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© 2021 Barbara de Mars
Umschlag und Grafik: Bernardo Manetti
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Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753430744
Eine wichtige Grundlage war mir
Ernst Walsers Biographie »Poggius Florentinus«.
Von Herzen danken möchte ich Davide Canfora
für seine kenntnisreiche Güte in Sachen Poggio Bracciolini
sowie Riccardo Manzotti und seiner innovativen Arbeit
über das Bewusstsein, nachzulesen in »The Spread Mind«.
Außerdem bin ich Franco Farinellis
Überlegungen zu Geographie und Raum nachgegangen.
Die Straßenlaternen sprühten ein pelziges, orangenes Licht in alle Richtungen der Nacht, nur kaum auf die Straße. Bei jeder Umdrehung schmatzten die Reifen den Regen, der wie ein Glissando vom Himmel schnürte. Regen und Dunkel schienen mir Konstanten der Natur, die Bewegung des Autos durch die menschenleere Stadt dagegen willkürlich wie der Lauf einer gehetzten Ameise. Am rechten Straßenrand flog ein Schild auf mich zu, darauf war in schwarzen Lettern »Terranuova B.« geschrieben. Die Buchstaben machten ebenso wenig Sinn wie das Dunkel der Nacht, in das sie ohne weiteres versunken wären, hätte der mondweiße Hintergrund nicht den Kontrast geliefert. »Neuland B.« Scheinbar wurde vorausgesetzt, jeder wisse, dass das »B.« für »Bracciolini« stand, was ich aber lange nicht tat. Noch an diesem Abend im Regen las es sich deshalb für mich wie ein vertikales Unendlichzeichen. Unendliches Neuland Punkt.
Neben der Landstraße verlief parallel die Autostrada del Sole1, die auch nachts und bei Regen so hieß. Manchmal tauchten in der Ferne Autolichter auf wie Zwillingssterne, die umso schneller und größer wurden, je näher sie kamen und dann augenblicks vorbeiflitzten. Jahrelang hatte auch ich das Tal nur auf der Autobahn passiert, wenn ich nach Rom fuhr. Hinter dem Tunnel, der den Valdarno von Florenz trennte, wälzte die Straße sich bergab in Richtung Arezzo. Links und rechts verhüllte dichtes Grün die Aussicht. Hinter dem Vorhang blitzten nur manchmal gesichtslose Gewerbeflächen und moderne Häuserwürfel hervor. Wie ich so jahrelang durch das Tal fuhr, ohne es wirklich zu sehen, vermutete ich auf der anderen Seite nur öde Langeweile, doch etwas Unbestimmtes ganz unten am Grund des Urteils hörte nicht auf zu mulmen. Wie um meiner Meinung zu spotten, verschlug es mich schließlich ausgerechnet hierher und hinter die Gardinen.
Der Valdarno liegt zwischen Florenz und Arezzo in der Toskana. »Der« und nicht »das« Valdarno, weil »il Valdarno« als einziges Tal im Italienischen den männlichen Artikel führt, alle anderen Täler wie »la Valle del Tevere«, »la Valle di Susa«, »la Valdichiana« und so fort sind weiblich. Offensichtlich hatte einmal nicht das weibliche Valle2 das letzte Wort, sondern der männliche Fluss Arno. Im Nordosten wächst der beinahe 1.600 Meter hohe und bis kurz unter den Kamm bewaldete Pratomagno-Berg in den Himmel. Er steht für sich allein, abgespalten von der Apenninkette, die Italiens Rückgrat bildet. Ihm gegenüber wellen sich die niedrigeren Hügel des Chianti. Unten im Tal folgen die kleinen Städte Montevarchi, San Giovanni, Figline und Incisa dem Flusslauf des Arno. Terranuova dagegen liegt ein wenig zurückversetzt zwischen der Flusssenke und dem großen Berg.
Als die Einwohner das Städtchen bauten, hatten sie ihm ursprünglich den Namen Castel Santa Maria gegeben, wohl in der Hoffnung, die damals allgegenwärtige Muttergottes möge eine schützende Hand über ihre Entscheidung halten. Es war tatsächlich eine große Sache, dass die Leute vom Berg herabstiegen und eine mit Stadtmauern bewehrte neue Siedlung bauten. Bis dahin waren sie oben am Berg der Natur und dem jeweiligen Feudalherrn ausgeliefert gewesen. Sie hatten auf rund 800 Höhenmetern gelebt, in verwinkelten Dörfern, die Namen trugen wie Lanciolina, Rocca Ricciarda oder Poggio alla Regina. Die Winter dort oben waren lang und eisig, es schneite viel und den Rest des Jahres waren die Böden karg und schwer zu bestellen. Wer überlebte, ernährte sich von der Hand in den Mund. Als das feudale System eingangs des 14. Jahrhunderts wankte, versprachen neu gegründete Städte weiter unten im Tal den Menschen größeren Wohlstand und so lernten sie sich neu zu organisieren und zusammen zu leben. Mit der Zeit nannten die Leute das Städtchen am Fuß des hohen Berges einfach Terranuova3. Die Muttergottes hatte ihren Zweck erfüllt. Weil das Tal des Arno so weit war, ging die Sonne hinter den Bergen auf und unter ohne dramatische Schatten zu werfen, welche die eigene Begrenztheit aufgezeigt hätten. So war der Valdarno immer schon eine in sich stimmige Welt, aus der nur besonders Neugierige oder ganz Verzweifelte aufbrachen. Poggio Bracciolini war beides. Und obwohl ich bereits seit längerem im Tal wohnte, geschah es erst an diesem bewussten Abend in Dunkelheit und Regen, dass sich der Gedanke an das »unendliche Neuland B.« entzündete.
*
Wah – Rummm! Der runde Donner löste ihn aus dem Schlaf, aber Poggio wurde nicht gleich wach, sondern glitt in ein dickes Dämmern. In dem Moment fing seine kleine Schwester Caterina neben ihm an zu weinen. Noch im Halbschlaf tastete er nach ihr und griff in ihre dicken Locken. Als Caterina die Hand des großen Bruders fühlte, kuschelte sie sich enger an ihn ins rauhe Leinen. Auch der kaum zweijährige Piero drehte sich näher zu Poggio. Das grobe Laken schnürte die drei Geschwister in ihrem Bett fest zusammen. Nun begann der Regen heftig gegen die Wände zu klatschen. Blitze zuckten, aber Poggio war zu müde, um die Augen zu öffnen. Er erinnerte sich stattdessen an die Worte der Mutter und während er auf den nächsten Donner wartete, begann er lautlos im Geist zu zählen:‘Einundzwanzig, zweiundzwanzig,...’. Seine Mutter hatte ihn immer beschwichtigt, jeder Blitz habe seinen Donner und die Angst verschwände, wenn man wüsste, dass das eine aus dem anderen entstehe und alles zusammenhänge. Langsam wich die Trägheit hinter Poggios Augen und er gewahrte, wie sich das sommerliche Gewitter kraftvoll vom Berg herabwälzte. Dann wurden die Abstände zwischen Blitz und D onner länger und Poggio flüsterte in Caterinas Haare: »Gleich ist es vorbei.« Das Gefühl, sie beschützen zu wollen, erfüllte ihn, aber er begriff es als etwas Selbstverständliches, schließlich war er der große Bruder. Die Luft roch nun feucht und der Regen trommelte unablässig. Fürsorglich hielt Poggio der kleinen Schwester die Ohren zu, damit sie sich nicht weiter ängstigte. Währenddessen hatte Piero sich den Daumen in den Mund geschoben und sein Atem ging ruhig und regelmäßig. Auch Poggio glitt schließlich wieder in einen schweren Schlaf.
Als er aufwachte, schien die Sonne bereits durch das Fenster am anderen Ende des Zimmers. Vor den kleinen Spalt war ein grober Sack gespannt. Von ihm troff nun Wasser auf den Boden und bildete eine Lache. Schnell sprang Poggio aus dem Bett, schlüpfte in die alten Hosen, die ihm bereits viel zu kurz waren, sowie in ein Hemd, nahm einen Lappen und wischte das Wasser auf. Ohne seine Eltern zu wecken, die in der engen Wohnstube noch schliefen, weil Sonntag war, rannte er hinaus vor die Tür. Seine nackten Füße wühlten sich in den warmen Schlamm und er spürte, wie der matschige Boden sich wohlig zwischen den Zehen durchdrückte. Glücklich lief er die Straße entlang und erblickte nach wenigen Metern den Berg, von dem in der Nacht das Gewitter heruntergerollt war. Jetzt lag der Riese friedlich da und spannte seine Hänge rechts und links aus wie Arme in einem weiten Mantel. Die Sonne stand bereits über dem hellen Fleck des Kirchleins Gropina, das vom Berghang talwärts blickte. Von Gropina zog sein Auge eine gerade Linie den Berg aufwärts und stieß auf das Dorf Lanciolina. Die Familie seines Vaters Guccio stammte aus dem kleinen Weiler dort oben, der sich wie ein Adlernest an den Berghang klammerte. Vielleicht hatten die Namensgeber des Ortes dasselbe gedacht, denn »Ancla« war Umbrisch für Adler. Jedenfalls konnte man von dort oben bis zum Trasimenischen See und Amiata-Berg sehen. Die gegen Wind und Wetter tief gebückten, steinernen Häuschen reigten sich wie Kinder um die Burg des Feudalherren in ihrer Mitte. Am Morgen nach dem Gewitter dampfte die Erde der Sonne entgegen und die Temperaturen stiegen schnell. Poggio fühlte sich wohl zu Füßen des großen Berges und geborgen in seinem winzigen Zuhause im »splendido castello«4 Terranuova, das es erst seit wenigen Jahrzehnten gab. Denn auch sein Vater hatte zu denen gehört, die die Chance ergriffen und der strengen feudalen Knute entkamen. Die ersten Siedler wurden mit dem Versprechen gelockt, sie bräuchten zehn Jahre lang keine Steuern zu zahlen. Im Gegenzug mussten sie eine Mauer um ihre Stadt errichten.
Noch war Poggio mit seinen acht Jahren zu klein, als dass ihm recht bewusst wurde, wie arm seine Familie tatsächlich war. Aber er fühlte, dass die Eltern etwas bedrückte, denn sie hielten in ihren Gesprächen inne, sobald er in den Raum trat. Guccio handelte mit Gewürzen und die Geschäfte liefen nicht gut. Deshalb war der Vater in letzter Zeit leicht reizbar und flammte beim geringsten Anlass zornig auf. Jedenfalls war es dann besser, möglichst schnell aus seinem Sichtkreis zu verschwinden. Der Junge hatte bereits gelernt, die kleinsten Signale des Unmuts im Gesicht des anderen zu lesen und sich darauf einzustellen.
Wenig später erreichte Poggio den Ortseingang und lief durch das Stadttor, welches um diese Zeit bereits offen war, und hinaus auf die Felder. Er wusste, wo ein Kirschbaum stand und beschloss, sich sein Frühstück zu besorgen. Behände kletterte er an den glatten Ästen hoch, um an die süßen Früchte zu kommen. Dabei musste er schnell sein, denn der Bauer wachte über das Seine wie ein Luchs und wenn er den Jungen ertappte, würde er ihn verprügeln. Doch Poggio war flink, hatte seine Augen überall und wurde selten erwischt. Die aufmerksame Umsicht hatte er von seiner Mutter Jacoba, die aus dem nahen Castelfranco stammte. Wie Terranuova war auch diese »Freiburg« eine von Florenz gewollte Neugründung, errichtet als Bollwerk gegen feindliche Nachbarn wie Arezzo und die Feudalherren. Castelfranco gab es bereits eine Generation länger als Terranuova und das Zusammenleben der Leute hatte sich besser eingespielt. Jeder hatte seine Rolle gefunden, weshalb die Familie von Poggios Mutter in ihren Meinungen und ihrem Vermögen gefestigter war. Jacoba achtete energisch darauf, dass ihre Kinder möglichst schnell und gut Lesen und Schreiben lernten, denn ihr Vater war Notar und bekannt für seine schöne Schrift. »Die Erde ist tief unten«, pflegte sie Poggio vor der anstrengenden Arbeit in der Landwirtschaft zu warnen. Beide Eltern sahen in der Bildung die einzige Möglichkeit, um ihrem Sohn ein durch die äußeren Bedingungen vorgezeichnetes Leben als Bauer, Tagelöhner oder Handwerker zu ersparen und setzten deshalb alles auf diese Karte. Zum Glück war Poggio wissbegierig und stellte sich, besonders beim Schreiben, sehr gelehrig an. Auf einmal hörte der Junge auf dem Kirschbaum die hellen Stimmen von anderen Kindern aus dem Dorf, die an den kleinen Zufluss Ciuffenna hinunter eilten, um dort zu fischen. Er ärgerte sich über den Lärm, den sie machten, weil dies sicher den Bauern herbeilocken würde. Schnell glitt er deshalb vom Baum herab. An dem Tag verspürte er keine Lust, sich ihnen anzuschließen. Ab und an tollte er gerne mit den anderen durchs Dorf, aber sie ließen es Poggio spüren, dass seine Familie erst vor wenigen Jahren zugezogen war und nicht wirklich dazu gehörte, auch wenn ihre nur dreißig Jahre länger im Kastell lebten. Für die Menschen am Ort waren dreißig Jahre eine lange Zeit und für Kinder eine Ewigkeit. In der neuen Siedlung Terranuova Castel Santa Maria waren die Häuser wie ein römisches Castrum5 entlang zweier Straßen angeordnet, die von der zentralen Piazza wie ein Kreuz rechtwinklig abgingen. Die Häuser hatten alle die gleichen Maße und ihre Bewohner dieselben Rechte und Pflichten. Anstatt der thronenden Burg war nun ein freier Platz mit Rathaus und Kirche das Zentrum, wo die Einwohner sich versammeln konnten. Das klang vielversprechend, geradezu demokratisch. Im Jahr 1348 war die neue Stadt fertig, in der Poggio 1380 geboren wurde. Aber ganz so wonniglich war auch das verheißene »Neuland« nicht. Florenz erwartete von den Einwohnern tatkräftige Loyalität. Die anfängliche Gleichheit der Bewohner löste sich schon bald auf, einige wurden gleicher als andere und kauften benachbarte Häuser auf, die sie zu Palazzi6 zusammenlegten. Die Wohlhabenderen wohnten an der Hauptstraße, die Ärmeren wie Poggios Familie dahinter, wohin Küchenabfälle und andere Geschäfte entsorgt wurden. Als die Handvoll Jungen sich näherten, fragte Poggio wie beiläufig mit einer kleinen spöttischen Spitze ihren Anführer, der ein Netz in der Hand trug: »Auf was machst du denn heute Jagd?« Das ungewaschene, braungebrannte Gesicht des anderen verzog sich zu einem frechen Grinsen: »Ich geh zum Casino7 und warte bis deine Mutter rauskommt.« Poggio spürte einen Stich in der Brust und der Zorn, den er vom Vater hatte, schoss ihm heiß in den Kopf. Aber er war nicht auf den Mund gefallen und entgegnete: »Wenn du genau hinschaust, wirst du sicher auch die deine entdecken.«
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Während ich an diesem Abend im Regen nach Terranuova fuhr, dachte ich an den Tag zurück, an dem ich Anciolina entdeckt hatte, das im Laufe der Jahrhunderte sein vorgestelltes »L« eingebüßt hatte. Damals brachte mich eine geteerte Straße zunächst von Terranuova nach Loro Ciuffenna, ein malerisches Dorf mit etruskischen Wurzeln, wo die Bergwelt des Pratomagno begann. Von dort waren es mit dem Auto fünfundzwanzig Minuten bis nach Anciolina. Mit dem Weg wanden sich meine Gedanken hinauf und entfernten sich erstaunlich schnell von der Gegenwart. Hinter engen Kurven sprossen unvermutet Weiler aus grauem Stein hervor, die mit der Natur verwachsen schienen. Zuerst zogen silbrig grüne Olivenhaine vorbei, dann Wälder mit Kastanien und Eichen und schließlich Buchen. Alle hundert Höhenmeter sanken die Temperaturen um ein Grad. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hatte Anciolina konstant um die fünfzig Einwohner. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl kurz auf hundertfünfzig an, bevor der Ort langsam ausblutete. Jetzt harrten dort nur noch ein paar Alte aus.
Wie ein Wächter dieses verwunschenen Fleckens trat mir Michele entgegen. Er war hager und sicher älter als Sechzig. Über seine schmalen Schultern zottelten lange graue Haarsträhnen. Er lächelte freundlich aus lückenhaftem Mund und erzählte, dass er aus der Maremma stammte. Als ihm seine Lebensgrundlage in der Heimat wegbrach, war er hier gestrandet. Das war nun schon einige Jahre her. Mittlerweile fühlte er sich in Anciolina mehr als nur geduldet, beinahe schon aufgenommen. Hier war man aufeinander angewiesen und sowieso gab es zwischen dem Berg und der meernahen Maremma seit Jahrhunderten enge Verflechtungen. Früher weideten maremmanische Wanderschäfer oben auf »der großen Wiese«, wie der Pratomagno wörtlich heißt, im Sommer ihre Ziegen, Schafe und Rinder, bevor sie im Herbst zurück an die Küste zogen.
Michele machte sich nützlich, wo er noch konnte und die anderen Einwohner nicht mehr, säte Weizen, erntete Kartoffeln und las im Herbst Kastanien auf, fällte, spaltete und schichtete Holz. Während der Arbeit träumte er davon, die alten Eselsteige wieder instand zu setzen, damit Touristen kämen und von einem Bergdorf ins nächste wandern konnten. Einst verbanden Wege die über den Berg verstreuten Orte und es herrschte ein reger Verkehr zwischen den Siedlungen. Doch nun wurde ausschließlich vom Tal her gedacht und die eine asphaltierte Straße von Loro nach Anciolina musste reichen. Der Berg war nur mehr für Leute, die von der Gesellschaft abgehängt worden waren.
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Der Name »Poggio« wird weich gesprochen, mit stimmhaftem »Sch«: Pod-scho, dann ein hartes Bratt-scho-lini. Einige Gelehrte meinten zu wissen, dass er den Namen vom Heiligen Podius hatte, einem Florentiner Bischof aus dem 10. Jahrhundert. Andere dachten, ihm sei zudem ein landläufigeres »Gianfrancesco« vorangestellt gewesen. Fragte man jedoch die einfachen Leute in Terranuova, bekam man zur Antwort, es sei eine Koseform von Jacopo. Bekannt wurde Bracciolini jedenfalls nur unter dem Namen Poggio. Im Italienischen bedeutet das Wort auch »Anhöhe«, und im intellektuellen Sinne begriff der Valdarneser sich später durchaus als eine solche. Dabei blieb er jedoch immer bodenständig, schlagfertig und von gesundem Menschenverstand. Einer seiner späteren Lieblingsfeinde, Tommaso Morrone aus Rieti, veröffentlichte höhnisch, dass Bracciolini schon in frühesten Jahren für einen gewissen Luccarus das Feld hatte beackern müssen. Poggio störte sich keineswegs an seiner bescheidenen Vergangenheit und notierte: »Einer unserer Bauern wurde einst vom Patron befragt, in welcher Jahreszeit sie die meiste Arbeit hätten. ‘Im Mai’, bekam er zur Antwort. Dies schien dem Patron seltsam, denn in diesem Monat gab es auf den Feldern wenig zu tun und er fragte nach dem Grund. Der Bauer antwortete: ‘Weil wir dann unsere und eure Frauen beschlafen müssen’.« Nein, ein Heiliger war Poggio nicht und als einer seiner Vorzüge konnte gelten, dass er sich dessen bewusst war.
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Diese und ähnliche Gedanken zu Poggios Herkunft prasselten mir mit dem Regen ins Gedächtnis, während linkerhand im Dunkeln das Gewerbegebiet von Terranuova vorbeizog. Der randomisierte Algorithmus der Häuserschachteln brachte ungeahnte Blüten des Konsums hervor. Am Straßenrand schlief eine Fabrik von Prada, daneben blinkten schrille Neonlichter von Burger King, dann reihten sich Grotti, Nencini Sport, eine Tankstelle, ein Hotel Viandante8 neben einem Hotel Michelangelo, Banca del Valdarno, Parfümerie Marionnaud, Sex Bar Rex (nicht beleuchtet), das Modegeschäft Porcellotti9 und weiter El Dorado, Mondo Risparmio10, Fiat11.
Von der chaotischen Gewerbezeile setzt sich der eigentliche Kern von Terranuova ein paar hundert Meter ab. Tagsüber wirkt der Ort ruhig und verschlafen gegen die imposante Kulisse des Pratomagno, eingebettet in pflanzenbewachsene Sandhügel, die man hier Balze12 nennt. Vor drei Millionen Jahren war das Klima savannenartig und das Tal noch ein See, an dessen Ufern sich Mammuts, Säbelzahntiger, Zebras und Nilpferde aalten. Dann wichen die Wasser und ließen die charakteristischen Sedimente zurück, die aus Sand, Steinen und Lehm bestehen und je nach Tageszeit in immer neuen Farben gelb, grau und rötlich schimmern. Von den bis zu hundert Metern hohen Resten war selbst Leonardo da Vinci angetan und malte sie im Hintergrund der »Mona Lisa«.
Nachdem ich bereits einige Zeit im Valdarno wohnte, meinte ich zu erkennen, dass es die Orte waren, die ihren Einwohnern jeweils wesentliche und gänzlich unterschiedliche Eigenschaften aufdrückten. Montevarchi war seit jeher ein lebhafter Marktflecken und wirtschaftliches Scharnier zwischen dem Arno- und Chiantigebiet. Die Montevarchiner handeln immer noch gern und wehren sich heftig gegen jede Verkehrsberuhigung, denn ihre Stadt muss brummen. Die benachbarte Neugründung San Giovanni ist dagegen ein Kontrastprogramm. Mit wohlgeordneten rechtwinkligen Straßen und der Piazza, die durch ein wappenverziertes Rathaus in der Mitte geteilt wurde, war es von Anbeginn ein architektonisches Musterstädtchen. Allerdings konnten die Einwohner von der Niedlichkeit ihres Stadtbildes nicht leben, weshalb man in der Mitte des 20. Jahrhunderts zäh versuchte, dort chemische und schwere Industrie anzusiedeln. Seitdem werden seine Straßen von harten Arbeitergesichtern geprägt, die merkwürdig wenig zur Schönheit seiner symmetrischen Ordnung passen wollen.
Weiter flussabwärts blicken die Bewohner von Figline halb ängstlich und halb argwöhnisch nach Florenz. Die »Blühende« jenseits der Chiantihügel ist ihr Bezugspunkt, weshalb die Figlinesen weder eine eigene Identität noch ein Selbstbewusstsein fanden und es vorzogen, als letztes Zipfelchen der Città Metropolitana di Firenze13 in unglücklicher Starre zu verharren, und zwar seitdem Florenz der Stadt im 14. Jahrhundert die Glocke »Susinana« geschenkt hatte, die sie vorher einem anderen Ort abgenommen hatten, bevor sie ihn dem Erdboden gleichgemacht hatten. Die »Susi« sollte den Figlinesen als stete Warnung dienen und das tut sie bis heute.
Das ebenfalls adrett gefaltete Castelfranco am Hang des Pratomagno, aus dem Poggios Mutter Jacopa kam, droht zu veralten. Dass es abwärts geht, ist an den acht Bars auf engstem Raum abzulesen, in denen kettenrauchende, tätowierte Frauen mit blau oder rosa gefärbten Haaren die Zeit totschlagen und versuchen, durch ihren Tratsch dieselbe Wirkung auch beim Nachbarn zu erzielen. Nur Terranuova fällt aus dem Rahmen und wirkt gegen die anderen Orte bäuerlich und bis heute dynamisch. Seine Einwohner flanieren mit federndem Schritt stiernackig die Hauptstraße entlang. Ihre Gesichter mögen nicht hübsch sein, dafür sind sie gut genährt. In ihren Gärten halten die Familien glückliche Hühner, die irgendwann im Suppentopf landen. So ist der Valdarno eine Welt in einer Nussschale.
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Nur wenige Monate, nachdem Poggio morgens auf den Kirschbaum geklettert war, fand seine doch relativ unbeschwerte Kindheit auf dem Land in Terranuova ein jähes Ende. Die Eltern Guccio und Jacopa gaben ihre Hoffnung auf, sich im Florentiner Einflussbereich eine Zukunft aufzubauen. Außerdem waren ihnen die Gläubiger des Vaters auf den Fersen und so zogen sie eines Morgens mit den Kindern Poggio, Caterina und Piero der aufgehenden Sonne entgegen nach Arezzo. Ihre wenigen Habseligkeiten hatten sie auf einen einfachen Pferdewagen geladen, der ächzend den staubigen Weg auf halber Höhe des Pratomagno entlangruckelte. Die Straße, die heute den Namen Setteponti 14 trägt, war bereits den mittelalterlichen Pilgern und vor ihnen den Römern bekannt. Sogar Hannibal soll sie auf seinem Marsch in Richtung Rom benutzt haben. Doch der kleine Poggio kannte sie nur in entgegengesetzter Richtung, weil er ab und an die Großeltern in Castelfranco besuchte. Jetzt war für ihn alles neu und er wusste nicht, was ihn erwartete.
Nachdem die Familie die wenigen Häuser von San Giustino und ein schattiges Eichenwäldchen passiert hatte, erreichte der kleine Zug eine Anhöhe. Von dort erblickte Poggio zum ersten Mal undeutlich in der Ferne, auf einem Hügel, Arezzo. Die Sonne stand schon hoch und die Luft flirrte und ließ alles verschwimmen. Der Vater schirmte mit der Hand die Augen ab und sagte zu seinem Ältesten: »In Arezzo wurde Francesco Petrarca geboren«, ganz als sei dies eine Garantie, dass sie diesmal mehr Glück hätten. Der Vater, dem jedes Talent fürs Kaufmännische fehlte, liebte umso leidenschaftlicher die Literatur und erzählte den Kindern von den großen Dichtern Dante, Boccaccio und eben Petrarca. Meist tat er das abends vor dem Schlafengehen bei der Veglia15, wenn die Kinder zu Füßen des Vaters im begehbaren Kamin saßen und am prasselnden Feuer seinen spannenden Geschichten lauschten. Mit kindlicher Phantasie reimte sich Poggio von dem wenige Jahre zuvor verstorbenen Petrarca das Bild eines noblen, einsamen Helden zusammen, dessen Vater ungerechterweise aus Florenz verbannt worden war. Guccio erzählte auch, dass Petrarcas Familie bald nach Francescos Geburt im Jahr 1304 nach Incisa, gleich neben Figline in den Valdarno gezogen war, wo Petrarca direkt von seinem Fenster einen herrlichen Ausblick auf den Pratomagno hatte, über den er später schrieb: »Hier keine Paläste, kein Theater oder Loggia, / Stattdessen eine Tanne, Buche, Pinie / Zwischen grünem Gras und nah der schöne Berg, / Wo man dichtend herabsteigt und ruht, / Von der Erde zum Himmel erhebend unsere Gedanken.« Der einmal ein großer Dichter werden würde, blieb im Valdarno wohnen, bis er sieben Jahre alt war, dann zog er seinem Vater hinterher nach Avignon und später quer durch Italien.
Während Poggio in der Mittagshitze den steinigen Weg vom Valdarno hinunter nach Arezzo stolperte, stellte er sich vor, dass auch seine eigene Familie ungerechterweise vertrieben worden war und einem im Augenblick noch ungewissen, aber letztendlich sicher glänzenden, besseren Schicksal entgegenzog. Dabei konnte der kleine Junge freilich nicht ahnen, dass ihm tatsächlich ein ähnlich unstetes Schicksal wie Petrarca bevorstand und er nie länger als drei Jahre am gleichen Ort leben würde. Fast im gleichen Alter wie Petrarca verließ Poggio also den Valdarno und tauschte die florentinische Sphäre gegen das vormals ghibellinische Arezzo. Während Florenz eine vibrierende, dynamische Republik war, in der Kaufleute und Bankiers internationale Geschäfte machten, hielten die Aretiner traditionell zum Kaiser und einem überkommenen Gesellschaftssystem mit alten Werten. In jeder Beziehung war Arezzo ehrwürdig und seine Wurzeln gingen bis auf die Etrusker zurück. Sie konnten ausgezeichnet Metall verarbeiten und der Mönch Guido Monaco hatte im 11. Jahrhundert die Notenschrift für die Musik erfunden. Doch alles das half nichts, als Florenz 1289 in der Schlacht von Campaldino der Stadt das Genick brach. Nach diesem Wendepunkt war Arezzo auf immer zum Provinznest verdammt und da seine frustrierten Einwohner sich nicht nach außen abreagieren konnten, wandte ihre Wut sich nach innen. Der Dichter Dante Alighieri, der ein Meister der Verleumdung war, schob die Aretiner in seiner »Göttlichen Komödie« als »knurrende Köter« beiseite. Dabei war Arezzo eine hübsche Stadt mit einem geschäftigen Markt auf der abschüssigen Piazza Grande16, inbrünstig frequentierten Kirchen, passablen Schulen und Lehrern. Zum ersten Mal erhielt Poggio jetzt richtigen Unterricht in Latein und Literatur. Doch auch hier gehörte seine Familie nicht dazu und das Geld war weiterhin knapp. Die Aussichten auf Arbeit waren bei den eng miteinander verflochtenen ehemaligen Ghibellinen mager. Während Guccio noch hoffte, Poggio würde ihm eines Tages im Geschäft zur Hand gehen, blieb seine energische Mutter unnachgiebig, denn ihr Sohn sollte es einmal besser haben. Schließlich fassten die Eltern einen Entschluss.
Mit den Jahren hatte Poggio sich zu einem hübschen Kerl gemausert. Er war zwar nicht groß, aber hatte feine Züge, eine hohe Stirn und dichte, kurze Locken. Gern schürzte er den kleinen Mund ironisch zu pointierter Gegenrede. Wie ein Zündholz brauste er leicht auf und schlug dann wild um sich, zum Glück meist nur mit Worten. In seinem Jähzorn glich er immer mehr dem Vater, doch wenn er sich wieder beruhigt hatte, war er der beste Freund, den man sich vorstellen konnte. Als er beinahe zwanzig Jahre alt war, zog Poggio allein und mit gerade mal fünf Soldi17 in der Tasche ins guelfische Florenz. Mehr konnten seine Eltern ihm nicht mitgeben.
Eine erste, allerdings wenig komfortable Unterkunft fand er im lebhaften Arbeiterviertel Sant’Ambrogio. Dort hauste er mehr als dass er wohnte, während von außen das Geschrei der Marktweiber und die üblen Dünste der Gerbereien von Santa Croce in die enge Stube drangen. Trotz allem sollte es Poggio immer an Orte zurückziehen, die er bereits kannte. Er kaufte später Land und Häuser, wo schon die Eltern Besitz hatten, wie in Terranuova, unterhalb von Castelfranco oder in Gropina am Hang des Pratomagno. Und später erwarb er in Florenz ein Haus nahe Sant’Ambrogio in der Via de’ Pinzoccheri. All das lag jedoch noch in weiter Zukunft, denn fürs Erste hatte Poggio genug damit zu tun, sich die nächsten Wochen über Wasser zu halten. Um seinen Unterhalt zu verdienen und ein Notarstudium zu finanzieren, tat er das einzige, was er damals gut konnte, er kopierte Texte. Dank der resoluten Hand der Mutter hatte er sich von klein auf täglich im Schönschreiben geübt. Seine Buchstaben waren wie die seines Großvaters rund, elegant und leicht lesbar. Dennoch befielen Poggio in dieser ersten Zeit des öfteren Zweifel, ob er als Notar ausreichend verdienen würde, um einmal auch davon leben zu können. Allein in der zweiten Hälfte des 13. und in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts waren in Florenz 1.100 Notare registriert und die Konkurrenz schlief nicht. Aber anders als Arezzo war Florenz nicht deprimiert und lethargisch. Zudem herrschte um das Jahr 1400 eine besondere Stimmung.
Das Florentiner Stadtbild war vollkommen anders als heute und die Renaissance noch nicht geboren. Der Dom stand seit etwa 100 Jahren neben dem Baptisterium, hatte aber leider noch kein Dach, denn niemand wusste, wie man die Kuppel hätte bauen sollen und der Architekt Arnolfo di Cambio hatte sich gehütet aufzuzeichnen, wie er sich das mit dem Dach dachte. Das politische Zentrum von Florenz war der Palazzo della Signoria18, der den Burgen der Feudalherren auf dem Land verdächtig glich. Auch diesen Palast hatte Arnolfo di Cambio geplant, wie überhaupt so ziemlich alles, was damals aus Stein war, darunter die Kirche von Santa Croce und den Dom, die Florentiner Stadtmauern, die Burg von Poppi und verschiedene neue Städte, die im Contado19 des Valdarno entstanden. Wenn Arnolfo einmal etwas durchdacht und dafür einen Plan ausgearbeitet hatte, dann kopierte er diesen gnadenlos, wobei es egal war, ob es sich um einen Palazzo oder eine ganze Stadt handelte. In jenen dynamischen Zeiten war Arnolfo der Mann für funktionale architektonische Lösungen.
*
Während ich bei Nacht und Regen durch Terranuova fuhr, fiel mir der Gedanke in den Kopf, dass neben der Sprache die Erinnerung als größte Errungenschaft der Menschheit angesehen werden konnte. Wobei das mit dem »ansehen« bereits problematisch war, denn obwohl die Erinnerung irgendwie da war und man sie wahrnahm, sah man sie nicht und ob sie wahr war, sei ebenfalls dahingestellt. Aber man konnte zum Beispiel durchaus sagen, dass der Valdarno so weit die Erinnerung zurückreichte unter Florentiner Einfluss stand. Im Städtchen San Giovanni blickte die steinerne Löwenstatue vor dem Rathaus unverwandt in Richtung Florenz, denn dorthin orientierte man sich. Für notwendige Erledigungen und zum Vergnügen begab auch ich mich regelmäßig in die »blühende« Stadt. Eines Tages sah ich einen beliebigen Tourist in einem der Straßencafés an der Piazza della Signoria sitzen.
Nach einem erschöpfenden Besichtigungsmarathon von Dom, Piazza della Repubblica und Ponte Vecchio genoss er seinen wohlverdienten Spritz oder Cappuccino, während die Sonne ihm auf die Stirn brannte. Ich beobachtete, wie sein Blick absichtslos den von Arnolfo di Cambio erbauten Palazzo della Signoria entlang und hoch zum einstigen Gefängnisturm schweifte, den die Florentiner mit ihrem unnachahmlich schneidenden Witz bis heute spöttisch Alberghetto20 nennen. In ihm hatte man 1433 Poggios Freund Cosimo de’ Medici eingesperrt, bevor man sich entschied, ihn doch nicht umzubringen, sondern stattdessen ins Exil zu schicken. Während dieser politischen Turbulenzen hatte Poggio immer loyal zu seinem Freund gestanden. Dann sah ich, wie der Blick des Touristen nach unten glitt und die Fenster des Gebäudes streifte, ohne jedoch auf ihnen zu verweilen. In einem dieser hohen Fenster war, über vierzig Jahre nachdem der Medici im Palazzo eingesessen hatte, Poggios Sohn auf Befehl von Cosimos Enkel erhängt worden. Der Tourist nippte weiter an seinem Spritz oder Cappuccino und machte mit seinem schlauen Fon ein Foto des Getränks mit dem Palazzo im Hintergrund. An dessen Eingang blickte die Kopie von Michelangelos David betreten zur anderen Seite. Der Tourist lächelte müde. Er braucht nicht zu wissen, was sich hinter den Mauern zugetragen hatte, um seinen Urlaub zu genießen.
Während ich den Mann beobachtete, richtete sich in dem Raum zwischen mir und dem anderen die Frage auf, ob es tatsächlich möglich war, eine Beziehung zu den von uns betrachteten Objekten zu knüpfen, und zwar im allerwörtlichsten Sinn. Die Schönheit des David weiter vorne zog mich an und ich meine damit, dass ich spürte, dass etwas in mir zog. Wie war es möglich, dass vermeintlich leblose Objekte und längst vergangene Geschehnisse sich nach uns streckten? An dieser sonnenbeschienen Piazza, wo der Tourist genüsslich seinen Spritz oder Cappuccino austrank, hatten sich jahrhundertelang dramatische Ereignisse abgespielt, zum Beispiel die Fehde zwischen Guelfen und Ghibellinen. Damit war es aber schon lange vorbei und deshalb ging uns die Geschichte nichts mehr an. Oder etwa doch?
Bekanntlich lebte es sich zu allen Zeiten besser mit einem gut definierten Feindbild, an dem man sich festbeißen konnte. Eine klar umrissene Polarität wie Westen gegen Osten, Norden gegen Süden oder Bayern gegen Borussia. Die Italiener (salopp gesagt, denn Italien gab es ja noch nicht) übernahmen im Mittelalter einen Zwist, der im 12. Jahrhundert aus dem Norden über die Alpen schwappte, als die Welfen den Waiblingern die Kaiserkrone streitig machten. Die Welfen positionierten sich später als papsttreue Guelfen, die Ghibellinen hielten zum Kaiser. Das italienische »Ghibellini« entstand aus dem Schlachtruf »Waiblingen!« der Kaisertreuen, was für südliche Ohren wohl ziemlich verwickelt klang, weshalb sie ihn zu »ghibellini« aufrollten. Soweit eine vereinfachte Version der Ereignisse. Im Grunde gab man jedoch auf Ideologien wie Kaiser oder Papst wenig, denn tatsächlich ging es viel mehr um persönliche Interessen einflussreicher Familien. Hinter dem Konflikt standen Städte, deren Bürger, Kaufleute und Bankiers stetig an Wohlstand und Selbstbewusstsein wuchsen. Die alten zentralistischen Autoritäten, gleich ob Kaiser oder Papst, wurden immer dann in Frage gestellt, wenn sie mit den städtischen Ansprüchen kollidierten. Um diese durchzusetzen, bedienten sich die mächtigen Familien der »Parte21 Guelfa« oder »Ghibellina«. Florenz war in diesem Konflikt aufgrund seiner republikanischen Anstrengungen ganz vorne mit dabei.
Nach harten Auseinandersetzungen verteilten sich im 13. Jahrhundert die italienischen Städte wie schwarze und weiße Felder auf einem Schachbrett. Nachdem das guelfische Florenz sich an den Papst lehnte, waren die umliegenden Städte Arezzo, Pisa und Siena kaisertreu. Aber die politischen Credos und Koalitionen konnten durchaus wechseln, schließlich wollten alle Städte ihre Macht ausdehnen und somit in einem begrenzten Gebiet dasselbe, was nicht gut gehen konnte. Mit dem Stauferkaiser Friedrich II., der den größten Teil seines Lebens in Apulien und Sizilien verbrachte, eskalierte der Konflikt im Stiefel endgültig. Nach einer deftigen Schlappe 1260 bei Montaperti gegen Siena verkrallten sich die Florentiner Guelfen nach dem Motto »Jetzt erst recht« in den Gegner. Und tatsächlich wendete sich das Blatt und die Guelfen zerlegten 1266 im kampanischen Benevent die kaiserlichen Truppen von Friedrichs Sohn Manfred. In der Toskana siegten sie am 11. Juni 1289 bei Campaldino auf der Rückseite des Pratomagno endgültig über die Kaisertreuen. Fortan konnte Florenz unter dem päpstlichen Deckmantel seine Macht ausdehnen, während die Bankiers der Stadt den Pontifex finanzierten.
In dem Moment hatte der Tourist seinen Spritz oder Cappuccino ausgetrunken und wollte zahlen. Ob ihm das Getränk anders geschmeckt hätte, falls er gewusst hätte, dass zu Römerzeiten nur wenige Meter entfernt – da wo sich jetzt das Geschäft von Chanel befand – die städtische Kloake vor sich hin stank?
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Als Poggio kurz nach 1400 nach Florenz kam, war die Gesellschaft dort gerade in einem grundlegenden Wandel begriffen, der von mehreren epochalen Katastrophen ausgelöst worden war, welche die nach Paris zweitgrößte Stadt Europas besonders hart trafen. Um 1346 waren Europas größte Bankenverbünde, die Compagnia de’ Bardi und die der Peruzzi in den Konkurs geschlittert, weil sie dem englischen Königshaus für den Hundertjährigen Krieg Unsummen an Krediten gewährt hatten, die Edward III. nicht zurückzahlte. Dann brach 1348 die Pest aus, die ein Drittel der Bevölkerung Europas und fast die Hälfte der Einwohner von Florenz dahinraffte. Ein Klimawandel setzte ein und die mittelalterliche Wärmewelle aus. Das kleinere Übel war, dass man nun in England keinen Wein mehr anbauen konnte. Auf dem Fuß folgten Missernten und Hungersnöte. War schon im Jahrhundert zuvor der Druck auf die regierenden Klassen gestiegen, kam es jetzt zu regelrechten Revolten. In Florenz erhoben sich 1378 die Ciompi, rechtlose Arbeiter des Popolo minuto22 aus dem Tuchgewerbe, arme Hunde, die nach anfänglichen Überraschungserfolgen keine Chance hatten gegen das Popolo grasso23 der reichen Bürger und Kaufleute. Doch der zweimonatige Aufstand brach das soziale Gefüge weiter auf.
Dass die Zeit aus dem Ruder lief, hatte Jahre vorher schon der Dichter Francesco Petrarca bemerkt, der unstet von einem Ort zum anderen zog. Die Sprache war somit seine einzige Heimat. Natürlich schrieb Petrarca, wie alle damaligen Gelehrten, auf Lateinisch. Angesichts der sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen hinterfragte er die Logik des damaligen Denkens und kam zu dem Schluss, dass die Methode falsch war. Denn zuerst stellte man eine Frage, diskutierte dann ihr Für und Wider und schloss vom Allgemeinen auf das Besondere. Mit Vorliebe wurde nur eine einzige Teilfrage begutachtet, ohne sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Kam man trotzdem mit Argumenten nicht weiter, bemühte man Autoritäten und Experten und deren ipse dixit24. Petrarca und später seine Anhänger vertraten stattdessen die Meinung, es sei unredlich, sich von einem verallgemeinernden Lehrsatz zum nächsten zu hangeln. Sie wollten den Argumenten auf den Grund gehen. Um sich ein Urteil über einen Sachverhalt bilden zu können, das sich nicht im Nachplappern von leeren Formeln erschöpfte, musste man immer weiter zurückgehen und nicht nur die Kommentare zu Schriften lesen, sondern die zitierten Autoren selbst mit ihren originalen Aussagen, also in Lateinisch oder Griechisch. Folgerichtig begannen sie, die man Humanisten nannte, nach antiken Schriften zu forschen und sie zu übersetzen. Bald entwickelten sie eine Liebe zur Antike, weil sie spürten, dass die alten Schriften etwas zu sagen hatten, hinter dem die zeitgenössischen Kommentare hinterher hinkten.
humanitas