Hannah Dübgen
Über Land
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman ›Strom‹, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry (Frankreich), erschien 2013 bei dtv.
Mehr über Hannah Dübgen: www.dtv.de/duebgen
Berlin, im Frühling 2013. Ein Fahrradunfall führt sie zusammen: Clara, eine junge Ärztin, und Amal, eine Studentin, die aus dem Irak geflohen ist und in Deutschland auf Asyl hofft. Die impulsive Amal und Clara kommen einander näher, gerade als Claras Freund Tarun, ein in Berlin lebender Architekt, zum ersten Mal seit Jahren mit seiner Geburtsstadt, dem indischen Kolkata, konfrontiert wird: Tarun soll unweit des Ortes, an dem er in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, ein Bauprojekt leiten. Als Amals Großmutter unerwartet stirbt, beschließt Clara spontan, an Amals Stelle nach Bagdad zu Rauya, Amals Mutter, zu fliegen. Bei ihrer Ankunft in Bagdad weiß Clara noch nicht, dass sich Amals, Taruns und auch ihr Leben entscheidend verändert hat. Hannah Dübgen erzählt spannend von einer ungewöhnlichen Freundschaft, der Suche nach Wahrhaftigkeit und dem Leben in der Fremde.
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2016
Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Elise Ortiou Campion
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eBook-Herstellung im Verlag (02)
eBook ISBN 978-3-423-43081-4 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14643-2
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ISBN (epub) 9783423430814
Das Leben besteht aus zwei Teilen:
der Vergangenheit – ein Traum.
Und der Zukunft – ein Wunsch.
Arabisches Sprichwort
Die Beine rennen einfach weiter, als gehörten sie nicht ihr, gejagt von den Schlägen im Brustkorb und ihrem keuchenden Atem. Amal sieht einen Pfosten vor sich auf dem Gehsteig, sie greift nach ihm, schwingt ihren Körper um das geriffelte Eisen, und endlich – gehorchen die Füße. Stillstand. Erschöpft legt Amal ihre Stirn auf den Pfosten, kalte, trockene Luft sticht in ihren Bronchien, kratzt wie der Staub in einem Sandsturm. Sie zwingt sich, langsamer zu atmen, schließt dazu den Mund und die Augen, folgt konzentriert ihren Atemzügen und beginnt, sie so zu steuern. Seinen Atem kontrollieren heißt, sich im Griff zu haben. Heißt, die Welt wieder klar zu sehen: die stille Straße vor ihr. Die ordentlich geparkten Autos, aufgereiht am Straßenrand wie bunte Steine auf einer Kette. Weiter hinten, an der Kreuzung, eine Bushaltestelle, wahrscheinlich mit einer Karte der Gegend. Einer Karte, die ihr den Weg weisen wird, zurück.
Amal seufzt, stößt sich aus der Hüfte heraus von dem Pfosten ab und reibt sich die Stirn mit dem Ärmel ihrer viel zu großen Regenjacke trocken. Dann nimmt sie die Haarsträhne, die sich beim Laufen gelöst hat, zwirbelt sie und rollt sie dreimal fest um ihren Haarknoten, bevor sie die Haarspitzen unter der Spange feststeckt. Hinein ins Nest, wie Großmutter sagt. Ischtars gezwirbelter Haarknoten. Hält den ganzen Tag, Amal. Einen Tag lang im Garten. In der Universität. Der Knoten hält sogar im Gedränge vor den Straßenkontrollen. Nur für hektisches Davonlaufen ist Ischtars Nest nicht gemacht.
Sie starrt noch immer auf die leere Straße, der Entflohenen hinterher. Als käme die gleich zurück und erklärte ihr, was genau geschehen ist, warum der Rucksack nicht im Fahrradkorb, sondern auf dem Pflaster liegt und Clara, das Fahrrad zwischen den Beinen, mitten auf der Fahrbahn steht. Zitternd, als wäre sie angefahren worden und nicht die junge Frau. Die vielleicht noch gar keine Frau, ein Mädchen ist, genau war das nicht zu erkennen, als die Frau, das Mädchen neben ihr auf dem Boden gelegen hat, dann hastig aufgesprungen und weggerannt ist. Sie lief schnell und wendig und doch mit ungewöhnlich ausladenden Bewegungen, ob diese Art zu rennen mit ihren Schuhen zusammenhängt, hat Clara noch überlegt, hohe, enge Schnürstiefel, die so gar nicht zur Kleidung passten, zu der weiten Stoffhose und der Regenjacke, die das Mädchen umflatterte wie ein Fallschirm.
Clara blickt an sich hinunter, entdeckt am Saum ihrer Jeans den Abdruck einer Profilsohle und auf dem Schutzblech ihres Fahrrads etwas Dunkles, sie schaut genauer hin, es sind mehrere Stofffasern. Eine Spur, denkt Clara unwillkürlich, Fetzen von ihrer Kleidung, wahrscheinlich der Hose. Als sie die Fasern in die Hand nimmt, spürt sie, dass sie klebrig, blutig sind. Die geflohene Frau ist also verwundet. Schwer, braucht sie Hilfe? Als sie davonrannte, war von einer Wunde nichts zu sehen, und auch auf der Straße ist nirgendwo Blut. Clara greift sich ins Haar und hält sich an ihren kurzen Locken fest. Hätte sich die junge Frau schwerer verletzt, sich den Fuß gebrochen oder beim Aufprall auf dem Pflaster ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, wäre sie nicht so schnell entkommen, das ist sicher. Dafür waren ihre Reaktionen zu prompt und zu präzise. Sicher ist aber auch, denkt Clara weiter, dass ihre Flucht derart panisch war, dass leichte Schmerzen im Bein oder dem Ellenbogen sie nicht aufgehalten hätten. So wie die Rufe sie nicht aufgehalten haben, an die sich Clara jetzt erinnert: Sie hat der Flüchtenden nachgerufen, mehrfach, mindestens zwei Mal, »Hej!«, und dabei das Gefühl gehabt, ihre Rufe prallten an dem Rücken der Rennenden ab wie an einer Mauer.
Die Straße, auf der sich das alles zugetragen hat, liegt noch immer leer und still in der Vormittagssonne. Eine Ruhe, die Clara misstrauisch macht; gäbe es die Stofffasern nicht, könnte man meinen, sie wäre schlicht einen Augenblick lang unachtsam gewesen, hätte sich, wie öfters nach dem Nachtdienst, in ihren Gedanken, einer Träumerei verfangen … Doch es gibt die Fasern, blutverschmiert kleben sie aneinander. Vorsichtig legt Clara die Fasern auf ein Taschentuch, faltet das Taschentuch zusammen und steckt es in ihr Portemonnaie, neben die Münzen.
Straßen, so leer, als gäbe es seit Wochen kein Benzin mehr. Gehsteige, verwaist wie bei einem Bombenalarm. Doch bei genauerem Hinsehen stimmt das nicht, denn bei einem Alarm wären Spuren des hektischen Aufbruchs sichtbar, eingedrückte Früchte auf dem Pflaster, ein Fußball im Rinnstein und offene Türen, hinter denen verschreckte Katzen hervorlugen … Hier, auf diesen Straßen, ist jedoch alles aufgeräumt, an seinem Platz. Auf den Autos Schmutz von höchstens ein paar Tagen, die Türen und Fenster verschlossen. Eine Sorgfalt, die von Leben zeugt, einem geordneten Leben, und von ruhigem Schlaf. Hier schlafen einfach alle noch, murmelt Amal und versucht ein Lächeln, das jedoch beim Auftreten ihres linken Fußes verkrampft. Das Ziehen in ihrem Knie, dem mit der Schürfwunde, ist auf den letzten Metern stärker geworden, es ist immer noch kein höllischer Schmerz, aber unangenehm genug, um nicht einfach übergangen werden zu können. Amal schaut sich um, sucht nach einer Sitzgelegenheit, einer Bank am Wegrand, einem Café oder ein paar Stühlen vor einem geöffneten Kiosk, doch nichts davon scheint es hier, zwischen den hinter Rasenflächen und Büschen zurückgesetzten Häusern zu geben. Inmitten dieses saftigen Grüns, das im hellen Frühlingslicht geradezu übernatürlich leuchtet; gut genährt vom Regen glänzen und funkeln die Blätter, zwinkern einem zu. Magische Natur zwischen dem kalten Weiß der Hauswände und dem Einheitsgrau der Gehsteige. Amal hebt den Kopf in den Nacken und blinzelt, sie mag das überaus klare, scharfe Schatten werfende Frühjahrslicht hier in Deutschland, solange es auf Blätter, Halme oder ihre Haut fällt, auf lebendige Materie, nicht auf die glatten Fassaden oder den stumpfen, graubraunen Beton, der die Häuserblocks um das Heim herum dominiert. Dieses Graubraun, eine Unfarbe, ein »Rest aus alten Tagen«, hatte der Heimleiter erklärt, »als es bei uns noch keine Freiheit und so gut wie keine Flüchtlinge gab«.
Das Ziehen in ihrem Knie wird stärker, doch Amal will sich ihm nicht beugen, sie ballt beim Laufen wütend ihre Hände zu Fäusten. Warum ist sie überhaupt heute, an einem Sonntag, aus dem graubraunen Beton in Brandenburg hinaus, nach Berlin gefahren? Ziellos, einfach so in die Stadt hinein, nicht, um Arbeit zu suchen oder aus der Ferne den Trödelmarkt zu beobachten, von dem es heißt, dort träfen sich die Araber. War das nötig? War das klug? Ist es nicht widersinnig, erst sein Leben zu riskieren, um der Gefahr zu entkommen, und sich dann derart leichtfertig in Gefahr zu begeben? Amal bleibt stehen, blickt sich um und pfeift verächtlich durch die Zähne: Was heißt hier Gefahr! Um auf diesen Straßen in einen Unfall verwickelt zu werden, braucht es geradezu Talent. Wahrscheinlich hat die Stille sie verstört, leichtsinnig gemacht, sie ist so viel Ruhe in einer Großstadt einfach nicht gewohnt, sie, a kid of the red zone! Die Straßen ihres Viertels in Bagdad galten schon vor zehn Jahren als gefährlich, Großmutters Garten, a potential death-trap, haben die Amerikaner gewarnt, als sie sahen, dass Ischtars Garten direkt an die Rückwand der alten Moschee angrenzt. Aber was heißt das schon, denkt Amal und beschleunigt ihre Schritte: Wer bestimmt, was gefährlich ist, wer sagt, dass es die Gärten oder offenen Straßen sind, zeigt Vaters Schicksal nicht, dass die größte Gefahr nicht im Freien liegt, sondern in geschlossenen, lange vertrauten Räumen?
Die Straße vor ihr gabelt sich, Amal muss sich entscheiden, wählt links. Eins ist vor allem wichtig, denkt sie beim Weiterlaufen, in Bewegung bleiben, wachsam sein und niemandem leichtfertig vertrauen. Lächerlich, das Loch in der Hose. Lächerlich, die kleine Wunde und das Ziehen im Knie, kein Vergleich zu den Schmerzen in ihrem Rücken, im Kopf, als sie sich nachts im Fieber auf dem Waldboden wälzte … Amal sieht auf und hält ihr Gesicht jetzt direkt in die Sonne: in Bewegung bleiben, im Rhythmus und im Licht. Alles Leben vergeht ohne Licht. Ischtars Worte. Zeigen, was zählt. Die Nächte auf dem Waldboden, auf der schimmelnden Matratze im Knast – welchen Sinn hätten sie gehabt, wenn sie nicht einmal hier herumläuft, wie und weil es ihr gefällt! Amal rennt jetzt fast, der Sonne entgegen, die Straße vor ihr macht eine Kurve und mündet schließlich in eine breite, befahrene Allee.
Ihr Impuls, immer wieder auf die Internetseite mit den Verkehrsregeln zurückzukehren, führt Clara vor Augen, dass sie nicht zur Ruhe kommt. Obwohl sie bereits vor über einer Stunde erfahren hat, was sie wissen wollte: Der Zusammenstoß heute Morgen ist nicht ihre Schuld gewesen. Denn auch Fußgänger sind angehalten, eine Fahrbahn »unter Beachtung des Straßenverkehrs« zu überqueren, und das Hervorspringen zwischen parkenden Autos heraus auf die Fahrbahn ist sogar ausdrücklich zu vermeiden. Clara schließt das Fenster auf dem Bildschirm. So weit die Rechtslage. An ihrem schlechten Gefühl ändert die jedoch nichts. Was, wenn die junge Frau die Vorschriften nicht kannte? Obwohl sie sie kennen müsste, aber was bedeutet das schon, wenn die Frau hier fremd ist und sie sich in dem ruhigen Wohngebiet auf die Umsicht der anderen verlassen hat? Geht es hier denn nur um Schuld oder auch um Vorsicht, um genau jene Vorsicht, denkt Clara, die sie selbst doch oft beim Anblick ihrer Patienten einfordert … In der Notaufnahme sieht sie täglich Menschen nach einem Unfall vor sich auf der Trage, Patienten mit leichten Prellungen, komplizierten Knochenbrüchen oder lebensgefährlichen Blutungen. Und wie oft fragt sie sich, wenn im Bericht die Wörter »angefahren« oder »zu Boden gerissen« stehen: War das nicht vermeidbar? Wer Schuld an dem Unfall hatte beziehungsweise ob ein Schuldiger auszumachen war, steht in den Berichten der Rettungssanitäter nicht, oder nur dann, wenn es für den Zustand des Patienten unmittelbar von Bedeutung ist: »wurde überrascht«, oder: »schlitterte wegen technischen Defekts frontal …«. In den meisten Fällen aber sieht sie nur das Resultat und fragt sich zuweilen nach dem Zunähen, oder während sie Jörg, ihrem Chef, bei schwierigen Operationen assistiert, was es gebraucht hätte, um den gequetschten Brustkorb oder das künstliche Koma zu vermeiden. Glück? Anderes Wetter? Oder mehr Vorsicht bei allen Beteiligten? Clara beißt sich auf die Unterlippe: bei allen Beteiligten … Denn auch wenn die junge Frau heute Morgen offensichtlich nicht vorsichtig um sich geschaut hat, bevor sie zwischen den geparkten Autos heraus auf die Straße lief – hätte sie selbst den Zusammenstoß dennoch verhindern können, wenn sie anders reagiert hätte? Langsamer gefahren wäre? Wie schnell ist sie denn gefahren, überlegt Clara und merkt, wie schwer sie diese Frage beantworten kann. Sie ist nicht gerast, das ist sicher, kann aber auch nicht genau sagen, wie schnell sie im Moment des Zusammenpralls gewesen ist oder wo ihre Gedanken waren. Ihre Erinnerung ist lückenhaft. Unverlässlich. Und das ärgert sie.
Zumal die junge Frau, je länger Clara über den Vorfall nachdenkt, wirklich nicht so wirkte, als kenne sie sich in der Gegend aus. Dafür schaute sie beim Davonlaufen zu oft hektisch um sich. Wie eine Touristin wirkte sie in ihrer Panik aber auch nicht. Clara schließt die Augen und versucht, die Frau so deutlich wie möglich vor sich zu sehen: Ihr dichtes, schwarzes Haar, das schon dabei war, sich aus dem Knoten am Hinterkopf zu lösen, ihr Teint, den Clara zwar nur flüchtig, selbst noch benommen, mehr mit den Augen gestreift als wirklich gesehen hat – war er nicht eine Spur dunkler, gebräunter als das deutsche Durchschnittsblass? Und das Haar ein wenig kraus? Wahrscheinlich. Eindeutig und scharf ist das Bild vor ihrem inneren Auge nur, wenn es um den Rücken der Frau geht, um ihre schlecht sitzende, wie zusammengewürfelt wirkende Kleidung, ihre hohen Schnürstiefel und ihre ausladende Art zu rennen, aus der geschlossen werden kann, dass die junge Frau vermutlich keine geübte Läuferin ist, aber eine gute Kondition hat. Dass sie, wenn es darauf ankommt, schnell und effizient die Flucht ergreifen kann. Nur warum, vor wem rannte sie so panisch davon?
Es klopft. Tarun öffnet zum zweiten – oder bereits dritten? – Mal die Tür und erkundigt sich vorsichtig, ob Clara vielleicht jetzt Hunger habe? Statt einer Antwort steht Clara auf, geht auf Tarun zu und streckt die Arme aus, während sie ihn fragt: »Und du?« Tarun zieht stumm die Wangen ein, reißt die Augen auf und hält sich den Bauch. Clara muss lachen, derart »eingesogen« wirkt Tarun noch größer als sonst, sie küsst seinen in der Grimasse spitzen Mund, und sie verlassen das Zimmer.
Als Tarun das duftende Lammcurry und den Reis auf ihren Tellern verteilt, ist ihm die Vorfreude anzusehen. Sonntagabend, der einzige Tag in der Woche, an dem Tarun kocht, da man zum Kochen, wie er sagt, »Zeit, Musik und Muße braucht«. Musik heißt bei ihm meist eine der Bands, denen Tarun »lebenslange Treue« geschworen hat: Portishead, Krosswindz und, seitdem er in Deutschland lebt, auch Rammstein; wohingegen Zeit bedeutet, dass das Lammfleisch bereits seit heute Vormittag in seiner Marinade immer aromatischer geworden ist. Clara schenkt den Rotwein ein. Ihre Gläser berühren einander kurz und klirrend, und sie lächeln sich an, anstatt etwas zu sagen. Es folgt das Klappern des Bestecks, ein stummes, genussvolles Kauen. Clara streift sich die Hausschuhe von den Füßen und legt ihre Zehen auf Taruns Füße, die wippen zweimal, wie immer. Nach einer Weile beginnt Tarun zu erzählen, berichtet, er habe am Nachmittag lange mit dem Bauleiter vor Ort in Haora telefoniert.
»Heute, am Sonntag?«, fragt Clara nach.
Tarun nickt: »Wir haben über das Fundament gesprochen. In ungefähr zwei Monaten beginnt der Monsun, bis dahin muss das gesamte Fundament fertig ausgehärtet sein.«
»Ich verstehe«, antwortet Clara, sie greift nach ihrer Gabel, isst weiter und sieht dabei, was Tarun beschreibt, vor ihrem inneren Auge: große Stahlgitter, die waagerecht in die Schalung im Boden gesetzt werden, über Rohre in die Schalung einfließender Beton und daneben Messgeräte, für die Kontrollen. Ein rundes Fundament für ein, wie Clara weiß, rundes, sechsgeschossiges Gebäude, für den »Turm«, mit dem die wachsende Millionenstadt Haora, die Nachbarstadt Kolkatas, versucht, für die vom Land kommenden Arbeiter einen Ort zu schaffen, der etwas anderes ist als die Hütten aus Palmblättern und Plastikplanen entlang der Bahngleise oder im Schatten der Industrieanlagen. Die Industriekonzerne selbst bauen zurzeit in Absprache mit der Stadt Wohnblocks für zehntausend Arbeiter und ihre Familien, und das Berliner Architekturbüro, in dem Tarun arbeitet, wurde von der Stadt Haora und der Landesregierung ausgewählt, um neben den neuen Wohnungen seinen Entwurf eines »Ortes zum Durchatmen« zu bauen, einen »Ort zum Durchatmen« in dem Sinne, dass die Luft in dem Turm besser sein soll als auf den befahrenen Straßen und in den Fabrikhallen, ein Ort zum Durchatmen aber auch in der Hinsicht, dass die neuen Stadtbewohner in den Etagen des Turms verweilen, essen, lesen, meditieren oder Sport treiben können.
»Schon bei der Herstellung des Fundaments müssen wichtige Entscheidungen, was die Verlegung der Rohre, die Lüftungs- und Sanitäranlagen und die Elektronik im gesamten Gebäude betrifft, gefällt sein«, erklärt Tarun, »ein übersehenes Detail in der Planung oder ein Fehler beim Legen der Rohre kann später langwierige, kostspielige Folgen haben«, Tarun runzelt die Stirn, »was die Sache einigermaßen komplex macht, wenn der fertige Bau Dinge wie Wasserläufe in den Gängen und kleine Springbrunnen zur Reinigung der Luft enthalten soll, wenn noch nicht bekannt ist, wer die Restauration im zweiten Stock betreiben wird und die vor Ort geltenden Bauvorschriften vieles anders, nicht so klar und detailliert definieren, wie wir es in Europa gewöhnt sind.« Tarun lacht auf und wird gleich wieder ernst: »Schon allein, um sicher zu sein, dass nichts Wichtiges übersehen oder vergessen wurde, ist eine ständige Prüfung des Fundaments so wichtig.«
»Selbst kannst du die Details im Fundament von hier aus aber nicht prüfen, oder?«, fragt Clara und greift nach der Schüssel mit dem Reis.
»Nur bedingt«, erwidert Tarun. »Ich kann anhand der Messwerte und der Bilder, die der Bauleiter mir schickt, erkennen, wie weit wir sind, und mir manche Sachen anschauen, bevor sie später ummauert werden.«
Clara nickt. In den fast zweieinhalb Jahren, die sie Tarun seit dem Silvestermorgen 2010 kennt, ist dieses Projekt das erste, das Tarun von Anfang an mitgeplant und betreut hat, das Projekt, bei dem er nicht, wie bei dem Bahnhof in Schweden oder den Bauten hier in Berlin, dazugestoßen ist, sich integriert und »geholfen« hat, nein: »der Turm«, wie Tarun den Bau im Werden gerne nennt, ist das Projekt, bei dem er, der Inder in einem Büro voller Deutscher und Engländer, er, der seine Kindheit und Schulzeit selbst in Kolkata verbracht hat, von der ersten Zeichnung an federführend gewesen ist; das Projekt, bei dem Tarun auf die Idee mit dem Rundbau, den Wasserläufen und den einander umschlingenden Treppen im Gebäudeinneren gekommen ist.
»Das, was mich als Student beim Analysieren von Bauzeichnungen so fasziniert hat, ist auch die größte Herausforderung beim Bauen«, sagt Tarun und lächelt: »Alles hängt mit allem zusammen, das am Ende Sichtbare mit dem Unsichtbaren, die Sporthallen mit den Entlüftungsschächten, die Wasserbecken für die Kinder mit dem Rohrsystem im Boden, und selbst der leere Saal oben unter dem Dach braucht funktionierende Klimaanlagen und genügend Stromleitungen.« Tarun beugt sich vor, zu Clara: »Ich habe in den letzten Tagen öfters an meinen ersten Professor in London gedacht, der einmal zu uns gesagt hat: ›Ein guter Architekt muss in der Lage sein, von jedem Punkt des Fundaments aus hochzublicken und alles über ihm, jeden Boden, jedes Rohr und jede Isolierfolie, jedes Detail bis zum Dach in Maß und Material genau benennen können.‹«
Eine interessante Forderung, findet Clara, ein Gebäude mit Wissen zu sezieren. Sie legt ihr Besteck auf den Teller, beugt sich ebenfalls vor und fragt schmunzelnd: »Gilt das auch für Mediziner? Sollte auch ich einen Menschen an jedem Punkt seines Körpers von der Haut durch das Aderngeflecht, an den Knochen und der Fettschicht vorbei bis zu den Organen nicht nur mit dem Skalpell und der Schere sezieren können, sondern die verschiedenen Schichten auch aus dem Kopf heraus ›in Maß und Material‹ benennen können? Individuelle Unterschiede in der Dicke der Fettschicht und der Größe der Leber dabei mitgedacht?«
Tarun legt den Kopf zur Seite und fragt: »Und wenn ja, könntest du es?«
Clara denkt ernsthaft über die Frage nach. »Ja«, sagt sie dann und fügt hinzu: »Ich denke, in meinem Beruf ist das Pflicht, sozusagen die Basis von allem.«
Worauf Tarun seine Hand ausstreckt, ihre Hand in seine, wie immer warme, Hand nimmt und über Claras Finger streicht. »Dabei ist Ihr taktiles Gespür, Frau Doktor, nicht zu unterschätzen, führt es Sie doch durchaus zu neuen Kenntnissen über ganz bestimmte Knochen und Lenden …«, sagt Tarun schmunzelnd.
Clara weiß, worauf er anspielt, auf den Moment, an dem sie zum ersten Mal ihre Hände auf Taruns behaarten, muskulösen Brustkorb legte, angeblich für eine »Untersuchung«, die jedoch vor Taruns Bett stattfand.
»Über Knochen und Lende«, erwidert Clara, lächelt und umschließt mit ihren Fingern seine. Einen Moment lang verharren sie so, schweigen, denken wahrscheinlich beide an die Nacht, in der Clara mit ihren Händen über Taruns leicht glänzende, bernsteinfarbene Haut fuhr, seine Muskeln und Knochen berührte und benannte, bis Tarun die Untersuchung unterbrach, indem er in ihr Haar griff und mit ihren Locken spielte, ihren weißblonden, leichten Locken, die Clara früher in der Schule den Spitznamen »Albina« eingebracht hatten. »Weich wie Flaum« sei ihr Haar, flüsterte Tarun und rückte seine Lippen näher an ihren Kopf, während seine Hand ihr Haar sacht zusammenstob, »wie Kaschmirwolle«, murmelte Tarun und begann, sie zu küssen, erst auf ihr Haar, die Stirn und ihre Augenlider, dann überall, er küsste jeden Winkel ihres Körpers, so zart, dass Clara einmal sogar die Kraft seines Körpers vergaß und unter Taruns Gewicht kurz keine Luft mehr bekam – sie machte sich durch Klopfzeichen auf seinen Rücken bemerkbar, was sie beide laut auflachen ließ. Weich und aufmerksam waren seine Lippen, und dabei so begehrend, dass Clara am Ende der Nacht wusste: Tarun fand ihre Haut, ihr Haar, all das Helle, fast Bleiche, Leichte, das Hochgewachsene an ihr, das von ihrer Großmutter stammt und sich in ihrer Familie bei niemandem sonst niedergeschlagen hat, all das fand Tarun nicht nur faszinierend, sondern schön, und, mehr noch: weiblich.
»Und du?«, fragt Clara, noch immer lächelnd, »wie sieht es mit deinen Obduktionskünsten aus: Könntest du den Turm einmal von unten bis oben im Querschnitt auswendig sezieren?«
Tarun löst seine Hand aus ihrer, lehnt sich zurück, und sein Gesichtsausdruck wird seriös. »Ich denke schon«, erklärt er ruhig, und Clara weiß, dass bei Tarun ein »Ich denke schon« bedeutet: Ja, das kann ich.
»Ich sollte mich nur regelmäßig daran erinnern, dass es auch wirklich so ist«, fügt Tarun hinzu und hebt sein Messer schrittweise nach oben: »Vom Fundament über den Steinfußboden im Erdgeschoss weiter hoch zu den Rohren für die Wasserbecken, weiter zu den Etagen mit den strapazierfähigen Böden und den Geruchsabzugshauben unter der Decke, immer weiter, an den Wandregalen vorbei, bis zu dem großen, runden ›Saal der Stille‹, ganz oben, unter dem holzvertäfelten Kuppeldach.« Wie immer, wenn Tarun von dem ›Saal der Stille‹ unterm Dach, seiner Lieblingsetage spricht, verändert sich seine Stimme, sie wird ruhiger und sein Atem tiefer, als befände sich Tarun bereits in dem weiten, leeren Saal, unter der mit indischem Teakholz vertäfelten Kuppeldecke.
»Dieser Saal sollte, wenn es irgendwie geht, Tag und Nacht geöffnet sein«, hat Tarun schon mehrfach gesagt und sagt es auch jetzt wieder, wissend, dass er darauf keinen Einfluss haben wird. Dafür weiß Tarun offenbar ganz genau, welches Bedürfnis der Raum unter dem Dach erfüllen soll, eine Sehnsucht nach Stille in der lärmenden, gedrängten Stadt, nach einer Ruhe sechs Stockwerke über den Straßen und den Zügen, über dem Fluss Hugli und der Brücke, die von Haora hinüber nach Kolkata, in Taruns Geburtsstadt führt. Jene Brücke, die Tarun und sie während ihres Besuches in Kolkata bei Tagesanbruch überquert haben.
»Clara?«
Tarun tippt gegen die Weinflasche, er hat gerade gefragt, ob sie noch Rotwein wolle. Clara nickt hastig, hebt ihr Glas, und Tarun, der ihre kurze Unaufmerksamkeit als ein Zeichen beginnender Ermüdung deutet, fragt, nachdem er ihr nachgeschenkt hat, wie es letzte Nacht bei ihr im Krankenhaus gewesen ist.
»War es anstrengend? Hattet ihr wieder junge Tänzer mit Krämpfen in den Waden und geweiteten Pupillen in der Notaufnahme?«
Clara schüttelt den Kopf.
»Schwere Schnittverletzungen, entstanden im Vollrausch?«, fragt Tarun weiter.
»Eine«, antwortet Clara und ergänzt: »Es war eine eher ruhige Schicht. Im Krankenhaus.« Da ist sie wieder, die unbekannte Frau, und rennt in ihrem ungewöhnlichen Laufschritt vor Claras innerem Auge davon.
Tarun schweigt, und Clara zögert: Soll sie ihm von dem Vorfall heute Vormittag erzählen? Warum zögert sie überhaupt, legt nicht, wie sonst, einfach los? Was hält sie zurück, fragt sich Clara und ahnt doch bereits die Antwort. Dass ihr der Unfall heute Morgen auf gewisse Art unangenehm ist, ist sicher ein Grund, aber nicht entscheidend. Sie glaubt, im Gegensatz zu ihrer Mutter, einfach nicht, dass Reden grundsätzlich immer sinnvoll ist und zu mehr Klarheit führt; ob es Sinn macht, über etwas zu sprechen, hängt ganz von der Situation ab. Und würde sie jetzt Tarun von dem Zusammenstoß heute Morgen erzählen, wäre ihre Schilderung von so vielen grauen Stellen durchsetzt: wie genau es passiert ist, wo sich die Frau verletzt hat, warum sie so panisch weggelaufen ist, dass es geradezu unmöglich wäre, daraus ein verständliches Ganzes zu machen. Sie kennt sich doch, sie würde nur unruhig, wütend werden, sich über ihre Halbsätze, ihre eigene Unzulänglichkeit ärgern, nein, da wartet sie lieber, bis sie klarer sieht, genauer weiß, warum die Unbekannte geflohen ist und wie es ihr jetzt geht. Tarun beginnt, von Peer, seinem Joggingpartner, zu sprechen, der sie für morgen Abend zum Essen eingeladen hat, und Clara ist froh, das Thema so wechseln zu können.
Später, kurz vor dem Einschlafen jedoch, als sie bereits im Bett liegt und das Licht ausgeschaltet ist, merkt Clara, dass sie das Bild der fliehenden Frau nicht loslässt. Schlagartig ist ihre Unruhe vom Nachmittag wieder da, und sie fragt sich, wie ihre Gedanken vorhin beim Abendessen zu verstehen sind: Was meinte sie damit, dass sie warten will, bis sie genauer weiß, was geschehen ist und wie es der Frau jetzt geht? Will sie, muss sie die Unbekannte aufspüren? Aber wie soll das gelingen, wenn sie nicht einmal ihren Namen kennt, nicht weiß, wo sie wohnt, warum sie heute Morgen in dem Villenviertel gewesen ist und, vor allem, vor was die junge Frau solche Angst gehabt hat. Wegen des Unfalls belangt zu werden? Vor der Polizei aussagen zu müssen? Wollte sie das unbedingt vermeiden, weil sie bereits wegen eines Vergehens gesucht wird? Weil sie keinen Ausweis bei sich hatte? Oder weil die junge Frau hier in Deutschland nicht registriert ist, offiziell gar nicht sein durfte, wo sie heute Morgen war? Die Schnürstiefel, denkt Clara plötzlich, diese Stiefel, mit denen man wandern, Berge überqueren kann, warum trug sie die hier, in der Großstadt – weil es ihre einzigen Schuhe sind? Und wo stehen die Stiefel jetzt, kurz vor Mitternacht, im Flur einer kleinen, überfüllten Wohnung? Hat die junge Frau überhaupt eine Wohnung, ein Zuhause? Ist sie eine Wanderin, übernachtet mal hier, mal da, auf einem Sofa bei Freunden, Bekannten oder weniger Bekannten … Ein Obdachlosenheim schließt Clara aus, schüttelt sogar energisch den Kopf: Ihre Kleidung wirkte zusammengewürfelt, ja, vielleicht auch ärmlich, ihre Energie und panische Entschlossenheit glichen aber keineswegs den meist schwachen, ausgezehrten Obdachlosen, die Clara im Krankenhaus versorgt. Clara schließt die Augen, und ihr treten Bilder vor Augen, Bilder von Patienten mit halb geöffneten, glasigen Augen, mit verlausten Haaren und geschwollenen Füßen, mit Füßen, auf denen schlecht sitzende Schuhe ihre Spuren hinterlassen haben … Im Wartesaal der Notaufnahme, erinnert sich Clara, ist sie dort letzten Winter nicht mal über ein Paar dieser hohen Schnürstiefel gestolpert, als sie an der Trage vorbeilief, auf der der junge Afghane mit der kantigen Nase und der Blinddarmentzündung lag? Ein Asylbewerber, von dem Schwester Micki erzählt hat, er habe sich geweigert, die Stiefel aus der Hand zu geben: »Ick hab ihm jesagt, er brauch keene Angst haben, wir heb’n se für ihn uff, doch er hat se umklammert und imma nur jesagt: ›Shoes are mine!‹«
Clara erinnert sich jetzt deutlich, der Mann war, nachdem sie ihn untersucht hatte, sofort operiert worden, sein Blinddarm war offensichtlich schon länger entzündet, und er war direkt vom Amtsarzt zu ihnen überwiesen worden. »Der hat jezittert, als ick mit’m Frajebogen anjekommen bin, und jerufen, die Schmerzen in see’m Bauch, die wär’n nich von’ner Schläjerei, dit müssten wa ihm globen!«
Clara hebt ihren Kopf aus dem Kissen und setzt sich im Bett auf: die Angst der flüchtenden Frau … Natürlich! Würde das ihr Davonlaufen heute Vormittag erklären, ist auch sie eine Asylbewerberin, hofft sie hier auf ein Bleiberecht und hat Angst? Angst, dass man ihr etwas zur Last legt, dass sie für etwas, und sei es nur ein Verkehrsvergehen, zur Rechenschaft gezogen wird? Clara fasst sich an die Stirn, zum ersten Mal hat sie das Gefühl, das Ganze könne einen Sinn ergeben: Befindet sich die junge Frau zurzeit in einer Situation, in der sie sich, wie man ihr gesagt hat, nichts zuschulden kommen lassen darf? Sodass sie aus Vorsicht allem aus dem Weg geht, um nicht zu sagen: vor allem davonrennt, das auch nur die Möglichkeit birgt, negativ auf sie zurückzufallen? Vielleicht, denkt Clara und dreht sich zum Lichtschalter, als ihr noch etwas anderes einfällt: Und wenn es so ist, würde die junge Frau dann aus der gleichen Angst heraus auch keinen Arzt aufsuchen? Ihre Wunde lieber selbst versorgen, als genau erklären zu müssen, wie es zu dem Unfall gekommen ist? Was aber, wenn die Wunde – Stofffasern in der Dermis – sich entzündet? Gerade, wenn kein Desinfektionsmittel rechtzeitig zur Hand ist und die Frau vielleicht doch unter Kopfschmerzen, einer leichten Gehirnerschütterung leidet? Clara wird heiß, sie greift sich in den Nacken. Eins ist jedenfalls sicher, denkt sie auf einmal glasklar: Der Schmerz wird den Vorfall von heute Morgen in der jungen Frau wach halten. Ob sie darüber redet oder nicht.
Ein untrennbares Doppelgeräusch, Abus Schlurf-Schnaufen. Von ihrem Schreibtisch aus hört Amal durch die Zimmertür, wie der alte Syrer, den im Heim alle nur Abu, »Vater«, nennen, über den Flur schlurft. Jedes Mal, wenn Abu seinen linken Fuß vorzieht, atmet er tief ein, holt er das rechte Bein nach, schnauft er aus. Ein derart verschränkter Rhythmus, als könne das Schlurfen nicht ohne das Schnaufen, finde nur so in die Wiederholung, in diesen eingespielten Takt, dem man anhört, dass Abu schon seit Jahren so geht, dass es bei ihm keine Aussicht auf kleine, tägliche Fortschritte gibt, wie es bei ihrer Knieverletzung letzte Woche der Fall war, im Gegenteil: Als die Kinder neulich Abu auf sein angestrengtes Atmen ansprachen, hatte der nur abgewunken und lachend erklärt, sein Herz sei »schon länger erschöpft, dafür sogar erstaunlich hartnäckig«. Dabei hatte sich Abu auf die Brust geklopft, als wollte er seinem Herzmuskel weiterhin viel Glück wünschen.
Amal legt den Stift aus der Hand und blickt zur Tür, hinter der das Schlurf-Schnaufen allmählich leiser wird. »Ein alter Mann ist doch kein D-Zug! Weißt du, Amal, dass man das hier so sagt: kein ›D-Zug‹, was bedeutet, kein Schnellzug? Hättest du auch gedacht, die Deutschen sagten eher: Ein alter Mann ist doch kein Mercedes!?« Amal lächelt, Abus Humor scheint unverwüstlich. Er, der dem Tod am nächsten stehe, trage doch Verantwortung für sie alle hier, hatte Abu ihr einmal unter vier Augen erklärt. Damals, im Dezember, kurz nach ihrer Ankunft, wollte sie Abu zunächst widersprechen, etwas erwidern in der Art, so etwas könne er doch nicht behaupten, gerade hier im Heim wisse doch niemand genau, was den anderen alles widerfahren sei, wer dem Abgrund wirklich am nächsten stehe … Doch sie hatte nichts erwidert. Etwas in Abus blauen Augen, seinem ungewöhnlich lebhaften Blick hatte ihr das Gefühl gegeben, der alte Mann wisse genau, was er sagt, und warum.
Amal schaut zurück auf die Tierkörper und Menschenköpfe vor ihr auf dem Papier. Hat sie Abu bereits eine tierische Gestalt gegeben? Etwas mit dünnen Beinen, hervorstechenden Augen und gewaltigen Ohren? Soweit sie das Papierchaos auf ihrem Schreibtisch überblicken kann, nicht. Vielleicht hat sie Abu ganz zu Anfang, während ihrer ersten Tage hier im Heim gezeichnet, als sie abends im Bett wütend in ihr Notizbuch kritzelte, die Seite umblätterte, und fertig. Anstatt wie jetzt zu schauen, ob sich mit der Menge an Zeichnungen etwas anfangen lässt. You have talent, Miss Al-Sharhany. You should try and work at it, make it bigger, a book! Amal schüttelt den Kopf, nein, sie hätte sich gar nicht erst darauf einlassen sollen, auf diesen Blick, auf die Frage nach dem Zusammenhang, die unweigerlich zu der Frage führt, warum das alles. Das zerstört nur ihre Freude und Unbefangenheit beim Zeichnen! Etwas Zusammenhängendes, Geplantes sind ihre Zeichnungen gerade nicht. Sie ist keine Comiczeichnerin, die eine Geschichte erzählt, und auch keine Künstlerin, bei der die Zeichnungen Teil eines größeren Konzeptes sind. Ihre Kritzeleien entstehen immer spontan, halb automatisch, halb bewusst, das war schon in der Schule so und später in den Vorlesungen. Anders war in Bagdad nur, dass sie damals ausschließlich Menschen und Gegenstände zeichnete. Das mit den Tiermenschen hat erst später, letzten Sommer, auf der ersten Flucht angefangen, im Gefängnis, wo man ihnen dreimal am Tag einen Teller mit Essen und einen Becher Wasser in der Zelle auf den Boden stellte. Auf den Boden, wie für einen Hund. Angeblich, weil kurz vor ihrer Ankunft im Speiseraum ein »bedrohlicher Tumult« ausgebrochen war, von dem jedoch niemand sagen konnte, für wen oder in welcher Hinsicht er bedrohlich gewesen ist. Da hatten die Wächterinnen auf einmal Mäuler in Amals Träumen, aus behaarten Händen wurden Klauen und aus Nasenlöchern schnaufende Nüstern … Amal drückt auf ihre Augenlider. Von all dem weiß die Giraffe jedoch nichts. Wie sollte sie auch. Die hagere Giraffe mit den flammenroten Haaren hat es doch nur gut gemeint, so wie alle, die morgens ins Heim kommen, um mit ihnen hier drinnen »zu arbeiten«, es nur gut meinen. We really want to help you!, sagen sie und gucken auffordernd, wenn man nicht sofort dankbar lächelt. Das Problem ist nur, dass dieser ganze gute Wille manchmal einfach nicht hilft. Wenn etwas den Menschen hier helfen, sie aufheitern und ihnen ein wenig verlorenes Vertrauen zurückgeben kann, dann ist es eher Abus Lachen, einer seiner Witze als eine zähe Stunde auf dem harten Plastikstuhl im Büro der Giraffe.
Die Zimmertür geht auf, Nourig tritt ein und nickt Amal kurz zu, bevor sie ihre Schuhe auszieht und in ihre Hausschuhe schlüpft, die sie heute Morgen ordentlich neben den Türrahmen gestellt hat, bevor sie das Zimmer verließ. Nourigs minutiöse Ordnung in der linken Hälfte des Zimmers steht, wie Amal feststellen muss, in einem drastischen Kontrast zu ihrer eigenen Zimmerhälfte. Dabei ist sie in Bagdad immer recht ordentlich gewesen, obwohl sie damals viel mehr Sachen in ihrem Zimmer verstauen musste als hier. Nourig legt sich wortlos auf ihr Bett, dreht den Kopf zur Wand und zieht ihre Beine so weit an, dass ihre Knie fast den Bauch berühren. Behutsam dreht Amal sich weg, fragt nicht, wie es gewesen ist, das Turnen, das Nourig dreimal in der Woche unter Anleitung absolviert und das helfen soll, das Brennen unter ihren Fußsohlen abzuschwächen. Dabei wissen sie beide, dass sich das Brennen durch Abrollen und Strecken der Füße nicht einfach wegreiben lässt. So wie sich die Zuckungen in Nourigs Beinen nachts unter der Decke nicht unterbinden lassen und ihre Schreie, das Hyperventilieren auch nicht. Sie beide haben sich für Rücksichtnahme, für das Schweigen entschieden, nachdem Amal beim ersten Mal, von Nourigs Schreien aufgeweckt, zu ihr hinüber ans Bett gegangen war und Nourig sanft die Hand auf die Schulter gelegt hatte in der Hoffnung, Nourig so beruhigen zu können, worauf Nourig wild um sich schlug, Amal anspuckte und sich dafür noch Tage später schämte. Dabei war Nourig gar nicht klar, dass auch Amal sich schämte, sich immer wieder vorhielt, dass sie es doch hätte wissen müssen, dass für Nourig jede Hand, die sie im Schlaf überfällt, die Hand ihrer Folterer ist.
Amal drückt die Spitze ihres Stiftes in das Papier. Nourig hat sie bereits gezeichnet, beim ersten Mal als Igel, wegen ihrer Schlafposition, doch das war von außen betrachtet. Nourig ist kein Igel. Nourig ist das gehäutete Schaf.
Erst als die Tür aufgeht und das Nilpferd im Schottenrock von der Kleiderausgabe den Kopf ins Zimmer steckt, wird Amal bewusst, dass es gerade geklopft hat. Amal legt einen Finger an den Mund, bittet darum, leise zu sprechen, um Nourig nicht zu wecken. Das Nilpferd runzelt die Stirn, wirft einen Blick auf Nourigs Bett, mustert skeptisch das Zimmer und sagt dann so laut und schnaubend, dass es Amal unmöglich überhören kann: »The director of the Heim wants to see you, Miss Al-Sharhany.«
»Now?«, fragt Amal erstaunt.
Das Nilpferd nickt: »In five minutes, in his office.«
Schon ist die Tür wieder verschlossen, Nourig bewegt sich kurz, schläft weiter.
Amal spürt, wie ihr Herz plötzlich schneller schlägt. Warum will man sie sehen? Hat sich jemand über sie beschwert? Mohammed aus dem Obergeschoss, der schon mehrfach gefragt hat, warum sie kein Kopftuch trägt? Oder war sie abends zu laut auf dem Flur, als die Kinder schon schliefen? Dabei ist sie doch fast immer hier im Zimmer, sie am Schreibtisch und Nourig im Bett … Es könnte aber doch auch etwas Positives sein, sagt sich Amal, während sie aufsteht und sich zwingt, tief durchzuatmen. Nur die Ruhe bewahren. Respekt zeigen, höflich bleiben, egal, worum es geht. Kaum ist die Zimmertür leise hinter ihr ins Schloss gefallen, läuft Amal hastig über den Flur. Dabei merkt sie, dass die Schmerzen in ihrem Knie noch einmal schwächer geworden sind, gut, denkt Amal erleichtert, wenigstens das.
Als sie sich auf den einen Stuhl setzen will, der neben der Bürotür des Heimleiters vor der Wand steht, entdeckt Amal oben auf der Stuhlkante, in der Innenseite des aufgerissenen Polsters, kleine, arabische Schriftzeichen. Allahu akbar. Allah ist größer. Amal stutzt, zögert, beschließt, sich nicht auf den Stuhl zu setzen, geht stattdessen zum nächsten Fenster. Im gesamten Heim ist es nahezu unmöglich, um diese Zeit, kurz vor Mittag, einen ruhigen Flur zu finden. Hier jedoch, in dem Nebenarm, in dem der Heimleiter, »the director«, sein Büro hat, ist niemand. Keine beim Spielen verlorene Rassel auf der Fensterbank, kein Straßendreck auf dem Linoleum. Auch der Geruch ist anders, es riecht weniger nach Schweiß und ist kühler.
Als die Tür zum Besucherzimmer aufgeht, erkennt Clara sie sofort, und das nicht nur wegen der Hose mit dem gestopften Loch über dem Knie. Es ist etwas anderes – der wie ein Turm oben auf ihrem Hinterkopf sitzende Haarknoten, oder die energische Art, mit der sich die Fremde ihr nähert? Erstaunen, aber keine Angst sieht Clara in ihrem Gesicht, Neugier auch; erkennt sie mich, überlegt Clara noch, als ihr Gegenüber Clara die Frage abnimmt: »Do we know each other?«
Clara, überrascht von dem gutem Englisch, ihrer festen Stimme, erwidert: Ja, der Sonntag vor neun Tagen … Die junge Frau nickt, als habe sie sich das gedacht.
Amal heiße sie, hat der Heimleiter erzählt. Wir haben eine Irakerin, die auf Ihre Beschreibung passt. Sie ist einundzwanzig, alleine zu uns gekommen.
»I am Amal«, sagt Amal prompt und streckt ihre Hand aus, Clara entgegen.
Clara erwidert den Händedruck und stellt sich vor: Sie heiße Clara, komme aus Berlin, sie sei Ärztin und habe sich nach ihrem Zusammenstoß neulich auf der Straße gefragt, wie es Amal gehe, ob sie verletzt sei … Clara merkt, wie sich ihre Stimme ändert, vorsichtiger wird: »Are you all right?«, fragt sie leise und doch laut genug.
Amal sieht sie an und hebt die Augenbrauen, ihre Mundwinkel zucken auf eine Art, die Clara nicht deuten kann, es ist kein Lächeln, eher Ironie? Sarkasmus? Spielt Amal mit einer Antwort in der Richtung: Du willst ernsthaft wissen, ob alles in Ordnung ist? Du meinst, wegen des Unfalls, oder hier im Heim, generell? Doch auf einmal legt sich das Zucken, Amal lächelt jetzt eindeutig und erklärt: »I am fine.« Sie deutet auf ihr linkes Knie und fügt hinzu, das sei nichts Ernstes, die Wunde sei so gut wie verheilt.
Clara zögert, sie will nicht direkt nachfragen, aber doch mehr wissen. Ob Amal sich sicher sei, hakt Clara schließlich nach und zählt mögliche Symptome auf: keine Kopfschmerzen in den letzten Tagen? Kein Schwindelgefühl oder Erbrechen? Keine Sehstörungen?