Einleitung
Wenn man selbst oder ein geliebter Mensch die Diagnose Brustkrebs erhält, ist »Glück gehabt!« mit Sicherheit die am wenigsten erwartete Reaktion. Brustkrebs ist weitverbreitet: Unter den Krebsleiden machen Tumore der Brustdrüsen pro Jahr ein Drittel aller festgestellten Ersterkrankungen aus. Dennoch ist der Gedanke, mit diesem Schicksal nicht allein zu sein, wenig tröstlich. Die Wahrheit jedoch lautet: Wenn Sie die Diagnose Brustkrebs erhalten haben, haben Sie allen Grund, optimistisch zu sein, denn die Überlebenschancen sind so groß wie nie zuvor. Die Rate liegt inzwischen bei etwa 90 Prozent. Das bedeutet: Wenn bei Ihnen Brustkrebs festgestellt wird, werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach über- und gut weiterleben. Noch beruhigender ist die Tatsache, dass die Sterberate bei Brustkrebspatientinnen innerhalb des letzten Jahrzehnts von Jahr zu Jahr deutlich abgenommen hat und sich dieser Trend eindeutig fortsetzt.
Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass durch Früherkennungsverfahren wie die Mammographie Brustkrebserkrankungen heute meist schon im Anfangsstadium festgestellt werden, woraus sich gute Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschancen ergeben. Dass auch Frauen, bei denen Brustkrebs im weiter fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird, ein stetig wachsendes Spektrum an modernen Therapien zur Verfügung steht, haben Sie vielleicht ebenfalls schon gehört. Möglicherweise ist Ihnen aber nicht geläufig, dass bei der immer erfolgreicher werdenden Behandlung von Brustkrebs zunehmend auf chirurgische Eingriffe verzichtet wird. Die daraus resultierenden Möglichkeiten der Brustrekonstruktion sind besser als je zuvor. Allerdings fällt es vielen Frauen schwer, diese optimistisch stimmenden Botschaften aus der Flut an Informationen herauszuhören.
Im Alter von 48 Jahren führte Katherine* ein erfülltes Leben, das aus ihrer Perspektive kaum Wünsche offenließ. Sie bekleidete bei einem großen Technologieunternehmen eine anspruchsvolle Position im Bereich des Personalmanagements. Ihre Arbeit beinhaltete – wie die ihres Mannes – viele Geschäftsreisen. Ihre beiden Töchter, 13 und 15 Jahre alt, durchliefen gerade die mit der Pubertät verbundenen seelischen Höhen und Tiefen. Katherines 76-jährige Mutter, die 800 Kilometer entfernt lebte, war vor Kurzem eine neue Herzklappe eingesetzt worden, und Katherine hatte die letzten Wochen damit verbracht, sich nach einer guten Krankenpflege für ihre Mutter umzusehen.
* Die in diesem Buch angeführten Fallbeispiele basieren auf den Krankengeschichten von Patientinnen, die sich bei mir in Behandlung begeben haben. Alle medizinischen Fakten sind korrekt wiedergegeben. Die Namen der Patientinnen und Charakteristika, die deren Identität erkennbar machen könnten, wurden zum Schutz des Persönlichkeitsrechts geändert.
Wie so viele von uns brachte sie all ihre Lebensaufgaben unter einen Hut, indem sie mit voller Energie zu Werke ging. Doch dann stand innerhalb von Sekunden ihr Alltag plötzlich still. Nach ihrer jährlichen Vorsorgeuntersuchung wurde ihr mitgeteilt, dass bei der Mammographie eine »Auffälligkeit« entdeckt worden sei und eine Biopsie vorgenommen werden müsste. Als die Ergebnisse der Biopsie vorlagen, musste ich Katherine die Nachricht übermitteln, die keine Frau hören will: »Sie sind an Brustkrebs erkrankt.«
Katherine reagierte auf diese Nachricht auf eine Art, die ich häufig bei Frauen beobachte und die vielleicht auch Sie gezeigt haben oder hätten: Nachdem der erste Schock überwunden war, saß sie lange an ihren Mann geschmiegt in meinem Büro, besprach mit mir ihre Behandlungsmöglichkeiten und traf einige wichtige Entscheidungen. Am Ende des Gesprächs war sie ausgelaugt, dank der gemeinsam entwickelten Strategie aber auch erleichtert. Die Besprechung hatte sie beruhigt und der Behandlungsplan machte ihr Mut. Sie konnte sich nun voll und ganz auf ihre Familie und die bevorstehende Operation konzentrieren. Sie verließ mein Büro mit Zuversicht und blickte optimistisch in die Zukunft.
Im Laufe der nächsten ein bis zwei Tage gerieten Katherine Beherrschtheit und Entschlossenheit jedoch ins Wanken. Da ich diese Entwicklung immer wieder erlebe, war mit sofort klar, was passiert war: Nachdem sie meine Praxis verlassen hatte und nach Hause gefahren war, hatte sie im Internet die Informationen gelesen, die ihr die Suchmaschine zu ihrer Diagnose lieferte, und daraus eigene Schlüsse gezogen und Vorhersagen abgeleitet. Zwei Tage nach unserem Gespräch rief sie mich an und erkundigte sich vorsichtig, ob ein weiteres Treffen möglich wäre, da sie nun eine lange Liste an Fragen habe, die ihr bei der ersten Konsultation noch nicht bewusst gewesen seien. Glücklicherweise konnte ich ihr einen Termin gleich am folgenden Tag anbieten. Katherine war völlig verändert. Mitgebracht hatte sie einen zehn Zentimeter hohen Stapel an Ausdrucken. Einige Seiten waren mit Post-its markiert, einzelne Passagen hatte sie mit Textmarkern in drei verschiedenen Farben hervorgehoben. Sie sah mich mit einem warmen Blick an, doch ihre rot geränderten Augen ließen vermuten, dass sie seit unserer letzten Begegnung kaum geschlafen hatte. Katherine wirkte vollkommen verunsichert und äußerst niedergeschlagen.
Sie begann, mir ihre Fragen zu stellen. Sie hatte von einem neuen Medikament gelesen, das vor der Operation verabreicht werden kann, um die Größe des Tumors zu reduzieren, und sie wollte wissen, was ich davon hielt (das Arzneimittel war bei ihrer Form der Erkrankung nicht wirksam). In einem angesehenen Forum gaben alle Frauen an, dass eine Mastektomie Katherine bessere Überlebenschancen böte als eine Lumpektomie (diese Aussage war definitiv falsch – statistisch gesehen waren in Katherines Fall die Erfolgsaussichten bei beiden Verfahren gleich). Katherine hatte ihrer Lektüre außerdem die Empfehlung entnommen, sich auch die nicht befallene Brust entfernen zu lassen, um die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Auftretens der Erkrankung weitestgehend zu minimieren (auch dieser Ratschlag traf bei Katherines Form der Erkrankung nicht zu).
Katherines Fragen kamen für mich nicht unerwartet, da in jüngster Zeit nicht nur die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, dass Frauen trotz einer Brustkrebserkrankung ein langes, erfülltes Leben führen können, sondern auch die Anzahl an verfügbaren Informationsquellen zugenommen hat. Nachdem sie die Diagnose erhalten haben, bekommen Frauen aus ihrem Freundeskreis in helfender Absicht E-Mails zugeschickt, die Links zu bestimmten Websites enthalten. Auch Familienmitglieder empfehlen Bücher und Artikel zum Thema oder bestehen darauf, ein Treffen mit einer Freundin zu arrangieren, die einen hervorragenden Arzt kennt oder eine außergewöhnliche Genesungsgeschichte zu erzählen hat. Die Tatsache, an einer häufig auftretenden Erkrankung zu leiden, bringt also den Vorteil mit sich, dass viel über die Krankheit bekannt ist, hat aber auch den Nachteil, dass jeder etwas über Brustkrebs weiß, zu wissen glaubt oder jemanden kennt, mit dem man unbedingt sprechen sollte.
Wenn vor 30 Jahren eine Frau aus der Generation unserer Mütter und Großmütter die Diagnose Brustkrebs erhielt, nahm sie das Wort »Krebs« nicht in den Mund oder flüsterte es bestenfalls. Zu jener Zeit war es noch nicht einmal gestattet, in Werbeanzeigen in Hochglanzmagazinen das Wort »Brust« zu verwenden. Als ich mich vor 20 Jahren mit der Behandlung von Brustkrebs zu beschäftigen begann, standen der Öffentlichkeit nur wenige Informationsquellen zur Verfügung. Das Internet lieferte kaum Hinweise und es gab nur wenige Bücher zu diesem Thema. Auch die Behandlungsmöglichkeiten waren wesentlich eingeschränkter.
Heutzutage ist das anders: Frauen, die die Diagnose Brustkrebs erhalten, stehen zahlreiche fundierte Informationsquellen zur Verfügung, darunter auch dieses Buch. Das Internet hat die Situation jedoch nicht nur zum Positiven verändert. Wenn man in eine Suchmaschine das Wort »Brustkrebs« eingibt, bekommt man buchstäblich Millionen von Seiten angezeigt. Im World Wide Web wird über dieses Thema auch nicht mehr nur im Flüsterton gesprochen. In Blogs und auf Twitter schildern Frauen offen ihren Behandlungsverlauf und posten während der Chemotherapie aufgenommene Selfies, die alle Nutzer einsehen können. Ich zolle diesen Frauen größten Respekt dafür, dass sie mithilfe dieses modernen Mediums einen Weg gefunden haben, mit ihrer Erkrankung umzugehen und anderen Betroffenen zu helfen, indem sie sie an ihrem Erleben teilhaben lassen.
Heutzutage ist also nicht mehr der fehlende Zugang zu Informationen, sondern die Fülle an Informationen – genauer gesagt die Menge an ungefilterten Informationen – problematisch. Manche Quellen, die man online findet, sind glaubwürdig, andere nicht. Einige Erkenntnisse sind für die jeweilige Erkrankung relevant, die meisten jedoch nicht. Tatsächlich ist die Menge an Informationen, die man benötigt, um für sich selbst auf die konkrete Diagnose bezogen die richtige Entscheidung zu treffen, im Vergleich zur Vielzahl der allgemein kursierenden Hinweise relativ gering. Der Zugriff auf Informationen sollte Klarheit schaffen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, doch wenn eine Anleitung zur Gewichtung der Fakten fehlt, entsteht der gegenteilige Effekt.
Katherine und ich nahmen uns die Zeit, all ihre Fragen zu klären, und sprachen ihren Behandlungsplan noch einmal durch. Ich würdigte den Fleiß und die Sorgfalt, mit der sich Katherine mit der allgemeinen Problematik beschäftigt hatte, lenkte ihr Augenmerk aber zurück auf den zentralen Aspekt: ihr konkretes Krankheitsbild. Unser Gespräch machte Katherine deutlich, dass ihre persönliche Recherche zwar ein bedeutender Bestandteil des Umgangs mit ihrer Erkrankung war, die von ihr gesammelten Hinweise jedoch einen Nachteil aufwiesen: Ohne fachliche Anleitung ist es schwierig, die Relevanz der einzelnen Informationen für die eigene Erkrankung einschätzen zu können. Diese Bewertung mussten wir gemeinsam vornehmen. Wir setzten unser Gespräch so lange fort, bis Katherine ihre Zuversicht und ihr Vertrauen in den ursprünglich vereinbarten Therapieplan wiedergewonnen hatte. Ich versicherte ihr noch einmal, dass die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten in ihrem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit äußerst erfolgreich sein würden. An diesem Tag verließ Katherine mein Büro erneut mit der Gewissheit, dass in ihrem Fall hervorragende Aussichten auf Heilung bestanden und sie auf dem besten Weg in ein gesundes Leben war. Tatsächlich trifft diese Perspektive inzwischen auf die Mehrheit der an Brustkrebs erkrankten Frauen zu.
Die Erfahrungen von Katherine und von buchstäblich Tausenden anderen Frauen, die ich in den vergangenen Jahren behandelt habe, haben mich dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Der mentale Drahtseilakt, den Frauen vollführen müssen, um einerseits den Vorteil von rund um die Uhr zur Verfügung stehenden Informationen zu nutzen und sich andererseits von der überbordenden Fülle an Hinweisen abzugrenzen, kann an die Grenzen der persönlichen Belastbarkeit führen. Frauen, die heutzutage die Diagnose Brustkrebs erhalten, bewegen sich zweifelsohne in einer ganz anderen Welt, als es in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Meiner Erfahrung nach ist die Mehrheit der Frauen für ein wenig Orientierungshilfe dankbar. Anders als Katherine erhalten viele Betroffene erst nach einiger Zeit einen Beratungstermin. Oft vergehen mehrere Tage oder sogar Wochen, bis eine Frau, die mit dem Befund Brustkrebs konfrontiert wurde, auf den Arzt trifft, der sie und ihre Angehörigen mit den für ihren Fall relevanten Informationen versorgt. Viele Patientinnen haben mir berichtet, dass sie die Zeit zwischen dem Erhalt der Diagnose und dem ersten Gespräch mit dem Arzt zur Ausgestaltung des Therapieplans als besonders belastend empfanden. Verunsichert durch die vielen offenen Fragen durchforsten die Frauen und ihre Familienmitglieder dann oft nächtelang (nach der Diagnose ist ohnehin an Schlaf nicht zu denken) das Internet und suchen verzweifelt nach verständlichen Informationen.
Dieses Buch möchte in dieser Situation Hilfestellung geben. Ob Sie beunruhigt sind, weil sie einen Knoten ertastet haben, ob bei Ihnen bereits Brustkrebs diagnostiziert wurde oder ob Sie sich Sorgen um eine Freundin machen – es ist möglich, den vor Ihnen liegenden Weg in der Gewissheit zu gehen, dass Sie allen Grund haben, optimistisch zu sein. Wie in meinen Patientengesprächen verfolge ich mit diesem Buch das Ziel, in allen Phasen der Krebsbehandlung mit Fachwissen zu beraten. Dieses Buch gibt Ihnen die Möglichkeit, sich auf jedem Abschnitt der Wegstrecke zu vergewissern, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben, sodass Sie am Ende gesund und mit einer positiven Prognose hervorgehen, statt in der belastenden Flut an Eindrücken unterzugehen. Ich werde Sie dabei unterstützen, Prioritäten zu setzen und Ihre gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Krebs auf jene Aspekte zu beschränken, die in Ihrem Fall von Bedeutung sind. Außerdem möchte Ich Ihnen dabei helfen, ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Fragen Sie im Verlauf einer Brustkrebsbehandlung immer wieder stellen sollten.
Damit Sie sich eine Strategie zurechtlegen können, möchte ich Ihnen vorab einige wichtige Ratschläge an die Hand geben. Ich werde die hier angeführten Themen und Vorschläge in den einzelnen Kapiteln dieses Buches ausführlicher erläutern, doch scheint es mir wichtig, Ihnen gleich zu Beginn Ihres Entscheidungsprozesses und Faktensammelns einige zentrale Orientierungshilfen zu geben.
Wählen Sie die richtigen Ärzte aus
Die Behandlung von Brustkrebs ist multidisziplinär. Das bedeutet, dass im Verlauf der Behandlung mehrere Ärzte aus unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen (Chirurgie, Innere Medizin, Strahlentherapie, Plastische Chirurgie) tätig werden. In Deutschland sind allerdings nicht die Chirurgen, sondern die Fachärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe die richtigen Ansprechpartner, an die Sie sich zuerst wenden sollten.
Die Anzahl der Ärzte und der Fachrichtungen, denen sie angehören, variiert jedoch von Fall zu Fall: Nicht alle Frauen müssen alle der möglicherweise beteiligten Fachärzte konsultieren. Die Tatsache, dass die Brustkrebsbehandlung mehrere Disziplinen vereint, trägt dazu bei, dass vielen Betroffenen der Verlauf unübersichtlich und verwirrend erscheint. Mit der richtigen Anleitung ist der Weg jedoch leicht gangbar. Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass die Behandlung von Brustkrebs in der Regel sequenziell erfolgt. Wenn in Ihrem Fall zum Beispiel ein chirurgischer Eingriff, eine Chemotherapie und eine Bestrahlung erforderlich sind, finden diese Behandlungsschritte nicht gleichzeitig, sondern nacheinander statt, und in den einzelnen Phasen ist jeweils ein anderer Facharzt für Sie zuständig. Doch welche Maßnahme wird zuerst angewendet? Und wie nehmen Sie am besten mit den einzelnen Ärzten Kontakt auf? Ab Kapitel 4 wird Ihnen die wahrscheinliche Reihenfolge der einzelnen Behandlungsschritte vorgestellt. Die Information, zu welchem Zeitpunkt welcher Facharzt – Chirurg, Plastischer Chirurg, Onkologe, Radiologe et cetera – von Ihnen benötigt wird, ist für Sie aller Wahrscheinlichkeit schon kurz nach der Diagnose relevant, denn sicher möchten Sie sich ein Ärzteteam zusammenstellen, dem Sie vertrauen. Ich werde Ihnen erklären, wie das funktioniert.
2. Setzen Sie alles daran, von auf Brustkrebs spezialisierten Ärzten behandelt zu werden
Patientinnen, die von Ärzten betreut werden, die häufig Brustkrebsbehandlungen vornehmen – zum Beispiel in Kliniken mit hohen Fallzahlen – haben bessere Erfolgsaussichten. Eine in den USA durchgeführte Studie, die den Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Ergebnisqualität untersuchte, ergab, dass nur 7 Prozent der Chirurgen eine »große Anzahl« an mammachirurgischen Eingriffen (also mehr als 50 Operationen pro Jahr) vornahmen und nur 25 Prozent der Patientinnen von Operateuren behandelt wurden, die dieses Kriterium erfüllten. Die restlichen 75 Prozent wurden von Chirurgen versorgt, die mit mittlerer bis geringer Häufigkeit Brustkrebsbehandlungen durchführten. Einige dieser Ärzte nahmen sogar nur ein- bis zweimal pro Monat Brustoperationen vor!
Die Studienergebnisse sind insofern relevant, als den Patientinnen, die in der Obhut von Chirurgen waren, die Brustkrebserkrankungen in hoher Fallzahl betreuen, wesentlich häufiger die modernsten Operationstechniken angeraten wurde. Ihnen wurde also die bessere Behandlung zuteil.** Das zugrunde liegende Prinzip leuchtet ein: Je häufiger und regelmäßiger man eine Tätigkeit ausübt – sei es beim Haareschneiden, bei Geschäftsverhandlungen oder im Bereich der Chirurgie –, umso erfahrener ist man darin und umso größer sind die Aussichten auf Erfolg. Bei Brustkrebsbehandlungen spielt diese Relation eine besonders große Rolle: Angesichts der rasanten Fortschritte und der Vielzahl der zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten ist es von zentraler Bedeutung, über breites Wissen zu verfügen und stets auf dem Laufenden zu bleiben (auf meinem Nachttisch liegt stets ein Stapel aktueller Fachzeitschriften und Publikationen).
** A. M. McDermott, D. M. Wall, P. S. Waters et al. (2013): Surgeon and breast unit volume-outcome relationships in breast cancer surgery and treatment. In: Annals of Surgery.
Umgehen Sie also, wenn irgend möglich, Ärzte, die sich lediglich »zwischendurch auch mal« an Brustkrebsbehandlungen versuchen. Ärzte, die die Behandlung von Brustkrebs nur als Teilbereich ihres Leistungsspektrums ausüben und pro Monat oder Jahr nur wenige Patientinnen behandeln, verfügen unter Umständen nicht über den aktuellen Kenntnisstand, um Ihnen die besten Maßnahmen zu empfehlen. Die meisten Ärzte erreichen einen Umgang mit hohen Fallzahlen, indem sie sich spezialisieren.
In den USA kann eine Spezialisierung erfolgen, indem ein Mediziner nach dem Abschluss seines Studiums eine Weiterbildung in einem bestimmten Fachbereich absolviert oder indem er sich in seiner Praxis auf eine spezifische Form der Erkrankung oder ein Organsystem konzentriert. In Deutschland erfolgt die Spezialisierung nach der Approbation durch die Facharztweiterbildung. Zudem sind in Deutschland die Fachärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe für die Mammacarcinompatientinnen zuständig. Innerhalb des Fachgebiets gibt es weiterer Spezailisierungen beispielsweise zum Gynäkoonkologen oder zertifizieten Brustoperateur.
Brustkrebspatientinnen erhalten also die beste Form der Behandlung von Ärzten, die sich ausschließlich mit dieser Erkrankung beschäftigen – in all ihren Facetten und mit sämtlichen Möglichkeiten der Bekämpfung. Bei der Zusammenstellung Ihres Teams an behandelnden Ärzten empfiehlt es sich also, wenn irgend möglich, auf Spezialisten zurückzugreifen: auf Mediziner, die sich innerhalb ihres Fachgebiets überwiegend oder ausschließlich mit der Behandlung von Brustkrebs beschäftigen. Spezialisten ausfindig zu machen, die in ihrem Fachbereich eine hohe Anzahl an Fällen betreuen, trägt dazu bei, sich der bestmöglichen Behandlung zu versichern.
3. Wählen Sie während des gesamten Behandlungsverlaufs Ärzte aus, die Ihnen Entscheidungsfindungen erleichtern
Nach einer Brustkrebsdiagnose müssen Sie viele Entscheidungen treffen: Lumpektomie oder Mastektomie? Chemotherapie oder keine Chemotherapie? Welche weiteren Behandlungsformen sind angeraten? In Entscheidungen, die bei einer Brustkrebserkrankung zu treffen sind, fließen in besonders hohem Maße neben fachlichen auch persönliche Kriterien ein. Oft sage ich zu meinen Patientinnen: »Ich bin Expertin in der Behandlung von Brustkrebs, doch in allem, was Sie persönlich anbelangt, sind Sie die Expertin.« Da Brustkrebs eine Körperregion betrifft, die für jedermann wahrnehmbar und für das Selbstverständnis einer Frau oft von zentraler Bedeutung ist, steht bei der Behandlung viel auf dem Spiel. Die benötigten Informationen vom richtigen Spezialisten zu erhalten, beruhigt und stimmt optimistisch. Diese Gefühlslage bietet Ihnen die beste Basis, die richtigen Entscheidungen für den Behandlungsverlauf und für Ihre Zukunft zu treffen.
4. Denken Sie daran, dass eine Krebstherapie keine Notfallbehandlung ist
Es fällt schwer, sich von der Vorstellung zu lösen, dass ein bösartiger Tumor, minütlich, stündlich oder täglich wächst. Die meisten Frauen und deren Angehörige gehen nach einer Krebsdiagnose davon aus, dass Eile geboten ist. Es ist mehr als hilfreich zu wissen, dass das Wachstum von Krebsgeschwülsten anderen Gesetzen folgt: Auch ein Tumor, der urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheint, ist über Monate hinweg gewachsen. Mit einigen seltenen Ausnahmen ist eine Krebserkrankung also kein medizinischer Notfall. Es spricht nichts dagegen, nach der Diagnose erst einmal tief durchzuatmen und in Ruhe einen Behandlungsplan zu entwickeln. Wenden Sie sich nicht in Panik an den Arzt, der Ihnen als Erster einen Termin anbieten kann. Sie gehen kein Risiko ein, wenn Sie einige Tage oder Wochen warten, bis Sie mit den richtigen Ärzten in den richtigen Therapiezentren sprechen können.
5. Seien Sie sich stets bewusst, dass es keine Einheitslösungen gibt und kein Fall dem anderen gleicht
Die in Ihrem Fall richtigen Entscheidungen können Sie nur treffen, indem Sie die relevanten Fakten sammeln, diese mit einem Arzt besprechen, dem Sie vertrauen, und dann vor allem auf Ihre innere Stimme hören. Jede Brustkrebserkrankung ist individuell zu betrachten. Selbst bei zwei Frauen, die scheinbar die gleiche Diagnose erhalten haben, können sich die Fälle in Nuancen unterscheiden, die große Unterschiede in den Behandlungsmöglichkeiten oder -empfehlungen nach sich ziehen. Aufgrund dieser Tatsache sind die Rückschlüsse, die man aus einer Recherche im Internet, der Lektüre eines Fachartikels oder den Ratschlägen einer Freundin, die anscheinend »dasselbe Problem« hat, auf die eigene Situation ziehen kann, begrenzt. Bei Brustkrebserkrankungen kann man meiner Ansicht nach mit Sicherheit davon ausgehen, dass es keine Einheitslösungen gibt – tatsächlich variieren die Maßnahmen beträchtlich. Eine meiner Patientinnen, Jane, formulierte ihr Erleben nach der Brustkrebsdiagnose so: »Wenn mir noch einmal irgendjemand erklärt, was er tun würde, wenn er an meiner Stelle wäre, dann drehe ich durch! Niemand kann sich sicher sein, wie er sich verhalten würde, wenn er in meiner Situation steckte. Und selbst wenn er sich in derselben Situation befände, würde er anders empfinden als ich!« Dieses Buch wird Ihnen aufzeigen, wie Sie an die für Ihren konkreten Fall relevanten Informationen gelangen und damit die Möglichkeit erhalten, die richtige Behandlung einzuleiten.
6. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche und blenden Sie alle anderen Informationen aus
Diese Aufgabe erscheint angesichts der Vielzahl an verfügbaren Quellen nicht leicht. Die Erwartung, dass sich Krebspatienten gegen die Flut an auf sie einstürmenden Informationen und Ratschlägen gänzlich abschirmen können, ist unrealistisch. Dieses Buch eröffnet Ihnen jedoch einen Weg, trotz des Ansturms optimistisch zu bleiben und eine positive Grundhaltung zu bewahren. Zunächst einmal gilt es, einige Informationen an sich abprallen zu lassen, Fakten von Fiktion zu unterscheiden und sich mit den vielen Mythen vertraut zu machen, die sich um Krebserkrankungen ranken, um diese anschließend ausräumen zu können. Nach dieser Analyse bleibt eine begrenzte Anzahl an Fragen übrig, die zu klären für Sie persönlich relevant ist. Zusätzlich zu Ihrer eigenen Recherche stehen Ihnen gemäß der in diesem Buch erteilten Empfehlungen zuverlässige, vertrauenswürdige Spezialisten zur Seite, an die Sie sich mit Ihren Sorgen wenden können.
Es ist wichtig, sich die genannten Strategien in jeder Behandlungsphase zu vergegenwärtigen. Innerhalb dieses Buches werden sie immer wieder im jeweiligen Kontext aufgegriffen. Die ersten Kapitel beschäftigen sich mit Vorsorgeuntersuchungen, Diagnostik und Vorbeugung. Die anschließende Erläuterung der einzelnen Schritte, die Sie nach einer Brustkrebsdiagnose aller Wahrscheinlichkeit nach erwarten, beinhaltet eine Beschreibung der verschiedenen Tumorarten und der daraus resultierenden Konsequenzen für die Behandlung. Danach stelle ich Ihnen die verschiedenen Operationsmethoden, medikamentösen Behandlungen und Strahlentherapien vor, zu denen man Ihnen unter Umständen raten wird. Heutzutage besteht unter den Patientinnen auch ein großes Interesse an den Möglichkeiten der Teilhabe an Forschungsergebnissen, an den Auswirkungen des individuellen Lebensstils auf die Diagnose und Behandlung von Krebserkrankungen sowie an der Rolle, die ergänzende oder alternative Heilmethoden und Spiritualität während oder nach einer Therapie spielen. Einzelne Kapitel dieses Buches widmen sich diesen wichtigen Themen.
Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Auswirkungen einer Brustkrebsdiagnose auf die Familienmitglieder und deren Risiko, ebenfalls an Krebs zu erkranken, sowie mit den selten auftretenden Fällen von Brustkrebs bei Männern. Viele Frauen denken bereits unmittelbar nach der Diagnose und in den frühen Phasen der Behandlung über das Ende der Therapie hinaus. Dieses Buch wird Antworten darauf geben, welche Nachsorgeuntersuchungen stattfinden und was passiert, wenn die Erkrankung erneut auftritt. Im Anhang finden Sie ein Glossar, das die in den einzelnen Kapiteln auftauchenden Fachbegriffe erklärt, sowie einen Katalog mit häufig von Angehörigen und Freunden gestellten Fragen.
Innerhalb der einzelnen Kapitel werden unter den Überschriften WISSENSWERTES und WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN spezifische Aspekte genannt, die Ihnen entscheidende Impulse für Ihre Behandlung geben. Am Ende eines jeden Kapitels führt Ihnen eine Zusammenfassung noch einmal die wichtigsten Aussagen vor Augen.
Ich komme täglich mit Frauen in Kontakt, bei denen medizinische Untersuchungen erstmals die Diagnose Brustkrebs ergeben haben, und versuche, so viel wie möglich über sie zu erfahren, um sie in bestmöglicher Weise durch eine Zeit zu führen, die fraglos zu den anstrengendsten ihres Lebens gehört. Ich spiele für kurze Zeit für Menschen, denen ich eben erst begegnet bin und die ich kaum kenne, eine zentrale Rolle, indem ich sie dabei unterstütze, lebensverändernde Entscheidungen zu treffen. Bei Brustkrebs gibt es, wie gesagt, keine Einheitslösung und auch keine Überlebensgarantie. Immer noch sterben Frauen – zu viele Frauen – an dieser potenziell tödlich verlaufenden Krankheit. Viel zu oft gibt es kein Happy End, doch die Heilungschancen sind heutzutage besser denn je. In der überwiegenden Zahl der Fälle kann ich meinen Patientinnen die Botschaft überbringen, dass es bei Anwendung des richtigen Behandlungsansatzes berechtigt ist, optimistisch zu sein. Die heutige Medizin hat bei Ersterkrankungen sehr viel zu bieten. Dank der Forschung und moderner Technologien steht eine stetig wachsende Zahl an immer besseren Behandlungsmethoden zur Verfügung. Die Überlebensraten steigen, während gleichzeitig immer weniger auf operative Eingriffe gesetzt wird. Die stärkere Berücksichtigung von kosmetischen Aspekten führt zu exzellenten Ergebnissen. Zahlreiche hoch spezialisierte Kliniken bieten in allen Bereichen die besten Therapiemöglichkeiten an.
Um noch einmal auf Katherine zu sprechen zu kommen: Sie verließ nach unserem zweiten Gespräch gestärkt mein Büro und verbrachte in den darauffolgenden Tagen viel Zeit mit ihrer Familie. Am Tag der Operation betrat sie gefasst und unverzagt den Behandlungsraum. Sie lächelte mich an und sagte: »Legen wir los.«