Die Schneekönigin


Deutsche Neuübersetzung

 

HANS CHRISTIAN ANDERSEN

 

 

 

 

Die Schneekönigin, H. C. Andersen

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

Front Cover: basierend auf einem Werk von Elena Ringo http://www.elena-ringo.com, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37744268

 

ISBN: 9783849654269

 

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Eine Erzählung in sieben Geschichten

 

Erste Geschichte

 

Handelt von einem Spiegel und seinen Bruchstücken.

 

Wenn wir gleich anfangen, musst du gut aufpassen; und wenn wir zum Ende der Geschichte kommen, wirst du mehr wissen über einen sehr bösen Kobold als jetzt. Er war einer der schlimmsten überhaupt, ja ein echter Dämon. Eines Tages war er in allerbester Laune, weil er einen Spiegel erfunden hatte, der so besonders war, dass er jedes gute und schöne Ding, das sich darin widerspiegelte, auf fast nichts zusammenschrumpfte. Auf der anderen Seite betonte er jedes schlechte und nichtsnutzige Ding so, dass es noch schlimmer aussah. Die schönsten Landschaften, die sich darin spiegelten, sahen aus wie gekochter Spinat, und die schönsten Leute wurden so hässlich, dass sie manchmal auf dem Kopf standen und keine Körper mehr hatten. Ihre Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, und wenn sie auch nur eine Sommersprosse hatten, schien sich diese über Nase und Mund auszubreiten. Der Dämon fand das unglaublich amüsant. Wenn sich im Kopf ein guter Gedanke formte, verwandelte sich dieser im Spiegel in ein Grinsen, und das brachte dem Dämon wahre Freude. Alle Schüler der Dämonenschule, die ihm gehörte, sagten, dass ein Wunder geschehen sei; dass es zum ersten Mal möglich geworden sei, zu sehen, wie die Welt und die Menschheit wirklich waren. Sie liefen überall mit dem Spiegel herum, bis es schließlich kein Land und keine Person mehr gab, die in diesem verzerrenden Spiegel nicht abgebildet worden war. Sie wollten sogar mit ihm in den Himmel fliegen, um die Engel zu verspotten; aber je höher sie flogen, desto mehr grinste das Bild im Spiegel – so sehr, dass sie ihn kaum halten konnten, und er ihnen schließlich aus den Händen rutschte, zur Erde fiel und dort in hundert Millionen und Milliarden von Teilen zersplitterte. Aber so richtete er mehr Schaden an als je zuvor. Einige dieser Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn und flogen durch die ganze Welt. Sie gerieten in die Augen der Menschen, blieben dort stecken und verzerrten alles, was diese Augen betrachteten – oder ließen sie alles sehen, was nicht in Ordnung war. Jeder kleinste Glassplitter hatte die gleiche Kraft wie der ganze Spiegel. Einige Leute haben sogar ein wenig von dem Glas in ihre Herzen bekommen, und das war wirklich schrecklich, denn das Herz verwandelte sich in einen Klumpen Eis. Einige der Bruchstücke waren so groß, dass sie für Fensterscheiben verwendet wurden; aber es war nicht ratsam, seine Freunde durch diese Scheiben zu betrachten. Andere Teile wurden zu Brillen verarbeitet, wo sie noch mehr Unheil anrichteten, wenn Leute diese Brille aufsetzten, die gerecht sein sollten. Der böse Dämon lachte, bis er nicht mehr konnte; er amüsierte sich köstlich über den Unfug, den er angestellt hatte. Aber einige dieser Bruchstücke schwebten immer noch in der Welt, und ihr werdet gleich erfahren, was mit ihnen geschehen ist.

 

Zweite Geschichte

 

Von einem kleinen Jungen und einem kleinen Mädchen

 

In einer großen Stadt voller Häuser und Menschen gibt es keinen Platz für Gärten, die Menschen müssen sich stattdessen mit Topfblumen zufriedengeben. In einer dieser Städte lebten zwei Kinder, denen es gelang, anstelle eines Gartens etwas Größeres als einen Blumentopf zu haben. Sie waren zwar nicht Bruder und Schwester, aber sie mochten sich genauso sehr, als ob sie es gewesen wären. Ihre Eltern lebten einander gegenüber in zwei Wohnungen im Dachgeschoss. Das Dach des einen Hauses berührte das Dach des nächsten, es passte nur die Regenrinne dazwischen. Sie hatten beide jeweils ein kleines Gaubenfenster, und man musste nur über die Rinne treten, um von einem Haus zum anderen zu gelangen. Beide Eltern hatte jeweils einen großen Blumenkasten, in dem sie Küchenkräuter und einen kleinen Rosenstock züchteten. In jedem Kasten war einer, und beide wuchsen prächtig. Dann fiel es den Eltern ein, die Kästen von Haus zu Haus über die Rinne zu schieben, so dass sie aussahen wie zwei Blumenbänke. Die Erbsenranken hingen über die Ränder der Kästen hinaus, und die Zweige der Rosen wurden immer länger und wanden sich um die Fenster herum. Es sah fast aus wie ein grüner Triumphbogen. Die Kästen waren hoch oben, und die Kinder wussten, dass sie nicht hochklettern durften; aber oft stellten sie ihre kleinen Hocker unter die Rosenstöcke und spielten dort herrliche Spiele. Natürlich beendete der Winter diese Vergnügungen. Die Fenster waren oft mit Rauhreif bedeckt; dann erwärmten sie Kupfergefäße auf dem Herd und stellten sie vor die gefrorenen Scheiben, wo schöne, runde Gucklöcher entstanden. Dann schaute jeweils ein leuchtendes Auge durch diese Löcher, eines aus jedem Fenster. Der Name des kleinen Jungen war Kai, und das kleine Mädchen hieß Gerda.

Im Sommer waren sie nur einen Katzensprung voneinander entfernt, aber im Winter mussten sie die ganzen Treppen hinunter- und im anderen Haus wieder hinaufgehen, und draußen waren Schneeverwehungen.

"Schaut! Die weißen Bienen schwärmen", sagte die alte Großmutter.

"Haben sie auch eine Bienenkönigin?", fragte der kleine Junge, denn er wusste, dass es unter den echten Bienen eine Königin gab.

"Ja, in der Tat, das haben sie", sagte die Großmutter. "Sie fliegt dort, wo der Schwarm am dichtesten ist. Sie ist die größte von allen, und sie bleibt nie auf dem Boden. Sie fliegt immer wieder hinauf in den Himmel. In manchen Winternächten fliegt sie durch die Straßen und schaut durch die Fenster, und dann erstarrt das Eis auf den Scheiben zu wunderbaren Mustern, die aussehen wie Blumen."

"Oh, ja, solche haben wir gesehen", sagten beide Kinder, und wussten so, dass es wahr war.