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Mara Laue

Spannung, zart kribbelnd bis mörderisch

Methoden der Spannungserzeugung für alle Genres



Titel

 

 

 

 

 

 

 

 

Mara Laue

 

 

Spannung,

zart kribbelnd bis mörderisch

 

Methoden der Spannungserzeugung für alle Genres

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Autorentipps im vss-verlag

Jahr: 2021

 

ISBN: 9789403643328

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Covergestaltung: Hermann Schladt unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Verfasserin unzulässig

 

 

 

 

 

 

8. Persönlichkeiten mit „Profil“

 

Von reinen Abenteuerromanen/-geschichten abgesehen, bei denen das Abenteuer im Mittelpunkt steht und die fast ausschließlich von Handlungsspannung, Hauptkonfliktspannung und Situationsspannung leben, ist die Hauptfigur ein wichtiger Bestandteil zur Spannungserzeugung. Sie ist der Mittelpunkt, und alles, was in der Geschichte passiert, hat einen direkten oder indirekten Bezug zu ihr und/oder Konsequenzen für sie.

Der gesamte Hauptkonflikt Ihrer Geschichte ist der Konflikt Ihrer Heldinnen und Helden, der mehr oder weniger gravierende Folgen für sie hat (zugunsten der Spannung lieber mehr als weniger) und dessen Lösung ihnen erhebliche Probleme bereitet oder sogar Verluste beschert. Auch wenn es Ihnen anders erscheint: Nicht der verzwickte Kriminalfall ist der Mittelpunkt der Handlung, nicht die sich anbahnende oder bereits etablierte Liebe mit allen ihren Komplikationen, nicht die Abenteuer der gestrandeten Raumschiffscrew, nicht der Kampf um den gestohlenen magischen Schild oder die ungerechte Klassengesellschaft in der Dystopie, sondern die Hauptfiguren und der Konflikt/die Konflikte, der/die sich aus diesen Dingen FÜR DIE FIGUREN ergeben.

Selbstverständlich gibt es auch Geschichten und Romane, bei denen die Handlung, das Abenteuer im Mittelpunkt steht und die trotzdem spannend sind. In solchen Geschichten entwickelt sich die Hauptfigur persönlich nicht weiter. Sie bleibt derselbe Mensch, der sie vor Beginn des Abenteuers bereits gewesen ist.

Ein gutes Beispiel dafür ist Robert Langdon, die Hauptfigur in Dan Browns Romanen „Da Vinci Code“ („Sakrileg“), „Illuminati“ und anderen. Er erlebt in jedem Roman ein Abenteuer, das so spannend ist und ihn mehrfach in Lebensgefahr bringt, dass die Lesenden die Seiten verschlingen. Aber er selbst entwickelt sich durch die Erlebnisse nicht weiter. Die Abenteuer haben keine persönlichen, ihn prägenden und/oder verändernden Konsequenzen für ihn. Er bleibt derselbe Mensch, der er auch zu Anfang des Romans war und hat lediglich am Ende ein paar blaue Flecken, Wunden, Narben mehr. Anschließend kehrt er zurück in seinen Alltag als Harvard-Professor und lebt den unbeeinträchtigt weiter. Sogar seine Romanzen sind nicht von Dauer und enden nach dem Abenteuer „jenseits des Buchdeckels“ und vor Beginn des nächsten Romans.

Langdon selbst hat ungefähr so viel „Profil“ wie ein abgenudelter Autoreifen: gar keins. (Pardon, Mr. Langdon!). Er ist austauschbar. Man könnte aus ihm eine Frau machen, ihm jede beliebige Nationalität der Welt, jede beliebige ethnische Zugehörigkeit, jede mögliche Religion geben – die Handlung des Romans bliebe davon völlig unbeeinflusst und würde in jedem Fall genauso ablaufen, wie der Autor sie beschrieben hat. In diesen Büchern steht tatsächlich die Handlung, das „Abenteuer“ im Mittelpunkt, das Rätsel, das es zu lösen gilt. Deshalb fällt den meisten Lesenden gar nicht auf, dass Robert Langdon als Charakter blass bleibt. Das Einzige, was für die Lösung der jeweiligen Fälle erforderlich ist, das Besondere, das Langdon von anderen Professoren und Professorinnen unterscheidet, ist sein Fachgebiet: die Symbologie und Kryptologie.

 

Womit wir zum wichtigsten Kriterium für Persönlichkeiten „mit Profil“ kommen: SIE prägen aufgrund dieses Profils durch ihre/wegen ihrer Eigenschaften, Wesenszüge, Lebensgeschichte, ihres Berufs und aller ihrer Lebensumstände die gesamte Geschichte. DIESE Geschichte könnte ohne DIESE Hauptfigur nicht so ablaufen, wie sie abläuft. Jede Eigenschaft, jeder Fehler, jede Schwäche und Stärke, jeder Beruf, jede körperliche und seelische Prägung/Einschränkung, die die Hauptfigur erfahren, erlebt, erlitten hat, beeinflusst direkt oder indirekt das GESAMTE Geschehen. Würde man einen einzigen Aspekt davon ändern, würde sich dadurch auch die Story teilweise oder sogar vollständig verändern.

Daraus folgt: Die Hauptfiguren müssen entweder in besagten Charakteristika bereits VOR dem Ausarbeiten des Plots entworfen und der Plot auf sie zugeschnitten werden. Oder sie müssen NACH dem Festlegen der Plothandlung eben dieser mit den dafür erforderlichen Eigenschaften angepasst werden.

Das Zweitwichtigste ist das Identifikationspotenzial. Die Figuren müssen Menschen aus (gefühltem) „Fleisch und Blut“ sein, damit die Lesenden sich mit ihnen identifizieren können. (Ausgenommen bei Satiren und Komik, wo auch die Figuren bewusst  überzeichnet = unrealistisch dargestellt werden können.) Sie müssen Leute sein, die theoretisch „nebenan“ wohnen könnten, aber als positive Hauptpersonen (Protagonistin/Protagonist), als „Heldinnen/Helden“ müssen sie überwiegend positive Eigenschaften haben. Kurzum: Sie müssen Menschen sein, mit denen man gern befreundet oder benachbart sein möchte. Selbstverständlich müssen sie Fehler und Schwächen haben wie jeder echte Mensch auch, sonst wären sie unglaubwürdig. Aber sie dürfen nicht so „kaputt“ oder personifizierte „Ekel“ sein, dass nicht nur die fiktiven Kolleginnen/Kollegen, der Verwandten- und Bekanntenkreis möglichst nichts mit ihnen zu tun haben wollen, sondern die Lesenden ebenfalls nicht.

Wie im richtigen Leben: Menschen ohne Fehl und Tadel, ohne negative Eigenschaften, Schwächen, ohne schlechte Laune ab und zu, ohne hin und wieder ungerechtes oder egoistisches Verhalten, ohne schlimme Lebenserfahrungen gibt es nicht. In der Literatur sollte es sie auch nicht geben. Mit Ausnahme von Märchen und, wenn es passt, Satire und Komik, in denen Gut und Böse bewusst überspitzt werden.

Ein weiteres wichtiges Kriterium ist, dass sie die Fähigkeit(en) und/oder Berufe oder Hobbys besitzen, die erforderlich sind, um den Hauptkonflikt, die ihnen gestellte(n) Aufgabe(n) zu lösen. Ohne Kenntnisse von Ermittlungsarbeit – Tatortarbeit, Vernehmungs­methoden, Recherchemöglichkeiten, Kenntnisse der Gesetze et cetera – kann das Ermittlungsteam das Verbrechen nicht aufklären. (Aus diesem Grund sind die meisten modernen „Miss Marples“ auch sehr unglaubwürdige Charaktere.) Ohne entsprechende sportliche Fitness, die nur durch regelmäßiges Training erreicht werden kann, ist die von den Bösen mit Mordabsichten verfolgte Heldin nicht in der Lage, einen kilometerbreiten Fluss zu durchschwimmen oder zwei Minuten lang zu tauchen, ohne mittendrin vor Erschöpfung zu ertrinken. Ohne die ägyptischen Hieroglyphen zu kennen, kann der Archäologe den gefundenen Papyrustext nicht entziffern. Und ohne Kampfsport zu betreiben oder beim Militär gewesen zu sein, kann die Detektivin ihren Angreifer kaum (glaubhaft) im Nahkampf besiegen.

Auch hier genügen oft schon Kleinigkeiten, um einem „Normalo“ einen besonderen Touch zu geben. Siehe oben: Er/Sie trainiert regelmäßig im Schwimmverein oder betreibt Kampfsport. Oder joggt täglich mehrere Kilometer als Vorbereitung für einen Marathonlauf und ist deshalb in der Lage, den Verfolgern zu entkommen, die nach fünfhundert Metern total aus der Puste sind und die Verfolgung aufgeben müssen.

 

Nebenbei: Einen Umstand, den viele Autorinnen/Autoren leider außer Acht lassen, ist die Zeit. Ihre Figuren müssen selbstverständlich die Zeit dazu haben, den Konflikt, die Aufgabe zu lösen. Wer einen Vollzeitjob hat, kann nicht tagelang der Arbeit fernbleiben, ohne sich krank zu melden oder Urlaub zu nehmen. Auch die Finanzen müssen stimmen. Wer nur einen Minijob hat oder im Billiglohnsektor arbeitet, kann unmöglich mal eben ins Ausland jetten. Schon eine Bus- oder Zugreise in eine weiter entfernte Stadt erzeugt finanzielle Probleme, weil nicht nur die Reise bezahlt werden muss, sondern auch der Aufenthalt dort. Hat die Figur Familie mit Kind und Kegel, Hund und Katze, muss auch das berücksichtigt werden. Wie im realen Leben.

 

Um solche „Profil-Persönlichkeiten“ = bereits in sich selbst spannende Charaktere zu entwickeln, hat sich bewährt, sich vor dem Beginn der Arbeit am Roman intensive Gedanken über die Hauptfiguren zu machen. Viele Autorinnen/Autoren entwerfen zu diesem Zweck „Personalakten“, in denen sie ihren Hauptfiguren das gesamte Leben von der Geburt bis zum Beginn der Romanhandlung auf den Leib schreiben und darin einen kompletten Lebenslauf entwerfen. Name, Geburtsdatum, Aussehen, Größe, Beruf(e), Namen und Daten der Eltern, Geschwister und Partnerin/Partner, das Verhältnis zu ihnen, Hobbys, Freundinnen, Feinde, prägende positive und negative Erlebnisse, Charaktereigenschaften, Stärken, Schwächen, Motivation für die Berufswahl, wichtige Erlebnisse in Kindheit, Jugend, der Schule, Berufsleben, Religion, politische Richtung – einfach ALLES, was diese Person zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist. (Meine kürzeste Personalakte umfasst elf Seiten, meine längste neunzehn.)

Selbstverständlich wird nicht alles im Roman verwendet; eher nur sehr wenig davon. Aber durch diesen Lebenslauf bekommen die Figuren für uns Autorinnen/Autoren Tiefe, Profil, und sie werden für uns zu „echten Menschen“. Davon profitiert Ihre Geschichte enorm.

Das „Profil“ Ihrer Figuren beginnt bereits mit einem interessanten Namen. Der muss (von Fantasyromanen und vielleicht auch Science Fiction abgesehen) nicht unbedingt exotisch sein, aber er sollte sich mit dem Vor- oder Nachnamen deutlich von der Masse abheben; nicht nur von der Masse der bereits existierenden literarischen Figuren, sondern auch von der realer Menschen. Lesenden fällt es schwer, sich mit Hauptfiguren wie Felix Müller, Jonas Meier, Tim Schulz oder Heldinnen zu identifizieren, die Michaela Schmidt, Lena Fischer, Maria Schneider heißen. Sie sind zu alltäglich. Lesende lieben Geschichten, die sie aus dem Alltag herausreißen. Handeln diese Geschichten von Leuten mit Allerweltsnamen, fällt es ihnen aufgrund dieser Alltäglichkeit schwer(er), in die Geschichte einzutauchen.

Zu exotisch sollte der Name aber auch nicht sein. „Sylviana Steinfels-Alarich“ wäre doch etwas übertrieben. Und ich wage zu bezweifeln, dass Lesende sich mit einer „Scholastika“ oder „Terpsichore“ oder einem „Vlastimil“ oder „Wunibald“ identifizieren können. Wobei wir schon beim zweiten Namenskriterium sind: Die Namen müssen zur Herkunft und dem Alter Ihrer Figuren passen. Mit Namen wie Martha oder Egon verbinden wir automatisch Menschen im Alter unserer (Ur)Großeltern, in jedem Fall aber Leute aus deutschsprachigen Ländern. Ein Vijay stammt entweder aus Indien oder hat indische Wurzeln oder Eltern, die Indien-Fans sind, vielleicht auch einen Paten mit diesem Namen.

Zwar nimmt aktuell der Trend zu, Kindern ausländische Namen zu geben oder altdeutsche Namen wie Karl oder Alwine. Für die Literatur sollten die Namen aber schon auf den ersten Blick „passen“. Allerdings kann man auch hier einen ungewöhnlichen Touch erzeugen, und zwar durch die Schreibweise: Carl statt Karl und Alwina oder auch Albina statt Alwine – schon wirkt das „Altbackene“ zwar nicht gerade neu, aber ungewöhnlich. Nebenbei: Auch der Name prägt nicht nur bei realen Menschen den Charakter. Wer einen Namen hat, wegen dem er in der Schule gehänselt wurde und sich auch als Erwachsener deswegen ständig dumme Sprüche anhören muss, wird durch die dadurch erlittenen Verletzungen und dem „dicken Fell“, in das er sich permanent kleiden muss, in einem dauerhaften „Abwehrmodus“ sein und schroff reagieren, selbst wenn ihn niemand angegriffen hat. Auch solche Dinge müssen Sie bei der Figurenentwicklung berücksichtigen.

Bei Namen für Fantasygeschichten haben Sie es noch leichter, weil das keine realen Namen sein müssen. Reihen Sie willkürlich Silben möglichst klangvoll aneinander, und Sie haben wundervolle und wahrhaft fantastische, in jedem Fall aber einzigartige Namen. Oder nehmen Sie reale Namen und verwandeln Sie die, indem Sie entweder einzelne Buchstaben austauschen, sie rückwärts schreiben oder Silben vertauschen. Sie werden staunen, was für Namen sich daraus ergeben. Marlis – rückwärts: Silra(m). Paula – vertauschte Silben: Lapa’u, und das Apostroph vor dem U, das anzeigt, dass a und u getrennt und nicht „au“ gesprochen werden sollen, wirkt exotisch. Harald – ausgetauschte Buchstaben: Tagalo. Und noch ein paar Namen aus zusammengefügten Silben: Namda, Tarigu, Belismon, Daschtori. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Die einzige unumstößliche Regel bei der Namensgebung ist, dass die Lesenden sie aussprechen können, auch wenn die Aussprache nicht korrekt sein sollte. Wer nicht weiß, dass zum Beispiel der irische Name Seamus „Schejmes“ ausgesprochen wird, nennt die betreffende Figur entweder Se-a-mus (wie es geschrieben ist) oder in Anlehnung an das Englische Simes (Sea = ausgesprochen: „Si“ = Meer). So oder so kommt trotzdem ein aussprechbarer und merkbarer Name heraus. Allerdings sollten Sie in solchen Fällen in den Text möglichst früh die Aussprache einflechten oder, falls das nicht möglich ist, die korrekte Aussprache in einem Nachwort oder Glossar offenbaren, denn in Gedanken „spricht“ man den Text beim Lesen immer mit.

Geben Sie bitte auch Ihren wichtigen Nebenfiguren sorgfältig ausgewählte Namen! Wenn Sie Glück haben, gefällt eine der Nebenfiguren den Lesenden so gut, dass sie mehr von ihr erfahren, eigene Abenteuer über sie lesen wollen. Oder der Verlag wünscht ein Spin-off (Ableger) eines Romans oder einer Trilogie, weil den Lesenden das darin enthaltene Setting so gut gefällt, und nimmt als neue Hauptfigur einen bereits vertrauten Charakter aus dem Ursprungswerk. Dadurch wird diese Nebenfigur zur Hauptfigur einer eigenen Geschichte. Haben Sie ihr, weil sie vorher nur eine Nebenfigur war, einen Allerweltsnamen gegeben, wird sie mit ihrer eigenen Geschichte unter Umständen nicht so viel Erfolg haben, wie sie es mit einem unkonventionelleren Namen hätte, weil nicht nur Fans des ersten Werkes mit dem neuen Werk angesprochen werden sollen, sondern auch „Neulesende“.

 

Auch die negative Gegenpartei (Antagonistinnen/Antagonisten) und wichtige Nebenfiguren sollten Sie ebenso sorgfältig entwerfen wie Ihren Hauptfiguren. In früheren Zeiten (bis etwa Mitte der 1970er Jahre) genügte es, dass „die Bösen“ einfach nur „böse“ war. Aus dieser vermutlich „angeborenen“ Bösartigkeit heraus hassten sie die Heldinnen/Helden oder begingen ihre Verbrechen ohne jeden ersichtlichen Grund. Heutzutage genügen solche Figuren den Lesenden nicht mehr. Sie wollen auch bei den Antagonistinnen/Antagonisten wissen, was für Menschen sie sind, warum sie geworden sind, wie sie sind und vor allem welchen nachvollziehbaren (!) Grund sie haben, den Hauptfiguren feindlich gesinnt zu sein und/oder Verbrechen zu begehen.

Hier haben Sie die Möglichkeit, auch die negativen Hauptfiguren als Menschen mit einzigartigem Profil und sogar, wenn Sie das wollen, als sympathische Personen anzulegen. Schließlich ist kein Mensch nur gut oder böse. Jeder trägt beides in sich. Und auch die schlimmsten Verbrecher haben gute Seiten, sind nette Kollegen, pflegen Freundschaften, haben eine Familie, die sie liebevoll umsorgen, oder lieben Tiere. Sehr oft sagen Nachbarn und Freunde realer Verbrecher, sogar solcher, die wirklich üble Taten begangen haben, über diese Menschen aus, dass sie sie immer als freundlich und hilfsbereit erlebt haben. Jeder Mensch hat eben zwei Seiten.

Außerdem können Sie die sympathischen Seiten der „Bösen“ spannungssteigernd nutzen, um die Lesenden zu überraschen. Wegen der immer noch allzu oft gebrauchten Darstellung der Bösen als „nur böse“, traut man ihnen nicht zu, dass sie fair handeln und zum Beispiel darauf verzichten, auf der verhassten Hauptfigur herumzuhacken, während diese schwer krank oder verletzt im Bett liegt. Oder dass die Antagonistin sich aufrichtig für Umweltschutz engagiert (ohne in ideologische „Blindheit“ oder gar Öko-Terro­rismus abzudriften) und der Antagonist zu Hause liebevoll das schwerstbehinderte Kind pflegt.

Wenn jemand mit einem anderen Menschen spinnefeind ist, bedeutet das schließlich nicht, dass diese Person generell ein schlechter Mensch wäre, sondern nur, dass es zwischen ihr und dem „Spinnefeind“ ein Zerwürfnis gegeben hat, welches zu dieser Feindschaft führte. Mit anderen Menschen kommen beide Beteiligten trotzdem gut aus und werden von denen geschätzt. Und gerade dieses scheinbar Gegensätzliche macht die Antagonistinnen/Antagonisten für die Lesenden unberechenbar und ihre Handlungen entsprechend unvorhersehbar = spannend. Das Einzige, was Sie hierbei beachten müssen, ist, dass Sie diese Haltung/Handlungen der „Bösen“ glaubhaft begründen.

 

Ein weiteres sehr wichtiges Kriterium für Ihre Figuren – die positiven wie die negativen – ist, dass sie glaubhaft und vor allem für die Lesenden nachvollziehbar handeln. Sie können Ihren Figuren nahezu alles an Verhalten auf den Leib schreiben, auch Dinge, die nicht auf den ersten Blick für alle Lesenden gleichermaßen verständlich und nachvollziehbar sind. Sie müssen sie nur im Verlauf der Handlung, vielleicht auch erst am Ende (Aufklärungsspannung) erklären und begründen. Allerdings sollten Sie auf echte Absurditäten und Unlogiken verzichten, weil man Ihnen die nicht einmal mit der besten Erklärung abkauft.

Ein bewährtes Mittel ist, wenn Sie sich bei dem, was Ihre Figuren tun (sollen), fragen, ob Sie selbst in einer entsprechenden Situation so handeln, sich so verhalten würden, wie Sie es Ihrer Figur auf den Leib schreiben wollen. Würden Sie zum Beispiel der Polizei durch eigene Ermittlungsversuche ins Handwerk pfuschen und sich und vielleicht auch noch Ihre Familie dadurch in unkalkulierbare Gefahr, vielleicht sogar Lebensgefahr bringen?

Würden Sie sich mit Ihrem Geliebten/Ihrer Geliebten, mit dem/der Sie Ihre Frau/Ihren Mann betrügen, ausgerechnet in Ihrer eigenen Wohnung zum Schäferstündchen treffen, wo die Nachbarschaft deren/dessen Kommen und Gehen jederzeit bemerken kann? Oder überhaupt in der Öffentlichkeit, wo jeden Moment ein Bekannter vorbeikommen und Sie sehen kann? Würden Sie, wenn Ihr Kind entführt wurde, der Anweisung „Keine Polizei!“ gehorchen und dadurch das Leben Ihres entführten Kindes erst recht gefährden? Oder würden Sie bei strömendem Regen Ihren Rasen mähen oder die Fenster putzen oder bei Schnee und Eis und minus fünfzehn Grad im T-Shirt einkaufen gehen?

Sicherlich nicht. Deshalb sollten Sie auch Ihre Figuren, ganz besonders Ihre Hauptfiguren, nicht so handeln lassen. Sie werden dadurch unglaubwürdig und wirken manchmal sogar lächerlich. Sollten Sie dennoch einmal eine Ihrer Figuren „unnormal“ reagieren lassen, müssen Sie das den Lesenden glaubhaft begründen.

Selbstverständlich müssen Sie bei diesem Gedankenspiel die Fähigkeiten Ihrer Figuren berücksichtigen. Wenn Sie selbst mangels militärischer Ausbildung die Flucht ergreifen oder sich unter dem Bett verstecken, wenn ein Einbrecher im Haus ist, greift Ihre fiktive Polizistin oder der Soldat auf Urlaub zur nächstbesten Waffe (Baseballschläger, Kerzenständer, Küchenmesser) und nimmt den Kampf auf. Wenn Sie persönlich schüchtern sind und sich in einem Raum voller fremder Menschen am liebsten verstecken würden, hat Ihre weltreisende Heldin nicht das geringste Problem, dort Kontakte zu knüpfen, ins Gespräch zu kommen oder sogar auf einer Bühne Karaoke zu singen.

Besitzen Ihre Figuren Fähigkeiten oder haben sie Traumata erlitten, die ihr Handeln beeinflussen, mit denen Sie selbst sich aber nicht auskennen, sollten Sie sich in Fachbüchern über die für diese Dinge typischen Handlungen und Reaktionen vertraut machen und natürlich auch über die Fachbegriffe, die Ihre fiktiven Fachleute ganz selbstverständlich in Dialogen verwenden. Eine Deutschprofessorin, die vom „Tuwort“ spricht, statt es „Verb“ zu nennen, ist ebenso unglaubwürdig wie der passionierte Reiter, der den Schweif seines Pferdes als „Schwanz“ bezeichnet, oder die Juwelierin, die nicht weiß, dass schwarze Opale zwar sehr dunkel, aber niemals komplett schwarz sind.

Vielleicht erscheint Ihnen das alles übertrieben, aber solche scheinbaren (!) Kleinigkeiten tragen sehr dazu bei, ob Ihre Figuren von den Lesenden als „echte“ Menschen wahrgenommen werden oder als pure Fiktion. Ihr Lesepublikum sollte niemals über Ihre Hauptfiguren – die positiven wie die negativen – denken (müssen): „Himmel, der/die benimmt sich ja dümmer als die Polizei erlaubt!“ Oder: „Der/Die hat ja vom eigenen Job keine Ahnung!“ Denn mit unglaubwürdigen Figuren kann (und will) sich niemand identifizieren, und sie „taugen“ deshalb auch nicht als Heldinnen/Helden. Einzige Ausnahme ist die Komik, wenn das unglaubwürdige Verhalten bewusst benutzt wird, um das (Lese-)Publikum zum Lachen zu bringen.

 

 

 

8.1 Figurenklischees

 

Im Kapitel über die Originalität habe ich Sie vor Ihrem Erzfeind, dem Klischee, gewarnt. Dieser Feind lauert nicht nur im Plot, sondern besonders auch in den Figuren, die Sie erfinden. Zwar haben viele klischeehaften Charaktere einen „wahren Kern“ und sind zum Klischee geworden, weil sie real tatsächlich häufig vorkommen. Andere wurden extra für Literatur oder Film erfunden (zum Beispiel das blonde Dummchen, seit Marilyn Monroe in so einer Rolle brillierte) und immer wieder aufgegriffen, bis sie zum Klischee wurden. (Die Blondinenwitze der 1980er Jahre gaben dem Stereotyp des blonden Dummchens den Rest.) Nachdem sie alle aber so oft in Büchern, Geschichten und Filmen verwendet wurden, dass sie zum Klischee verkommen sind, fehlt ihnen eben deswegen jegliche Originalität, denn Klischees sind per se langweilig. Siehe  oben: Klischees sind vorhersehbar, abgedroschen und deshalb das Gegenteil von spannend.

Glauben Sie mir: Das Gros Ihrer Lesenden (Ausnahmen gibt es natürlich immer) will nicht schon wieder eine/n geschiedene/n Kommissar/in mit einem psychischen Knacks, einen Serienkiller, der blonde/brünette/rothaarige Frauen abschlachtet, weil seine böse Mutter diese Haarfarbe hatte. Die Lesenden wollen nicht den nächsten rücksichtslosen Chef, edelmütige oder arrogante Elfen, strahlende Recken ohne Fehl und Tadel oder die nur auf ihr Äußeres bedachte, herumzickende Geliebte, von der man schon bei ihrem ersten Auftauchen weiß, dass die Hauptfigur sich am Ende garantiert nicht für sie entscheiden wird.

Diese Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen, aber Sie haben das Bild vor Augen: Alles, was Ihnen schon oft begegnet ist, taugt nicht zum originellen Charakter. Selbstverständlich gibt es in der Realität solche Personen (von Elfen, Vampiren und anderen Fantasiewesen abgesehen) und es wird sie auch immer (wieder) geben. Aber als Hauptfiguren oder deren Gegenpart in der Literatur taugen sie nur noch bedingt, weil viele Lesende aufgrund ihrer bereits übergroßen Zahl sich nicht (mehr) mit ihnen identifizieren oder sie ernstnehmen können.

Den Hauptgrund habe ich Ihnen im Kapitel über die Originalität bereits genannt: Diese Personen sind – weil Klischees – vorhersehbar. Alles, was sie tun werden, was sie denken, was sie fühlen, wie sie sich verhalten, kennen die Lesenden bereits. Damit können sie nicht nur die meisten Reaktionen dieser Figuren vorhersagen, sondern auch weite Teile der Gesamthandlung von Romanen, die von solchen Figuren bevölkert werden. Und fort ist die Spannung, vielmehr kommt sie gar nicht erst auf. Auch wirken die immer wieder identischen Figuren unter anderem deshalb langweilig, weil sie nichts Neues zu bieten haben. Niemand isst ständig dasselbe, weil man es sonst irgendwann nicht mehr mag. Ebenso will niemand die ewig gleichen (oder doch sehr ähnlichen) Figuren immer wieder in Büchern und Filmen serviert bekommen.

Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle: Warum gibt es trotzdem Neuveröffentlichungen, die genau diese „altgedienten“ Figuren immer und immer wieder präsentieren? Weil viele Verlage sich nicht trauen, Innovationen Raum zu geben. Das Althergebrachte hat sich bewährt und wird gekauft, wenn auch oft nur deshalb, weil das Lesepublikum das ersehnte/gewünschte Neue (fast) nirgends findet. Wenn man nicht findet, was man sucht, nimmt man eben das, was da ist, bevor man gar nichts zu lesen hat. Daraus abzuleiten, die Lesenden seien mit dem Angebot zufrieden, ist ein leider weitverbreiteter Trugschluss. Deshalb mein Rat: „Trauen“ Sie sich an das Innovative, das Besondere, das Unverbrauchte! Einen Verlag, der das veröffentlicht, werden Sie garantiert finden, auch wenn Sie vielleicht etwas länger nach ihm suchen müssen. Und bedenken Sie: Die Bestseller wie zum Beispiel „Harry Potter“ oder „Da Vinci Code“ („Sakrileg“) waren keine 08/15-Storys, sondern Innovationen, waren neue, unverbrauchte Geschichten mit (noch) neuen Figuren. Gerade deshalb sind sie zu Bestsellern geworden.

 

Eine besondere Form der Figurenklischees ist das Geschlechterklischee. Besonders, aber nicht nur in manchen Liebesromanen hat sich wieder eingeschlichen, dass Frauen als unselbständige Idiotinnen dargestellt werden, die ohne Mann nichts geregelt bekommen. Schlimmer noch: Der „Bad Boy“ – ein Mann, der sich (nicht nur Frauen gegenüber) wie der letzte Arsch benimmt – wird von den Protagonistinnen als „süß“ und begehrenswert empfunden, sodass sie sich in ihn verlieben und sich teilweise von ihm Dinge gefallen lassen, die einfach nur frauenverachtend sind. Natürlich hat „Er“ einen tollen Körper, und das genügt dann als Begründung für das sich Verlieben.

Das ist, mit Verlaub, sexistisch. Und zwar in doppelter Hinsicht. Frauen hassen es (in der Regel), wenn man sie auf ihren Körper und/oder ihr Geschlecht reduziert und in ihnen ein Sexobjekt und/oder einen Menschen zweiter Klasse sieht; zumindest wenn sie ein Mindestmaß an Selbstbewusstsein besitzen. Die Autorinnen (seltener Autoren) dieser Romane tun mit den Männerfiguren aber genau das: Sie reduzieren sie auf ihr Geschlecht und ihr Äußeres.

Davon abgesehen würde sich keine Frau, die auch nur einen Funken Selbstachtung besitzt, mit so einem ungehobelten „Bad Boy“ abgeben, geschweige denn sich in ihn verlieben. Bis auf Frauen, die in ihrer Biografie eine so negative Konditionierung und Unterdrückung erfahren haben (in der Regel von den Eltern oder älteren Geschwistern), dass ihnen jedes Selbstwertgefühl und erst recht alles Selbstbewusstsein „ausgetrieben“ wurde. Und dass am Ende der Bad Boy selbstverständlich aus Liebe zur Heldin zum Nice Guy mutiert, ist gemessen an der Realität absolut unglaubwürdig.

In allzu vielen Romanen müssen Frauen immer noch von einem Mann „gerettet“ werden, sei es aus einer Gefahr oder aus irgendeiner „Alltagsbredouille“. Gehobene Positionen in Firmen sind fest in männlicher Hand. Hat eine Frau sie inne, wird sie nahezu immer als kalt und/oder egoistisch dargestellt. Alternativ: Sie ist mit der Firmenleitung überfordert und braucht einen männlichen Berater, der für sie die Kastanien aus dem Feuer holt.

Figuren, die in technischen oder wissenschaftlichen Berufen brillieren, sind überwiegend Männer. Das Dummchen vom Dienst – blond oder nicht – ist eine Frau. Ein Mann, der Sex liebt und entsprechend wechselnde Partnerinnen hat, ist ein toller Hecht und ein begehrenswerter Typ. Eine Frau, die Sex liebt und wechselnde Partner hat, wird immer noch als „liebestoll“, krankhaft nymphoman oder sogar als „Hure“ disqualifiziert. Erst recht ist sie in der Regel nicht die Heldin der Geschichte. Falls doch, ist sie „krank“ und deshalb promiskuitiv und muss von dem Mann, den sie liebt, „geheilt“ werden.

Die Schurken sind fast ausschließlich männlich. Frauen brillieren allenfalls als perfide Intrigantinnen. Auch Jäger sind fast immer männlich, obwohl der Prozentsatz der Jägerinnen in Deutschland gegenwärtig zwanzig Prozent beträgt, in den USA liegt er bei knapp vierzig Prozent. (Dort besitzen laut Statistiken der lizenzierten Waffenhandlungen mittlerweile 72,7 Prozent aller Frauen des Landes legal eine Schusswaffe und der Anteil der aktiven Sportschützinnen liegt bei 51,7 Prozent, Stand 2016.)

Auch diese Liste ließe sich noch sehr lange fortsetzen.

Solche Figuren – sowohl die weiblichen wie die männlichen – taugen nicht als Hauptfiguren. Vor allem sind sie der Spannung abträglich. Inzwischen kennen Sie den Grund: Stereotypen sind vorhersehbar! Deshalb wird mit stereotypen Figuren oder Handlungen kaum Spannung erzeugt.

Davon abgesehen ist Literatur immer auch ein Zeitzeugnis, selbst wenn es sich um reine Belletristik und Fiktion handelt. Die Realität von Frauen und Männern sieht aber zumindest in unserem Land inzwischen anders aus als zu der Zeit, in denen diese Klischees entstanden sind. Immer mehr Männer nehmen Elternzeit. Immer mehr Frauen werden Polizistinnen, Soldatinnen, Wissenschaftlerinnen, Kfz-Mechanikerinnen, Technikerinnen. Im Negativen werden aber auch immer mehr Frauen (Schwer-)Verbreche­rinnen (Stichwort „Mädchengangs“).

Frauen stehen heutzutage zumindest in Deutschland alle Bereiche offen, beruflich wie privat. Dementsprechend sollten Sie Frauen zwar nicht auf Biegen und Brechen permanent zu Ihren Hauptfiguren machen oder sie ausschließlich in traditionellen „Männerberufen“ und mit traditionellen „Männerhobbys“ (Bogenschießen, Boxen, Jagen) arbeiten oder ihre Freizeit verbringen lassen. Aber Sie sollten darauf achten, sie realistisch und klischeefrei gemäß den Gegebenheiten der heutigen Zeit darzustellen und sie in jedem Fall als intelligente und kompetente Persönlichkeiten anlegen, die ganz selbstverständlich (und ohne sich für ihre Berufs-/Hobbywahl rechtfertigen oder gar entschuldigen zu müssen) Ärztinnen, Jägerinnen, Managerinnen, Firmeninhaberinnen, Wissenschaftlerinnen, Technikerinnen, Kampfsportlerinnen, Soldatinnen sein können, aber ebenso selbstverständlich in jedem anderen Beruf kompetent ihr Bestes geben.

Natürlich gilt das Gesagte auch für Ihre Männerfiguren. Ihre männlichen Helden müssen nicht mehr die traditionellen Klischees von „Männlichkeit“ bedienen und „harte Kerle“ oder „Indianer“ sein, die keinen Schmerz kennen. Männer dürfen heutzutage Gefühle zeigen, weinen, schwache Momente haben, als liebevolle und engagierte Väter ihr Baby wickeln und füttern, dürfen Balletttänzer sein, ohne gleich in der Verdacht zu geraten, schwul zu sein (immer noch ein gängiges Vorurteil!), müssen nicht ihr Ziel darin sehen, die geliebte Frau (finanziell) zu „versorgen“ und sich nicht als Versager fühlen, wenn sie arbeitslos werden. Sie dürfen stricken, sticken und häkeln, wenn es ihnen gefällt, Yoga und Pilates betreiben (der Erfinder von Pilates war auch ein Mann: Joseph Pilates), Sprechstundenhilfe sein und Hebamme werden. Ihr Held sollte eine Frau als Chefin problemlos akzeptieren und darf gern seiner Chefin-Frau (oder Kanzlerin) den Rücken freihalten.

Nur auf eines sollten Sie immer Wert legen: Ihre männliche Hauptfigur sollte nicht nur seine (aktuelle oder künftige) Partnerin/Kollegin, sondern alle Frauen gleichermaßen mit Achtung und Respekt behandeln und sie als ihm gleichberechtigte, ebenbürtige Persönlichkeiten sehen (und selbstverständlich auch umgekehrt). Er sollte niemals Anstoß daran nehmen, wenn eine Frau in dem einen oder anderen Bereich besser ist als er. Männer und Frauen sind nach dem Grundgesetz gleichberechtigt. Nutzen Sie die sich dadurch bietenden Möglichkeiten, um unverbrauchte, klischeefreie und entsprechend spannende Frauen- und Männerfiguren zu erfinden.

 

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Checkliste

 

Um Ihre Figuren, besonders Ihre Hauptfiguren, spannend zu gestalten, brauchen Sie:

einen markanten, wenn auch nicht übertrieben exotischen Namen, der sich leicht merken und flüssig aussprechen lässt.

einen sympathischen Grundcharakter für die Hauptfiguren und wichtigen Nebenfiguren. Ihre Protagonistinnen/Protagonisten dürfen gern ambivalent sein, auch mal die Sau rauslassen und sich daneben benehmen, aber das Positive sollte überwiegen.

einen interessanten Grundcharakter für die Antagonistin/den Antagonisten, die selbstverständlich auch positive Eigenschaften haben. Stellen Sie sie/ihn nicht zu negativ dar, um diese Figuren nicht unglaubwürdig zu machen.

Fehler und Schwächen für beide, ebenso Stärken.

glaubhafte Handlungsmotive für beide.

glaubhaftes, für die Lesenden nachvollziehbares Handeln aller Figuren.

Verzicht auf Klischees und besonders Geschlechterklischees.

mindestens eine Fähigkeit (Charaktereigenschaft, Beruf, Hobby, soziales/politisches Engagement), die den Hauptfiguren ermöglicht, den Hauptkonflikt der Geschichte zu lösen.

ein oder mehrere gravierende Ereignisse in der ferneren oder unmittelbaren Vergangenheit, die Ihre Figuren geprägt haben, sowohl positiv wie auch negativ, von dem sich Ihre Figur vielleicht noch immer nicht erholt hat. Besonders ein Lebensbruch hat gravierende Auswirkungen auf Charakter und Verhalten der Betroffenen.

Verzicht auf allzu „kaputte“ und dadurch unsympathische Typen, besonders wenn es sich um die Haupt- oder wichtige Nebenfiguren handelt.

eine, wenn auch vielleicht nur kleine Besonderheit, die Ihre Hauptfigur von allen oder wenigstens den meisten anderen Menschen (realen wie fiktiven) unterscheidet.

literarische Originalität, indem Sie auf schon allzu häufig gebrauchte Charaktere verzichten. Das gilt auch für das Aussehen Ihrer Figuren. Ihre Heldinnen/Helden müssen nicht immer besonders schöne oder sportliche Menschen sein. Lassen Sie sie auch mal mit anderen Vorzügen brillieren.

Außerdem sollten Sie darauf achten, dass nicht die Mehrheit Ihrer Figuren ähnlich aussieht hinsichtlich Haar- und Augenfarbe und Figur.

9. Stringenz

 

Stringenz bedeutet in erster Linie Handlung, Handlung, Handlung! Jede Szene, jede Beschreibung, jeder Dialog, oder innere Monolog oder jedes retardierende Moment (siehe Kapitel 15), die die Handlung nicht fortführen oder den Lesenden wichtige Erklärungen liefern oder eine Figur charakterisieren, sind überflüssig. Solche Füllszenen oder Füllabsätze halten die Handlung auf, verschleppen sie und versetzen der Spannung vorübergehend den Todesstoß; eventuell sogar dauerhaft, wenn sich zu viele „Füllungen“ in einem Roman und besonders einer Kurzgeschichte tummeln. Kurzgeschichten verkraften nicht einmal eine einzige „sinnlose Füllung“.

 

WICHTIG:

Stringenz bedeutet, dass Sie ALLES weglassen, was Sie an dieser Stelle im Text nicht brauchen. Das gilt besonders, aber keineswegs nur für alle spannungsintensiven Genres. Jeder Text profitiert von einem Mindestmaß Stringenz, und zwar ohne jede Ausnahme.

 

BEISPIEL:

Nehmen wir an, Ihr Held ist frisch in ein neues Haus gezogen und packt seine Kisten aus. Sie lassen die Lesenden beobachten, wie er Bücher ins Regal stellt, die Stromversorgung prüft, sein Bett mehrfach verrückt, bis es die ihm genehme Position hat. Anschließend geht er unter die Dusche, macht sich etwas zu essen, setzt sich vor den Fernseher, lässt den Tag ausklingen und geht ins Bett. Und bevor Ihr Held im Bett liegt und einschläft, ist Ihr Lesepublikum schon lange vor ihm bei dieser Szene eingeschlafen, weil nichts passiert. In ihr werden lediglich eine Reihe von Tätigkeiten aufgezählt, aber sie enthält keine Handlung.

„Handlung“ im literarischen Sinn bedeutet, dass jemand etwas tut oder passiv erlebt/erleidet, das die Geschichte voranbringt, sie und/oder eine Figur darin entwickelt, den Lesenden wichtige Informationen liefert (und sei es indirekt) oder eine für das Verständnis der Handlung oder für die Vorstellung eines Ortes erforderliche Beschreibung liefert.

Ich betone: erforderlich! Spielt zum Beispiel keine Rolle, ob die Heldin mit ihrem Freund auf einem Sandstrand spazieren geht, einem aus Kieselsteinen, Gras oder Felsen bestehenden Ufer, ist es unnötig, den Gewässerrand zu beschreiben. Zumindest an dieser Stelle. Es genügt zu sagen, dass sie am Strand, Fluss- oder Seeufer spazieren geht. Soll die Strandformation aber später eine Rolle spielen, weil zum Beispiel die Heldin dort von einem glitschigen Fels abrutschen, ins Wasser fallen und fast ertrinken soll, dann muss der Ort beschrieben werden.

Das kann man durchaus schon „lange“ vor der Szene tun, in der diese Information relevant wird. Denn liefern wir die Beschreibung unmittelbar vor dem Ereignis, ahnen viele Lesende beim Beispiel mit dem Felsufer, dass dort gleich ein Unfall oder Schlimmeres passieren wird. Wurde die Beschreibung aber irgendwann vorher erwähnt, wirkt sie an dem Punkt, an dem sie steht, wie eine einfache Landschaftsbeschreibung zur Erzeugung von Atmosphäre.

Viele Anfängerinnen und Anfänger begehen den Fehler, ihre Geschichten/Romane mit einer Beschreibung der Umgebung zu beginnen, in der die Handlung spielt, oder des Aussehens der Haupt- oder einer anderen Figur aufzuzählen. Oder sie beginnen mit der Vorgeschichte und erzählen diese nach im besten Bestreben, die Lesenden „mitzunehmen“ und ihnen alle relevanten Informationen von Anfang an in die Hand zu drücken. Leider geht das immer zulasten der Spannung. Merken Sie sich bitte als eiserne

 

REGEL:

Geben Sie Informationen immer nur dort preis, wo sie FÜR DIE HANDLUNG benötig werden, und offenbaren Sie niemals mehr, als zwingend erforderlich ist. Lassen Sie in Ihren Texten die Handlungen Schlag auf Schlag erfolgen, auch wenn Sie keine „Action“ beschreiben. Jede Handlung muss auf der vorherigen aufbauen, daraus resultieren und den „Showdown“, das Ende entwickeln. Tut sie das nicht, ist sie überflüssig.

 

Dies gilt auch für Genres wie Fantasy, Science Fiction oder Liebesromane, die zum Teil von intensiven Beschreibungen der Hauptpersonen und der ansprechenden, oft exotischen Umgebung leben. Beschreiben Sie hier die Dinge ruhig intensiv, aber auch nur dort, wo sie für die Handlung oder genretypischer Atmosphärenerzeugung „gebraucht“ werden.

Die Frau, die den Helden auf den ersten Blick fasziniert, muss beschrieben werden, um zu erklären, warum er von ihr fasziniert ist – doch erst in dem Moment, in dem er ihr begegnet und die Faszination einsetzt. Unpassend und der Stringenz abträglich wäre, ihr Aussehnen und/oder Verhalten vor oder nach dieser Begegnung an anderer Stelle zu beschreiben, weil die Schilderung in dem Fall nichts mit der Handlung zu tun hätte. Ebenso müssen Sie im Fantasy- oder Science-Fiction-Roman die von Ihnen erfundenen Aliens beschreiben, damit die Lesenden wissen, wie diese Wesen aussehen. Doch auch bei diesen Genres nur dort, wo das Aussehen relevant ist. Meistens kann man Beschreibungen „nebenbei“ einflechten, sodass sie sich geschmeidig in den Text einfügen. (Mehr dazu im nächsten Kapitel.)

 

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Checkliste

Um Ihre Handlungen stringent zu gestalten, sollten Sie

auf alles verzichten, was weder mit der Handlung zu tun hat, noch dem Verständnis ihres Ablaufs dient oder wichtige Informationen liefert oder eine Figur charakterisiert.

erforderliche Informationen – auch die Beschreibung von Personen oder Orten – ausschließlich an solchen Stellen platzieren, wo die Lesenden sie zum Verständnis der aktuellen oder folgenden Handlung zwingend brauchen.

notwendige Erklärungen und Beschreibungen in eine Handlung oder einen Dialog einbetten. Das ist fast immer möglich.

Sätze und Absätze nicht zu lang schreiben.

begonnene Handlungen nicht unterbrechen (außer beim Cliffhanger; siehe Kapitel 11), sondern sie „schnörkellos“ fortführen, ohne abzuschweifen.

auch auf eine stringente Sprache achten und, wenn möglich, Nebensätze so umformulieren, dass sie wegfallen. Statt: „Regina, die Franks Mutter war, protestierte gegen die Verordnung.“ Besser: „Franks Mutter Regina protestierte gegen die Verordnung.“ Statt: „Er nahm ein Glas, das mit Wein gefüllt war.“ Besser: „Er nahm ein mit Wein gefüllte Glas.“ Und so weiter. Zur stringenten Sprache gehört auch der Verzicht auf Füllwörter außerhalb wörtlicher Rede.

Und um Dynamik zu erzeugen, dürfen Sie Sätze auch gerne auf ein Wort oder wenige Wörter verknappen, solange dadurch nicht der Sinn verloren geht oder mehrdeutig wird (siehe auch Kapitel 12 und 13).

10. Mit Worten Bilder malen

 

Eine ebenso wichtige Zutat zur Spannung wie die vorangegangenen sind lebendige Beschreibungen, besonders, aber nicht nur, von Gefühlen. Ein Text, der in den Lesenden keine Gefühle erweckt und dementsprechend auch die Empfindungen der Figuren nicht beschreibt, ist langweilig. Außerdem verhindert er, dass man sich in ihn hineinversetzen und das Geschehen in Gedanken „hautnah“ miterleben kann.