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© Copyright 2021 by Michael Graf, Bergstraße 42, 97638 Mellrichstadt.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753437651
Für alle, die es spooky mögen
Großmutter Juli, väterlicherseits, stammte aus Südosteuropa. Nicht eben aus Transsylvanien, aber doch aus einer Region, die kulturell nicht allzu weit davon entfernt gewesen sein mochte.
Sie hatte gerade die ersten Klassen einer fragwürdigen Grundschule besucht und war entsprechend ungebildet. Dafür steckte sie voller Aberglauben. Ein altes Weiblein mit Kopftuch und voluminösen Röcken lebt sie in meiner Erinnerung. Sie besaß nur noch einen Zahn, mit dem sie an ihren Speisen zu knabbern pflegte, wie ein grotesker Nager.
Aber ich liebte sie.
Zwar galt sie als geizig und hielt ihre Siebensachen eifersüchtig beisammen, doch auf mich wartete stets eine Leckerei, wenn ich sie in ihrer vollgestopften Einzimmerwohnung besuchte. Dazu hütete sie einen Schatz von Geschichten, mit denen sie mich immer aufs Neue in ihren Bann zog.
Ihre Geschichten erzählten von Mord und Totschlag, von Gestorbenen, die ihre Nachkommen heimsuchten oder sonst arglose Zeitgenossen in tödliche Bedrängnis brachten und von anderen Schrecken, die alle aufzuzählen nicht nötig ist.
Noch heute kann ich keinen Friedhof besuchen – schon gar nicht nach Einbruch der Nacht – ohne an die junge Frau zu denken, die wegen einer Wette eben dies tat und zum Zeichen ihrer Anwesenheit einen Pflock in ein bestimmtes Grab stecken sollte. Natürlich geriet unbemerkt ihr Rocksaum in den Weg und sie starb vor Schreck, weil sie glaubte, der Tote hielte sie fest.
Ähnlich tragisch verlief der Horrortrip einer Magd, die ihre Herrschaft nach Wein in den dunklen Keller schickte. Die Unglückliche hatte bei jedem Schritt geisterhafte Schleifgeräusche hinter sich vernommen und im Kerzenlicht nichts gesehen, sobald sie sich umdrehte um nach der Ursache zu forschen. Man fand sie mit einem langen Strohhalm an der Kleidung kalt und starr in einer Lache roten Weins.
In meinem Berufsleben als Soldat weilte ich an manchem obskuren und unheimlichen Ort, mit anderen, aber auch allein. Ein Postenauftrag hieß mich eine Nacht an der Mauer eines Friedhofes ausharren. Ich nächtigte in verfallenden Häusern, in schaurigen Ruinen, querte Wald voller Geräusche und Stimmen.
Später war nüchterne Technik mein Metier. Ganz selbstverständlich beschäftigte ich mich mit Computern. Doch wenn ich einen Raum verlasse und das Licht hinter mir ausschalte, läuft ein eisiger Schauder über meinen Rücken. Ich muss mich zwingen meinen Schritt nicht zu beschleunigen.
Wen wundert es da, dass es in unserem Haus spukt?
Das Haus freilich ist modern, jetzt gerade vierzig Jahre alt. Es besitzt keine blutige Geschichte. Niemand ist darin gestorben. Ich weiß aus eigener Anschauung, was hinter welcher Mauer ist. Das Innere ist hell und freundlich. Und doch ist es voller unerklärlicher Phänomene.
Eine Tür öffnet und schließt sich hörbar, aber ich bin allein. Die Luft aus einem ledernen Sesselpolster entweicht mit typischem leisem Zischen, als setze sich jemand darauf. Aus der Küche vernehme ich das harte Abstellen eines Bechers auf der Arbeitsfläche aus Kunststoff, aber dort ist niemand. Am Rand meines Sehfeldes registriere ich eine Bewegung. Ich fahre herum. Nichts! Nichts?
Die Röcke meiner Großmutter wehen durch das Haus.
Es war ein strahlender warmer Sommertag, wie er kaum schöner hätte sein können.
Über einen azurnen Himmel zogen flache kleine Schönwetterwolken gleich einer Schafherde beim Grasen, getrieben von einem verspielten Lüftchen, das die reifenden Saaten sich wassergleich kräuseln und an den Bäumen die Blätter flüstern ließ. Vereinzelte Vogelstimmen und das Gesumme ungezählter Insekten erfüllten die Luft. Von nicht allzu fern waren Geräusche eines Dorfes zu vernehmen: Hundegebell, das Tuckern eines Traktors und andere, nicht näher einzuordnende Laute.
Der Mann befand sich auf halbem Weg zum Nachbarort.
Er war mittelgroß und schlank, sommerlich gekleidet, mit blondem halblangem Haar, das der kaum spürbare Wind leichtfertig zerzauste. Sein schmales, gebräuntes Gesicht spiegelte die Heiterkeit und die Kraft des Tages wider und von seinen gespitzten Lippen tönte leises Pfeifen, die Melodie eines gängigen Schlagers.
Vorbei an den Apfelbäumen, die in regelmäßigen Abständen den staubigen Schotterweg säumten, schritt er gemächlich, doch zielstrebig dahin. Er wusste, dass der Weg einen weiten Bogen um den Wald beschrieb, der sich zu seiner Linken in einiger Entfernung hinzog und hatte längst beschlossen, eine Abkürzung durch diesen hindurch zu wählen, die ihn nicht nur eher ans Ziel zu bringen, sondern seinen Gang im Schatten der hohen Bäume angenehm kühl zu gestalten verhieß.
Die Abkürzung war ihm wohlbekannt. Er hatte sie auf seinen häufigen Besuchen von Dorf zu Dorf immer wieder genommen, wenn das Wetter es zuließ. Bei Regen empfahl sie sich nicht. Der Weg durch den Forst war dann schlammig und rutschig, hoher Bewuchs schlang sich feucht um die Hosenbeine und von oben her ergossen sich prasselnd Schauer von Tropfen, die sich aus dem Laub- und Nadelwerk lösten.
Solche Ungemach brauchte er heute nicht zu fürchten.
Er erreichte die Heckenrose, an der ein kaum sichtbarer Feldweg abbog, welcher ihn durch den Wald führen würde und wandte sich ohne Zögern nach links. Sein Schritt beschleunigte sich ungewollt, da der Untergrund sich mit einigem Gefälle dem Saum des Waldes zuneigte, der mit seinen ragenden Fichten und Buchen höher und höher vor ihm aufwuchs. Nach wenigen Minuten überschritt er die Trennlinie zwischen Wiese und Wald, zwischen Licht und Schatten.
Wie immer überlief ihn ein leiser Schauder, hervorgerufen durch den Wechsel von Beleuchtung und Temperatur, beide einige Grade gedämpfter unter der Präsenz der schirmenden Baumwipfel, die zugleich das Blau des Himmels bis auf verstreute Flecken ausschlossen. Stämme drängten sich um ihn und erschienen als undurchquerbares Gewirr, je weiter er zwischen ihnen hindurch ins das dämmerige Innere des Waldes blickte. Da gab es keine Lücken, kein Blau, nur dünne Bahnen und Bänder von Licht, die sich von oben her im leichten Dunst manifestierten wie Strahlen von Scheinwerfern.
Er lauschte in die Schattenwelt der Bäume und vernahm als Grundmelodie das Rauschen der Wipfel, vermischt auch hier mit dem Summen von Millionen Insektenflügeln. Dazwischen leises Wispern und Zwitschern von Vogelstimmen. In der Nähe suchte ein Specht Larven und Maden unter der Rinde eines trockenen Baumes. Seine Trommelwirbel gaben diesem Konzert einen gewagten Rhythmus.
Aus der Tiefe des Waldes ertönte ein hohes langgezogenes Klagen, ein eintöniger unmodulierter Ton, der jeweils einige Augenblicke anhielt und sich in kürzeren Abständen wiederholte. Er sah sich nicht in der Lage ihn einer bekannten Quelle zuzuordnen und registrierte, dass er ihm leichte Gänsehaut verursachte. Dürre Hölzer knackten leise unter seinen Schritten und trockenes Laub raschelte, wenn er eine der stattlichen Buchen passierte.
So schritt er voran, und allmählich aber unübersehbar veränderte der Wald seinen Charakter. Mehr und mehr fehlten markante Laubbäume, fanden sich durch gleichförmige Fichten ersetzt. Nicht weit voraus stand wie eine schwarze Wand das Dickicht aus halbwüchsigen Bäumen der gleichen Art, dicht und ineinander verfilzt, dass sie gewiss noch nie die lichtende Axt eines Waldarbeiters erfahren mussten. In der Mitte, gleich einem schwarzen Loch, welches kein Licht entweichen lässt, die Öffnung, in der sich sein Weg verlor.
Nach ein paar hundert Schritten trat er mit unmerklichem Zaudern hindurch.
Der Übergang traf ihn so radikal, dass er einen Augenblick stehen blieb, um sich zu sammeln. Die unglaublich eng stehenden Bäume, die an ihren Stämmen noch alle – wenn auch verdorrten – Zweige trugen, filterten scheinbar jedes Quäntchen Licht und erlaubten nur eine Beleuchtung, die ihm selbst nach dem dämmerigen Wald fast wie totale Finsternis anmutete. Zugleich sank die Temperatur nochmals um einige Grad. Er begann zu frösteln. Entschlossen zog er die Schultern zusammen und machte ein paar tastende Schritte nach vorn. Seine Augen würden sich alsbald an die herrschenden Verhältnisse anpassen.
Unter seinen Sohlen fühlte er jetzt einen dicken Teppich gefallener Nadeln, die jeden seiner Schritte bis zur Unhörbarkeit dämpften. Selbst das Knacken von zertretenen Zweigen war nicht mehr zu vernehmen, so sehr er auch horchte. Ihm fiel auf, dass er keine Vogelstimmen auffing und ... ja, selbst das Summen der Insekten im Hintergrund war nicht länger auszumachen. Nur das Rauschen der Wipfel gelangte noch in seine Ohren, doch selbst das hatte eine andere Qualität angenommen, eintöniger, gleichmäßiger, wie das weiße Rauschen zwischen zwei Kanälen im Radio. Er begann wieder seine Melodie zu pfeifen, die er beim Betreten des Waldes instinktiv beendet hatte, um die Atmosphäre nicht zu stören. Doch sie klang stumpf, als sei er von Watte umgeben.
Er verstummte erschrocken.
Entgegen seinen Erwartungen stellten sich seine Augen nicht auf die tiefe Dämmerung ein. Im Gegenteil: Er vermeinte weniger zu sehen, als Augenblicke zuvor. Außerdem schien es noch kühler geworden zu sein. Jetzt, da er daran dachte, empfand er die Temperatur geradezu kalt. Er hielt erneut an und schaute zweifelnd nach vorn. Schwärze empfing seinen Blick. Das irritierte ihn, weil es ihm zuvor nie so erschienen war. Sollte inzwischen Bewölkung den Himmel verhüllt haben? Unsinn, an einem Tag wie diesem war das ausgeschlossen, vor allem in dieser Schnelligkeit.
Ihn beschlich das ungute Gefühl, er sei schon viel zu lang in dem Dickicht. Schließlich waren es höchstens zwei-, dreihundert Meter bis in den Hochwald. Er entschloss sich beschämt zur Umkehr. Unsicher tappte er zurück, ängstlich, einen Fehltritt zu tun. Er schaute nach unten und erschrak: Er konnte seine Füße nicht sehen. Ein Blick rundum ließ Panik aufkommen. Selbst die Bäume beiderseits des Weges waren nicht mehr auszumachen. Er bewegte sich in völliger tintiger Schwärze und es war so kalt, dass seine Glieder schlotterten. Mit einem Rest Vernunft unterdrückte er den Impuls zu rennen. Er würde sich unweigerlich verletzen.
So schritt er in vollkommener Dunkelheit dahin, vorsichtig Schritt vor Schritt setzend. Um sich fühlte er die Kälte mit gierigen Fingern nach ihm greifen, in seinen Ohren war nichts als das gleichmäßige Rauschen. Dann überkam ihn das Gefühl, er sei nicht allein. Ohne etwas zu sehen glaubte er, ja wusste er ganz sicher, dass neben ihm, vor ihm, hinter ihm Andere gingen wie Automaten, in der Schwärze isoliert wie er selbst. Millionen, in einem endlosen Nichts. Eisiges Entsetzen erfüllte sein Herz.
Nachdem er lange Zeit gegangen war, wusste er, dass sein Weg durch die Finsternis nie mehr enden würde.
„Bist du sicher“, sprach die Erwählte und korrigierte sich sogleich: „Natürlich bist du es. Sonst wärest du nicht gekommen.“
Ihr Gesprächspartner schaute unglücklich, für einen Trau eine glatte Sensation.
„Wir können nichts tun“, entgegnete er, „ich meine, wir brauchen auch nichts zu tun. Es passiert von selbst.“
„Wie weise“, meinte die Erwählte und es klang ein wenig wie Spott. Dabei gehörte Spott nicht zum Repertoire der Traum.
Diesmal brachte es der Angesprochene fertig irritiert auszusehen. Er schwieg.
„Wann?“ Die Erwählte klang müde. „Ich meine, wie lange noch?“
Das ebenmäßige Gesicht, das gerade noch Verwirrung angezeigt hatte, verwandelte sich blitzschnell in ein Bild der Zufriedenheit. Auf diese Frage konnte er erschöpfend und exakt Auskunft erteilen. Schließlich war er Wissenschaftler. Und nicht nur das: Vor der Erwählten stand die absolute Kapazität auf diesem Fachgebiet. Das heißt, tatsächlich saß Algon, in einem überaus bequemen Sitzmöbel, wie es nur aus der Produktion der Traum herrühren konnte. Selbst die Erwählte wäre niemals so unhöflich gewesen einen anderen Trau vor sich stehen zu lassen.
„Weniger als zehn Umläufe.“ Algon sah aus, als habe er gerade das Tor der ewigen Weisheit geöffnet. „Um genau zu sein“, ergänzte er dann, „neun Umläufe, vier Haupttrabantenphasen, sieben Lichtperioden, ...“
„Das reicht“, unterbrach die Erwählte und wieder klang es müde, doch zugleich bedauernd, weil sie Algon ins Wort gefallen war. Es galt als extrem unhöflich, jemand nicht ausreden zu lassen, aber die Erwählte wusste aus langer Erfahrung, dass Algon sie zum Einschlafen bringen würde, ließe sie ihn gewähren.
Algon schaffte es, seinem Gesicht einen beleidigten Ausdruck zu verleihen.
„Wenn du sowieso schon alles weißt“, hub er an und ließ seine Klage vorsätzlich im Nichts enden.
„Nein, nein“, sagte die Erwählte rasch. „Du hast mich völlig überrascht. Ich wollte keinesfalls unhöflich sein, aber du weißt ja, wie wenig ich von deiner Wissenschaft verstehe.“
Algons Züge wechselten zu völliger Glückseligkeit. Dies war der Moment, der sein ganzes Dasein krönte. Die Erwählte hatte gerade verkündet, dass er – Algon – mehr wusste als sie selbst.
Sie starrte eine endlose Weile stumm vor sich hin. Immer hatte sie es befürchtet und nun war der Alptraum Wirklichkeit geworden. Tra, ihre wunderbare Heimatwelt, würde von ihrer sterbenden Sonne Rhu verschlungen, die Kultur der Traum im Aufblitzen unvorstellbarer Energien für immer ausgelöscht werden. Die Erwählte sah den Planeten unter dem zartgrünen Himmel, seine Meere, Seen und Flüsse, die sanften Hügel und die lieblichen Täler, die üppigen Wälder, die bunten Wiesen. Sie dachte an die anmutige Architektur seiner Städte und all das Schöne und Kostbare, das ihre Art in Jahrtausenden des Friedens und der Harmonie aufgebaut hatte. Alles dahin in einem einzigen Augenblick sinnloser Zerstörung.
Schließlich fixierte ihr Blick den strahlenden Algon.
„Was schlägst du vor?“, erkundigte sie sich.
„Nun“, begann Algon, dann machte er eine Pause um nachzudenken, was er vorschlagen konnte. Seine Gedanken rasten, aber sie fanden kein Ziel. Allmählich breitete sich Ratlosigkeit in seinem Gesicht aus. Wenn er ehrlich war – und das war ein grundlegender Wesenszug der Traum – musste er eingestehen, dass er keinen Rat zu erteilen hatte. Außerdem war ihm bewusst, dass die Denkpause sich allmählich in die Länge zog.
„Äh“, brachte er endlich hervor, „wir ... äh ... werden überleben.“
„O“, die Erwählte gestattete sich leichten Sarkasmus, „ich freue mich das zu vernehmen.“
In ihrem Geist empfand sie gelinden Ärger über Algon und sogleich tat ihr diese Erkenntnis Leid. Natürlich würden die Traum überleben, keine Katastrophe konnte ihnen etwas anhaben. Sie waren faktisch unsterblich, Wesen, die ihrer stofflichen Körper im Grunde nicht bedurften. Aber auf der anderen Seite boten diese Vorzüge, auf die die Erwählte wie wahrscheinlich alle Traum nicht verzichten mochten.
Sie ließ im Geist einen Spiegel entstehen in dem ihr Abbild erschien. Von dem, was sie sah, war sie mehr als angetan. Ihre materielle Hülle zeigte sich makellos, obwohl sie sich – selbst nach Maßstäben der Traum – als uralt bezeichnen durfte. Sie dachte an schmecken, riechen, fühlen ...
Nein, auf ihren Körper wollte sie keinesfalls verzichten.
„Gibt es wirklich keine bessere Lösung, als nur zu überleben?“ Sie sprach die Frage aus und wusste zugleich die Antwort. Doch sie behielt die letztere für sich. Sie musste Algon dazu bringen, sie zu finden. Das war sie seiner Selbstachtung schuldig. Also fügte sie an: „Was ist mit Sol III?“
Algons Gesicht leuchtete auf und verdunkelte sich sogleich wieder.
„Sol III“, wiederholte er mit einem träumerischen Klang in der Stimme und dachte, ja, das wäre eine Alternative, wenn nicht ...
„Es geht nicht“, beschied er sie dann. „Du weißt, dass uns dies nicht möglich ist.“