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Udo Steinbach

Die arabische Welt im 20. Jahrhundert

Aufbruch – Umbruch - Perspektiven

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

 

 

 

2., aktualisierte Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032541-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032542-5

epub:    ISBN 978-3-17-032543-2

mobi:    ISBN 978-3-17-032544-9

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. 1 Der lange Weg ins 20. Jahrhundert – die Vorgeschichte
  4. 1.1 Europäische Vorherrschaft
  5. 1.1.1 Ägypten
  6. 1.1.2 Nordafrika
  7. 1.1.3 Vorderer Orient
  8. 1.2 Reformbestrebungen
  9. 2 Die geistige und gesellschaftliche Erneuerung bis 1914
  10. 3 Der Erste Weltkrieg und europäischer Imperialismus
  11. 3.1 Das Ende der alten Ordnung
  12. 3.2 Die Nachkriegsordnung
  13. 4 Die arabischen Länder in Einzeldarstellungen
  14. 4.1 Der arabische Kernraum: Ägypten und der Fruchtbare Halbmond
  15. 4.1.1 Ägypten
  16. 4.1.2 Sudan
  17. 4.1.3 Syrien
  18. 4.1.4 Libanon
  19. 4.1.5 Jordanien und Palästina
  20. 4.1.6 Irak
  21. 4.2 Der Maghreb
  22. 4.2.1 Marokko
  23. 4.2.2 Tunesien
  24. 4.2.3 Algerien
  25. 4.2.4 Libyen
  26. 4.3 Die Arabische Halbinsel
  27. 4.3.1 Saudi-Arabien
  28. 4.3.2 Die Emirate am Persischen Golf
  29. 4.3.3 Jemen
  30. 4.4 Die Staaten am Rande der arabischen Welt
  31. 4.4.1 Mauretanien
  32. 4.4.2 Somalia
  33. 4.4.3 Dschibuti
  34. 4.4.4 Komoren
  35. 5 Das 20. Jahrhundert – Wandel wohin?
  36. 6 Die arabischen Staaten in der internationalen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg
  37. 6.1 Die Koordinaten des Ost-West-Konflikts
  38. 6.2 Die Nahostpolitik der EU
  39. 6.3 Deutschland und die arabische Welt
  40. 7 Am Beginn des 21. Jahrhunderts
  41. 8 Bibliographie

 

Vorwort

 

 

 

 

Die arabische Welt vom Atlantik bis zum Indischen Ozean ist ein Raum von enormer politischer, gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Vielfalt und Komplexität. Sprache, Geschichte und Religion der arabischen Völker machen es gleichwohl statthaft, von einem arabischen Raum (Kontext) zu sprechen. Mit der nationalstaatlichen Differenzierung aber sind zahlreiche unterschiedliche Ausprägungen (Subtexte) innerhalb desselben entstanden. Diese haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts – definitiv mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zu einzelstaatlicher Existenz gefunden. Die hier vorgelegte Darstellung macht den Versuch, den gesamtarabischen Kontext zu den Subtexten der einzelnen arabischen Staaten in Beziehung zu setzen.

Angesichts des dafür zur Verfügung stehenden – begrenzten – Platzes muss sich die Präsentation des Geschichtsverlaufs auf die wesentlichen Grundlinien beschränken. Sie muss sich auf die Ergebnisse der Forschung stützen; auf die Arbeit mit Quellen und auf die Ausbreitung kontroverser Standpunkte musste verzichtet werden. Deshalb erschien es auch nicht zwingend erforderlich, Aussagen jeweils im Einzelnen zu belegen. Eine umfassende Bibliographie soll dieses Manko ersetzen.

Der Zwang zu gestraffter Darstellung ließ es auch geraten erscheinen, die namentliche Erwähnung auf die wichtigsten Akteure zu begrenzen. Nur in wenigen Fällen (z. B. im Falle des ägyptischen Präsidenten und panarabischen Protagonisten Gamal [Dschamal] Abd an-Nasir [Nasser]) werden sie mehrfach genannt. In den allermeisten Fällen tauchen die Namen der Akteure (sowie Ortsnamen) lediglich dort auf, wo der Leser sie nach dem Inhaltsverzeichnis vermuten wird. Ein Index schien deshalb entbehrlich.

Die Darstellung des Geschichtsablaufs vollzieht sich auf beiden Ebenen: der übergeordneten regionalen und internationalen sowie der Ebene der einzelnen Länder als Mitglieder der Arabischen Liga. Diese Anlage machte es notwendig, beide Ebenen mit Querverweisen auf einander zu beziehen. Erst die komplementäre Lektüre ergibt ein abgerundetes Bild der geschichtlichen Wirklichkeit.

Problematisch ist die Umschrift der zahlreichen arabischen Eigen- und Ortsnamen, Sachbegriffe, Parteien sowie Institutionen und Organisationen. Es war unvermeidbar, Kompromisse zu machen. Die Eigen- und Ortsnamen werden in der Regel so wiedergegeben, wie sie der Leser aus den Medien und anderen verbreiteten Publikationen kennt; nur in Ausnahmefällen werden sie transskribiert. Dabei musste den Unterschieden zwischen Lautständen der deutschen, englischen und französischen Sprache Rechnung getragen werden. Wenn arabische Begriffe umschrieben werden, wird eine stark vereinfachte – und dem Leser, der der arabischen Sprache nicht mächtig ist, nachvollziehbare – Variante der von der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) erarbeiteten Transkription verwendet. So kommt es z. B. zum Nebeneinander von Muhammad, Mohammed und Mohamed oder von Hassan und Hasan; auch die Kenntlichmachung der Abstammung durch das arabische »Sohn des« kann – je nach Lese- und Hörgewohnheit – sowohl als »ibn« als auch als »bin« auftauchen. Im Falle politischer Parteien, die – neben ihren arabischen – im Raum französischen Einflusses in der Regel französische, im Raum britischen Einflusses englische Bezeichnungen tragen, wurden die Namen unübersetzt und untranskribiert stehen gelassen, wo diese für den deutschen Leser ohnehin verständlich sind. Uneinheitlichkeiten mussten mit Bezug auf den deutschen Artikel in Kauf genommen werden – so etwa bei der Verwendung von Begriffen wie »Front« (im Englischen ohne Geschlecht, im Französischen maskulin, im Deutschen feminin) oder »Partei« (party, le parti). Dem dem deutschsprachigen Leser vertrauten Sprachgebrauch wurde in zahlreichen Fällen Vorrang vor philologischer Korrektheit gegeben.

Berlin, im Juli 2015

Udo Steinbach

 

Einleitung

 

 

 

 

Für den Gang der Geschichte menschlicher Gesellschaften ist ein Jahrhundert nur selten identisch mit einem Jahrhundert der laufenden Zeitrechnung. Zeiteinheiten umfassen nicht notwendigerweise geschichtliche Ereignis- und Sinnzusammenhänge. Dies gilt auch für die arabische Welt »im 20. Jahrhundert«. In der hier vorgelegten Darstellung beginnt das 20. Jahrhundert mit dem Ende des Ersten Weltkrieges; d. h. mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Es endet 2010/11 mit dem Ausbruch der »dritten arabischen Revolte«.

Über Jahrhunderte gehörten weite Teile des arabischen Raumes – hier: zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – zu einem Großreich, innerhalb dessen eine spezifisch »arabische« Dimension kulturell nur bedingt und politisch nur marginal in Erscheinung trat. Im 16. Jahrhundert hatte die Expansion des Osmanischen Reiches den arabischen Raum erreicht. 1516/17 wurden Syrien und Palästina sowie Ägypten, im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts das Zweistromland und die Arabische Halbinsel samt dem Jemen dem Reich eingegliedert. 1574 hatte die osmanische Seemacht Tunis erobert. Nur der äußerste Westen Nordafrikas, in etwa das heutige Marokko, blieb außerhalb der Herrschaft der Sultane in Konstantinopel. Auch wenn eine sprachliche und kulturelle Vielfalt fortbestand, so lagen die Herrschaft, die Verwaltung sowie das Militär- und Rechtswesen im Prinzip in der Hand der Osmanen.

Erst im 19. Jahrhundert wurden Kräfte wirksam, »die Araber« zunächst als kulturellen später auch als politischen Raum wieder sichtbar zu machen. Die europäische Expansion setzte Bewegungen frei, die eine arabische geistig-kulturelle Eigentümlichkeit gegenüber dem politischen Zentrum in Konstantinopel betonten. Teile Nordafrikas und des Vorderen Orients wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts direkter oder indirekter Kontrolle vor allem Frankreichs und Englands unterworfen. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs standen die Araber vor der doppelten Herausforderung: In einer radikal veränderten internationalen Ordnung ihren politischen Platz zu suchen; zugleich galt es – hier teilten sie die Herausforderung mit der Gemeinschaft der islamischen Völker insgesamt –, eine Antwort auf eine kulturelle und zivilisatorische Moderne zu finden, deren wesentliche Elemente von Europa (später auch den USA) vorgegeben waren.

Dieses 20. Jahrhundert lässt sich in zwei übergreifende Zeitabschnitte aufteilen: Der erste umfasst die Auseinandersetzung mit den europäischen Mächten, insbesondere Großbritannien und Frankreich (aber auch Italien und Spanien); eine Auseinandersetzung, die sich wesentlich als Streben nach Unabhängigkeit darstellt. Nahezu flächendeckend war der arabische Raum zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean unter die Herrschaft dieser Mächte geraten.

Diese geschichtliche Epoche ist seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu abgeschlossen. Neue Eliten, die sich unter der Herrschaft der europäischen Mächte entwickelt hatten, strebten nunmehr nach politischen und gesellschaftlichen Ordnungen, die in der sich ausprägenden neuen internationalen Ordnung einen eigenständigen Platz finden würden. Auch diese Suche freilich vollzog sich nicht allein gemäß innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Dynamiken. Sie war zugleich geprägt durch das Vordringen des Einflusses der USA und dem sich ausbildenden Konflikt mit der Sowjetunion. Das Streben beider »Supermächte« nach globaler Vorherrschaft hat die innere und äußere Entwicklung der jungen arabischen Staaten nachhaltig geprägt.

Diese Epoche endet zwar mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Noch immer aber lastet das Erbe sowohl des europäischen Imperialismus als auch des Ost-West-Konflikts auf den arabischen gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Der Prozess politischer und geistiger Selbstfindung und Selbstbestimmung ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Namentlich die Kräfte, die aus dem Islam heraus eine politische und gesellschaftliche Erneuerung anbieten, müssen – sofern sie sich nicht von vornherein durch gewalthafte Strategien ins Abseits manövrieren – erst noch beweisen, ob sie in der Lage sind, einen Platz innerhalb der komplexen Gemengelage politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kräfte, die global wirksam sind, zu definieren.

Unter der »arabischen Welt« wird im vorliegenden Band der Raum verstanden, der durch die Mitglieder der Arabischen Liga abgebildet wird. So werden auch jene Länder einbezogen, die am Rande des arabisch geprägten Raumes liegen und deren ethnische, gesellschaftliche und kulturelle Strukturen zum Teil im Kontext des subsaharischen Afrika zu verorten sind. Ihre Arabisierung ist z. T. oberflächlich; die arabische Sprache ist eher Fremdsprache. Ihr Beitritt zur Arabischen Liga war im Wesentlichen politischen bzw. wirtschaftlichen Interessen geschuldet.

Neben dem formalen Kriterium der Mitgliedschaft in der Arabischen Liga definiert sich die »arabische Welt«, wie sie in der vorliegenden Arbeit verstanden wird, wesentlich durch die arabische Sprache. Sie ist die Muttersprache der weitaus größten Zahl der Bewohner des hier dargestellten Raumes. Jenseits der zum Teil tief greifenden Unterschiede der in den jeweiligen Gesellschaften gesprochenen Dialekte existiert eine arabische Hochsprache. Sie steht zur Sprache des Korans in einem engen Verhältnis. Mit der Vertiefung der Alphabetisierung, der Ausbreitung der allgemeinen Schulbildung sowie insbesondere der Medien, vor allem des Radios und des Fernsehens, bis in die letzten Winkel der arabischen Welt während der letzten Jahrzehnte ist das Hocharabische – jenseits der Dialekte – eine lingua franca panarabischer Kommunikation quer durch alle gesellschaftlichen Schichten geworden.

Die Zugehörigkeit zur arabischen Welt wird auch durch die Wahrnehmung gestärkt, Teil einer arabischen Kultur zu sein. Zwar ist der Koran eine Botschaft Allahs an alle Menschen; allein die Tatsache, dass Gott diese in der arabischen Sprache kommuniziert hat, verleiht das Bewusstsein, einem ausgezeichneten Volk anzugehören. Auf vielen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft haben Araber (und Nicht-Araber in arabischer Sprache) zu einer Kultur der islamischen Welt insgesamt beigetragen. Auf zahlreichen Gebieten aber, namentlich der Dichtkunst und der Literatur, haben die Araber kulturelle Leistungen geschaffen, die tatsächlich in einer spezifischen Weise arabisch sind.

Die »arabische Welt« stellt sich – wie in der Geschichte so in der Gegenwart – alles andere als einheitlich dar. Nicht von ungefähr hat der bedeutende britische Historiker Albert Hourani von einer Geschichte der arabischen Völker gesprochen. Die Unterschiede liegen in den Strukturen und Verfasstheiten der politischen Systeme, in den Traditionen und Strukturen der Gesellschaften sowie in der Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen. Tief greifend unterschiedlich ist die Rolle der Religion in Politik und Gesellschaft.

Im 20. Jahrhundert lassen sich drei Großräume der arabischen Welt erkennen: Nordafrika, der Raum zwischen dem östlichen Mittelmeer (Libanon/Palästina) bis zum Persischen Golf (den arabische Nationalisten als Arabischen Golf bezeichnen) und der Arabischen Halbinsel. Ägypten bildet gleichsam die Schnittstelle aller drei Räume. Von der Entwicklung dieses Landes sind deshalb zeitweilig besonders starke politische und kulturelle Impulse auf die Entwicklung des arabischen Raumes insgesamt ausgegangen. Zugleich aber haben vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Dreiteilung panarabische Impulse eine zumeist nur begrenzte Tragweite gehabt. Dem gegenüber lassen sich immer wieder intraregionale Zusammenhänge und Interaktionen konstatieren.

Wie eingangs bemerkt, beginnt das 20. Jahrhundert der »arabischen Welt« mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Es endet mit dem Ausbruch der Revolten, Umbrüche und Revolutionen, die im Dezember 2010 in Tunesien ihren Ausgang genommen haben. Kein Platz in der arabischen Welt, an dem die Erschütterungen, die sich im Jahr 2011 in Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien, Bahrain (und weniger dramatisch und weitreichend in anderen arabischen Ländern) fortsetzten, nicht gespürt worden wären. Sie werden als dritte arabische Revolte verstanden. Die erste Revolte arabischer Völker – beginnend mit dem Aufstand gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg – wurde nach dessen Ende u. a. in Libyen, Ägypten, Syrien, Palästina und dem Irak von den europäischen Kolonialmächten niedergeschlagen (s. die jeweiligen Länderdarstellungen). Die zweite Revolte beginnt mit der Revolution in Ägypten im Juli 1952; sie erfasst in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen weiteste Teile der arabischen Welt und zieht sich bis Ende der 1960er Jahre hin. Auch sie scheitert aus zahlreichen Gründen; sie werden im Einzelnen Gegenstand der Darstellung sein. Dazu gehören der maßlose Ehrgeiz einzelner politischer Führer, rivalisierende und widerstreitende Ideologien, trügerische Entwicklungskonzepte, der Konflikt mit Israel und auswärtige Einmischung aus wirtschaftlichen und politischen Interessen – zunächst im Rahmen des Ost-West-Konflikts, nach dessen Ende begründet mit »Sicherheitsinteressen« der großen Mächte. Am Ende der zweiten arabischen Revolte stehen autokratische und korrupte Regime.

Ende 2010/Anfang 2011 beginnt die dritte Revolte; ein Aufstand diesmal getragen von den Bürgern und Bürgerinnen selbst und geleitet durch die Forderung nach Würde und Gerechtigkeit. Die sozialen Medien sind ein entscheidendes Instrument beim Zustandekommen der Proteste. Wieder haben sie einen arabischen Zusammenhang (Kontext), zugleich aber zahlreiche Ausprägungen (Subtexte); jede arabische Gesellschaft stellt einen solchen dar. Die Proteste nehmen unterschiedliche Formen an; sie haben einen eigenen Rhythmus und Verlauf und zeitigen sehr unterschiedliche Ergebnisse. Wie die neuen Ordnungen in den einzelnen arabischen Subtexten am Ende aussehen werden, wird sich erst in den kommenden Jahren erkennen lassen. Mit dem Ausbruch der Revolte 2010/11 hat für die arabischen Völker das 21. Jahrhundert begonnen; er markiert das Ende des 20. Jahrhunderts, welches Gegenstand der hier vorgelegten Darstellung ist. Nur mit wenigen Strichen wird der Beginn dieses 21. Jahrhunderts in den jeweiligen Länderkapiteln umrissen.

 

1          Der lange Weg ins 20. Jahrhundert – die Vorgeschichte

 

 

 

1.1        Europäische Vorherrschaft

1.1.1      Ägypten

Auch wenn das 20. Jahrhundert für die arabische Welt mit dem Ende des Osmanischen Reiches beginnt, so bedeutet diese Zäsur doch keineswegs eine Stunde Null. Durch das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert hindurch haben sich die Rahmenbedingungen und Dynamiken herausgebildet, innerhalb derer sich die Geschichte der arabischen Welt im 20. Jahrhundert zu entfalten begann. Diese hatten sowohl eine äußere, die internationale Mächtekonstellation betreffende als auch eine innere Dimension, die sich aus der Auseinandersetzung der Eliten mit dem von Europa ausgehenden Modernisierungsdruck ergab.

Die neuere Geschichte Arabiens beginnt im Jahre 1798. Sie wird von Europa aus eingeläutet. Es war ein Kalkül im Kontext innereuropäischer machtpolitischer Auseinandersetzungen im Gefolge der französischen Revolution, das das »Direktorium« in Paris bestimmte, General Napoleon Bonaparte im Sommer eben dieses Jahres mit einer militärischen Expedition nach Ägypten zu betrauen. Politisches und strategisches Ziel des Unternehmens war es, die Verbindungen Englands, das sich seit 1793 mit dem revolutionären Frankreich im Kriegszustand befand, zu stören. Wie in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten bis in die Gegenwart aber waren es zugleich von machtpolitischem Kalkül nicht zu trennende wirtschaftliche Interessen, die das Handeln europäischer Regierungen leiteten: Im Falle der napoleonischen Expedition ging es wesentlich um die Sicherung u. a. der Weizenlieferungen aus Ägypten an Frankreich und die Erschließung des Landes als Absatzmarkt für französische Produkte.

Mit der Einnahme Alexandrias am 2. Juli 1798 und der Besetzung Kairos nach der Schlacht bei den Pyramiden drei Wochen später beginnt der Einbruch Europas in den arabischen Raum, der damals fast vollständig noch Teil des Osmanischen Reiches war. Der Tross von Wissenschaftlern im Gefolge Napoleons, dessen Hauptaufgabe in einer umfassenden Bestandsaufnahme der altägyptischen Kultur bestand, manifestierte aber zugleich das erwachende Interesse an Geschichte und Kultur. Obwohl das militärische Unternehmen 1801 abgebrochen werden musste und Napoleon unter Zurücklassung seiner Truppen bereits Anfang November 1799 nach Paris zurückkehrte, war damit für den arabischen Raum der Beginn eines neuen Abschnitts seiner Geschichte eingeläutet. Die Araber waren nicht nur mit den kolonialen und imperialen Interessen Europas konfrontiert, sie mussten sich auch im Inneren mit politischen und kulturellen Ideen und Triebkräften auseinandersetzen, die an der Wurzel der unabweisbaren Überlegenheit Europas standen. Diese Auseinandersetzung führte sie Jahrzehnte später auch zur Wiederentdeckung ihrer eigenen, arabischen Identität. Angesichts der unumkehrbaren Schwächung des Osmanischen Reiches würde sich schließlich – nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – die Frage nach dem Platz der Araber im internationalen Kontext stellen.

In Ägypten brachte der französische Militärschlag die Jahrhunderte alte Herrschaft der Mamluken zum Einsturz. Als Mehmet (Muhammad) Ali nach internen Machtkämpfen 1805 vom Sultan zum Statthalter Ägyptens ernannt wurde, war dies der Beginn einer de facto Unabhängigkeit Ägyptens. Völkerrechtlich verblieb das Land bis 1914 unter osmanischer Oberhoheit. Mehmet Ali Pascha regierte bis 1848; die von ihm gegründete Dynastie sollte das Land bis zur Revolution im Jahre 1952 beherrschen.

In seiner langen Regierungszeit legte Mehmet Ali die Grundlagen eines modernen Staates. Besondere Aufmerksamkeit richtete er zunächst auf den Aufbau der Armee. Sie sollte die Sicherheit und Unabhängigkeit des jungen Staates gewährleisten. Zugleich war sie das Instrument des Herrschers, ehrgeizige Pläne territorialer Expansion durchzusetzen. Die Grundlage der Eigenständigkeit und Selbstbehauptung Ägyptens wurden wirtschaftliche Entwicklung und technische Erneuerung. Der Staat selbst forcierte die Industrialisierung. Zugleich übernahm er die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion und die daraus erzielten Einnahmen. Dafür freilich mussten erst die innenpolitischen Voraussetzungen geschaffen werden. Dies geschah durch die Entmachtung der einheimischen Notabeln, die, soweit sie nicht ins Ausland flohen, zum Teil liquidiert wurden. An ihre Stelle sollte eine auf systematischer Aushebung basierende Armee treten, die europäischen Vorbildern nachgebildet war.

Für Mehmet Ali verbanden sich die wirtschaftliche Modernisierung und die Verwirklichung ehrgeiziger militärischer und politischer Ziele miteinander. Der Aufbau von Fabriken seitens des Staates diente zum einen den Bedürfnissen des militärisch-industriellen Komplexes. Zum anderen sollte sich die ägyptische Wirtschaft gegen den wachsenden Druck ausländischer Importe behaupten können. Dieser erwuchs namentlich aus England Konkurrenz, dessen industrielle Produktion nicht nur im kontinental-europäischen Maßstab an der Spitze lag, sondern zunehmend Märkte außerhalb Europas zu erschließen suchte.

Die Politik der Importsubstitution betraf vor allem den Sektor der Textilproduktion. Durch die Geschichte hindurch bis zum Beginn der 19. Jahrhunderts war Ägypten Agrarland gewesen. Ziel der Wirtschaftspolitik war es nunmehr, ihre Potenziale auf die Bedürfnisse eines auf Export ausgerichteten staatswirtschaftlichen Industrieapparates, aus dem der Staat Einnahmen erzielen würde, auszurichten. Die Vernichtung der mamlukischen Machtstrukturen, die nicht zuletzt auf der Steuerpacht beruht hatten, bot die Chance der Zentralisierung der aus Steuern in die Staatskasse fließenden Einnahmen.

Um die wirtschaftliche Entwicklung und technische Modernisierung voranzutreiben, bedurfte Mehmet Ali europäischer Erkenntnisse und Produktionsmethoden. So war der Herrscher in Kairo aufgeschlossen für die Potenziale des Wissens und der technischen Fertigkeiten, die in Europa entwickelt worden waren. Sie hatten einen entscheidenden Anteil an der Überlegenheit der Europäer, die sich im Verhältnis zur außereuropäischen Welt und nicht zuletzt auch zum Osmanischen Reich herausgebildet hatte. Unter den Experten, die er ins Land holte, dominierten Franzosen. Als Berater aber saßen sie zugleich an maßgeblichen Positionen in jenen Bereichen, die vom Reformeifer Mehmet Alis erfasst waren. So stand ein Franzose an der Spitze der Ausbilder der Armee; man fand Franzosen in den entstehenden Industriebetrieben und in der Verwaltung. Eine besondere Rolle spielten sie auch bei der Ausbildung einheimischer Fachkräfte. In Bereichen wie Technik, Medizin, Pharmazie, Veterinärmedizin, Landwirtschaft und Verwaltung entstanden Fachschulen, die von Ausländern geleitet wurde. Besondere Aufmerksamkeit galt auch dem Erlernen von Fremdsprachen, namentlich des Französischen.

Zugleich wurden junge Ägypter zum Studium ins Ausland geschickt. Der ersten Studentenmission, die zum Studium technischer Fertigkeiten und Fachgebiete sowie der Sprache nach Frankreich geschickt wurde, war ein junger Mann beigeordnet, der in den kommenden Jahrzehnten in vielen Bereichen des Erziehungswesens und der Verwaltung eine nachhaltige Rolle spielen sollte, Rifa’a at-Tahtawi (1801–1873). Der Delegation, die u. a. aus 19 gebürtigen Ägyptern, acht Türken, je vier Armeniern und Tscherkessen sowie drei Georgiern bestand, war der junge an der traditionsreichen al-Azhar-Hochschule ausgebildete Theologe als Imam und geistlicher Betreuer zugeteilt. Über seinen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt (1826–1831) hat Tahtawi einen berühmten Bericht veröffentlicht. Eindrucksvoll bringt er darin seine Wissbegier und Aufgeschlossenheit zum Ausdruck, mit der er einer ihm völlig fremden Welt gegenübertritt. At-Tahtawi steht früh für jene Strömung in der arabischen Welt, die – bis weit ins 20.Jahrhundert für die Begegnung mit Europa offen war und keine grundsätzliche Unvereinbarkeit der Werte Europas und der islamischen Welt sah.

Die rigorose, ja gewaltsame Modernisierung, der Mehmet Ali die ägyptische Gesellschaft unterwarf, ist im Zusammenhang mit ehrgeizigen außenpolitischen Zielen zu sehen. Sie konzentrierten sich auf drei Schwerpunkte: die Erschließung von Märkten und Rohstoffquellen sowie die Kontrolle von Handelswegen. Der erste Schauplatz, auf dem sich die nach europäischen Vorbildern neu aufgestellte Armee bewähren sollte, war die Arabische Halbinsel. Dort hatte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter der politischen und militärischen Führung der Familie Sa’ud die religiöse Bewegung der Wahhabiten ausgebreitet. Ihr Gründer, Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1793), hatte zu einem wortgetreuen Verständnis des Korans und der frühen Überlieferung des Propheten Muhammad (sunna) aufgerufen. In Muhammad ibn Sa’ud (starb 1766) hatte dieser nicht nur extrem konservative, sondern auch unduldsame Theologe gleichsam sein weltliches Schwert gefunden, das die Lehre der wahhabiyya gegen Mitte des 18. Jahrhunderts in den zentralen Teilen der Arabischen Halbinsel durchgesetzt hatte. Als die Wahhabiten zwischen 1803 und 1806 Mekka und Medina eroberten, bedeutete dies eine Herausforderung für den Sultan in Konstantinopel. Angesichts der Gefahr, radikale Wahhabiten könnten die ordnungsgemäße Ausrichtung der religiösen Pflicht der Pilgerfahrt gefährden, beauftrage der Sultan seinen – de jure noch immer – Statthalter in Kairo, die Wahhabiten aus den heiligen Städten zu vertreiben. Dies gelang in den Jahren 1812/13. 1818 eroberten die Truppen Mehmet Alis auch Dir’iyya, den Stammsitz der Familie Sa’ud und zerstörten ihn. Damit gewann Mehmet Ali die Kontrolle über den Transithandel auf dem Roten Meer und über dessen östliche Küste.

Nach den militärischen Erfolgen auf der östlichen machte sich Mehmet Ali, nunmehr auf eigene Faust, an die Expansion auf der westlichen Seite des Roten Meeres. Von 1820 bis 1823 wurde der Sudan erobert (s. S. 74). Es waren hauptsächlich wirtschaftliche Interessen, die die Expansion leiteten. Für seine Armee suchte Mehmet Ali sudanesische Söldner; daneben ging es um die Kontrolle des Afrikahandels. Während letzteres gelang, stellte sich ersteres als undurchführbar heraus; die Afrikaner erwiesen sich als den physischen Anforderungen eines Militärdienstes in Ägypten nicht gewachsen.

Die militärischen und politischen Interessen des Sultans und wirtschaftspolitische Hintergedanken seines Statthalters in Kairo konvergierten wiederum, als dieser aus Konstantinopel den Befehl erhielt, den griechischen Aufstand niederzuschlagen, der 1821 auf der Peloponnes begonnen hatte. Wenn sich Mehmet Ali darauf einließ, dann war das weniger der Entschlossenheit geschuldet, den Sultan dabei zu unterstützen, Machtpositionen des Reiches an seinen gefährdeten Rändern zu konsolidieren. Selbst im heute griechischen Teil Makedoniens gebürtig, spekulierte Mehmet Ali vielmehr darauf, eine ägyptische Machtposition in Griechenland zu errichten, von der aus er den Handel im östlichen Mittelmeer würde kontrollieren können. Tatsächlich konnten die ägyptischen Truppen zwischen1825 und 1827 militärische Erfolge erzielen, die dieses Ziel in greifbare Nähe zu rücken schienen. Zum ersten Mal aber zogen europäische Mächte der ägyptischen Expansion eine rote Linie: Nicht nur hatten sich England, Frankreich und Russland 1827 auf die Unabhängigkeit Griechenlands verständigt; vielmehr erschienen die wirtschafts- und handelspolitischen Ziele Mehmet Alis in einer Reihe europäischer Hauptstädte, insbesondere in London, als Bedrohung eigener Wirtschaftsinteressen. Im Oktober 1827 kam es vor Navarino zu einer Seeschlacht, in der sich die ägyptischtürkische Flotte auf der einen und ein Flottenverband Englands, Frankreichs und Russlands auf der anderen Seite gegenüber standen. Von Ibrahim Pascha (1789–1848), einem Sohn Mehmets kommandiert, endete die Schlacht mit der vollständigen Niederlage des osmanischen Flottenverbandes.

Die Niederlage von Navarino und der Eintritt Griechenlands in die Unabhängigkeit bedeuteten eine weitere militärische Schwächung der Stellung des Sultans in Konstantinopel gegenüber seinen europäischen Rivalen. Mehmet Ali sah darin eine Chance, die Machtstellung Ägyptens gegenüber dem Reich weiter auszubauen. Seit langem hegte er Pläne, Syrien zu erobern. Für seine Industrieprojekte benötigte er syrische Rohstoffe, namentlich Holz für den Schiffbau sowie Seide und Öl für den Export. Unter einem relativ belanglosen Vorwand ließ Mehmet Ali 1831 seine Truppen, wiederum unter der Führung Ibrahim Paschas, in Syrien einmarschieren. Die Truppen überschritten das Taurusgebirge und drangen tief nach Anatolien ein. Bei Konya fügten sie Ende 1832 der im Neuaufbau befindlichen Armee des Sultans eine schwere Niederlage zu.

Auch wenn Mehmet Ali die Fortsetzung der Kampagne stoppte, so bedeuteten seine Forderungen, die Unabhängigkeit Ägyptens sowie die Annektierung Kilikiens, Syriens (gemeint ist immer der groß-syrische Raum [arab. bilad asch-Scham], der das heutige Syrien, den Libanon, Palästina und Jordanien umfasst) und Zyperns, doch eine tief greifende Veränderung der machtpolitischen Gewichte im Raum des Vorderen Orients und östlichen Mittelmeers. Noch nachhaltiger als im Falle der Zukunft Griechenlands fühlten europäische Mächte ihre eigenen politischen, aber zunehmend auch wirtschaftlichen Interessen in dem Raum herausgefordert. Das Ziel Mehmet Alis, die ökonomischen Ressourcen des neuen Machtbereichs auszubeuten und auf diese Weise die militärische Macht und das politische Gewicht Ägyptens zu stärken, musste die Pläne europäischer Mächte durchkreuzen: Zwar war die Zeit für einen Untergang des Osmanischen Reiches noch nicht gekommen – zu unkalkulierbare Rückwirkungen hätte ein solcher zu diesem Zeitpunkt auf das europäische Machtgefüge, d. h. das prekäre Gleichgewicht der Mächte gehabt. Das Interesse in den europäischen Hauptstädten aber lag an einer kontrollierten Schwächung des Reiches. Eine neue Macht, gestützt auf eine monopolwirtschaftliche Ausbeutung der Ressourcen der Untertanen, war definitiv nicht in ihrem Interesse. So begleitete Ibrahim Pascha zwar seine ägyptischem Vorbild entlehnten drakonischen Maßnahmen forcierter wirtschaftlicher Entwicklung mit Reformen, die in Europa auf positive Resonanz stoßen sollten – unter ihnen war die völlige Gleichstellung von Christen und Muslimen die weitestreichende. Gleichwohl wurde der Druck auf Kairo stärker, sich europäischen wirtschaftlichen und politischen Interessen willfährig zu zeigen. Dabei wiesen die Interessen Englands bereits über den Mittleren Osten hinaus; zunehmend sah London den politischen und strategischen Stellenwert der Region im Lichte des Ausbaus der britischen Herrschaft auf dem indischen Subkontinent. Vor diesem Hintergrund sollte der Festigung der britischen Positionen im östlichen Mittelmeer und Indischen Ozean der Ausbau der britischen Präsenz am Persischen Golf und an den Rändern der Arabischen Halbinsel einhergehen.

Die Bedrohung der Interessen sowohl des Sultans als auch der europäischen Mächte, allen voran Englands, führte zu einer vorübergehenden Konvergenz der Entschlossenheit Konstantinopels und Londons, den eigenwilligen und machtbewussten Konkurrenten in Kairo in die Schranken zu weisen. Unter dem Druck der osmanischen und insbesondere britischen Regierung musste Mehmet Ali die eroberten Gebiete aufgeben; seine Armee wurde drastisch verkleinert und die Flotte aufgelöst. Politisch und militärisch in die Schranken gewiesen, musste er sich darüber hinaus einem Handelsabkommen unterwerfen, das die wirtschaftliche Stellung Ägyptens gegenüber den europäischen Mächten schwächte (1841). Wichtigste Punkte waren die Aufhebung der Monopole, das Verbot protektionistischer Maßnahmen und die Festlegung von Zollsätzen zugunsten europäischer Waren.

Damit war ein Experiment gescheitert, das dem einsetzenden europäischen Imperialismus im arabischen Raum ein Gegengewicht hätte entgegen setzen sollen. Immerhin aber war Arabien im Kontext des ägyptischen Strebens nach einer tatsächlichen Unabhängigkeit, wenn es dies auch noch nicht so deutlich gemacht hatte, als ein eigener geopolitischer Raum sichtbar geworden. Kairo war bei allen Einschränkungen, die mit der formalen Anerkennung der Oberhoheit des osmanischen Sultans seitens des Herrschers am Nil gegeben waren, zum Gegenpol Konstantinopels geworden. Hatten die osmanische Metropole und London für einen Augenblick am selben Strang gezogen, so sollte Ägypten für die verbleibende Zeit des Fortbestehens des Osmanischen Reiches von England zur Basis seiner politischen Ambitionen zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean und schließlich auch seiner militärischen Operationen gemacht werden, die spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges darauf gerichtet waren, das Osmanische Reich endgültig zu Fall zu bringen. Die britische Dominanz über Ägypten, die sich in den letzten Jahren der Herrschaft Mehmet Alis abzuzeichnen begann, sollte erst 100 Jahre später ihr Ende finden. Dann würde ein junger Offizier, namens Gamal Abd an-Nasir die Macht in Kairo übernehmen. Dieser aber würde nicht mehr landfremden, nämlich turko-tscherkessischen Ursprungs sein wie die Dynastie, die er 1952 stürzen sollte. Er würde Ägypter sein, von dem Ehrgeiz und der Vision beseelt, von Kairo aus der gesamten arabischen Welt nach 150 Jahren des europäischen Imperialismus einen von den Arabern selbst zu bestimmenden Platz in der internationalen Ordnung zu schaffen.

Die Nachfolger Mehmet Alis, Sa’id (1854–1863) und Isma’il (1863–1879) waren entschlossen, den Weg der Modernisierung Ägyptens fortzusetzen. Während sie die geistige und kulturelle Ausrichtung nach Europa vertieften, öffneten sie Ägypten zugleich den Einflüssen und Interessen europäischer Wirtschafts- und Finanzkreise. Der Baumwollexport wurde die Grundlage des Außenhandels. Aus den Einnahmen wurden ehrgeizige Entwicklungsvorhaben, insbesondere beim Ausbau der Infrastruktur und der Verwirklichung spektakulärer Bauvorhaben, finanziert. Da die Einnahmen nicht ausreichten, begannen sich die Herrscher zu verschulden; ausländisches Kapital strömte ins Land. Europäische Investoren engagierten sich in nahezu allen Bereichen des Wirtschaftslebens. Mit dem Einbruch beim Baumwollexport nach dem Ende des Bürgerkrieges in den USA, der hohe Gewinne erbracht hatte, (1865) ging die Schere von Staatseinnahmen und -ausgaben immer weiter auseinander. Der Bau des Suezkanals (1859–1869) liefert auf drastische Weise Anschauungsmaterial für den Prozess, der Ägypten immer tiefer in die Abhängigkeit von ausländischen Finanzinteressen brachte. Machenschaften englischer und französischer Gläubiger ließen die Baukosten explodieren. Am Ende saß Isma’il auf einem Schuldenberg, den er – am Ende vergeblich – 1875 durch den Verkauf der Anteile Ägyptens an der Suezkanalgesellschaft an die britische Regierung abzutragen hoffte. Damit aber war die Wasserstraße unter die Kontrolle Großbritanniens geraten. Sie sollte erst 1956 beendet werden.

Der Suezkanal war nur das spektakulärste Beispiel für die verhängnisvolle Wechselwirkung zwischen herrscherlichem Ehrgeiz, finanzpolitischer Misswirtschaft und dem Interesse ausländischer Kapitalgeber. Für den Herrscher selbst sollten spektakuläre Bauprojekte nicht zuletzt auch Eigenständigkeit und Ebenbürtigkeit gegenüber dem osmanischen Rivalen in Konstantinopel manifestieren. Tatsächlich erhielt Isma’il 1867 vom Sultan die Würde eines Vizekönigs und trug fortan den der persischen Sprache entlehnten Titel Khedive. Immer tiefer freilich geriet Isma’il in die Schuldenfalle. In immer neuer Folge kurzfristiger Schulden und langfristiger Staatsverschuldungen vertiefte sich die Abhängigkeit nicht nur von privaten Kapitalgebern, sondern auch von europäischen Regierungen. Diese gründeten im Mai 1876 die Caisse de la Dette Publique, die die Gesamtverschuldung Ägyptens auf 91 Millionen Pfund festsetzte. Mit der Aufsicht über die Finanzverwaltung wurden im November desselben Jahres je ein britischer und französischer Generalkontrolleur beauftragt. Ägypten stand nun unter Zwangsschuldenverwaltung. Damit hatte auch der Prozess der politischen Entmachtung des Khediven begonnen. Er begehrte auf, als 1878 auf Druck aus London und Paris je ein Brite – als Finanzminister – und ein Franzose – als Minister für öffentliche Arbeit – in das Kabinett aufgenommen werden mussten. Daraufhin setzten England und Frankreich beim Sultan seine Absetzung durch. Isma’il wurde ins Exil geschickt; er ging nach Konstantinopel. Sein Sohn Taufiq (1879–1892) wurde zu seinem Nachfolger gemacht. Mit der Unterwerfung unter internationale Schuldenverwaltung aber war der Khedive seinem nominellen Oberherrn, dem Sultan in Konstantinopel, gefolgt, der sich bereits im Oktober 1875 zu diesem Schritt gezwungen gesehen hatte.

Die Entwicklungen brachten eine Protestbewegung ins Rollen, wie sie Ägypten bis dahin noch nicht erlebt hatte. An ihre Spitze traten mittlere Ränge des Offizierskorps; ihr führender Kopf war Oberst Ahmad Orabi (1839–1911). Darin wurden die Veränderungen erkennbar, die sich in der ägyptischen Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten vollzogen hatten. Das Motto der Orabi-Bewegung: »Ägypten den Ägyptern«, war nicht nur gegen die Einmischung des Auslands gerichtet; es war auch ein Protest gegen eine politische und gesellschaftliche Oberschicht, die in Teilen noch immer nicht-ägyptischer, insbesondere turko-tscherkessicher Herkunft war. Großgrundbesitz sowie die Spitzenpositionen in der Verwaltung und der Armee waren die Grundlagen ihres Einflusses. Das Interesse am Erhalt von Wohlstand und Macht verflocht sie zum einen eng mit dem Herrscherhaus. Zugleich teilten sie das Interesse ausländischer Finanzakteure, den finanziellen Zusammenbruch Ägyptens zu verhindern, der ihre eigene Machtstellung erschüttert hätte. Vor diesem Hintergrund waren sie bemüht, gesellschaftliche Kräfte, namentlich aus dem Mittelstand, die nach politischer Mitbestimmung strebten, von der Teilhabe an der Macht fern zu halten. Mit der Absetzung Isma’ils hatte auch das ihn umgebende Netzwerk der Machterhaltung Risse bekommen. Ein politisches Vakuum schien sich aufzutun. Für eine Allianz politisch liberaler Kräfte, religiöser und intellektueller Persönlichkeiten sowie hoher Offiziere, die nach der Einführung einer Verfassung strebten, schien der Augenblick gekommen, ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, deren Umsetzung das an der Macht befindliche System bislang blockiert hatte, zu verwirklichen. Indem ausländische Kontrolleure de facto die Macht übernahmen, sahen sie sich abermals blockiert.

Dass sich mit Orabi, ein Offizier an die Spitze des Protestes setzte, war kein Zufall. In den vergangenen Jahrzehnten waren autochthone Ägypter in der Armee aufgestiegen. Sie waren von den jüngsten Entwicklungen doppelt betroffen. Zum einen sahen die ausländischen Finanzkontrolleure die Existenz einer Armee, die nicht zuletzt auch ein Statussymbol des Khediven war, als überflüssig an und verordneten hier drakonische Sparmaßnahmen. Zum anderen hatten Offiziere turko-tscherkessischer Abstammung den Aufstieg ägyptischstämmiger Offiziere in die militärischen Spitzenpositionen jahrzehntelang blockiert. Ganz natürlich traten diese jetzt an die Spitze einer Bewegung, deren treibende Männer die Zeit gekommen sahen, Ägypten ein nationales Profil zu geben und das politische System auf den Prinzipien von Konstitutionalismus und Parlamentarismus zu gründen.

1881 wurde ein Gesetz zur Einberufung einer Deputiertenkammer verabschiedet. Als diese zusammentrat, wurde bald deutlich, dass sie eine eigenständige Politik anstrebte. Die Aussicht auf eine Regierung, die ausländischen Interessen gegenüber weniger nachgiebig sein würde, ließen in Europa die Entscheidung reifen, sich militärisch einzumischen. Im Juli besetzten die Briten Alexandria und begannen mit dem Vormarsch ins Landesinnere. Orabi war zu dieser Zeit Chef einer unbotmäßigen Regierung und Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee. Fünf Wochen benötigten die Briten, bis sie gegen den heftigen, letztlich aber erfolglosen militärischen Widerstand im September 1882 in Kairo und die Suezkanalzone einrückten. Orabi wurde verhaftet und schließlich in die lebenslange Verbannung in die britische Kolonie Ceylon (heute Sri Lanka) geschickt. Nach 18 Jahren konnte er in die Heimat zurückkehren, wo er noch weitere zehn Jahre – als unpolitischer Beobachter – verbrachte.

Die Entscheidung militärisch einzugreifen war nicht ohne offizielle Rechtfertigung gefallen. Sie schien mit einem »Hilferuf« des Khediven Muhammad Taufiq gegeben, der fürchten musste, von der Protestbewegung abgesetzt zu werden. Die Wirklichkeit war jedoch komplexer. Zum einen erfolgte die Besetzung Ägyptens ein Jahr nach der Besetzung Tunesiens durch Frankreich (1881). Das Ringen europäischer Mächte um Einfluss im Mittelmeerraum und Nahen Osten hatte eine weitere Eskalation erfahren. Wichtiger aber war zum anderen, dass man in London befürchten musste, dass das Gebäude der finanziellen und wirtschaftlichen Kontrolle einstürzen würde; der Druck von Seiten der Repräsentanten der britischen Finanz- und Handelsinteressen wuchs, dieser Gefahr entgegen zu wirken. Und noch ein dritter Faktor bestimmte schließlich den Entschluss in London: Angesichts des Ausbaus der britischen Handelsinteressen und politischen Macht in Süd- und Ostasien hatte der Suezkanal eine rasch wachsende im weitesten Sinn strategische Bedeutung gewonnen. In Verbindung mit der Übernahme Zyperns – 1878 hatte das Osmanische Reich die Insel an Großbritannien verpachtet; mit Kriegsausbruch 1914 sollte sie annektiert werden – wurde Ägypten ein Stützpunkt, von dem aus England die Kontrolle über das östliche Mittelmeer und den Nahen Osten ausüben konnte. Damit war auch ein wichtiger Schritt zur Absicherung britischer Interessen auf dem indischen Subkontinent und darüber hinaus getan.

Mit der Herrschaft über Ägypten war England auch die Herrschaft über den Sudan zugefallen, welcher von den Truppen Mehmet Alis in den 1820er Jahren erobert worden war. Nach dem Ende des Staates, den der Mahdi (s. S. 74 f.), der Führer einer religiösen Erweckungsbewegung, 1885 gegründet hatte, wurde der Sudan 1899 Teil eines ägyptisch-britischen Kondominiums, das bis 1955 Bestand haben sollte.

Bis 1907 war Sir Evelyn Baring, der spätere Lord Cromer, als britischer Generalkonsul der wahre Herrscher über Ägypten. Er errichtete ein System indirekter Herrschaft, gleichsam ein verschleiertes Protektorat. Er und britische Berater, die fortan in den wichtigsten Ministerien in Kairo das Sagen hatten, regierten Ägypten durch den Khediven und Marionetten-Minister. Neben der britischen Dominanz aber bestand die – legale – Oberhoheit des Sultans in Konstantinopel fort.

Anders als die nationalen Bewegungen in Südosteuropa, die zur Entstehung expandierender Nationalstaaten geführt hatten, war der Versuch Mehmet Alis und seiner Nachfolger, Ägypten zu einer eigenständigen Macht zu emanzipieren, gescheitert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie reichen von unzureichend bedachten, auf Nachahmung Europas beruhenden Konzepten namentlich wirtschaftlicher Erneuerung über den Widerstand europäischer Mächte, die das Land sehr bald vor allem finanzpolitisch unter ihre Kontrolle zu bekommen verstanden (während sich die Nationalbewegungen in Südosteuropa der Unterstützung europäischer Mächte erfreuten), bis zu der Tatsache, dass trotz des teilweise rücksichtslosen Vorgehens Kairos gegen die Machtinteressen des Sultans islamisch begründete Loyalitäten fortbestanden, die die Handlungsspielräume der Herrscher in Kairo einschränkten.

1.1.2      Nordafrika

Die eingehendere Darstellung der Entwicklung Ägyptens im 19. Jahrhundert soll paradigmatisch auch für andere Teile des weitesthin noch immer unter osmanischer Herrschaft stehenden arabischen Raumes gelesen werden. Bestrebungen zu politischer Emanzipation, wirtschaftlicher Entwicklung, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Modernisierung waren auch andernorts sichtbar. Soweit diese den Interessen der in ihrem Machtanspruch expandierenden europäischen Mächte entsprachen, wurden sie darin unterstützt. Bald aber kam der Punkt, an dem dies nicht mehr der Fall war. Dann wurden alle Hebel politischer, wirtschaftlicher, finanzpolitischer und am Ende militärischer Natur in Bewegung gesetzt, eine umfassende europäische Kontrolle durchzusetzen.

Der Besetzung Ägyptens war die Besetzung von Tunis durch Frankreich (1881) vorangegangen. Diese wiederum war die Fortsetzung eines radikalen Kolonisierungsprojekts, das 1830 mit einer militärischen Operation Frankreichs gegen Algier seinen Anfang genommen hatte. Die nordafrikanische Küste, mit der Ausnahme des heutigen Marokko, war im 16. Jahrhundert unter der Herrschaft Sultan Süleyman des Prächtigen (1520–1566) unter osmanische Herrschaft gekommen. Die lokalen Machthaber in Tunis, Tripolis, Algier und anderen Küstenstädten standen in der Folgezeit zwar unter der Kontrolle Konstantinopels; die lokalen Allianzen aber zwischen osmanischen Militärs, einheimischen Korsaren – die Piraterie machte über Jahrhunderte einen erheblichen Anteil der Einnahmen aus – und herkömmlichen städtischen Eliten genossen aber zugleich ein weithin wirtschaftliches und politisches Eigenleben. An den Handelsverbindungen der nordafrikanischen Stadtstaaten hatten Portugal, Spanien und Frankreich einen erheblichen Anteil.

So bestanden am Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Frankreich und Algier rege Handelsbeziehungen. Ein Disput zwischen Paris und Algier über die Zahlung lang fälliger französischer Schulden eskalierte zu einer militärischen Auseinandersetzung. Was genau geschah, ist umstritten: Hat Dey Husain (1818–1830; dey: Titel des osmanischen Regenten in Algier) den französischen Konsul anlässlich einer Audienz 1827 mit seiner Fliegenklappe nur berührt oder geschlagen? – jedenfalls blockierten die Franzosen daraufhin den Hafen von Algier. Den Ausschlag für eine regelrechte militärische Expedition zur Absetzung des Deys gaben innenpolitische Erwägungen in Paris. In seiner Auseinandersetzung mit der Opposition bedurfte König Karl X. eines außenpolitischen Erfolges. Ihn suchte er sich gegen den Dey zu gewinnen. Am 5. Juli 1830 streckte dieser vor dem Expeditionsheer die Waffen. Die französischen Eroberer stürzten sich auf den auf 150 Millionen Franc geschätzten Staatsschatz. Karl X. überlebte Dey Husain politisch nur um einen Monat. Im August musste er dem »Bürgerkönig« Louis-Philippe Platz machen.

Eher zögerlich begann die Ausbreitung der Besatzung über das Gebiet der Stadt Algier hinaus. Dagegen freilich erhob sich bald ein Widerstand im Lande: Seine Träger waren die örtlichen politischen Führungsschichten und angesehene religiöse Persönlichkeiten. Je härter der Kampf geführt wurde und je länger er sich hinzog, umso nachhaltiger festigte sich auf französischer Seite die Entschlossenheit, das Land flächendeckend zu unterwerfen. Ein Jahrzehnt nach der eher beiläufigen und in Paris keineswegs unumstrittenen militärischen Eroberung der Stadt Algier fiel die Entscheidung. In den folgenden Jahren wurde das Land von französischen Truppen erobert.

Die Unterwerfung Algeriens erfolgte mit großer Härte. Legendärer Träger des Widerstandes wurde zunächst Abd al-Qadir (1808–1883). Mit seinem religiösen Charisma als führendes Mitglied der religiösen Bruderschaft der Qadiriyya verband Abd al-Qadir militärisches Führungsgeschick. Es gelang ihm, die Ausrüstung seiner Stammesverbände zu verbessern. Zeitweilig schienen die Franzosen auch bereit, die Macht in Algerien mit ihm zu teilen. Dies aber war nur ein kurzes Atemholen auf dem Weg der totalen Okkupation. Am 23. Mai 1847 musste er schließlich kapitulieren. Er ging ins Exil nach Damaskus, wo er sich hoch angesehen bis zu seinem Lebensende religiösen Studien widmete.

Zahlreiche weitere, meist örtliche Erhebungen vermochten den Vormarsch der Franzosen nicht zu stoppen. Mit besonderer Grausamkeit reagierten die Franzosen auf die Revolte Muhammad al-Hadsch al-Muqrani’s, des Führers eines Stammes westlich von Constantine. Nach seiner Niederschlagung im Januar 1872 kam es zu umfassenden Enteignungen einheimischen Landbesitzes. Er wurde französischen Siedlern (colons) zum Kauf angeboten. Diese Entwicklung war vom Ausbau einer französisch dominierten Zivilverwaltung begleitet. Zur Zeit der Niederschlagung des Aufstandes al-Muqrani’s betrug die Zahl der Siedler rund 225 000. Der Landnahme ging der Ausbau der Infrastruktur einher.

Bereits 1848 waren Algerien zum französischen Staatsgebiet und die Provinzen Oran, Algier und Constantine zu Départements erklärt worden. Ein Senatsbeschluss von 1865 hatte alle Bewohner Algeriens zu Franzosen erklärt. Sie unterstanden einem speziell geschaffenen muslimischen Rechtsstatut (statut musulmanCode Napoléon