Zudem war sie die Tochter Itzas.

Die wenigen Menschen, die seither durch ihre Tür gekommen waren, hatten Schauergeschichten über ihre Mutter erzählt. Dass sie das Reich in den fünf Jahren, die sie im Fels verbrachte, hatte verkümmern lassen und mehr schlecht denn recht regiert hatte. Dass sie die Heiligtümer nicht gepflegt und die Sterne nur noch sporadisch an den Himmel gesungen hatte. Sayeh musste ihnen beweisen, dass sie anders war. Anders … aber nicht zu anders.

Mit müden Muskeln erklomm sie die breiten Stufen zum Eingangstor des Palastes. Seitdem sie zurückgekehrt war, standen die Flügeltüren weit offen. Jeder Mensch und jedes Geschöpf sollten sofort wissen, dass sie eintreten durften. Die Fackeln zu beiden Seiten brannten hell und einladend. Ihren Zauberstab hatte sie umfunktioniert und er diente nun als Schattenmagiespender für jeden, der sich daran bereichern wollte. Er ragte in der Mitte der Türschwelle aus dem Boden und verströmte schattige Schwaden.

Sayeh trat über die Schwelle und hinein in den großzügigen Eingangskorridor. Der schwarze Marmorboden und die ebenso schwarzen Wände aus Lavagestein ließen den Palast von innen so düster erscheinen wie von außen, wären da nicht die zahllosen Fackeln und brennenden Kronleuchter, die alles in warmes Licht tauchten. Die Decke war so hoch, dass sich in den Wölbungen Fledermäuse eingenistet hatten und friedlich ihr Dasein fristeten. Ein heimischer Duft nach Kaffee, Zimt und Kardamom hing in der Luft. Lupius, ihr domestizierter Schattenwolf, kreuzte ihren Weg, folgte mit erhobener Schnauze schnüffelnd dem Essensgeruch. Gelächter und Geschirrgeklapper drangen aus der Palastküche. Noella, ein Menschenmädchen, das die Aufgaben einer Zimmerzofe, Schneiderin, Schmiedin und Baumeisterin übernahm, eilte mit einem Stapel schwarzer Samtgardinen an ihr vorbei. Zwei wilde Katzen folgten ihr miauend.

»Königin Sayeh, wie schön, dass Ihr zurück seid!«, erklang es gedämpft hinter dem schweren Stoffberg. Noella verschwand in einem der Kaminzimmer, aus dem leise Musik drang. Jemand schien ihren alten Flügel zu stimmen. Dem schrägen Klang nach eine der Katzen.

Sayeh schälte sich aus dem klammen Bibermantel und legte ihn zum Trocknen über einen Sessel. Dann stieg sie aus ihren verdreckten Stiefeln. Bei Nyssa, wo kam diese unerträgliche Hitze her?

»Soll ich ihr noch etwas einheizen?«, drang Azars unverkennbar rauchige Stimme aus der Küche, gefolgt von dem übertriebenen Kichern ihrer Köchin Ygrene. Ah. Daher die Hitze.

Es verging kein Tag, an dem Azar nicht bei ihr nach dem Rechten sah. Ab und an ertappte Sayeh sich dabei, besorgt in einen der zahlreichen magischen Spiegel zu starren, mit denen ihre elementare Einheit diesen Palast geschmückt hatte, nur, weil Azar sich ein paar Stunden nicht bei ihr hatte blicken lassen. Dank ihm benötigten sie kein Brennholz, denn seine Flammen brannten auch ohne Holz. Sie knisterten in den Kaminen, loderten in den Feuerschalen und schwebten als leuchtende Kugeln durch die Korridore. Manchmal meinte sie, im Reich des Feuers zu leben.

Sayeh stieß die Küchentür auf und eine unbändige Hitze schlug ihr entgegen. Doch die entstammte nicht den brodelnden Töpfen oder dem brennenden Steinofen. Azar räkelte sich genüsslich auf der Küchentheke, als wäre er ihre neueste Hauskatze. Fröhlich spie er Feuer unter einen Kupferkessel, in dem eine rötliche Suppe gemächlich vor sich hin blubberte. Entfernt erinnerte es sie an Lava.

»Prinzessin Sayeh!«, rief Ygrene erfreut aus, schleckte den Löffel ab und legte ihn beiseite. Dann wischte sie sich die Hände an der Schürze ab und eilte ihr entgegen, schloss sie in ihre Arme. Die üppigen schwarzen Locken der Köchin dufteten nach einem Potpourri an Gewürzen. »Prinzessin Sayeh, wir haben uns solche Sorgen gemacht«, klagte sie und küsste ihre Wange.

Ygrene war zu Zeiten ihrer Mutter eine fahrende Händlerin gewesen, die auf dem Wochenmarkt ihre Waren feilgeboten hatte. Die Frau kannte sie somit seit ihrer Geburt. Daher nannte Ygrene sie auch noch immer »Prinzessin«, obwohl sie Königin war. Sayeh störte sich nicht daran. Mit ihrer erfrischend lockeren und herzlichen Art brachte Ygrene diesem Palast ein wenig von dem zurück, was er verloren hatte.

»Ihr seht hungrig aus, Prinzessin«, stellte Ygrene fest und zupfte an ihrem vom Wind zerzausten Haar, entfernte ein paar Schattenblätter. »Ich hätte Euch mehr Proviant einpacken sollen. Wartet, ich bereite Euch ein kräftiges Frühstück vor.«

Ygrene eilte zurück zu ihrer Arbeit und schüttete aus der alten, verbeulten Silberkanne, die es schon länger gab als Sayeh, dampfenden Kaffee in eine große Keramiktasse. Der anregende Duft erweckte ihren müden Geist.

Sie wollte der Köchin gerade zur Hand gehen, da sprang Azar von der Theke und verstellte ihr den Weg. Seine rot glühenden Augen flimmerten angriffslustig. Das schwarze Haar war zu einem Kringel auf dem Oberkopf zusammengebunden, sodass die rot eingefärbten Spitzen aus seinem Kopf ragten wie eine flammende Krone. Zu ihrer Verwunderung trug ihr Bruder ein Hemd. Der hauchdünne Seidenstoff spannte sich über seinen muskelbepackten Armen, ein rubinbesetzter Knopf hielt ihn nur dürftig zusammen. Darunter kamen die aufwendigen Tätowierungen zum Vorschein, die seine braun gebrannte Haut schmückten.

»Wo warst du?«, begrüßte Azar sie und musterte sie prüfend.

»Das geht dich nichts an«, antwortete sie, um Azar ein wenig auf die Palme zu bringen. Sie umrundete ihn und nahm Ygrene die dampfende Tasse ab. Es war zu einer von Sayehs Lieblingsbeschäftigungen geworden, ihren Bruder gelegentlich zu ärgern. Leider vergaß sie dabei häufig, dass es alles andere als ratsam war, den Halbgott des Feuers zu provozieren.

»Weißt du eigentlich, welche Sorgen ich mir gemacht habe?«, herrschte Azar sie an. Ygrene bekam große Augen und widmete sich betont unbeteiligt einem Bund Möhren, das sie in Windeseile klein schnippelte. Bedächtig drehte Sayeh sich zu ihrem Bruder um. »Du kannst nicht die ganze Nacht wegbleiben, ohne mir Bescheid zu geben«, klärte der sie auf und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Brust. Seine Augenbrauen bildeten eine strenge Linie. »So geht das nicht, meine Liebe.«

»Das geht sehr wohl, wie du siehst«, widersprach sie ihm tollkühn und schlürfte an ihrem Kaffee. Hmm … Tiefschwarz, würzig und mit einer ordentlichen Portion Honig.

Azar sog tief die Luft ein. Seine Nasenflügel bebten. Vorsichtshalber trat sie einen Schritt zurück. Wenn er dermaßen aufgebracht war, kam es nicht selten vor, dass nicht nur Worte, sondern auch Flammen seinen Rachen verließen.

»Du verrätst mir augenblicklich, wo du …«, setzte er an, unterbrach sich jedoch. Seine Augen wurden schmal, eine Zornesfalte bildete sich zwischen ihnen. »Sag mir nicht, du warst bei Avan«, grollte er, ließ einen Flammenball auf seiner Handfläche aufpoppen. Ein beunruhigendes, diabolisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Er hat mir geschworen, er wüsste nicht, wo du bist. Vielleicht sollte ich ihn für ein paar Tage in der Flammenwüste aussetzen. Er scheint vergessen zu haben, wen er anlügen darf – und wen nicht.«

»Ich war nicht bei Avan«, beschwichtigte sie ihn. Ygrene schielte indessen neugierig in ihre Richtung. Sayeh konnte die Gerüchteküche bereits brodeln hören.

»Können wir dieses Gespräch in meine Gemächer verlagern?«, bat sie gedämpft und zog Azar beiseite, verbrannte sich dabei die Finger. Ihr Bruder war heißer als die Tasse in ihrer Hand. »Wo wir ungestört sind?«

»In deinen Gemächern?«, wiederholte Azar mit einem verwegenen Grinsen und warf der Köchin einen vielsagenden Blick zu, wackelte mit den Augenbrauen. »Wo wir ungestört sind?«

Ygrene machte noch größere Augen, strich ihre Haare hinter das Ohr, um besser hören zu können, und rührte übertrieben angestrengt in der Lavasuppe.

»Ygrene, wärst du so lieb und stellst das Frühstück unten an die Turmtreppe? Ich hole es mir dann selbst«, bat sie die Köchin. Die nickte mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen und steckte ihren Finger in die kochende Brühe, um sie abzuschmecken.

Wüsste Ygrene, dass der vergangene Krieg aus solch einer Situation geboren wurde, wie die Köchin sie sich gerade im Kopf ausmalte … Sie würde Azar hinauswerfen, Halbgott hin oder her.

Sayeh zog Azar kurzerhand hinter sich her und bugsierte ihn aus der Küche.

»Spinnst du?«, zischte sie, nachdem sie die Tür fest hinter sich verschlossen hatte. »Die Menschen zerreißen sich schon ohne deine Kommentare das Maul über die neue elementare Einheit, die im Palast der Schatten ein und aus geht, als würde sie dort wohnen.«

Azar zog einen Schmollmund und entfernte einen Klecks Soße von seiner Brust, steckte sich anschließend den Finger in den Mund. »Ygrene mag es, wenn ich herkomme. Sie wird beim Kochen gern unterhalten«, verteidigte er sich schmatzend.

»Unterhalte sie bitte mit unverfänglichen Dingen«, bat sie und schritt den Korridor hinab in Richtung Westturm. Azar folgte ihr brav. Die Wandfackeln flammten begeistert auf, sobald sie seine Anwesenheit spürten.

»Du meinst mit langweiligen Dingen«, korrigierte er sie, holte zu ihr auf.

»Unverfänglich.«

Azar brummte mürrisch, trabte eine Weile gemächlich neben ihr her. »Also, wo warst du?«, fragte er dann.

Anstatt ihm eine Antwort zu geben, rettete sie eine Spinne, die an ihr vorbeiflitzte, und setzte sie im nächsten Blumenkübel aus.

Sie erreichten die westliche Turmtreppe und Sayeh trat zur Seite, gab ihrem Bruder den Vortritt. Quälend langsam und beleidigt schnaufend erklomm er die ersten beiden Stufen. Dann blieb er stehen. Das war doch nicht zu fassen! Sie stemmte sich gegen seinen Rücken, aber Azar stand da wie ein Baum.

»Azar!«, keuchte sie.

»Ich warte auf eine Antwort«, blieb er stur und ließ sich fröhlich von ihr schieben. Sie stöhnte und rammte ihm ihre Schulter in den Rücken. Bei Nyssa! Dieser Halbgott wog mehr als fünfzig Säcke Mehl.

»Ich war am nördlichen Heiligtum«, presste sie angestrengt hervor. »Und du musst nicht jede Nacht nach mir sehen. Du weißt, ich habe viel zu tun und …«

Azar verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zu ihr um, sah entrüstet zu ihr hinunter. »Ist meine Anwesenheit in diesem Reich etwa nicht erwünscht?«

»Du bist immer willkommen, Azar«, beruhigte sie ihn und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Aber du vermittelst meinen Menschen den Eindruck, zwischen uns würde sich mehr abspielen, als die elementare Einheit erlaubt.«

»Wieso?«, schoss Azar zurück. »Was in der elementaren Einheit erlaubt ist und was nicht, ist ja wohl unsere Sache. Wir sind die elementare Einheit. Und was meinst du mit ›mehr‹?«

Sie stützte sich an der Mauer ab, atmete tief durch. »Du weißt ganz genau, was ich meine.«

Azar grinste verwegen. »Klar weiß ich das.«

»Du bist mein Bruder!«, zischte sie.

Er verzog beleidigt die Mundwinkel. »Du hast mir doch unter Androhung der Schatten verboten, jemandem zu verraten, dass ich dein Bruder bin«, fauchte Azar zurück.

»Das habe ich.« Sie war abermals bemüht, Azars überhitzten Körper die Treppe hinaufzuschieben, wobei sie sich diverse Brandflecke zuzog. »Aber die Menschen sollen auch nicht glauben, wir wären … anderweitig involviert.«

Azar schob sie mühelos mit einer Hand von sich. »Was soll das denn heißen?«, fragte er empört. »Willst du sagen, ich sei kein guter Fang? Sayeh, du könntest es wesentlich schlimmer treffen als mit einem Geschöpf des Feuers. Zum Beispiel mit dem Halbgott des Wassers. Die fangen ihre Partner mit ihren wählerischen Herzen ein und geben sie nicht mehr her. Gefährliches Volk, diese feuchten Geschöpfe.«

In Momenten wie diesen würde Sayeh ihren Bruder am liebsten in den nächstbesten Spiegel schieben. Zweimal hatte sie es getan. Danach hatte sie solche Schuldgefühle verspürt, dass sie ihm ins Reich des Feuers gefolgt war, um ihn zurückzuholen. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, eine Familie zu haben. Geschöpfe, mit denen sie ihr Leben teilte. Es war nicht leicht, den Halbgott des Feuers als Bruder zu haben – doch sie wollte ihn auch nicht mehr missen.

Sie gab ihre Bemühungen endgültig auf, umrundete ihn und stapfte die Stufen hinauf. Wie es zu erwarten gewesen war, schloss Azar schon nach wenigen Sekunden zu ihr auf. Wie ein treuer Schattenwolfwelpe. Leider war er auch ebenso penetrant und verlangte nach ebenso viel Aufmerksamkeit.

»Wieso warst du ganz allein am nördlichen Heiligtum?«

»Wieso nicht?«

»Weil es gefährlich ist«, belehrte Azar sie. »Jemand hätte dich begleiten müssen. Und wenn es nur deine Menschen gewesen wären. Was ist mit den Jägern? Du solltest sie im Reich der Erde zu Wachen ausbilden lassen. Du lebst in einem Reich ohne Ritter, ohne Kämpfer, ohne Wachen. Das ist nicht gut.«

»Was soll mir denn passieren?«, fragte sie und hüllte auf dem Weg nach oben jede niedergebrannte Kerze in Schatten.

»Alles Mögliche könnte dir passieren«, grollte Azar unheilschwanger.

»Dies ist mein Reich. Hier bin ich frei und sicher.«

»Solange unsere Eltern am Leben sind, bist du nirgendwo sicher«, beharrte er. »Zephir ist verschwunden.«

Trotz der Hitze lief Sayeh ein kalter Schauer über den Rücken. Doch nicht wegen Zephir. Nur ein Schattenwolf.

»Ich weiß. Alizeh erzählte es mir.«

Sie erreichten den oberen Treppenabsatz und durch das weit geöffnete Fenster wehte eine frische Brise. Es roch nach Nacht und Heimat.

»Ich habe den Feuerring um unseren Vater erneuert«, informierte Azar sie, gefolgt von einem boshaften Lachen. »Nicht einmal Avan könnte sich daraus befreien.«

Sayeh warf ihm einen besorgten Blick zu. »Hat er darin genug Luft zum Atmen?«, fragte sie und trat in ihre privaten Gemächer. Die Tür stand immerzu offen, womit sie weitaus weniger privat wurden. Doch verschlossene Türen und Fenster weckten seit dem Fels klaustrophobische Gefühle in ihr. Eigentlich hätte sie in die Räumlichkeiten ihrer Mutter ziehen sollen, dorthin, wo die Herrscherinnen und Herrscher üblicherweise residierten. Aber diese waren ebenerdig und sie liebte die Höhe. Außerdem würde sie es vermissen, jeden Morgen und jeden Abend in die erfrischende Bucht der tanzenden Sterne zu springen.

»Unser Vater verdient keine Luft zum Atmen«, brummte Azar, schob sich an ihr vorbei und ließ sich auf ihr Bett fallen. Er streckte sich genüsslich, jonglierte dann mit ein paar Flammenbällen. Sayeh sorgte sich um ihren seidigen Baldachin.

»Du solltest nicht so häufig hier sein«, sagte sie erneut und fütterte ihren Regenbogenfisch mit einigen getrockneten Algen. »Es ist verdächtig. Du weißt, wie schnell sich Gerüchte unter den Menschen verbreiten. Es ist ein Wunder, dass Lotus noch nicht geplappert hat. Avan muss sie bestochen haben.« Sie stupste den Fisch an und drehte sich dann zu ihrem Bruder um. »Azar, die Menschen dürfen keinen Verdacht schöpfen.«

Verstimmt ließ er seine feurigen Bälle verpuffen und richtete sich auf den Ellenbogen auf. »Ich bin nicht dafür bekannt, Geheimnisse für mich zu behalten«, warnte er sie und rollte zur Seite, griff in eine Schüssel mit Schattenbeeren, die sich auf ihrem Nachttisch befand, und warf sich eine Handvoll in den Mund. »Ich bin nicht der Schatten«, mampfte er. »Und auch nicht das Wasser.«

»Du musst«, bat sie ihn eindringlich. »Bis wir mehr über die Pandoren herausgefunden haben. Es gibt einen Grund, warum die Kinder zweier Halbgötter verschwiegen werden. Was denkst du, wie die Menschen meines Reiches reagieren würden? Oder die eurer Reiche? Sie fürchten mich auch ohne das Feuer.«

»Die Menschen haben zu akzeptieren, was die Götter ihnen vorsetzen«, meinte Azar schulterzuckend und leckte sich über die von den Schattenbeeren blauschwarz verfärbten Lippen. »Du wurdest von zwei Göttinnen erwählt. Reicht ihnen das nicht? Du könntest mein Reich regieren, wenn du wolltest, und sie müssten damit leben.«

»Ist das ein Angebot?«, fragte Sayeh und spielte mit der Flamme einer Kerze auf ihrem Sekretär, wo sich Verpflichtungen, unerledigte Aufgaben und ungelesene Bücher stapelten.

»Das hättest du wohl gern«, knurrte Azar und spie Feuer in ihre Richtung.

Sie lächelte und hüllte die wichtigsten Papiere vorsichtshalber in Schatten. »Kein Grund, mir den Krieg zu erklären«, beruhigte sie ihn. »Mein eigenes Reich ist Arbeit genug.«

Sie trat auf den Balkon und ihr Blick schweifte in die Ferne bis zum schwarzen Ende der Welt. Obwohl nicht bekannt war, ob diese Welt überhaupt ein Ende besaß. Laut der alten Schriften war sie endlos. Was wohl schlicht darin begründet lag, dass noch nie jemand weit genug gekommen war, um über den Rand zu fallen oder gegen eine Mauer zu prallen.

Das Schattenreich war ein idealer Ort, um sich zu verstecken. Düster und weit. Sayeh fragte sich, wie viele Geheimnisse in den Schatten lauerten und wie viele sie davon noch aufdecken würde. Und ob sie das überhaupt wollte …

»Morgen ist dein Geburtstag«, hauchte Azar ihr heiß in den Nacken.

»Ach«, entgegnete sie mit wenig Begeisterung.

Wie hatte sie nur annehmen können, ihre elementare Einheit hätte diesen Tag vergessen. So wie die Geburtstage und Namen aller Halbgötter war auch ihrer in den Schriften vermerkt. All den widrigen Umständen ihrer Geburt zum Trotz. Dass sie eine Pandora war, stand nicht dabei. Ob vergangene Pandoren mit den gleichen Sorgen zu kämpfen gehabt hatten wie sie heute? Ob sie eine ähnliche Vergangenheit durchlebt hatten?

Azar lehnte sich neben ihr über die Balkonbrüstung, ein breites und überaus beunruhigendes Grinsen im Gesicht. Seine Zähne waren mittlerweile ganz schwarz. »Wir haben da etwas vorbereitet«, verriet er ihr mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. »Gaia gibt um Mitternacht eine Überraschungsfeier zu deinen Ehren.«

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