Diesen Text habe ich im Jahr 2015 für das Buch „Sexuelle Liebe mit 50+ Tantra und energetische Liebe für erwachsene Menschen“ geschrieben. Er wurde damals vom Verlag mit der Begründung abgelehnt, er sei zu negativ, d.h. zu desillusionierend für die Leser. Was er beschreibt, ist eine Bestandsaufnahme der Erfahrungen mit Reich‘scher Körpertherapie und er räumt mit der Illusion auf, dass Wilhelm Reich einen therapeutischen Weg zur energetischen Gesundheit entwickelt hat.
Dieser Text ist außerdem als Kapitel im Buch von Jürgen Fischer
"ORGON - Die Lebensenergie" enthalten, das im Mai 2018 in Buchform
und als E-Book erschienen ist.
... hohe Energieladungen, die im Körper gespeichert sind,
lustvoll zu entladen. Das ist die zentrale Entdeckung Wilhelm
Reichs gewesen, als er in jungen Jahren zum Schüler Sigmund Freuds
geworden war.
Die körperliche Energie-Entladung im Orgasmus, die alle Menschen
subjektiv als lustvolle Sensation erleben, hatte Reich als erster
Arzt genauer nach vielfältigen unterschiedlichen Gesichtspunkten
erforscht: Was findet eigentlich physiologisch und seelisch beim
Orgasmus statt?
Im Idealfall erleben Menschen im Orgasmus, dass sich alle Muskeln
des Körpers nacheinander sanft zusammenziehen und wieder
entspannen. Damit wird die Energie jedes Muskels entladen. Dieser
Reflex läuft als eine weiche Welle über die gesamte
Muskulatur.
Jeder kann dies beobachten: Wenn man einer entspannten Katze sanft
über den Rücken streicht – vom Kopf den Rücken entlang – kann man
oft sehen, wie danach eine Muskelwelle vom Becken der Katze nach
oben zum Kopf läuft und eventuell auch wieder zurück. Das
Streicheln hat Energie auf die Katze übertragen. Die Katze erfährt
einen Energieüberschuss, der in dieser Muskelwelle wieder
entladen wird. Das geschieht unwillkürlich. Natürlich ist das kein
Orgasmus, es ist der Orgasmusreflex. Dieser Reflex ist nicht
zwingend an die sexuelle Funktion gebunden, auch nicht beim
Menschen.
Was die Sache für Menschen sehr kompliziert macht: die vollständige
ungebrochene Entladung in einer weichen Muskelwelle, die man bei
Katzen beobachten kann, können Menschen meist nicht erleben. Durch
traumatische Erfahrungen vom Baby bis zum Erwachsenen sind viele
Muskeln chronisch kontrahiert. Menschen haben vor Angst „den Atem
angehalten“, „den Bauch eingezogen“ oder ihnen ist das Weinen „im
Hals steckengeblieben“. Viele emotionelle Verletzungen haben dazu
geführt, dass chronisch kontrahierte Muskeln und Muskelgruppen den
Körper einschnüren wie feste Bandagen. Die Muskeln – und es handelt
sich in erster Linie um die unwillkürliche und unbewusste
vegetative Muskulatur – können nicht mehr vollständig entspannen,
und sie stehen daher nicht mehr für den Orgasmusreflex zur
Verfügung. Die Welle der lustvollen Entladung stoppt, wenn sie auf
derart kontrahierte Muskeln trifft.
Der Unterschied zwischen dem Orgasmusreflex bei der Katze und dem
bei den meisten Menschen ist offensichtlich. Während die Katze
recht cool dasitzt und die Welle völlig entspannt über ihren Körper
läuft, zucken und winden Menschen sich im Orgasmus, sie stöhnen und
verzerren ihr Gesicht. Der Körper versteift sich zunächst und aus
dieser starken Anspannung heraus läuft das Geschehen ab.
Ob die Katze diese Welle, die über ihre Muskulatur läuft, wohl als
lustvoll empfindet? Man kann das nicht wissen, aber erahnen, denn
Katzen sind in dieser Hinsicht völlig kompromisslos: Wenn eine
Erfahrung nicht lustvoll – also schmerzhaft oder störend – ist,
verlassen sie sofort den Ort des Geschehens. Katzen tun sich ein
schmerzhaftes Erlebnis gar nicht erst an, schon gar nicht in dieser
Intensität. In dieser Hinsicht könnten Menschen von Katzen noch
einiges lernen. Man kann also annehmen, dass Katzen den
Orgasmusreflex lustvoll erleben.
Die meisten Menschen erleben den Orgasmusreflex nicht so entspannt
wie eine Katze. Menschen „zucken“. Dieses Zucken – und das ist, was
fast alle Menschen im Orgasmus erleben, und was viele für äußerst
lustvoll halten – ist der Tatsache geschuldet, dass einzelne
Muskeln oder Muskelgruppen sich plötzlich zusammenziehen und andere
nicht, weil sie schon usammengekrampft sind. Bei der Katze ist der
weiche Verlauf des Orgasmusreflexes zu sehen. Jeder Muskel zieht
sich sanft zusammen und entspannt sich wieder. Das krampfartige
Zucken beim menschlichen Orgasmus ist der Tatsache zuzuschreiben,
dass der Reflex plötzlich und heftig einsetzt. Und damit ist die
Entspannung behindert, denn ein Muskel, der plötzlich kontrahiert,
kann sich nicht mehr so leicht entspannen wie ein Muskel, der sich
sanft und geschmeidig bewegt.
Du kannst das selbst ausprobieren: öffne deine Hand und stecke die Finger möglichst weit. Dann bilde in einer sanften Bewegung eine Faust. Öffne die Hand wieder ebenso sanft. Jetzt wiederhole denselben Bewegungsablauf in einer heftigen, zuckenden Bewegung. Du wirst wahrscheinlich dann einen leichten Schmerz in der Muskulatur spüren.
Beim Orgasmusreflex geht es jedoch um die unwillkürliche Muskulatur, die vom Menschen nicht bewusst gesteuert werden kann und die allein vom Vegetativum, also vom unbewussten Nervensystem, gesteuert wird. Es ist die Muskulatur der Atmung, der Verdauung und so weiter. In dieser Muskulatur werden traumatische Erfahrungen regelrecht gespeichert, festgehalten. Es sind Krämpfe, Muskelkrämpfe, also Spasmen, die genauso hartnäckig und unberechenbar sind wie Wadenkrämpfe, die jeder wohl schon leidvoll erlebt hat.
Wird ein solcher Muskel durch eine Zuckung plötzlich aktiviert, braucht er sehr lange, um sich wieder zu entspannen. Viele Muskeln bleiben auch chronisch verkrampft. Diese Muskeln bilden somit „muskuläre Blockaden“. Sie können sich im Orgasmusreflex nicht zusammenziehen und entspannen und das bedeutet, dass die Welle hier endet und gebrochen wird. Wilhelm Reich hat festgestellt, dass diese muskulären Blockaden, die sich ringförmig vom Scheitel bis zum Becken über den ganzen Körper erstrecken, die unbewältigten traumatischen Erfahrungen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter im Sinne des Wortes „festhalten“: physisch als Krampf, Steifheit oder Schlaffheit, emotionell als Angst, Lustlosigkeit, Teilnahmslosigkeit und so weiter und geistig als irrationale Vorstellungen, als Ideologie, als Moral oder als irgendeine mentale Rationalisierung dafür, das sinnlose Leid zu rechtfertigen.
In der Sexualität wird der Orgasmusreflex meistens im Becken von den Genitalien ausgelöst und läuft, wenn er nicht behindert wird, bis zum Scheitel hoch und wieder zurück. Das geschieht ohne Zuckungen, ohne wilde Verrenkungen, ohne Geschrei und es ist eine sanfte, entspannte, gleitende, überaus lustvolle Erfahrung. Die Erfahrung jedoch, die die meisten Menschen als Orgasmus erleben, ist etwas anderes: Der Orgasmusreflex endet mit heftigen Zuckungen bereits in der Bauchmuskulatur oder im Zwerchfell oder auch in der Halsmuskulatur. Meist verkrampfen Menschen sich zusätzlich in der vororgastischen Phase, denn um den Orgasmus auslösen zu können, werden viele Muskeln extrem angespannt, um überhaupt die nötige Spannung aufzubauen und dann in den „Genuss“ des Orgasmus kommen zu können. Diesen Menschen mag es sehr eigenartig vorkommen, dass es eine lustvolle orgastische Erfahrung geben kann, ohne sich zuvor „bretthart“ machen zu müssen.
Die Blockaden, also die chronischen Krämpfe, schlucken den gesamten Reflex, und je weniger vom Orgasmusreflex von Muskel zu Muskel weitergegeben wird, desto heftiger sind die Zuckungen. Sie werden sogar in das Becken zurück reflektiert, so dass der Bauch eventuell zehn oder zwanzig mal zuckt, während der Rest des Körpers am Orgasmus weitgehend unbeteiligt bleibt.
Diesen durch Blockaden nur bruchstückhaft erfahrenen Orgasmus nannte Reich den „orgastisch impotenten Orgasmus“. Als Arzt und Psychoanalytiker verstand Reich, dass die eingeschränkte Orgasmusfähigkeit das Kernstück der „normalen Neurose“ darstellt und er ging – ganz Mediziner, der Krankheiten kurieren will – davon aus, dass es möglich sein muss, die ursprüngliche, von der Natur vorgesehene, lebendige Funktion des vollständigen Orgasmusreflexes wieder herzustellen und damit auch das gesunde körperliche, emotionelle und geistige Funktionieren des gesamten Menschen: die orgastische Potenz.
„