Zuversicht
in Zeiten des Zerfalls
Warum wir trotz Terror, Trump
und Turbo-Kapitalismus
optimistisch bleiben sollten
Aus dem amerikanischen Englisch
von Sven Wunderlich
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Noam Chomsky & C. J. Polychroniou:
Zuversicht in Zeiten des Zerfalls
ebook UNRAST Verlag, November 2019
ISBN 978-3-95405-052-9
Copyright der Originalausgabe
© 2017 Haymarket Books, Chicago
Aus dem amerikanischen Englisch: Optimism over Despair
© UNRAST-Verlag, Münster
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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Übersetzung: Sven Wunderlich, Freiburg
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Noam Chomsky (* 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik am ›Massachusetts Institute of Technology‹ (MIT) und Mitglied der Industrial Workers of the World sowie der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft (IOPC). Durch die Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen und politischen Publikationen und Vorträge gilt Chomsky als einer der bedeutendsten Intellektuellen der politischen Linken Nordamerikas. Die New York Times hat ihn einst »den bekanntesten Dissidenten der Welt« genannt. Er selbst bezeichnet sich als libertären Sozialisten, der mit dem Anarchosyndikalismus sympathisiert.
C. J. Polychroniou ist Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, Autor und Journalist, der an Universitäten und Forschungszentren in Europa und den Vereinigten Staaten unterrichtet und gearbeitet hat. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der europäischen Wirtschaftsintegration, der Globalisierung, der politischen Ökonomie der Vereinigten Staaten von Amerika und der Dekonstruktion des politisch-ökonomischen Neoliberalismus.
Einleitung
TEIL I
Die Welt im Umbruch und der Zerfall der amerikanischen Gesellschaft
Unvorstellbare Grausamkeiten: Die neuste Phase des »Antiterrorkriegs«
Das Imperium des Chaos
Globale Machtkämpfe: ISIS, NATO, Russland
Ist die europäische Integration aus den Fugen geraten?
Religion in der Politik: Burkaverbote, Neuer Atheismus und Verherrlichung des Staates
Visionen für einen »dauerhaften Frieden« entwickeln
Für die Reichen und Mächtigen läuft alles ganz wunderbar
Kann die Zivilisation den »real existierenden Kapitalismus« überleben?
TEIL II
Amerika in der Trump-Ära
Die republikanische Basis ist außer Kontrolle geraten
Die Wahlen 2016 bringen die USA an den Rand einer großen Katastrophe
Trump im Weißen Haus
Globale Erwärmung und die Zukunft der Menschheit
Die lange Geschichte der Einmischung der USA in die Wahlen anderer Länder
Das Vermächtnis der Obama-Regierung
Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen
Das Gesundheitssystem der USA ist ein internationaler Skandal – und die Aufhebung von ACA wird die Lage noch verschärfen
Die Gefahren einer marktgetriebenen Bildung
TEIL III
Anarchismus, Kommunismus, Revolutionen
Sind die USA bereit für den Sozialismus?
Warum ich Zuversicht der Verzweiflung vorziehe
Anmerkungen
Endnoten
Die Gespräche in diesem Buch gewähren Einblick in die Ansichten des bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart. Es geht um die Folgen der kapitalistischen Globalisierung und allerhand weitere Themen, über die Chomsky und ich im Laufe der letzten vier Jahre – von Ende 2013 bis Anfang 2017 – gesprochen haben.
Noam Chomsky ist seit über 50 Jahren »Amerikas moralisches Gewissen« (obwohl die meisten AmerikanerInnen ihn gar nicht kennen) und er gilt weltweit als der renommierteste öffentlich wirksame Intellektuelle. Unermüdlich hat er sich gegen US-Aggressionen ausgesprochen und die Rechte der Schwachen und Unterdrückten rund um die Erde verteidigt – vom Vietnamkrieg bis in die Gegenwart. Seine Analysen beruhen stets auf unstrittigen Tatsachen und erhalten ihre Richtung durch seine tief verwurzelten Moralvorstellungen über Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und menschliche Würde. Unsere Epoche ist geprägt durch beispiellose wirtschaftliche Ungleichheit, wachsende autoritäre Herrschaft, Sozialdarwinismus und eine Linke, die dem Klassenkampf den Rücken gekehrt hat – in diesen düsteren Zeiten ist Chomskys Stimme ein strahlender Leuchtturm der Hoffnung und Zuversicht.
Schon seit längerem gibt es überall im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Spektrum der modernen westlichen Gesellschaften klare und triftige Anhaltspunkte dafür, dass die Widersprüche der kapitalistischen Globalisierung und die damit einhergehende neoliberale Politik mächtige Kräfte entfesseln könnten, die sich überaus destruktiv auf Wachstum und Wohlstand, Gerechtigkeit und sozialen Frieden auswirken – und auch Konsequenzen für die Demokratie, die Umwelt und die menschliche Zivilisation als Ganzes hätten.
Doch Verzweiflung ist für Chomsky keine Option. Wie schrecklich die aktuelle Lage der Welt auch sein mag, Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung war niemals vergeblich – nicht einmal in noch düsteren Zeiten als der unseren. Trumps »Gegenrevolution« in den USA hat bereits jetzt zahlreiche soziale Kräfte zum Vorschein gebracht, die sich gegen den aufstrebenden Autokraten entschlossen zur Wehr setzen wollen. Der herannahende Widerstand im mächtigsten Land der Welt scheint aussichtsreicher zu sein als in vielen anderen modernen Industrienationen.
In diesem Kontext sind die folgenden Gespräche unseres Erachtens von entscheidender Bedeutung. Wir hoffen, dass sie einer neuen Generation von LeserInnen als Einführung in Noam Chomskys Ansichten und Einsichten dienlich sein können. Denn allem zum Trotz glauben wir an die menschliche Fähigkeit, den Kräften der politischen Finsternis unermüdlich Widerstand zu leisten und den Verlauf der Geschichte am Ende zum Besseren zu wenden.
C.J. Polychroniou, im März 2017
C. J. POLYCHRONIOU
Noam, du bist der Ansicht, Donald Trumps Erfolg sei vor allem auf den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft zurückzuführen. Kannst du das genauer erklären?
NOAM CHOMSKY
Die von Staat und Konzernen in den letzten rund 35 Jahren durchgesetzten Programme haben sich für die Bevölkerungsmehrheit als Katastrophe erwiesen und auf direktem Wege zu Stagnation, Rückschritt und einer immer extremeren Ungleichheit geführt. In der Folge haben sich Angst, Isolation und Verzweiflung breitgemacht, die Menschen fühlen sich mächtigen Kräften ausgesetzt, die sie weder begreifen noch bekämpfen können. Grund für diese Entwicklung waren keine in Stein gemeißelten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern politische Entscheidungen – im Prinzip ein Klassenkrieg, den die Reichen und Mächtigen gegen Arbeitende und Arme führen und der das neoliberale Zeitalter nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und anderswo definiert. Trump findet Zuspruch bei Menschen, die den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft miterleben und zu spüren bekommen; er macht sich tiefsitzende Emotionen wie Zorn, Angst, Frustration und Verzweiflung zunutze, wahrscheinlich sogar in Gesellschaftsgruppen, in denen die Sterblichkeitsrate zunimmt – ein Phänomen, das wir sonst eigentlich nur aus Kriegszeiten kennen.
C. J. POLYCHRONIOU
Der von dir beschriebene Klassenkrieg wird so brutal und elitär wie immer schon geführt. Egal, ob in den letzten 30 Jahren Republikaner oder Demokraten die Regierung führten, die neoliberale Herrschaft hat den Ausbeutungsprozess in der US-Gesellschaft exorbitant verstärkt und den Abstand zwischen Besitzenden und Besitzlosen permanent wachsen lassen. Obwohl die letzte Finanzkrise und der Einzug des »gemäßigten Demokraten« Obama ins Weiße Haus neue Möglichkeiten eröffnet haben, kann ich nicht erkennen, dass die neoliberale Klassenpolitik im Rückzug begriffen wäre.
NOAM CHOMSKY
Die Unternehmensklassen, die größtenteils unser Land beherrschen, denken sehr klassenbewusst. Es wäre nicht übertrieben, sie mit »entarteten Marxisten« zu vergleichen, die ihre Werte und Überzeugungen ins Gegenteil verkehrt haben. Noch vor 30 Jahren räumte der Vorsitzende der bedeutendsten US-Gewerkschaft ein, dass die Konzernwelt einen ständigen, »elitären Klassenkrieg« führe und kritisierte diesen. Sie war damit so erfolgreich, dass die von dir dargestellte Situation entstanden ist. Mittlerweile gleicht die neoliberale Politik aber eher einem Schlachtfeld: Sie hat selbst den privilegiertesten und mächtigsten Ländern geschadet, die anfangs nur Teile davon für sich selbst akzeptierten, und wird deshalb in dieser Form nicht aufrechterhalten werden können.
Bemerkenswert ist, dass reiche und mächtige Länder die Politik, die sie armen und schwachen Ländern vorschreiben, für sich selbst ablehnen. Wird zum Beispiel Indonesien von einer schweren Finanzkrise getroffen, erteilt das US-Finanzministerium (über den Internationalen Währungsfonds) dem Land die Order, seine Schulden (mit dem Westen) zu begleichen, die Zinssätze zu erhöhen (um Indonesiens Wirtschaftsentwicklung zu bremsen), Privatisierungen vorzunehmen (damit westliche Konzerne indonesische Vermögenswerte aufkaufen können) und all die weiteren Punkte der neoliberalen Doktrin. Doch für uns gilt das exakte Gegenteil: Wir ignorieren unsere Schulden, senken unsere Zinssätze auf null, nehmen Verstaatlichungen vor (sprechen dieses Wort aber nie laut aus), kanalisieren Steuergelder zu Finanzinstitutionen und dergleichen mehr. Bemerkenswerterweise wird dieser einschneidende Gegensatz nicht einmal wahrgenommen, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrhunderte von demselben Gegensatz geprägt gewesen ist, der noch dazu den Hauptgrund für die Aufspaltung in die Erste und die Dritte Welt bildet.
Dieser Klassenpolitik wird bislang kaum etwas entgegengesetzt. Die Obama-Regierung hat nicht einmal kleinste Schritte unternommen, um den Krieg gegen ArbeiterInnen aufzuhalten oder rückgängig zu machen. Indirekt hat Obama sogar – und das ist aufschlussreich – seine Unterstützung für die Antigewerkschaftspolitik angedeutet. Erinnern wir uns, dass er, um seine Solidarität mit der Arbeiterbevölkerung (in der US-Rhetorik: »Mittelschicht«) zu zeigen, in seiner ersten Wahlkampftour die Caterpillar-Fabrik in Illinois besuchte. Wegen der abscheulichen Rolle, die Caterpillar in den von Israel besetzten Gebieten spielt – es dient dort als Hauptwerkzeug in der Zerstörung der Ländereien und Dörfer des »falschen Volkes« –, hatten Kirchen und Menschenrechtsorganisationen an ihn appelliert, seine Reise abzusagen. Es scheint überhaupt nicht bemerkt worden zu sein, dass Caterpillar durch die Umsetzung von Reagans Antigewerkschaftspolitik nach Generationen als erster Industriekonzern eine wichtige Gewerkschaft zerschlug, indem er Streikbrecher einsetzte – unter radikaler Verletzung internationaler Arbeiterrechte. Seite an Seite mit Südafrika (zur Zeit der Apartheid) waren die USA im Einsetzen von Streikbrechern der Rekordhalter unter den Industrienationen – sie ließen zu, dass Demokratie und Arbeiterrechte mit Füßen getreten wurden. Ich vermute, nach dem Ende der Apartheid in Südafrika sind die USA jetzt der alleinige Rekordhalter. Es fällt mir schwer zu glauben, dass Obamas Entscheidung Zufall war.
C. J. POLYCHRONIOU
Die Überzeugung, dass amerikanische Wahlen nicht von Sachfragen bestimmt werden, ist zumindest auch unter einigen namhaften Politikstrategen verbreitet – auch wenn es oft heißt, um WählerInnen anzulocken, müssten KandidatInnen die öffentliche Meinung kennen. Und natürlich wissen wir, dass die Medien haufenweise Falschinformationen über entscheidende Fragen in die Welt setzen (nehmen wir etwa die Rolle der Massenmedien vor und während des Irakkriegs) oder überhaupt keine Informationen liefern (etwa über Gewerkschaften). Gleichzeitig haben wir viel Grund zu der Annahme, dass die US-Bevölkerung in bedeutenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen, die das Land betreffen, mitbestimmen will. Nach einer neueren Studie der University of Minnesota zählt Gesundheit für die AmerikanerInnen zu den zentralen Problemen des Landes. Ferner wissen wir, dass die große Mehrheit Gewerkschaften befürwortet und den »Antiterrorkrieg« als völlige Katastrophe ansieht. Wie können wir, wenn wir uns all dies vor Augen führen, die Beziehungen zwischen Medien, Politik und Öffentlichkeit in der heutigen amerikanischen Gesellschaft bestmöglich verstehen?
NOAM CHOMSKY
Bekanntermaßen werden Wahlkämpfe so organisiert, dass Sachfragen heruntergespielt und bestimmte Persönlichkeiten, rhetorische Strategien, Körpersprache und Ähnliches in den Vordergrund gestellt werden. Das hat gute Gründe: ParteimanagerInnen lesen Meinungsumfragen und wissen ziemlich genau, dass beide großen Parteien in vielen Fragen ein gutes Stück rechts von der Bevölkerung stehen – was eigentlich nicht überrascht, denn letztlich sind beide Parteien Unternehmensparteien. In Umfragen steht die große Wählermehrheit dieser Tatsache ablehnend gegenüber, doch in dem von Konzernen organisierten Wahlsystem, wo fast immer die kapitalkräftigsten KandidatInnen gewinnen, bleibt ihnen keine andere Wahl als diese beiden Parteien.
Ähnlich möchten die meisten KonsumentInnen womöglich nicht unbedingt zwischen zwei Automobilen wählen können, sondern vernünftige Massenverkehrsmittel haben, doch die Werbefirmen – und die Märkte – überlassen ihnen diese Entscheidung nicht. Statt über Produkte zu informieren, schaffen TV-Werbespots Illusionen und Trugbilder. Dieselben PR-Firmen, die die Märkte aushebeln, indem sie uninformierte KonsumentInnen zu irrationalen Entscheidungen veranlassen (entgegen den abstrakten Wirtschaftstheorien), wollen mit denselben Mitteln die Demokratie aushebeln. Den führenden IndustriemanagerInnen ist all das bestens bekannt. In Wirtschaftszeitungen verkünden die Größen der Industrie begeistert, dass es ihnen spätestens seit Reagan gelungen sei, KandidatInnen wie Produkte zu vermarkten. Das stelle ihren bisher größten Erfolg dar und werde, so prophezeien sie, KonzernmanagerInnen und der Marketingindustrie als Zukunftsmodell dienen.
Du hast die Minnesota-Umfrage zur Gesundheit erwähnt – sie ist ein typisches Beispiel. Über Jahrzehnte hinweg zeigen Umfragen, dass die Gesundheit zu den größten öffentlichen Anliegen zählt – was im Grunde nicht überrascht, denn das Gesundheitssystem hat fürchterlich versagt, kostet pro Kopf doppelt so viel wie in vergleichbaren Gesellschaften und hat ziemlich miserable Resultate. Zudem zeigen Umfragen durchweg, dass die große Mehrheit eine verstaatlichte »Einheitskasse« anstelle des Medicare-Systems für Ältere bevorzugt; dieses wäre ungleich effizienter als das privatisierte und von Obama eingeführte System. Wird dergleichen vorgeschlagen (was selten passiert), wird es als »politisch unmöglich« hingestellt oder es heißt, »die politische Unterstützung fehlt« – mit anderen Worten, Versicherungs-, Pharma- und andere Firmen, die vom bestehenden System profitieren, lehnen es ab. Als die Kandidaten der Demokraten – zunächst Edwards, dann Clinton und schließlich Obama – im Jahr 2008 (anders als 2004) mit Vorschlägen aufwarteten, die den jahrzehntelangen Wünschen der Leute zumindest etwas entgegenkamen, erhielten wir lehrreiche Einblicke in die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie. Wieso hatten sie solche Vorschläge gemacht? Der Grund war nicht, dass die öffentliche Meinung sich geändert hätte – sie war gleich geblieben –, doch das produzierende Gewerbe hatte unter dem kostspieligen, ineffizienten Gesundheitssystem und den großen, der Pharmaindustrie gesetzlich zugesicherten Privilegien gelitten. Wenn also ein ausreichend großer Teil des konzentrierten Kapitals ein Programm unterstützt, dann wird es plötzlich »politisch möglich« und besitzt »genügend politische Unterstützung«. Ebenso erhellend wie diese Tatsache ist, dass man all das unbeachtet unter den Tisch fallen ließ.
Für viele andere nationale und internationale Fragen gilt im Großen und Ganzen dasselbe.
C. J. POLYCHRONIOU
Die US-Wirtschaft steht vor einer Reihe von Problemen, doch die Profite der Reichen und Konzerne sind längst zu dem Stand zurückgekehrt, den sie vor der Finanzkrise 2008 hatten. Die meisten Forscher und Finanzexperten scheinen sich jedoch auf die Staatsverschuldung als Hauptproblem eingeschossen zu haben. Mainstream-BeobachterInnen zufolge ist die US-Verschuldung nicht mehr rückgängig zu machen und deswegen behaupten sie durchweg, größere Programme zur Wirtschaftsstimulation seien belanglos und würden die USA nur in noch tiefere Schulden hineinstürzen. Wie könnte sich die überhand nehmende Verschuldung auf die US-Wirtschaft und die Investitionsbereitschaft internationaler Kapitalanleger auswirken, wenn eine weitere Finanzkrise entstehen sollte?
NOAM CHOMSKY
Das kann niemand sicher sagen. In früheren Zeiten, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Verschuldung weitaus größer, konnte aber dank des beachtlichen Wirtschaftswachstums in der Semi-Kommandowirtschaft, die in den USA zu Kriegszeiten herrschte, überwunden werden. Wir wissen also: Wenn staatliche Stimuli ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum antreiben, lässt sich die Verschuldung unter Kontrolle halten. Es gibt weitere Mittel gegen Schulden, zum Beispiel Inflation, doch alles Übrige ist größtenteils Spekulation. Die hauptsächlichen Geldgeber der USA – insbesondere China, Japan, die größten Öl produzierenden Länder – könnten beschließen, ihr Kapital in andere Länder zu verlagern, um höhere Profite zu erzielen. Ein solches Szenario ist allerdings unwahrscheinlich, dafür spricht wenig. Die Investoren haben ein beträchtliches ökonomisches Interesse daran, die US-Wirtschaft am Laufen zu halten, weil sie ihrerseits in die USA exportieren. Verlässliche Prognosen sind zwar unmöglich, doch zurückhaltend ausgedrückt befindet sich die Welt als Ganzes augenscheinlich in einer angespannten Lage.
C. J. POLYCHRONIOU
Im Gegensatz zu vielen anderen bist du offenbar der Meinung, dass die USA trotz der letzten Krise wirtschaftlich, politisch und natürlich auch militärisch eine globale Supermacht bleiben. Auch ich habe den Eindruck, dass die übrige Weltwirtschaft die US-Vormachtstellung keinesfalls anzugreifen vermag, sondern Amerika stattdessen als Retter der globalen Wirtschaft wahrnimmt. Welche Wettbewerbsvorteile hat der US-Kapitalismus gegenüber der EU-Ökonomie und gegenüber den im Aufschwung begriffenen Wirtschaften Asiens?
NOAM CHOMSKY
Die Finanzkrise 2007–2008 hatte ihren Ursprung vorwiegend in den USA, doch deren Hauptkonkurrenten – Europa und Japan – hatten am Ende stärker darunter zu leiden. Für Investoren, die in Krisenzeiten nach Sicherheiten verlangen, sind die USA aber der Anlageort der Wahl geblieben. Die USA verfügen über beachtliche Privilegien: Zum einen besitzen sie umfangreiche inländische Ressourcen, und andererseits sind sie – was eine große Rolle spielt – vereinheitlicht. Bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg in den 1860er Jahren verwendete man »United States« im Plural (in Europa ist das weiterhin der Fall), doch seither wird »United States« in englischsprachigen Ländern im Singular benutzt [»the United States is«, Anm. des Übers.]. Die vom konzentrierten Kapital und der staatlichen Macht in Washington bestimmte Politik wird im ganzen Land zur Anwendung gebracht. In Europa ist dergleichen viel schwieriger durchsetzbar. Nicht lange nach der letzten globalen Finanzkrise berichtete eine Sondergruppe der EU-Kommission: »Europa braucht neue Organe, um Systemrisiken überwachen zu können und im regionalen Flickwerk aus Kontrollorganen Finanzinstitutionen zu beaufsichtigen«. Allerdings ging die Gruppe, angeführt von einem früheren französischen Notenbanker, »nicht so weit, ein gesamteuropäisches Überwachungsorgan vorzuschlagen« – etwas, das die USA jederzeit nach Belieben einführen könnten. Für Europa wäre das, so der Gruppenleiter, »eine fast unmögliche Aufgabe«. [Mehrere] ExpertInnen, darunter der Financial Times, haben das als politisch unmöglich bezeichnet, als »einen Schritt, der etlichen EU-Mitgliedsstaaten, die ihre lokale Macht nicht ohne Weiteres abgeben würden, zu weit ginge«. Eine einheitliche Politik hat viele weitere Vorteile. Europäische ÖkonomInnen haben einige Nachteile, die sich für Europa ergeben haben, weil die EU nicht koordiniert auf die Finanzkrise zu reagieren vermochte, detailliert beschrieben.
Die historischen Ursprünge dieser Abweichung zwischen Europa und den USA sind bestens bekannt. Jahrhundertelange Kriege haben Europa ein System von Nationalstaaten aufgebürdet, und die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs überzeugte die EuropäerInnen, dass sie ihren Traditionssport, sich gegenseitig abzuschlachten, so nicht fortführen konnten – jedes nächste Gemetzel hätte nämlich das letzte sein können. Deshalb haben wir in Europa heute einen »demokratischen Frieden«, wie PolitologInnen diesen nennen, obwohl keineswegs erkennbar ist, dass Demokratie hierbei eine große Rolle spielen würde. Die USA hingegen sind ein kolonisierter Siedlerstaat, der seine indigene Bevölkerung auslöschte und die Überlebenden in »Reservate« steckte, während er zugleich halb Mexiko eroberte und dann weiter expandierte. Viel mehr als in Europa ging die umfangreiche innere Diversität dabei verloren. Der Amerikanische Bürgerkrieg zementierte eine Zentralgewalt und eine Vereinheitlichung auch auf anderen Gebieten: eine nationale Sprache, kulturelle Gemeinsamkeiten, große, von Staat und Konzernen betriebene soziale Manipulationsprogramme wie die Suburbanisierung der Gesellschaft, umfassende staatliche Subventionen zur Erforschung und Entwicklung moderner Industriezweige, staatliche Auftragsvergabe und vieles mehr.
Die im Aufschwung begriffenen Wirtschaften Asiens haben gewaltige interne Probleme, die im Westen unbekannt sind. Über die indische Gesellschaft wissen wir mehr als über die chinesische, da sie offener ist. Aus verständlichen Gründen belegt Indien Platz 130 des Human Development Index (die neoliberalen Reformen haben daran kaum etwas geändert); China belegt Platz 90, doch wenn mehr über das Land bekannt wäre, könnte es schlechter stehen. Dieser Maßstab kratzt allerdings nur an der Oberfläche. Im 18. Jahrhundert waren China und Indien die bedeutendsten Handels- und Industriezentren der Welt, hatten eine komplexe Marktordnung, vergleichsweise fortschrittliche Gesundheitsstandards und weiteres. Doch aufgrund ihrer imperialen Eroberung und ihrer Wirtschaftspolitik (staatliche Interventionen zugunsten der Reichen und den Armen aufgebürdete freie Märkte) sind die Verhältnisse in beiden Ländern miserabel. Dass Japan – ebenjenes Land, das der Kolonisierung entging – sich als einzige Nation im Globalen Süden entwickeln konnte, ist unübersehbar; dieser Zusammenhang ist kein Zufall.
C. J. POLYCHRONIOU
Diktieren die USA weiterhin die Politik des IWF?
NOAM CHOMSKY
Das findet hinter verschlossenen Türen statt, doch soweit ich weiß, ist es vorgesehen, dass IWF-ÖkonomInnen von der Politik unabhängig sein sollen – und in gewissem Grade sind sie das womöglich auch. Was Griechenland und die Austeritätspolitik generell betrifft, so haben die IWF-ÖkonomInnen einige ziemlich kritische Artikel über die Brüsseler Programme veröffentlicht, welche die politische Klasse allerdings zu ignorieren scheint.
C. J. POLYCHRONIOU
An der außenpolitischen Front scheint der »Antiterrorkrieg« ein endloses Unterfangen zu sein, und wie bei der Monstergestalt Hydra wachsen immer zwei neue Köpfe nach, wenn einer abgeschnitten wurde. Lassen sich Terrorgruppen wie ISIS (auch bekannt als Daesh/ISIL) durch massive Gewaltinterventionen ausmerzen?
NOAM CHOMSKY
Als Obama ins Weiße Haus einzog, verstärkte er die Interventionskräfte sowie die Kriege in Afghanistan und Pakistan, genau wie er es zuvor versprochen hatte. Es hätte friedliche Alternativen gegeben – einige wurden sogar im Mainstream (etwa in Foreign Affairs) vorgeschlagen, aber nicht zur Kenntnis genommen. Als Hamid Karzai afghanischer Präsident wurde, ersuchte er Obama als allererstes, die Zivilbevölkerung nicht mehr zu bombardieren, erhielt aber keine Antwort. Zudem bat Karzai eine UN-Delegation, ihm einen Zeitplan für den Abzug ausländischer Truppen (sprich der US-Armee) vorzulegen. Sofort fiel er in Washington in Ungnade und wurde von einem Medienliebling zu einer »unglaubwürdigen«, »korrupten« und überhaupt bösen Person – was keinen Deut mehr der Wahrheit entsprach als zuvor, als er noch als »unser Mann in Kabul« gefeiert worden war. Als Antwort darauf schickte Obama zahlreiche weitere Truppen und verstärkte die Bombardierung zu beiden Seiten der afghanisch-pakistanischen Grenze – der sogenannten »Durand-Linie«, einer künstlichen, von den Briten gezogenen Grenze, die die Pashtun-Regionen in zwei Teile spaltet und von der Bevölkerung nie akzeptiert worden ist. Afghanistan hat wiederholt darauf gedrängt, sie aufzulösen.
Das ist der Dreh-und Angelpunkt des »Antiterrorkriegs«. Es bestand kein Zweifel, dass er Terroranschläge provozieren würde, wie es schon bei der Irakinvasion der Fall gewesen war und wie es für Gewaltanwendungen ganz allgemein gilt. Bestimmte Ziele sind mittels Gewalt erreichbar – die bloße Existenz der USA ist ein Beispiel; die russischen Verbrechen in Tschetschenien ein weiteres. Die angewandte Gewalt muss jedoch überwältigend sein, und das terroristische Monster, das größtenteils Reagan und dessen Gefolgsleute geschaffen haben und das seither von anderen genährt wird, hat wahrscheinlich zu viele Tentakel, als dass man es eliminieren könnte. Die neueste Monstergestalt ist ISIS, weitaus brutaler als al-Qaida und auch deshalb von anderer Art, weil ISIS territoriale Ansprüche erhebt. Durch massive Bodentruppeneinsätze ließe es sich wahrscheinlich ausmerzen, doch das würde die Entstehung ähnlich gesinnter Gruppierungen nicht verhindern. Gewalt provoziert Gewalt.
C. J. POLYCHRONIOU
In den letzten Jahrzehnten haben die US-Beziehungen zu China mehrere Stadien durchlaufen, und die aktuelle Situation ist schwer greifbar. Werden die USA-China-Beziehungen sich künftig verbessern oder verschlechtern?
NOAM CHOMSKY
Die US-Beziehungen zu China kommen einer Hassliebe gleich. Für US-Unternehmen und andere westliche Hersteller, die ihre Betriebe nach China verlegen, und für die riesige Einzelhandelsindustrie, die in China an Billigprodukte kommt, sind die unterirdischen Löhne, die Arbeitsbedingungen und die mangelnden Umweltschutzbestimmungen ein großer Segen. Ferner sind die USA inzwischen auf Länder wie China und Japan angewiesen, um ihre eigene Industrie über Wasser zu halten. Doch China bereitet den USA auch Probleme – es ist nicht leicht kleinzukriegen. Drohen die USA Europa mit der Faust und schreiben den Europäern vor, nicht länger Geschäfte mit dem Iran zu treiben, geben diese meist klein bei. China hingegen schenkt derlei Drohungen kaum Beachtung, und das jagt den USA einen eiskalten Schauer über den Rücken. Angebliche, von China ausgehende Gefahren sind während der Geschichte immer wieder in die Welt gesetzt worden, und das setzt sich heutzutage fort.
C. J. POLYCHRONIOU
Wird China in naher Zukunft in der Lage sein, den globalen US-Interessen einen Strich durch die Rechnung zu machen?
NOAM CHOMSKY
Was Gewaltanwendung und sogar militärische Aufrüstung anbelangt, hat sich unter den mächtigen Ländern kein Staat so stark zurückgehalten wie China – es war militärisch derart passiv, dass die maßgeblichen US-StrategieexpertInnen (John Steinbrunner und Nancy Gallagher) China kürzlich ersuchten (im sehr renommierten Journal der American Academy of Arts and Sciences), eine Koalition friedliebender Nationen anzuführen, um dem aggressiven US-Militarismus entgegenzutreten, denn letzterer würde, wie sie schrieben, zum »endgültigen Untergang« führen. In dieser Hinsicht hat es kaum Zeichen einer Veränderung gegeben. China beugt sich aber keinen Befehlen und unternimmt Schritte, um Zugriff auf die globalen Energiequellen und andere Ressourcen zu erlangen. Das stellt sich den USA als Bedrohung dar.
C. J. POLYCHRONIOU
Die Indien-Pakistan-Beziehungen stellt die US-Außenpolitik augenscheinlich vor eine große Aufgabe. Können die USA die dortige Lage überhaupt unter Kontrolle bringen?
NOAM CHOMSKY
In begrenztem Maße, ja. Doch die Lage ist hochbrisant. In Kaschmir herrscht ununterbrochene Gewalt – staatlicher Terror vonseiten Indiens, von Pakistan aus agierende Terroristen und, wie die letzten Bombenanschläge in Mumbai gezeigt haben, eine Menge weiterer Terror. Es gibt aber Wege, die Spannungen zu verringern, beispielsweise durch den geplanten Pipeline-Bau vom Iran durch Pakistan bis nach Indien – der Iran ist die natürliche Energiequelle Indiens. Dass Washington den Kernwaffensperrvertrag missachtete, indem es Indien Zugang zur Kerntechnologie gewährte, liegt wohl auch daran, dass man den Pipeline-Bau verhindern und Indien dazu zu bringen wollte, sich Washingtons Feldzug gegen den Iran anzuschließen. Ein weiterer Grund könnte mit Afghanistan zusammenhängen, wo seit längerer Zeit eine Pipeline (TAPI) im Gespräch ist, die von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan und weiter nach Indien verlaufen soll. Das ist wahrscheinlich im Moment nicht brandaktuell, spielt allerdings durchaus im Hintergrund eine Rolle. Das »Große Spiel« des 19. Jahrhunderts ist weiterhin lebendig und zieht weite Kreise.
C. J. POLYCHRONIOU
Vielerorts ist der Eindruck entstanden, die israelische Lobby hätte die US-Außenpolitik im Nahen Osten fest im Griff. Ist die israelische Lobby derart einflussreich, dass sie über eine Supermacht bestimmen könnte?
NOAM CHOMSKY
Mein Freund Gilbert Achcar, ein bekannter Experte für den Nahen Osten und für internationale Beziehungen generell, nennt dergleichen zu Recht »der Phantasie entsprungen«. Nicht die israelische Lobby setzt die US-Hightech-Industrie unter Druck, vermehrt in Israel zu investieren, oder nimmt die US-Regierung in den Schwitzkasten, damit diese israelische Versorgungsstützpunkte für spätere US-Militäroperationen anlegt und die bereits engen Militär- und Geheimdienstbeziehungen weiter festigt.
Stimmen die Ziele der Lobby mit den vermeintlichen Strategie- und Wirtschaftsinteressen der USA überein, bekommt sie aber gewöhnlich ihren Willen: etwa bei der Vernichtung der PalästinenserInnen, was die Macht der Konzerne und des Staates in den USA kaum tangiert. Weichen die Ziele der Lobby jedoch von denen der USA ab – was häufig vorkommt –, dann taucht sie zügig wieder unter. Sie hütet sich davor, wirklicher Macht entgegenzutreten.
C. J. POLYCHRONIOU
Ich stimme deiner Analyse völlig zu, doch bestimmt würdest du mir darin beipflichten, dass die israelische Lobby stark genug ist, mit an Israel geäußerter Kritik – egal wie viel wirtschaftlicher oder politischer Druck damit verbunden ist – weiterhin Hysterie in den USA auszulösen. Auch du selbst wurdest schon von rechten Zionisten eine geraume Zeit lang unter Beschuss genommen. Wie lässt sich dieser nicht greifbare Einfluss der israelischen Lobby auf die öffentliche Meinung in Amerika erklären?
NOAM CHOMSKY
Ich stimme dir in allen Punkten zu – doch in den letzten Jahren war das weit weniger der Fall. Die israelische Lobby hat nicht wirklich Macht über die öffentliche Meinung. Die mit Abstand größte Unterstützung für Israels Aktivitäten ist von der israelischen Lobby unabhängig und dieser zahlenmäßig überlegen: christlich-religiöse Fundamentalisten. Bereits vor der Gründung der zionistischen Bewegung gab es britische und amerikanische ZionistInnen; sie stützten sich auf schicksalhafte Interpretationen biblischer Prophezeiungen. Die US-Bevölkerung befürwortet im Allgemeinen die Zweistaatenlösung und weiß zweifellos nicht, dass die USA diese stets im Alleingang blockiert haben. In gebildeteren Kreisen, auch unter jüdischen Intellektuellen, herrschte an Israel anfangs nur geringes Interesse, bis Israel 1967 einen bedeutenden militärischen Sieg errang, der die Allianz zwischen den USA und Israel erstmals wirklich besiegelte. Das löste eine regelrechte Liebesaffäre der gebildeteren Kreise mit Israel aus. Israels militärisches Geschick und die US-Israel-Allianz führten zu der unwiderstehlichen Verlockung, die Kooperation mit Washington mit Machtverehrung und humanitären Deckmänteln zu verknüpfen. Doch um das Ganze richtig einzuordnen: Wenn ich statt der Verbrechen Israels die Verbrechen der USA kritisiere, fallen die Reaktionen mindestens genauso heftig, wenn nicht gar heftiger aus. Wenn ich die Morddrohungen, die ich über die Jahre erhalten habe, zusammenzähle oder die Hetztiraden gegen mich in »meinungsbildenden Zeitungen«, dann steht Israel keineswegs ganz oben auf der Liste und das Phänomen ist mitnichten auf die USA beschränkt. Obwohl man in Westeuropa für eine Kritik der US-Taten zugänglicher ist, herrscht dort eine Menge Selbsttäuschung und im Grunde ist die Situation kaum anders. Die Verbrechen anderer bieten oft eine willkommene Gelegenheit, um die eigene innige Moralität in den Vordergrund zu stellen.
C. J. POLYCHRONIOU
Im Nahen Osten und in Zentralasien befindet sich die Türkei unter Erdoğan im Aufbau einer neo-osmanischen Strategie. Hat sich diese weitreichende Strategie in Zusammenarbeit oder gegen den Willen der USA herausgebildet?
NOAM CHOMSKY
Bekanntlich ist die Türkei seit langem ein so bedeutender US-Alliierter, dass sie während der Clinton-Regierung sogar zur Hauptempfängerin von US-Waffenlieferungen wurde (hinter Israel und Ägypten, die in einer anderen Liga spielen). Clinton versorgte die Türkei mit Waffen, um dieser bei ihrem großangelegten Mord-, Vernichtungs- und Terrorfeldzug gegen die kurdische Minderheit unter die Arme zu greifen. Ferner ist die Türkei seit 1958 ein wichtiger Alliierter Israels sowie Teil einer größeren Allianz nichtarabischer Staaten unter Federführung der USA, deren Ziel es ist, die Kontrolle über die wertvollsten globalen Energieressourcen zu sichern. Dazu beschützt die Allianz die herrschenden DiktatorInnen der Welt vor »radikalem Nationalismus« – das heißt im Klartext, vor deren eigener Bevölkerung. Bisweilen sind die US-Türkei-Beziehungen auch angespannt gewesen, besonders im Vorfeld der US-Irakinvasion, als die türkische Regierung dem Willen ihrer 95%-igen Bevölkerungsmehrheit nachgab und sich weigerte, die USA zu unterstützen. Das löste in den USA einen Wutanfall aus. Man entsandte Paul Wolfowitz, um der ungehorsamen türkischen Regierung zu befehlen, von ihrer Bösartigkeit abzulassen, sich bei den USA zu entschuldigen und einzusehen, dass es ihre Pflicht sei, den USA beizustehen. Diese weithin publik gemachten Ereignisse schwächten Wolfowitz’ Ansehen in den liberalen Medien in keiner Weise. Dort gilt er als »oberster Idealist« der Bush-Regierung, der sich mit voller Leidenschaft der Demokratieförderung widmete. Auch im Moment sind die USA-Türkei-Beziehungen ein wenig angespannt, doch die Allianz besteht fort. Aus logischen Gründen könnte die Türkei Beziehungen zum Iran und zu Zentralasien aufnehmen und diese ausbauen wollen. Das könnte die Spannungen mit Washington erneut intensivieren, doch das erscheint mir zurzeit eher unwahrscheinlich.
C. J. POLYCHRONIOU
Richten wir den Blick auf die westliche Front. Werden die Pläne für die NATO-Osterweiterung, die auf Bill Clintons Regierungszeit zurückgehen, weiter vorangetrieben?
NOAM CHOMSKY
Zu den größten Verbrechen von Clinton – und derer gab es eine ganze Zahl – gehörte in meinen Augen die NATO-Osterweiterung. Hierbei missachteten Clintons Vorgänger ein fest zugesichertes Versprechen an Gorbatschow, nachdem dieser erstaunlicherweise den Beitritt des wiedervereinigten Deutschlands zu einer der Sowjetunion feindlich gesonnenen Militärallianz gebilligt hatte. Diese überaus gravierenden Provokationen setzte Bush fort, während er einen angriffslustigen Militarismus zur Schau stellte, der wie zu erwarten heftige Reaktionen vonseiten Russlands hervorrief. Die »rote Linie« der amerikanischen Grenzen ist jedoch schon auf Russlands Grenzen eintätowiert worden.
C. J. POLYCHRONIOU
Was denkst du über die EU? Sie tritt weiterhin größtenteils als Wegbereiterin des Neoliberalismus, aber selten als Bollwerk gegen US-Aggressionen in Erscheinung. Siehst du Anzeichen dafür, dass sie die Weltbühne irgendwann in Zukunft als konstruktive und einflussreiche Akteurin betreten könnte?
NOAM CHOMSKY
Möglich wäre es, doch das müssen die Europäer selbst entscheiden. Einige, allen voran Charles De Gaulle, haben unabhängige Standpunkte vertreten. Im Allgemeinen haben Europas Eliten aber der Passivität den Vorzug gegeben und sind hauptsächlich Washingtons Fußstapfen gefolgt.
C. J. POLYCHRONIOU
Zu Anfang würde ich gerne deine Gedanken über die jüngsten Entwicklungen des »Antiterrorkriegs« erfahren. Dabei handelt es sich um eine Strategie, die bis zur Regierung Reagans zurückreicht und später von George W. Bush in die Doktrin des islamophoben »Kreuzzugs« verwandelt wurde. Dieser hat unzählige Unschuldige das Leben gekostet und sich weitreichend auf internationale Gesetze und den Weltfrieden ausgewirkt. Der »Antiterrorkrieg« scheint momentan in eine neue, vielleicht noch gefährlichere Phase überzugehen: Weitere Staaten sind dem Gefecht beigetreten und verfolgen andere politische Ziele und Interessen als die USA und einige ihrer Alliierten. Stimmst du zunächst einmal der Beschreibung zu, wie der »Antiterrorkrieg« bisher verlaufen ist? Wenn ja, was sind die wahrscheinlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen eines unaufhörlichen, weltweiten »Antiterrorkriegs« besonders für westliche Gesellschaften?
NOAM CHOMSKY
Die beiden Phasen des »Antiterrorkriegs« unterscheiden sich beträchtlich voneinander – außer in einem wichtigen Punkt: Aus Reagans Kriegen wurden im Handumdrehen erbarmungslose Terrorkriege, und genau deshalb sind sie wahrscheinlich »aus der Geschichte verschwunden«. Diese Terrorkriege haben sich auf Mittelamerika, Südafrika und den Nahen Osten in furchtbarer Weise ausgewirkt, und das Hauptziel, Mittelamerika, muss sich erst noch davon erholen. Zugleich sind die Kriege eine der primären – und kaum erwähnten – Ursachen für die aktuelle »Flüchtlingskrise«. Dasselbe gilt für die zweite Phase, die 20 Jahre später begann, als George W. Bush im Jahr 2001 dem Terrorismus von neuem den Krieg erklärte. Direkte Angriffe zerstörten großflächige Regionen und der Terror hat neue Formen angenommen. Das trifft besonders auf Obamas globalen Drohnen-/Tötungsfeldzug zu, der in den Annalen des Terrorismus seinesgleichen sucht und – wie andere ähnliche Unternehmungen – wohl schneller entschlossene Terroristen hervorbringt, als Verdächtige ermordet werden.
Die Zielscheibe von Bushs Krieg war al-Qaida. Ein Hammerschlag folgte dem nächsten – Afghanistan, Irak, Libyen und weitere Nationen. So wurde der dschihadistische Terrorismus von einer kleinen Stammesregion in Afghanistan praktisch überall auf der Welt ausgebreitet, von Westafrika über den vorderen Orient bis nach Südostasien – einer der größten taktischen »Triumphe« der Geschichte. Unterdessen haben weitaus grausamere, destruktivere Elemente al-Qaida verdrängt. Den Rekord für kaltblütige Brutalität hält zurzeit ISIS, doch andere Titelanwärter folgen auf den Fersen. Der Militärexperte Andrew Cockburn hat in seinem lehrreichen Buch Kill Chain die herrschende Dynamik beschrieben; sie reicht weit in die Vergangenheit zurück. Wird ein Anführer getötet, ohne dass die Wurzeln und die Ursachen des Problems behoben werden, so Cockburn, wird dieser meist im Handumdrehen durch einen jüngeren, geschickteren und noch skrupelloseren Anführer ersetzt.
Als Folge dieser »Triumphe« betrachtet die Weltöffentlichkeit die USA mit deutlichem Abstand als die größte Gefahr für den Weltfrieden. Weit abgeschlagen dahinter folgt Pakistan auf Platz zwei – vermutlich durch das indische Votum verzerrt. Weitere Triumphe der erwähnten Art könnten einen noch umfassenderen Krieg mit der jetzt schon wutentbrannten islamischen Welt auslösen. Derweil bürden die westlichen Gesellschaften sich selbst innere Repressionen auf, schmälern Bürgerrechte und stöhnen unter der riesigen Ausgabenlast. Das lässt Osama bin Ladens kühnste Träume und heutzutage genauso die von ISIS wahr werden.
C. J. POLYCHRONIOU
In der US-Debatte über den »Antiterrorkrieg« ist die Unterscheidung zwischen offenen und verdeckten Operationen fast verschwunden. Zugleich scheint man Terrorgruppen sowie Akteure und Staaten, die den Terror unterstützen, völlig willkürlich auszuwählen, und die ausgewählten Zielpersonen haben bisweilen die Frage aufkommen lassen, ob der »Antiterrorkrieg« wirklich ein solcher ist oder lediglich als Vorwand dient, um die verfolgte Welteroberungsstrategie ins rechte Licht zu rücken. Obwohl Gruppierungen wie al-Qaida oder ISIS ohne jeden Zweifel brutale Terrororganisationen sind, wird die Tatsache, dass US-Alliierte wie Saudi-Arabien, Katar und selbst NATO-Staaten wie die Türkei ISIS aktiv unterstützt haben, entweder ignoriert oder von US-PolitikerInnen und den Mainstream-Medien beträchtlich heruntergespielt. Siehst du das genauso?
NOAM CHOMSKY
Dasselbe galt für Reagans und Bushs Versionen des »Antiterrorkriegs«. Für Reagan diente er als Vorwand, in Mittelamerika so brutal einzugreifen, dass der salvadorianische Bischof Rivera y Damas (der Nachfolger des getöteten Erzbischofs Oscar Romero) die Verhältnisse als »Vernichtungskrieg und Genozid gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung« beschrieb. Noch schlimmer war der Krieg in Guatemala und ganz übel in Honduras. Nicaragua war das einzige Land, das über Soldaten verfügte, um sich gegen Reagans Terrorarmee zu verteidigen; in den anderen Ländern waren die Soldaten die Terroristen.
In Südafrika diente der »Antiterrorkrieg« als Vorwand, um die in Südafrika und den umliegenden Ländern begangenen Verbrechen zu unterstützen. Das forderte einen entsetzlichen Blutzoll, denn wir mussten ja die Zivilisation vor einer der »berüchtigtsten Terrororganisationen« der Welt – Nelson Mandelas Afrikanischem Nationalkongress – beschützen. Mandela selbst behielt man bis zum Jahr 2008 auf der US-Terroristenliste. Im Nahen Osten hatte der konstruierte »Antiterrorkrieg« zur Folge, dass man Israels skrupellose Invasion des Libanon und etliche weitere Verbrechen unterstützte. Für Bush bot er einen Vorwand, in den Irak einzumarschieren, und auf diese Weise setzt sich der »Antiterrorkrieg« fort bis in die Gegenwart.
Theater of War