Fallen Queen

Fallen Queen

Ein Herz schwarz wie Ebenholz

Ana Woods

Drachenmond Verlag

Für alle,

die sich zwischen den Buchdeckeln zuhause fühlen

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Prolog

Arcana

Endlich war ich frei. Sechshundert Jahre hatte ich hinter verspiegeltem Glas verbracht, ein einsames Dasein gefristet, ohne Hoffnung, jemals wieder mit meinem Körper vereint zu sein. Meine Kräfte hatten allmählich zu schwinden begonnen. Es fiel mir von Tag zu Tag schwerer, die Magie zu spüren, da meine Seele in Stille und Kälte umhertrieb.

Dann trat sie in mein Leben, so jung und ungezähmt, völlig blind für die Dinge, die vor ihr lagen. Sie war es, die mich aus meinem Schlummer erweckt, mir einen Sinn und Zweck gegeben und mich von den Fesseln gelöst hatte. Ein junges Mädchen königlichen Blutes, das an das Gute in den Menschen glaubte und so auch an das Gute in mir. Eine zarte Seele konnte viel zu leicht mit Dunkelheit vergiftet werden.

Ich berührte mit den Fingerspitzen den samtenen Stoff des Kleides, das elegant an meinem Körper hinunterfloss. Es war ein ungewohntes Gefühl, mich so sehen zu können. Sechshundert körperlose Jahre hatten Spuren hinterlassen. Doch nun, da ich mich in meiner natürlichen Gestalt befand, sollte alles anders werden.

Endlich konnte ich die Magie wieder durch meine Adern fließen spüren. Sie schlängelte sich durch meinen gesamten Körper, erfüllte mich und machte mich vollkommen. Eira stand neben mir und blickte in die Ferne, ihre Züge selbstsicher und entschlossen. Wie leid sie mir in jenem Augenblick hätte tun müssen. Sie konnte schließlich nicht ahnen, dass sich nicht nur die Dunkelheit über die Königreiche legen würde, sondern andere Zeiten anbrechen würden. Dunkle Zeiten, wie Eira sie sich nicht einmal in ihren finstersten Albträumen vorstellen konnte, und die sie vermutlich auch niemals erleben würde.

Einst ein zartes Kind, von Unschuld geprägt, war sie nun zu einem Leben in den Schatten verdammt. Und ich war die Höllenfürstin, die ihr Untergang sein würde.

Bald wäre ich endlich die alleinige Herrscherin.

Kapitel Eins

Ich konnte mir nicht erklären, was eben geschehen war. Teros Worte hallten in meinem Kopf wider, doch sie ergaben keinen Sinn.

Ich bin der Thronerbe von Kjartan. Das hatte er mit solch fester Stimme gesagt, als würde er es wirklich so meinen. Sollte das heißen, dass er mich das vergangene Jahr über belogen hatte? Meine Gedanken kreisten umher, versuchten eine logische Erklärung für die sechs kleinen Worte zu finden. Sechs Worte, die mir wie Peitschenhiebe vorkamen. Sechs Worte, die alles veränderten.

Es war erstaunlich, welche Macht die Sprache auf uns haben konnte. Es waren lediglich Worte, geformt aus Buchstaben, die sich vor vielen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden irgendjemand ausgedacht hatte. Doch diese besaßen die Kraft, sich in den Gedanken festzusetzen, sich tiefer und tiefer in das Herz zu bohren und dort ihre Spuren zu hinterlassen. Worte waren imstande zu verletzen und genau das taten sie in diesem Augenblick – sie schmerzten.

»Es tut mir leid …«, setzte Tero an. Sein Blick taxierte mich. An seiner gebückten Haltung, den Kopf vor Scham leicht eingezogen, konnte ich sehen, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Er war wirklich der Kronprinz von Kjartan und kein gewöhnlicher Jäger, der in den Wäldern beheimatet war.

»Wieso?« Mehr brauchte es nicht, um ihm begreiflich zu machen, dass er mir eine Erklärung schuldig war. Ich hatte mich Tero anvertraut, ihm mein Herz geöffnet und ihm einen Einblick in meine tiefste Gefühlswelt gegeben. Und was hatte er getan? Er hatte mein Vertrauen missbraucht, es durch den Dreck gezogen.

Aleksi trat einen Schritt an Tero – seinen Bruder – heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mari schaute unbeholfen zwischen den beiden Männern hin und her. Ich vermutete, dass sie bereits von dem Geheimnis wusste, das mir soeben offenbart wurde. Von uns allen war sie die Einzige, die nicht im Geringsten überrascht wirkte.

Ich schaute zu meinen Freunden, die allesamt verwirrt dreinblickten. Stumm tauschten wir Blicke aus, wussten nicht, wie wir mit der Situation am besten umgehen sollten.

»Ich bin immer noch derselbe«, versuchte Tero sich und seine Lügen zu rechtfertigen. »Es war nie meine Absicht, euch zu belügen oder zu enttäuschen, aber ich wollte mit meiner Vergangenheit abschließen.«

»Du bist ein reicher Mann mit viel Einfluss. Weshalb solltest du auf ein solches Leben verzichten wollen?«, fragte Eggi neugierig.

Hilfe suchend sah Tero zu Aleksi, der versuchte, ihm aufmunternde Blicke zuzuwerfen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, kratzte sich an dem mittlerweile längeren Bart. Es schien, als wüsste Tero keine Antwort darauf.

Langsam trat ich auf ihn zu, wobei seine Züge augenblicklich weicher wurden und sich sein Gesicht erhellte. Mit einem wütenden Funkeln in den Augen machte ich ihm allerdings begreiflich, dass es keinen Grund gab, vor Erleichterung aufzuatmen. Es fiel mir schwer, noch weiter die Fassung zu bewahren, denn ich fühlte mich hintergangen.

Erst hatte Eira mich betrogen, mir alles genommen, was mir lieb und teuer war, anschließend hatten Jalmari und Valeria sich in unsere Gruppe eingeschleust, nur um uns ebenfalls zu hintergehen, und nun hatte der Mann, den ich in mein Herz gelassen hatte, mir das Messer in den Rücken gerammt, kaum hatte ich mich von ihm abgewendet. Ich verstand nicht, weshalb Tero mir so etwas antat, obwohl er genau um meine Vergangenheit wusste. Er wusste, was ich durchzustehen hatte, was man mir angetan hatte, und nichtsdestotrotz handelte er aus freien Stücken und tanzte mir auf der Nase herum.

Ich baute mich vor Tero auf, stellte mich auf Zehenspitzen, um mit ihm auf einer Höhe zu sein und ihn in Grund und Boden starren zu können. Als ich ihm in die Augen schaute, begann mein Herz zu poltern, aber ich versuchte es im Zaum zu halten. Natürlich konnte ich die Gefühle, die ich für diesen Lügner hegte, nicht von einem Moment auf den nächsten abstellen. Das Herz wollte schließlich, was das Herz wollte. Dennoch hatte mein Verstand mich fest im Griff und dieser riet mir dazu, schleunigst das Weite zu suchen und meiner eigenen Wege zu gehen.

Etarjas Worte hatten sich in den vergangenen Tagen nur allzu oft bewahrheitet. Sie hatte mich darauf vorbereitet, dass ich nicht jedem meiner Freunde über den Weg trauen konnte und einige mich hintergehen würden. Nachdem Jalmari und Valeria verschwunden waren, hatte ich allerdings gedacht, das Schlimmste bereits überstanden zu haben. Dass Tero ebenso unehrlich war, damit hatte ich nicht gerechnet.

»Du hast mir all die Monate etwas vorgespielt«, spie ich. »Wie konntest du es nur wagen, Tero? Ich habe dir mein Herz und meine Seele geöffnet, dich in mein Leben gelassen und mit offenen Armen empfangen. Und nun muss ich herausfinden, dass du mich all die Zeit belogen hast? Ich weiß nicht mehr, wer du überhaupt bist und welches deiner Worte jemals der Wahrheit entsprach.«

Tero schluckte schwer und befeuchtete anschließend seine Lippen. Er wollte etwas sagen, doch ich konnte seinen Angstschweiß förmlich riechen. Langsam streckte er die Hand nach mir aus und legte sie an meinen Oberarm. Die Berührung hinterließ ein angenehmes Prickeln auf meiner Haut, dennoch entzog ich mich ihm.

»Bitte, Nerina«, flüsterte Tero, während eine Träne seine Augenwinkel verließ und seine Wange hinunterglitt. »Es war nie meine Absicht, dich zu verletzen.«

»Woher soll ich wissen, ob du die Wahrheit sagst? Du hast mich belogen, Tero. Belogen!«

Ich zitterte am ganzen Körper und die Wut übermannte mich. Trotz der Tatsache, dass ich ein eher friedliebender Mensch war, hätte ich am liebsten ausgeholt und meine Faust in Teros Gesicht platziert.

Aleksi trat zur Unterstützung neben seinen Bruder und musterte mich ermahnend. »Tero ist ein guter Mensch, Nerina. Er hatte seine Gründe. Und wenn man es genau nimmt, dann hat er nicht gelogen, sondern lediglich seine wahre Herkunft verschwiegen.«

»Als ob das nicht dasselbe ist«, hörte ich Asante hinter mir sagen.

»Nein, ist es nicht.« Aleksi wurde lauter, seine Stimme herrisch, wie es sich für einen Mann seiner Abstammung gehörte. Dennoch passte es nicht zu seinen sonst so sanften Zügen.

Kurz ließ ich mir seine Worte durch den Kopf gehen. Bestand wirklich ein Unterschied zwischen Lügen und die Wahrheit bewusst verschweigen? Vielleicht hatte Aleksi recht und Tero hatte aus einem bestimmten Grund so gehandelt. Doch wir mussten es von ihm hören.

»Tero, wieso hast du gelogen?« Nun hob ich die Hand, um sie auf seinen Arm zu legen. Er schaute auf sie hinab und atmete stoßweise ein und aus.

Seine Stimme nahm einen friedlichen Klang an. »Mein Vater hat mich vor langer Zeit enterbt, das war keine Lüge. Ich habe mich in die falsche Frau verliebt und dafür wurde mir mein Titel und mein Vermögen genommen. Ich wollte doch nur vergessen, kannst du das nicht verstehen? Wozu alte, schmerzhafte Erinnerungen wieder an die Oberfläche bringen, wenn sie in der Vergangenheit liegen? Ja, ich war ein Prinz, habe am Hofe gelebt und die Gepflogenheiten eines angehenden Königs beherrscht, doch das ist lange her. Durch Tjana wurde ich zu einem anderen Menschen, einem besseren Mann, der in den Wäldern daheim ist. Und als ebenjener Mann solltet ihr mich sehen und nicht als einen Prinzen.«

Seine ehrlichen Worte berührten mich. Ich konnte nachempfinden, wie er sich fühlte und weshalb er so gehandelt hatte. Dennoch hätte Tero sich mir viel früher anvertrauen können. »Danke für deine Ehrlichkeit«, flüsterte ich und meinte die Worte auch so.

»Kannst du mir vergeben?«

Nun war ich es, die schlucken musste. Zu gerne hätte ich ihm diese Tat einfach verziehen, doch der Schmerz war zu frisch und die Wunde noch lange nicht verheilt. Ich konnte die Beweggründe nun immerhin besser verstehen, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich hintergangen worden war.

»Die Zeit heilt alle Wunden«, erwiderte ich ruhig. »Es wird dauern, doch irgendwann wird die Zeit reif sein. Doch du musst dir mein Vertrauen erst wieder verdienen. Das verstehst du doch, oder?«

»Und nicht nur das ihre.« Asante trat neben mich, die Hände zu Fäusten geballt in die Seite gestemmt. Für einen Moment hatte ich die anderen vollkommen ausgeblendet. Selbstverständlich war ich nicht die Einzige, die er belogen hatte. Auch unsere Freunde mussten diesen Verrat erst einmal verarbeiten.

Tero hielt dem strengen Blick unseres Anführers stand. Schließlich nickte er mit zusammengepressten Lippen. »Natürlich.« Mehr sagte er nicht, ehe er an uns vorbeischritt und am Lagerfeuer zurückließ.

Ich schaute Tero hinterher, der in gebückter Haltung die Hütte betrat und die Tür lautstark hinter sich ins Schloss fallen ließ.

»Ihr wart zu hart zu ihm«, meinte Aleksi, als sein Bruder außer Hörweite war. »Ihr seid für ihn wie Familie. Bitte verzeiht ihm.«

Laresa gesellte sich an die Seite ihres Bruders. Ihr Arm war noch immer verbunden, doch blutete glücklicherweise kaum noch und verheilte gut. »Das hat Tero sich selbst zuzuschreiben«, sagte sie schroff.

»Wir alle haben unser Päckchen zu tragen«, konterte ich. Ich wusste, dass auch ich eben noch zu hart zu Tero gewesen war, doch die Wunden, die Jalmari und Valeria hinterlassen hatten, waren zu frisch. Doch es war falsch, diese Wut nun auf Tero zu projizieren. Menschen machten Fehler, jeder von uns. »Wir haben auch Valeria vertraut und wo hat uns das hingeführt? Und Kasim, möge er in Frieden ruhen, ist auf Geheiß Kjartans zur Gruppe gestoßen, um Tero zu finden. Du und Asante hattet mir die ersten Tage ebenfalls verschwiegen, dass ihr vom Orakel über den Verrat an mir informiert wurdet.«

Schweigen legte sich über die Gruppe. Sie alle blickten beschämt zu Boden, denn sie wussten, dass ich recht hatte. Jeder von uns hatte Dinge, über die er ungern sprach und die er lieber für sich behielt. Es stand uns nicht zu, über andere in diesem Umfang zu urteilen. Natürlich dauerte es, ehe wir Tero wieder vollends vertrauen konnten, doch wir sollten ihn keinesfalls endgültig abschreiben, auch wenn ich vor wenigen Minuten noch genauso gedacht hatte. Seine Erklärung kam zwar viel zu spät, doch Tero hatte uns nun endlich die Wahrheit offenbart. Die Wahrheit über seine Herkunft und seine Vergangenheit. Das war etwas, das wir ihm hoch anrechnen mussten.

»Ich muss Nerina zustimmen.« Heorhiy war bisher ein schweigsamer Zuhörer gewesen, genau wie seine Schwester. Immerhin waren die beiden erst seit Kurzem an unserer Seite und hatten kein Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Nun aber fixierte er uns nacheinander, in seinen Augen lag all die Weisheit dieser Welt. Doch wurden sie von dunklen Schatten umrahmt – er war gezeichnet von all dem Schrecken, den er durchlebt hatte. »Tero mag unrecht gehandelt haben, dennoch ist er euer Freund und steht euch treu zur Seite. Ich mag noch nicht lange bei euch sein, doch ich habe in meinem Leben viel gesehen und gelernt, auf meine Instinkte zu vertrauen. Er ist ein guter Mensch, der nur in bester Absicht handelt. Er verdient eine zweite Chance.«

Ein Lächeln breitete sich um Aleksis Mundwinkel aus, welches auch Maris Gesicht erhellte. Schüchtern stand sie in einiger Entfernung hinter dem Prinzen, warf ihm verstohlene Blicke zu, die er nicht bemerkte. Dann zupfte sie ihr Kleid zurecht und ging auf ihn zu. Als er sie sah, entspannte sich sein gesamter Körper und ich fragte mich, wie viel die beiden wohl miteinander verband. Ein Prinz und eine Kammerzofe konnten im Grunde keine gemeinsame Zukunft haben. Doch anscheinend lag es in deren Familie, für jemanden niederen Standes zu schwärmen.

Meine Gedanken führten mich zu etwas, das Tero zuvor gesagt hatte. »Wenn Tero enterbt wurde, wie kann er dann der König von Kjartan werden?«

Die Frage schien Aleksi zu überraschen. Er zog die Brauen zusammen und legte den Kopf schief, ehe er mir antwortete. »Vater kam nie dazu, Teros Enterbung rechtsgültig zu machen, und ich lege keinen Wert darauf, ein Königreich zu regieren. Tante Izay ist eine wundervolle Herrscherin, doch ihre Zeit neigt sich dem Ende entgegen. Kjartan braucht Tero mehr, als ihm bewusst ist.«

»Was geschah mit dem Königspaar?«, wollte Desya ehrfürchtig wissen.

»Sie starben kurz nachdem Tero dem Palast auf ewig den Rücken gekehrt hatte. Ich werde euch alles erzählen, sobald wir Kjartan erreicht haben. Es ist besser, ihr seht es selbst.«

Aleksi sprach in Rätseln, doch seine traurige Miene ließ uns alle verstummen. Niemand wagte es, ihn weiter zu bedrängen und so entschieden wir, es dabei zu belassen. Der Schmerz schien noch zu tief zu sitzen.

Es war mittlerweile tief in der Nacht, die Sterne am Himmel leuchteten hell. Ich beobachtete ihr Funkeln eine Weile, denn es spendete mir wie immer den benötigten Trost. Die anderen waren am Lagerfeuer nach und nach in einen ruhigen Schlaf geglitten und auch meine Lider wollten allmählich zufallen. Die kühle Herbstluft ließ mich allerdings frösteln.

Leise erhob ich mich, darauf bedacht, die anderen nicht zu wecken. Es war ein friedlicher Anblick, wie meine Freunde aneinandergekuschelt am Feuer lagen und sich gegenseitig zusätzliche Wärme spendeten.

Die Tür knarrte, als ich sie einen Spaltbreit öffnete, um mich ins Haus zu schleichen. Die Dielen unter meinen Stiefeln quietschten bei jedem Schritt. In der Stille der Nacht war das Geräusch ohrenbetäubend, auch wenn ich mich über die Monate daran hätte gewöhnen müssen.

Im Schlafsaal brannte ein Licht, weshalb ich Tero darin vermutete. Kurz überlegte ich, stattdessen in die Küche zu gehen, doch meine Beine wollten mir nicht gehorchen und trugen mich weiterhin geradeaus.

Tero lag auf seinem Bett, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und den Blick an die Decke gerichtet. Seine Augen waren weit aufgerissen und er blinzelte nicht ein einziges Mal. Anscheinend war er mit den Gedanken ganz woanders und bemerkte mein Eintreten nicht einmal. Erst als ich mich zu ihm auf die Bettkante setzte, nahm ich eine leichte Regung wahr, doch er schaute mich nicht an.

Ich wusste nicht, wie ich ein Gespräch mit ihm anfangen sollte, schließlich wollte ich nicht einmal hier bei ihm sein. Doch mein Herz hatte über meinen Verstand gesiegt und mich instinktiv zu ihm geführt.

Auch Tero schwieg weiterhin und war in seine Gedanken vertieft. Nur allzu gerne hätte ich sie gelesen, gewusst, weshalb er so am Grübeln war. Ich streifte meine schmutzigen Stiefel ab, die lautstark auf den Holzboden fielen, und zog die Knie an die Brust. Im sanften Kerzenschein sah Tero so friedvoll und zerbrechlich aus. Als würde ich nichts als einen Scherbenhaufen zurücklassen, sollte ich ihn berühren.

Zaghaft streckte ich meine Hand aus und legte sie auf seine Brust. Sein Herz setzte zwei Schläge aus, ehe es in gewohntem Takt weiterschlug.

»Es tut mir leid, wenn wir zu hart zu dir waren«, begann ich zögerlich. Ich wartete auf eine Reaktion – vergeblich. Seufzend fuhr ich fort. »Wir verstoßen dich nicht, falls du das glaubst. Du bist ein Teil von uns und das wirst du immer bleiben.«

Nun drehte er den Kopf doch zu mir und rang sich ein Schmunzeln ab. »Ihr wart nicht zu hart. Ich wusste, wie ihr reagieren würdet, wenn ich euch die Wahrheit erzähle. Dein schmerzverzerrter Gesichtsausdruck, als du erfahren hast, wer ich wirklich bin, war dennoch wie ein Messerstich ins Herz für mich.«

Tero richtete sich auf und rutschte näher an mich heran. »Ich wollte dich nie verletzen oder gar enttäuschen.«

»Schon in Ordnung«, versicherte ich ihm, ehe ich mir der Bedeutung meiner Worte im Klaren war. Ich griff nach Teros Hand und zog gedankenverloren die Linien der Innenfläche nach. Als ich am Handgelenk angekommen war, fuhr ich seinen Unterarm hoch, entlang der Narbe, die sich dort befand. Dann schaute ich ihm wieder in die Augen. »Versprich mir aber eines«, sagte ich, während meine Fingerspitzen noch immer auf der Narbe ruhten. »Ab sofort keine Geheimnisse mehr.«

Noch bevor ich das letzte Wort gesprochen hatte, entriss er mir seinen Arm und ließ sich zurück in das Kissen gleiten. Im Schein des Kerzenlichts konnte ich sehen, wie er mit sich rang. Sein Kiefer spannte sich an, er schaute durch den Raum, um meinem Blick auszuweichen. Dann öffnete er den Mund, nur um ihn kurz darauf wieder zu schließen.

»Ich kann nicht, Nerina.« Erneut machte sich der Schmerz seiner Worte in meinem Herzen bemerkbar. »Ich liebe dich, das tue ich wirklich. Mit allem, was ich habe, allem, was ich bin. Ich würde jeden Berg erklimmen, jedes Reich bezwingen, nur um an deiner Seite zu sein. Aber es gibt Dinge über mich, die ich dir einfach noch nicht erzählen kann. Bitte glaube mir, wenn ich sage, dass eines Tages der richtige Zeitpunkt gekommen sein wird. Früher oder später wirst du alles von mir wissen, das schwöre ich bei den sieben Königreichen.«

Tero ergriff meine Hand, hielt sie so fest, dass es beinahe schmerzte. Ich versuchte, seinem intensiven Blick auszuweichen, denn ich würde nur schwach werden, wenn er mich so ansah. Und Schwäche war etwas, das ich mir in diesem Stadium unserer Reise nicht erlauben konnte.

Mein Herz verzehrte sich nach Tero, wollte mit ihm zusammen sein und an seiner Seite für eine bessere Zukunft kämpfen. Eine Zukunft, in der es ein wir geben konnte und in der alles anders werden sollte. Doch solange er mir nicht grenzenlos vertraute, so wie ich ihm, war es einfach nicht möglich. Es konnte für mich keine Zukunft an der Seite eines Mannes geben, der Geheimnisse vor mir hatte. Egal, wie sehr es auch wehtat, ich musste dieser Wahrheit ins Auge sehen.

Ich stand von der Bettkante auf und verließ wortlos den Schlafsaal. Tero rief mir hinterher, doch ich blendete seine Worte aus. Ich wollte sie nicht hören.

Meine Eltern hatten mich vieles gelehrt und mir viele Weisheiten mit auf den Weg gegeben. Doch mir wurde bewusst, dass nicht alles von dem stimmte, was sie mir erzählt hatten. Denn die Liebe war nicht immer die stärkste Macht der Welt.

Kapitel Zwei

Mari war bereits früh auf den Beinen und bereitete gemeinsam mit Desya das Frühstück vor. Die vergangene Nacht war für mich schlaflos geblieben, was nur allzu deutlich an den dunklen Ringen unter meinen Augen zu erkennen war. Auch nach einem Becher Kräutertee ging es mir noch nicht wirklich besser.

»Wir sollten uns nicht zu viel Zeit mit dem Aufbruch lassen«, sagte Asante, als alle anwesend waren. »Kjartan ist weit entfernt und von dort aus müssen wir im Anschluss nach Dylaras gelangen. Wer weiß, welche Gefahren sich uns in den Weg stellen werden.«

Ich lauschte, wie die anderen sich in das Gespräch mit einbrachten, doch viel mehr als ein rauschendes Stimmengewirr drang nicht zu mir durch. Meine Gedanken waren noch immer bei Tero und unserer nächtlichen Unterhaltung.

»Nerina, was meinst du?«, wollte Eggi irgendwann von mir wissen.

»Was meine ich zu was?« Hitze durchströmte meine Wangen. Ich hatte nicht mitbekommen, worüber die anderen in den vergangenen Minuten gesprochen hatten.

»Wo bist du nur mit deinen Gedanken?« Lorya grinste zu mir herüber, doch mir war nicht danach zumute.

Eggi seufzte und wiederholte alles im Schnelldurchlauf. »In einer Woche brechen wir nach Kjartan auf und von dort aus mit dem uns zur Verfügung gestellten Heer nach Dylaras.«

Langsam nickte ich. »Klingt so weit gut.«

Meine Zustimmung schien die anderen zu motivieren, denn sie begannen mit der Entwicklung von Schlachtplänen. Laut dem, was ich heraushören konnte, wollte Kjartan uns beinahe das gesamte Heer stellen, damit wir genug Männer hatten, um gegen Eira in den Krieg zu ziehen. Allerdings konnten weder Aleksi noch Mari Genaueres dazu sagen, welche Verbündeten wir noch für uns gewinnen konnten. Anscheinend hatte Eira die meiste Zeit über Stillschweigen bewahrt, wenn es um ihre Machenschaften ging. Das wunderte mich eher weniger, wenn man bedachte, dass sie inkognito gleich zwei Feinde in unsere Reihen eingeschleust hatte, um uns auszuspionieren oder gar zu töten. Sie schien uns immer mindestens einen Schritt voraus zu sein.

Das einzige Reich, bei dem wir uns sicher waren, es auf unsere Seite ziehen und als Verbündete gewinnen zu können, war Lenjas. Jalmari hatte nicht nur sein Königreich verraten, sondern trug auch Schuld daran, dass die Prinzessin, seine Schwester, vor den Augen Arzus hingerichtet worden war. Mari hatte es eine Opfergabe an die dunklen Mächte genannt. In meinen Augen war es allerdings nichts weiter als kaltblütiger Mord an einem unschuldigen Mädchen.

Vermutlich würden König Marin und Königin Juna uns mit offenen Armen empfangen und sogar das Heer Lenjas’ anführen, um den Tod ihres jüngsten Kindes zu rächen. Wer sollte es ihnen auch verübeln können.

Eines wussten wir allerdings mit Sicherheit. Ganz egal, welche Reiche Eira für sich hatte gewinnen können, an ihrer Seite standen noch immer die Hüter. Und sie waren es, vor denen wir uns am meisten in Acht nehmen mussten. Sie waren wilde Bestien, die ungezügelt jeden töteten, der sich ihnen und der Verwirklichung ihrer Pläne in den Weg stellte. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Fanatiker imstande waren, und das jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

»Eggi«, ergriff ich schließlich das Wort, wodurch die Unterhaltung verstummte. »Du erinnerst dich doch an die Dinge, die du in Rumpelstilzchens Unterschlupf ungewollt gesagt hattest?« Er nickte beschämt und zupfte sich einen Brotkrumen aus den langen, verklebten Haaren. »Weißt du noch, wo sich die Siedlung der Hüter befand?«

Er überlegte einen Augenblick lang, ehe er mit zittriger Stimme antwortete. »Nicht ganz genau«, gestand Eggi. »Aber ich erinnere mich an die ungefähre Lage, ja.«

»Gut, dann müssen wir unbedingt vermeiden, dort vorbeizukommen.« Meine feste Stimme ließ keine Widerworte zu. Dennoch war Aleksi nicht begeistert.

»Sollten wir nicht auf direktem Weg nach Kjartan gehen? Uns rennt die Zeit davon.« Sein Einwand war durchaus berechtigt, aber er hatte es vermutlich bisher nicht mit den Hütern aufnehmen müssen.

Tero schüttelte kaum merklich den Kopf und richtete das Wort an seinen jüngeren Bruder. »Nerina hat recht, Aleksi. Völlig gleich, wie lang der Umweg auch sein mag, wir würden ein Zusammentreffen mit ihnen nicht alle überleben. Wir haben schon zu viele Freunde verloren. Tode, die vollkommen umsonst gewesen waren.«

Bei seinen Worten musste ich unwillkürlich laut schlucken. Ich schaute Desya an, die gegenüber von mir saß und ihre Mundwinkel traurig verzog. Die Liebe ihres Lebens war bereits gestorben, genau wie unser Kasim. Ich wollte alles daransetzen, dass es sonst niemanden mehr aus dem Leben riss. Noch mehr Tod und Leid würden wir nicht verkraften.

Laresa saß mit Asante am Tischende. Er strich etwas Butter auf ihre Brotscheibe und belegte diese anschließend mit Käse. Man konnte deutlich sehen, wie unangenehm es ihr war, nicht mehr selbst für sich sorgen zu können. Es würde lange dauern, ehe sie mit nur einem Arm genauso gut umgehen konnte wie mit beiden. Doch bis dahin war sie auf unsere Hilfe angewiesen.

Nein, wir mussten es schaffen, einander zu beschützen, komme, was wolle. Der Schmerz bei uns allen saß viel zu tief.

»In Ordnung, dann gehen wir den Umweg«, stimmte Aleksi schluss­endlich zu.

»Was ist mit Mari?« Wie ein unschuldiges Kind saß sie stumm am Tisch, ohne ein Wort zu sagen. Zwar folgte sie dem Gespräch, konnte sich aber nicht einbringen. Eine Kammerzofe sollte mit uns reisen und sich all den Gefahren stellen? Ich bezweifelte, dass sie jemals ein Schwert in der Hand gehalten hatte. Ihr Vater war stets um ihre Sicherheit besorgt, da sie ihm als Einziges nach dem Tod seiner Gemahlin geblieben war. Er hätte ihr niemals die Künste des Kampfes beigebracht.

Mari erhob sich und stemmte energisch die Handflächen auf die Tischplatte. »Ich werde mit euch kommen.«

Aleksi wollte etwas einwenden, doch mit einem zornigen Blick ließ sie ihn verstummen. »Keine Widerrede. Ich mag nicht kämpfen können, bin nicht so durchtrainiert, wie ihr es seid, aber ich habe meinen Verstand. Außerdem war ich viele Jahre bei Eira angestellt und kenne sie mittlerweile besser als jeder sonst hier. Ich habe ihre dunkelsten Seiten miterlebt, gesehen, wozu sie fähig ist. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem ihr auf mein Wissen angewiesen seid.«

Ich musste mir eingestehen, dass sie mich beeindruckte. Niemals hatte ich ihr so viel Mut zugetraut, doch es schien ihr ernst damit zu sein, sich mit Eira anlegen zu wollen. Ich erinnerte mich daran, wie Mari zusammengezuckt war, als ich die Hand nach ihr ausstrecken wollte. Meine Schwester hatte dieses junge Geschöpf geschlagen und wer wusste schon, was Eira ihr noch alles angetan hatte. Mari musste die Grausamkeiten jahrelang ertragen und nun bot sich ihr die Möglichkeit zur Rache, die sie antrieb und ihre wahre Stärke zum Vorschein brachte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen stand ich auf und ging auf die Kammerzofe zu. Als ich vor ihr stand, zog ich sie in meine Arme und nahm sie bei uns auf. Auch wenn sie nicht von kräftiger Statur war, so war Mari doch eine wichtige Informationsquelle für uns und ich war mir sicher, dass sie uns helfen konnte.

»Ich werde auf dich achtgeben, Mari«, flüsterte Aleksi, sodass die anderen ihn nicht hören konnten. »Dir wird nichts zustoßen, das verspreche ich dir.«

Seine Augen glühten vor Leidenschaft, was mein Herz erwärmte. Ein Prinz, der sein Leben für eine Kammerzofe opfern würde. Welch Ironie des Schicksals die beiden zusammengeführt hatte.


Es war eine harte Woche. Unsere Reise durch das Schattenreich hing uns noch nach. Meine Glieder schmerzten und ich war erschöpft. Zwar hatten wir nun einige Tage in unserem bescheidenen Heim verbracht und genug Zeit gehabt, uns auszuruhen, nichtsdestotrotz standen tägliche Kampfübungen auf dem Plan. Nicht ganz so intensiv wie vor unserer Abreise ins Schattenreich, dennoch konnten wir die Anstrengungen in jedem Muskel unserer Körper spüren.

Am kommenden Tag wollten wir unseren Weg ins Königreich Kjartan antreten. Ein nervöses Kribbeln machte sich in meiner Magengrube breit. Ich war bereit, meiner Schwester gegenüberzutreten, doch ebenso hatte ich Angst vor dem Ausgang des Krieges. Es stand so vieles auf dem Spiel, sodass Scheitern für uns nicht infrage kam.

Das Training war für heute beendet. Asante und Eggi waren besonders motiviert und blickten dem bevorstehenden Krieg voller Tatendrang entgegen. Allerdings musste ich immer wieder an die Zukunftsvision denken, die ich bei Etarja gehabt hatte. Sie hatte mir zwar versichert, dass es sich dabei nur um eine mögliche Zukunft handelte, doch was, wenn diese sich schlussendlich doch bewahrheiten sollte?

Ich hatte gesehen, wie meine Freunde litten, sich mit blutüberströmten Körpern kaum noch auf den Beinen halten konnten. In meiner Vision war ziemlich deutlich zu erkennen, dass wir uns in der Unterzahl befanden und niemals gewinnen konnten. Und das war es, was mir so große Sorgen bereitete.

Mit den Fingerspitzen berührte ich den kühlen Stein um meinen Hals. Ich wusste nicht, ob meine helle Magie ausreichen würde, um Eiras Dunkelheit zu besiegen. Die einzige Möglichkeit, die uns blieb, war, dass Tero und Aleksi ihre Magie entfesselten und wir uns somit zu dritt gegen meine Schwester stellen konnten. Doch es blieb abzuwarten, ob es den beiden gelingen sollte.

»Nerina?« Lorya trat an meine Seite, Schweißperlen rannen in Strömen von ihrer Stirn, doch sie schien sie nicht zu bemerken. »Bevor wir aufbrechen, würdest du mir die Sterne zeigen?«

Ich hatte bereits vergessen, dass ich ihr dieses Versprechen bei der Ankunft im Lichterreich gegeben hatte. Aber ihre Augen funkelten so glasklar bei der Vorstellung, den Sternenhimmel von Nahem betrachten zu können, dass mir keine andere Wahl blieb, als lächelnd zuzustimmen.

»Wunderbar. Es dämmert bereits. Wollen wir uns frisch machen und dann losgehen?« Die Euphorie in ihrer Stimme brachte mich zum Lachen.

»Natürlich«, antwortete ich fröhlich und beobachtete, wie Lorya vor Freude quiekend ins Haus rannte.


Ich wartete vor dem Haus darauf, dass Lorya herauskam. Das Abendrot am Horizont raubte mir den Atem, sodass ich kaum bemerkte, als die Tür quietschend aufschwang. Hinter ihr trat Heorhiy hervor und schaute mich verstohlen an.

»Darf ich mitkommen?«, fragte er vorsichtig.

Seine Hände hatte er tief in den Taschen seiner Hose vergraben, was ein amüsanter Anblick war. Ein älterer Herr mit gräulichem Haar, der genau wie seine Schwester unbedingt den Sternenhimmel sehen wollte.

Ich nahm die beiden an den Händen und stellte mich in deren Mitte. »Na, dann lasst uns die Sterne beobachten.«

Heorhiy entzündete eine Fackel, ehe wir uns auf den Weg durch die anbrechende Dunkelheit machten. Der Weg zur Hochebene war mir mittlerweile so vertraut und weckte eine Sehnsucht in mir, die ich nie für möglich gehalten hätte. Vermutlich war dies das letzte Mal, dass ich diese Plattform betreten sollte, denn vollkommen gleich, wie die Schlacht ausgehen würde, dem Verwunschenen Wald würden wir im Morgengrauen für immer den Rücken kehren.

Als wir an dem sich schlängelnden Trampelpfad ankamen, war es bereits dunkel. Wir hatten Glück, dass die Nacht wolkenlos war und uns so einen hervorragenden Blick auf den Sternenhimmel ermöglichte.

Lorya und Heorhiy starrten ehrfürchtig hinauf. Die Freude war ihnen deutlich anzusehen.

»Das ist atemberaubend«, hauchte Lorya. »Niemals hätte ich gedacht, dass es so unglaublich viele Sterne am Himmel gibt.«

Es machte mich glücklich, ihnen diesen Anblick zu zeigen. Die Zeit, in der sie in der immerwährenden Finsternis zu Hause waren, war nun vorbei und ihnen eröffnete sich eine vollkommen andere Welt. Eine neue Welt, die sie sich niemals hätten erträumen können. Und für einen kurzen Moment konnten wir den Schrecken vergessen und uns am Frieden des Nachthimmels erfreuen.

»Was sind Sterne?«, fragte Heorhiy nach einer Weile.

Eine genaue Antwort konnte ich ihm auf die Frage allerdings nicht geben. »Es gibt viele Sagen und Legenden darüber. Meine Eltern sagten mir einst, dass die Seelen der Verstorbenen emporsteigen und als neuer Stern den Himmel erleuchten, um über ihre Liebsten zu wachen. Es ist ein tröstlicher Gedanke.«

Lorya schaute mich skeptisch an. »Glaubst du daran?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich schulterzuckend zurück. »In jener Nacht, als meine Eltern aus dem Leben gerissen wurden, stand ich auf meinem Balkon und schaute hinauf in den Himmel. Und in ebenjener Nacht leuchteten zwei der Sterne heller auf als alle anderen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass meine Eltern mich aus der Ferne beobachteten und auf mich achtgaben.«

Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich vermisste meine Eltern schmerzlich und wünschte mir sehnlichst, sie wieder an meiner Seite zu wissen. Ich benötigte ihre tröstenden und aufmunternden Worte, die mir Kraft spenden würden, um meiner Schwester gegenüberzutreten. Vater hätte genau gewusst, wie er mir Mut zusprechen konnte.

Seufzend suchte ich den Sternenhimmel nach ihnen ab, konnte sie allerdings nicht ausmachen. Nur ein einziger Stern leuchtete heller auf als die anderen. Ob Tero in diesem Moment auch hinaufschaute und Tjana für ihn leuchten sah?

»Das ist eine schöne Sage.« Lorya lächelte und breitete mit geschlossenen Augen die Arme aus. Die leichte Brise umschmeichelte ihr Gesicht und blies ihre Haare nach hinten. Der Wind kitzelte meine Wangen und erinnerte mich an die Zeiten, in denen ich mit Eira durch die Palastgärten gerannt war. Ich hatte eine wundervolle Kindheit mit Menschen an meiner Seite, die mich liebten.

Ich legte mich auf den Rücken und sog die kühle Luft langsam in meine Lunge. Es freute mich, dass Lorya mich daran erinnert hatte, ihr diesen Ort zu zeigen, fernab von jeglicher Zivilisation, fernab der Dunkelheit. Hier oben spürte man nichts von der Finsternis, die sich wie eine giftige Schlange langsam durch die Königreiche schlängelte und diese verseuchte. Hier oben lebten wir in einer vollkommen anderen Welt, erfüllt von Glückseligkeit.

Heorhiy setzte sich neben mich auf die Erde. Dabei stemmte er die Hände in den sandigen Boden, dessen Oberfläche noch leicht feucht vom Raureif war. Wir schwiegen, doch genossen die Ruhe und die Einsamkeit, die hier oben herrschte. Es war das letzte Mal, dass wir unsere Gedanken treiben lassen konnten, ehe unsere Reise begann. Eine Reise, die vielleicht ohne Wiederkehr endete.

Hoffentlich gelang es Heorhiy, zu seiner Tochter zurückzukehren und sie aus der Dunkelheit zu retten und in das Sonnenlicht zu führen. Und hoffentlich würde es irgendjemandem gelingen, den Feenprinzen aus den Klauen der Hexen zu befreien, um den Untergang des Feenreichs aufzuhalten.

Es war zum Haareraufen, welch große Gefahren um uns herum schlummerten. Gefahren, von denen ich nichts gewusst hatte, als ich noch im Palast gelebt hatte. Unwillkürlich fragte ich mich, was geschehen wäre, hätte Eira mich nicht verraten. Wäre schlussendlich alles anders gekommen, oder hätte die Dunkelheit sich dennoch weiter ausgebreitet? Ich wollte nicht wahrhaben, dass Eira und ihr Spiegel für so viel Leid verantwortlich waren. Ich musste einen Weg finden, meine Schwester zu bekehren und sie wieder zurück ins Licht zu führen, ehe noch Schlimmeres geschah.

»Wie es wohl in Kjartan ist?«, durchbrach Lorya meine düsteren Gedanken und ließ sich neben ihren Bruder fallen. »Das Lichterreich ist unglaublich schön. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es noch weitere so farbenprächtige Länder geben soll.«

»Ich habe Kjartan in meiner Vision gesehen, doch selbst war ich noch nie dort. Ich kenne lediglich Geschichten, dass das Land von Eis und Schnee bedeckt sein soll«, erwiderte ich sehnsüchtig. »Ich stelle es mir vor wie den Sternenhimmel. Das Eis glitzert in der Sonne und reflektiert sie in allen Farben des Regenbogens. Es muss unglaublich schön sein.«

Heorhiy stand auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. »Ich freue mich schon darauf, es zu sehen.« Er klang motiviert. »Natürlich sollte ich eigentlich sorgenerfüllt sein und an Prisha denken, doch ich weiß, dass sie in der Siedlung in guten Händen ist. Und eines Tages werde ich sie aus dem Schattenreich führen und ihr die Schönheit der Königreiche zeigen.«

Er liebte seine Tochter sehr und ich wünschte es mir so sehr für ihn, dass dieser Wunsch irgendwann in Erfüllung ging.

»Wir sollten gehen«, entschied ich schließlich und ließ mir von Heorhiy auf die Füße helfen. Es steckte eine solche Kraft in seiner Bewegung, dass mir etwas schwindelig wurde, als ich mich wieder auf den Beinen befand. »Der Morgen wird bald über uns hereinbrechen und wir brauchen noch etwas Schlaf.«

Lorya und ihr Bruder nickten im Einverständnis, allerdings nicht, ohne einen letzten Blick zum Sternenhimmel zu richten. Auch ich legte den Kopf in den Nacken und dann sah ich es. Zwei Sterne am Firmament, die für einige Momente hell funkelten, ehe sie wieder verblassten.

Sie hatten mich also nicht vergessen und waren noch immer an meiner Seite. Auf meine lieben Eltern war Verlass.

Kapitel Drei

Aleksi rollte ein Stück altes Pergament auf dem Esstisch aus und beschwerte es mit einem Becher an jeder Ecke. Zu sehen war eine sehr präzise Karte der Königreiche. Mit einem Kreuz markierte er den ungefähren Ort, an dem wir uns gerade befanden. Bei einem Blick auf die Karte wurde mir ganz mulmig zumute. Kjartan lag noch viel weiter entfernt, als ich zunächst vermutet hatte. Wir konnten den Wald Alain bis zu den Bergen durchqueren, um kein Aufsehen in einem der Königreiche zu erregen, nichtsdestotrotz konnten die Gefahren hinter jedem Baum und jedem Busch lauern.

»Zeig uns, wo die Siedlung der Hüter ist.« Aleksi reichte Eggi Feder und Tinte. Er nahm beides entgegen und lehnte sich nachdenklich über den Tisch. Mit den Fingern fuhr er einige Linien nach, ging dann wieder zurück und startete den Weg erneut vom Pfad, der uns aus dem Verwunschenen Wald hinausbringen sollte.

»Hier muss es sein«, sagte er schließlich und markierte den Ort ebenfalls mit einem Kreuz.

Asante fluchte. »Verdammt. Bist du dir sicher?«

Als Eggi stumm nickte, nahm Asante einen Becher vom Tisch und warf ihn quer durch die Küche. Ich betrachtete den Aufenthaltsort der Hüter genauer. Er befand sich exakt auf unserem Weg nach Kjartan. Wir hatten bereits festgestellt, dass wir einen Umweg gehen mussten, doch der Bogen würde uns sicherlich zwei Tage kosten.

Tero trat einen Schritt näher an den Tisch heran und deutete mit dem Finger auf die Bergkette. »Was ist, wenn wir einfach hier entlanggehen?«

»Das würde noch länger dauern«, erwiderte Aleksi. »Würde die Bergkette in einem geraden Weg verlaufen, dann wäre es kein Problem und würde vermutlich die sicherste Route darstellen, da wir nur von einer Seite angegriffen werden könnten. Aber schau.« Er deutete an eine tiefe Wölbung der Berge auf der Karte. »Sie schlagen hier einen Bogen ein, der uns mehrere Tage kosten würde. Tage, die wir nicht haben.«

Aleksi hatte recht. Allerdings machte diese Schlussfolgerung nur allzu deutlich, dass uns keine andere Möglichkeit blieb, als direkt durch den Wald zu gehen und auf den einen oder anderen Hüter zu stoßen. Wir konnten nicht sicher sein, wie viele es von ihnen gab. Es würde mich nicht wundern, wenn sich ihre Anzahl mittlerweile vervielfältigt hätte.

»Uns bleibt keine Wahl«, sagte Desya ruhig. »Wir haben schon weitaus Schlimmeres durchgestanden. Wir werden es schon mit ein paar Hütern aufnehmen können. Und wer weiß, vielleicht haben wir Glück und unsere Reise wird ruhig verlaufen.«

Desya lächelte, während sie sprach. Sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein und darauf zu vertrauen, dass alles gut werden würde. Ich wünschte nur, ich hätte auch mit ihrer Zuversicht unserer bevorstehenden Reise entgegentreten können. Doch die vergangenen Wochen hatten allzu deutlich gezeigt, dass wir nicht gegen jedwede Gefahr gewappnet und durchaus verwundbar waren.

Laresa legte ihren gesunden Arm um Desyas Schulter. Sie richtete sich auf und nickte zustimmend. »Wir werden es schaffen. Die Hüter sind aus Fleisch und Blut. Wir haben schon einige von ihnen niedergestreckt, also wird das mit Sicherheit kein Problem darstellen.«

»Uns fehlen die Krieger«, schrie Asante wütend und schlug die Fäuste auf den Tisch. »Resa, du kannst nicht kämpfen, genauso wenig wie Mari. Und Kasim war unser bester Mann.«

Mit einem Schlag gelang es unserem Anführer, all unsere Hoffnungen wieder zunichte zu machen. Er führte uns erneut vor Augen, was wir alle bereits wussten.

»Aber ihr habt mich«, sagte Aleksi verschwörerisch. »Ich bin nicht nur Prinz, sondern der Heerführer der königlichen Garde. Diese Wilderer sollten mir lieber nicht in die Quere kommen.«

Ich ertrug diese ewigen Streitigkeiten nicht mehr. »Lasst uns einfach gehen«, meinte ich schließlich ruhig. »Was bringt es, sich hier den Kopf zu zerbrechen? Entweder wir treffen auf die Hüter oder eben nicht. Entweder wir kämpfen oder wir sterben. Es ist der ewige Kreislauf des Lebens.«

Ich wusste selbst, dass meine Worte und der bittere Klang meiner Stimme keineswegs motivierend waren, aber das war mir im Moment gleichgültig. Ich wollte hier nicht herumsitzen und darauf hoffen, dass wir irgendwann eine Einigung erzielten.

»Ich für meinen Teil bin bereit.« Heorhiy schwang sich einen Leinen­beutel über die Schulter und seine Schwester tat es ihm gleich. Die beiden schienen vor nichts und niemandem Angst zu haben. Das Leben in den Schatten musste sie abgehärtet haben.

Augenrollend nahmen auch die anderen langsam ihre Beutel und Waffen zur Hand. Tero und Aleksi diskutierten weiterhin über die besten Taktiken, um es mit den Hütern aufzunehmen, während Mari versuchte, ihren Worten zu folgen. Irgendwann gab sie aber die Hoffnung auf und kam auf mich zu.

»Geht es dir gut?«, fragte sie mich sanft. Dabei schaute sie mich mitfühlend an und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Du wirkst etwas reizbar.«

»Alles in Ordnung«, versicherte ich ihr. »Ich will das alles nur schnellstmöglich hinter mich bringen und diesem gottverlassenen Ort den Rücken kehren.«

»Das verstehe ich. Es ist wirklich schön hier, aber diese Stille macht mich ganz verrückt. Es ist nicht vergleichbar mit dem Trubel im Palast oder auf dem Marktplatz.« Ihre Augen funkelten bei der Erinnerung an Arzu. Eigentlich hatte ich vermutet, dass sie glücklich darüber war, das Königreich verlassen zu haben. Schließlich hatte Eira sie nicht gerade gut behandelt.

»Fehlt dir dein Vater?«

Ihr Blick schnellte zu mir hoch. Dann presste sie die Lippen aufeinander und nickte langsam. »Ja, sogar sehr. Ich hoffe, dass es ihm irgendwann gelingen wird, wieder auf den rechten Weg zu finden. Ich kann einfach nicht verstehen, was ihn zu diesem Verrat getrieben hat.«

Auch ich hatte darauf keine Antwort. Hauptmann Alvarr war immer ein treuer Diener meiner Eltern gewesen. Sie hatten ihn mit offenen Armen in ihr Heim gelassen und ihn geliebt, als wäre er ein Teil der Familie. Nie hatte es ihm an irgendetwas gefehlt und doch hatte er einen Teil zu ihrer Ermordung beigetragen. Was ich Mari allerdings nicht sagen konnte, war, dass auch, sollte ihr Vater um Vergebung bitten, ich ihm diese niemals gewähren konnte. Er würde sich meinem Urteil als Königin beugen müssen und sein restliches Dasein im Kerker fristen.

Mari wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich versuchte mich an einem Lächeln, um das Mädchen nicht zu beunruhigen. »Er wird mit Sicherheit wieder ganz der Alte werden.«

»Danke.«

Ihr kindliches Gesicht erweckte in mir die Erinnerung an den Tag, an dem ich sie Eira zur Seite gestellt hatte. Zwar war es Hauptmann Alvarrs Vorschlag gewesen, den ich allerdings abgesegnet hatte. Mari hätte ein deutlich friedlicheres Leben führen können, hätte ich sie nicht als Eiras Kammerzofe eingestellt. Ich trug Mitschuld daran, dass sie zu leiden hatte.

»Wir sind dann so weit«, grummelte Asante in meinem Rücken. »Lasst uns gehen.«