Andreas Hagemann
Buchwächter
Das Buch der ersten Magie
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Andreas Hagemann
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Buchwächter: Das Buch der ersten Magie
1. Auflage
Copyright © Andreas Hagemann, 2020
Gesamtgestaltung, Coverart, Schmuckillustration:
saje design, www.saje-design.de
Titelgestaltung in Anlehnung an Band 1 von Alexander Kopainski
Illustration (ganzseitig): Andreas Hagemann
Illustration S. 47: CCBY-SA delso.photo
Lektorat: Sarah Nierwitzki
Korrektorat: Pia Euteneuer
Druck: booksfactory, 71-063 Szczecin (Polen)
Alle Rechte vorbehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
Für Makel, Henny und Pascal.
Die Jahre mögen uns grau gemacht haben, im Innern
sind wir noch die Kinder, die wir einst gewesen sind.
Warnemünde im Herzen und Dr. Pepper im Kühlschrank.
U nter stetem Schaukeln klapperte die Kutsche auf dem grauen Band aus Pflastersteinen vor die Tore von Turweston. Sie passierte Gilberts Gate und folgte einer lang gestreckten Brücke, die den Killaloe-River überspannte. Er umfloss die Stadt als brauner Strom, sorgte dafür, dass Holzstege und Boote schneller verrotteten als anderswo. Wie ein lauerndes Ungetüm war er tückisch und entwickelte bei schlechtem Wetter gefährliche Strömungen. Weil der Ruß aus den Schornsteinen der Stadt sich über die Felder legte und ins Gewässer wanderte, war nicht einmal der Fisch zu genießen. So war die Wasserstraße einzig für den Handel gut.
Am Ende der Brücke verflog der stickige Dunst der Stadt. Mit ihm verschwanden die Damen in weiten Röcken und ausladenden Schirmen sowie Gentlemen in Gehröcken, Gehstöcken und Zylindern, die das vornehme Viertel prägten.
Nun schoben Bauern Waren auf knarzenden Handwagen über den Weg. Dienstmädchen ächzten unter dem Gewicht ihrer Taschen und Kinder tobten in rissiger Kleidung barfuß inmitten der Passanten.
Finn betrachtete die Gruppe Jungen und Mädchen, die ausgelassen einem Holzkreisel nachjagten. Trotz ihres einfachen Lebens schienen sie glücklich. Genau wie er. Zwischen all der Arbeit auf den Feldern waren es diese Momente, die er mit seinen Brüdern Jasper und Corvin so schätzte. Unzählige Abenteuer hatten sie in der Scheune erlebt. Mit der Ausbildung zum Buchwächter hatte sich alles verändert.
Äußerlich war er noch immer eines jener Kinder. Der Holzboden der Kutsche war kalt unter seinen nackten Füßen und die schlichte Kleidung war nicht viel mehr als löchriger Stoff, der ihn bedeckte. Erst wenige Wochen bestritt er dieses neue Leben an der Seite von Arthur. Der weißhaarige Buchhändler saß neben ihm und starrte aus dem Fenster. Sein Kopf wackelte im Takt der Karosse und schwang den langen Bart sachte hin und her.
Finn schmunzelte. Wäre er vor Gordon nicht in Arthurs Laden geflüchtet, hätte er diesen wunderbaren Menschen nie kennengelernt. Von der Welt hinter den Büchern ganz zu schweigen.
Buchwächter. Säßen ihm zwei dieser Wesen nicht gegenüber, er hätte es selbst für ein Märchen gehalten. Doch Ring und Ka-Tsching waren real. Tagsüber getarnt als Türglocke und Registrierkasse, verweilten sie unscheinbar in Arthurs Geschäft. Beobachteten, lauschten, trieben Schabernack. Zwei Chaoten, wie er selten welche erlebt hatte. Vergleichbar mit Max und Moritz. Jetzt saßen sie in ihrer menschlichen Gestalt vor ihm und ihm blieben glücklicherweise auch heute derlei Streiche erspart.
Ka-Tsching war ein runder, gemütlicher und stets gut gelaunter Geselle, dessen Körperfülle bei jeder Bewegung der Kutsche tanzte, während auf seiner glänzenden Haut das Sonnenlicht glitzerte. Sein Kamerad war auf ganzer Linie sein Gegenstück. Schlaksig, ein wenig zugeknöpft und gesegnet mit einem losen Mundwerk, das man nur schwer abschalten konnte.
Ring war ins dicke Sitzpolster gesunken und eingeschlafen. Sein Kopf schwang hin und her und der offene Mund wirkte, als haschte er Fliegen. Finns Blick kreuzte den von Ka-Tsching. Den funkelnden Augen nach ging ihm erneut irgendwelcher Unsinn durch den Kopf. Er zupfte sich einen Faden von der Jacke und beugte sich zu seinem Kumpan. Langsam hob er den Arm und fischte damit in Rings Mund. Der Zwirn kitzelte die Lippen und brachte die Zunge zum Vorschein. Immer wenn sie den Faden wegleckte, zog er das Garn wieder fort. Doch Ka-Tsching war hartnäckig. Er triezte seinen Gefährten so lange, bis dieser hochschreckte und sich energisch ins Gesicht schlug.
Finn musste augenblicklich lachen.
»Wat biste ne fiese Mistbiene!« Ring wischte über den Mund, um sich vom Kribbeln zu befreien. »Lass dia bloß nee einfalln, je wieda zu schlafn. Simma schon da oder wat?« Den Kopf emporgereckt schaute er aus dem Fenster.
»Wir sind so weit, wie man in zehn Minuten eben kommen kann.« Arthurs sonore Stimme sorgte wieder für Ruhe. Für gewöhnlich war er für den Unsinn der beiden Buchwächter wenig zu begeistern. Aktuell vertrieb es ihm jedoch die Langeweile.
»Zehn Minutn? … Du weckst mee nach zehn Minutn?«
Es folgte kurzes Handgemenge, das Finn glucksen ließ. Erst jetzt bemerkte er eine Kiste, die zwischen ihnen im Fußraum der Kutsche stand. Ihr Äußeres war so unscheinbar, dass ihre Anwesenheit vom restlichen Prunk des Innenraums einfach überdeckt wurde. Er rutschte auf die Kante der Sitzfläche und beugte sich vor. Voller Neugierde hob er den Deckel an und linste hinein.
Sieht aus wie ein Hemd. Sind das Schuhe darunter?
Seine Hände packten den feinen Stoff und zogen ihn herauf. Die Kutsche machte einen Satz und der Deckel schnappte gierig nach dem Saum. Er hing fest.
Verdammt, hoffentlich ist es nicht kaputtgegangen.
Nun hatte auch der Rest der Anwesenden mitbekommen, was der Junge in der Hand hielt.
Arthur nickte auffordernd zum Oberteil. »Probier es an, es sollte dir gut passen.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass es für mich ist?«
»Weil wa fülleicht schon alle schicke Klamotten anhabn?« Kaum ausgesprochen, bemerkte Ring, was er damit eigentlich andeutete. »Tschuldije, so war dit nich jemeint.«
Finn sah an sich herab. Recht hatte er. »Tja, nicht jedem steht der feine Dunst der Felder so gut wie mir.« Er garnierte seinen Sarkasmus mit einem Augenzwinkern.
Ka-Tsching schenkte ihm dafür ein anerkennendes Lächeln.
Der schwere Stoff lag angenehm auf der Haut. Finn ließ ihn zwischen den Händen hindurchgleiten und genoss die weiche Oberfläche. Bestimmt nicht der teuerste, aber weit edler als alles andere, was er bisher tragen durfte. Kurzerhand zog er das alte Oberteil aus und streifte sich das neue über.
»Wow, wie een kleena Earl. Vielleicht probierste die Hose och gleich an. Passt fülleicht een bisschen besser als …« Gerade rechtzeitig biss Ring sich auf die Zunge.
»Mein Sack mit zwei Beinen?«, vollendete der Junge den Satz.
»Hab ick nich jesagt. Aba dit trifft et janz jut.« Ein breites Grinsen schmückte seine Lippen.
Finn hielt die Hose hoch.
Toll, die hat sogar eine Falte. Die habe ich sonst nur am Hintern vom Sitzen. Langsam ließ er sie wieder sinken. Seine Begleiter musterten ihn mit erwartungsvollen Blicken.
»Wollt ihr mir jetzt dabei zusehen? Ein wenig Diskretion bitte.«
Arthur schmunzelte. »Ihr habt den jungen Mann gehört. Seht mal, da draußen ist ein … Baum. Und da noch einer. Verrückt diese Natur.«
»O Gott, da ist sogar Himmel!«, stimmte Ka-Tsching ins Spiel mit ein. »Und was ist das Weiße dort?«
»Die Watte aus deem Kopp.« Ring platzierte einen kräftigen Klopfer auf der Schulter seines Freundes. Die Kasse wollte zum Gegenschlag ansetzen, da holperte die Kutsche durch eine Furche. Prompt fiel ein helles Etwas namens Finn, halb in einer Hose steckend, mittig über die Kiste. Den Männern streckte sich ein baumwollbezogener Hintern entgegen.
»Entschuldije, ick kann nich anders.« Mit Schwung verpasste Ring dem Jungen einen Klaps auf die vier Buchstaben und begann schallend zu lachen, als Finn schmerzlich aufjaulte.
Arthur half dem armen Bündel zurück auf die Beine. Finns mürrischer Blick galt einer einzigen Person. Um der peinlichen Situation zu entfliehen, schlüpfte er jedoch flink in die Hose, steckte das Hemd hinein und knöpfte sie zu.
»Mein lieber Herr Gesangsverein. Sieh sich mal einer diesen jungen Burschen an«, trällerte Ka-Tsching.
»Fehlen bloß noch die Schuhe.« Arthur griff in die Kiste, holte das dunkelbraune Paar heraus und reichte es ihm.
Der Junge war vom Duft des Leders ganz eingenommen, insbesondere aber von den großen Schnallen, die auf jedem Exemplar prangten. Bei ihnen liefen die Nähte zusammen, die jede einem perfekten Pinselstrich glich.
»Die sehen teuer aus«, war alles, was ihm dazu einfiel. Ihm fehlte der Mut, sie anzunehmen, geschweige denn die dreckigen Füße dort hineinzuschieben. Arthur ließ jedoch nicht locker und wedelte nun damit vor seiner Nase.
Keine Schuhe anzuziehen, ist auch keine Option, überzeugte Finn sich letzten Endes selbst und griff danach. Das Leder war weich und warm. In so etwas Komfortablem hatte er noch nie gehen dürfen.
Mit neuer Kleidung am Leib fiel ihm mit einem Mal wieder ein, warum sie eigentlich die Reise angetreten hatten. Am frühen Morgen hatte plötzlich ein Bote in Arthurs Laden gestanden. Er hatte eine Nachricht des Rates dabei gehabt, mit der Bitte, unverzüglich aufzubrechen. Jemand hatte wohl Rahns Liste gestohlen. Mittlerweile wusste Finn so viel, dass sie die einzige Auflistung aller magischen Bücher war. Das klang nach großem Ärger.
»Wie heißt dieser Ort, wo wir hin wollen, gleich noch mal? Esidor?«
Ka-Tsching bekam Schnappatmung. »Esidor ist nicht irgendein Ort. Es ist der Ort für uns Buchwächter! Dort lernt jeder von uns.«
Finn zog die Brauen kraus, während Arthur ergänzte: »Esidor ist der Gründungsort der Buchwächter. Damals noch ein Schloss ist es heute eine Universität. Mit der Zeit ist drum herum eine kleine Stadt herangewachsen.«
»Aba nich nur dit. Der Rat der Buchwächta is och dort. Dit is wichtich, weil alle Hand in Hand arbeitn müssn.«
Mit großen Augen schaute Finn die drei an, sein Kopf gefüllt mit zu vielen Fragen. Doch er traute sich nicht, auch nur eine einzige davon zu stellen, auf die Gefahr hin, seine Begleiter könnten ihn auslachen. Allerdings sahen sie ihn so erwartungsvoll an, dass er sich erst nervös die Lippen befeuchtete und dann doch sprach.
»Was ist eine Universität?« Für einen Augenblick war nur das Quietschen der Blattfedern zu hören, die die Kutsche sanft hin und her wiegte.
»Entschuldige«, brummte Arthur.
Woher sollte Finn es auch wissen. Als Kind einfacher Bauern war die Schule sein einziger Bezugspunkt zur Bildung. Und selbst diese war nicht jedem vergönnt zu besuchen. Von klein auf waren es vor allem die Arbeit auf den Feldern und die Ernte, die die Familien in ihrem Alltag prägten und begleiteten. Wissen wurde lediglich für die notwendigen Aufgaben vermittelt.
»In einer Universität kannst du dich zu bestimmten Wissensgebieten fortbilden. Jura, Medizin, Theologie, Philosophie oder Mathematik. Wo die Schule zahlreiche Themen in den grundlegenden Zügen behandelt, widmest du dich dort einem Thema sehr viele Jahre.«
»Aber warum? Wie verdient man da Geld?«
Erheiterte Stille drückte sich zwischen die vier. Arthur sah aus dem Fenster und überlegte, wie er auf diese interessante Frage antworten konnte.
»Einige Studenten suchen sich kleinere Arbeiten, wohlhabendere werden vom Elternhaus finanziert. Was man mit dem Abschluss macht, ist jedem selbst überlassen. Manche nutzen ihn weise, einige wiederum gar nicht. Die Universität von Esidor ist jedoch anders. Wie dir aufgefallen sein wird, ist nahezu nichts bei den Buchwächtern normal.«
Finns Blick wanderte zu Ring und Ka-Tsching, die zeitgleich nickten.
»In Esidor werden Buchwächter nicht nur ausgebildet, sondern auch geboren. Im weitesten Sinne.« Arthur sah den Jungen für einen Moment eindringlich an, als läge ihm etwas Besonderes auf dem Herzen.
»Sieh mich nicht so an, ich weiß, wo die Kinder herkommen. Oder glaubst du, die Kälber bringt der Storch?«
Große Erleichterung machte sich in der Kutsche breit. Der helle Bart Arthurs wusste den roten Teint seiner Wangen gut zu verstecken. »Sie werden nicht im herkömmlichen Sinne geboren. Die ursprüngliche Gestalt eines Buchwächters wird von dem Gegenstand bestimmt, den man zum Schutz des Buchladens beabsichtigt zu nutzen. Bei meinem Vater war es eine Türglocke und die Registrierkasse.«
Jetzt ging Finn ein Licht auf. Deswegen hatte jeder im Laden seine Aufgabe und den entsprechenden Platz. Er hing an Arthurs Lippen.
»Sie werden mit Hilfe eines bestimmten Buches zum Leben erweckt. Und wie Kinder müssen sie erst einmal lernen. Die Universität lehrt ihnen die wichtigsten Dinge, um im Verborgenen dem Schutz der magischen Exemplare zu dienen.«
Finn lachte. »Das hat bei euch aber nicht sonderlich gut funktioniert.«
Seiner Äußerung folgten ausdruckslose Gesichter.
»Wat solln dit heißn? Als würd ick den janzen Tach nur rumhängn und andan een Knopp anne Backe laban.« Als Ring Arthurs Blick kreuzte, bemerkte er dessen hochgezogene Brauen. »Wollts du nich noch wat erzähln?«, entgegnete er und verschränkte die Arme.
Ka-Tsching kam seinem Gefährten zur Hilfe. »Haben wir schon erwähnt, dass Esidor an einem Wasserfall liegt?« In den folgenden Minuten verlor sich die runde Gestalt in der Schönheit der dortigen Landschaft, dem Rauschen der Kaskaden sowie den krumm und schief stehenden Häusern der Kleinstadt. Inmitten einer Atempause nutzte Finn die Gelegenheit, eine weitere Frage loszuwerden.
»Warum habe ich noch nie davon gehört, wenn wir es doch mit der Kutsche an einem Tag erreichen können?«
Breites Grinsen stahl sich auf die Gesichter der beiden Buchwächter. »Weil der Zugang geheim ist«, sprachen sie wie aus einem Mund, sagten jedoch weiter nichts, sondern sahen sich lediglich schelmisch an.
Finn verdrehte die Augen. Er ließ sich zurück in den Sitz fallen. »Danke. Wenn er so geheim ist, warum erzählt ihr mir dann davon?«
»Lass dich von den beiden nicht aufziehen«, brummte Arthur. »Der Rat der Buchwächter betreibt seit jeher einen großen Aufwand, die Geheimnisse der Buchwelt zu wahren. Sonst könnte man gleich sämtliche dieser besonderen Bücher öffentlich zugänglich machen. Esidor liegt in einem Tal, welches von einem Zauber umgeben wird. Niemand kann zufällig dort hineinlaufen. Der einzige Zuweg führt über eine magische Brücke. Sie erkennt, wer autorisiert ist einzureisen und offenbart dann einen verborgenen Weg.«
Finn hob kurz das Kinn. Er hatte zwar verstanden, was Arthur damit meinte, glaubte dessen Erzählung allerdings nicht.
So ein Quatsch. Wie soll das funktionieren? Andererseits kann ich auch Phantasien zum Leben erwecken und rede zudem gerade mit zwei Buchwächtern.
»Und es ist wirklich noch nie jemand anderes dort hineingekommen?« Kopfschütteln. »Wann sind wir denn da? Ich möchte es selbst sehen.«
Jeder der vier Männer sah aus dem Fenster, um bekannte Punkte in der Landschaft zu erkennen, doch die Szenerie huschte bloß an ihnen vorbei. Außergewöhnliches ließ sich nicht ausmachen. Ein Mischwald auf der rechten Seite, ein paar Felder auf der linken – nichts Besonderes.
»Ha!«, rief Ka-Tsching plötzlich aus. Er deutete auf die vorbeiziehenden Bäume und erklärte, dass sich angeblich genau an dieser Stelle gleich ein Berg aus dem Grün erheben werde. Der Beginn der Bergkette, in der ihr Ziel lag.
Finn nahm es hin, ohne sich über die absurde Erklärung zu wundern. Er würde es sehen, wenn es so weit war. In der Zwischenzeit genoss er das Farbenspiel von Raps- und Weizenfeldern vor dem Fenster. Wie gern wäre er jetzt einfach barfuß dort durchgelaufen. Sein Blick wanderte hinab zu den Schuhen, die trotz des warmen Leders wie ein schwerer Fremdkörper an ihm hingen.
So viel Aufwand für einen unbekannten Ort und einen Jungen, den ebenfalls keiner kennt.
Die beiden Buchwächter rutschten unruhig auf dem Polster hin und her. Arthurs Blick ruhte weiterhin seelenruhig in der Natur vor der Scheibe. Rings tanzende Augenbrauen ließen erahnen, dass gleich etwas passieren würde. Vorsichtshalber spähte Finn hinaus. Tatsächlich veränderte sich die Geräuschkulisse. Aus dem sonoren Rattern der Holzräder wurde lautes Klappern. Sie fuhren auf Stein. Ein Pfosten sauste an der Kutsche vorbei und der Wald zog sich wie an einer Schnur gezogen zurück.
Finn kam näher ans Fenster, bemerkte jetzt, dass sie über eine Brücke rollten.
Ist es etwa schon die Brücke?
Zumindest konnte er weiter unten einen Fluss erkennen, der sich in der Landschaft verlor. Er sah zu den beiden Wächtern hinüber, die noch immer ungeduldig dasaßen. Dann hielten sie plötzlich inne.
Ka-Tsching riss so abrupt die Arme hoch, dass Finn zusammenzuckte und fast vom Sitz fiel.
»Einfach irre, oder?«
Sein leerer Blick musste für sich sprechen, denn es entlockte ihm sonst keine Reaktion.
»Na, der Wechsel. Die Durchfahrt nach Esidor!«, schob Ka-Tsching hinterher, als wäre damit alles geklärt.
Ungläubig schaute Finn erneut hinaus. Nichts hatte sich in der Landschaft verändert. Ging er wieder einem Spaß der beiden auf den Leim?
»Kommt schon, hört auf, mich zu verschaukeln.«
Nun sahen sich Ring und Ka-Tsching skeptisch an. Enttäuschung verdrängte die Euphorie aus ihren Gesichtern.
»Wat hastn erwartet?«
»Vielleicht ein Wusch? Ein Lichtblitz? Was weiß ich? Woher soll ich wissen, wie Magie dieses Wechseldings macht.«
»Bistn Spielverderba. Da will man eenmal wat mit dia feijan und dann machste een uff ignorant.« Ring drehte sich ausdruckslos von ihm weg und ließ den Blick nach draußen schweifen.
Nun war Finn völlig irritiert. Er suchte in Arthurs Ausdruck nach etwas Klärendem, doch dessen Bart zuckte nur kurz, als müsste er sich ein Lachen verkneifen.
»REINGELEGT!« Die beiden Buchwächter-Kindsköpfe feixten. Sie lachten so intensiv, dass selbst das Klatschen auf die Oberschenkel ungehört blieb. »Dieser Wechsel ist einfach stinklangweilig. Aber so war er wenigstens lustig«, meinte Ka-Tsching.
»Ihr seid mir tolle Kameraden. Euch werde ich noch einmal …«
Weiter kam Finn nicht.
Ein heftiger Stoß erfasste die Kutsche und drehte sie auf die Seite. Alle vier Männer wurden von den Sitzen katapultiert und schleuderten schließlich durch den Innenraum der Kutsche. Hart prallte die Kabine auf, wirbelte ihn und seine Wahrnehmung durcheinander. Die Pferde wieherten, Glas splitterte, Holz knackte. Sie rutschten über den Untergrund, während Gras und Erde ihnen wie Nadeln ins Gesicht flog.
Irgendwann stoppten sie.
Einzig das Zwitschern der Vögel durchdrang die eingetretene Stille.
D urch den sich lichtenden Staub drang leises Stöhnen. Im Inneren der Kutsche lag ein Knäuel aus Armen und Beinen, aus dem verschiedene Köpfe lugten. Etwas schabte außen auf dem Holzkorpus. Ein Gesicht erschien am Fenster, das dem Himmel zugewandt war. Es war Fred, der Kutscher, der einen angsterfüllten Blick zu seinen Passagieren warf. Der junge Bursche zögerte nicht lange und machte sich an der Tür zu schaffen. Da sie auf der Seite lag, zog die Schwerkraft jedoch daran und erschwerte es ihm, sie zu öffnen. Mit puterrotem Gesicht stemmte er sie schließlich auf und bot der Gruppe einen Weg hinaus. Doch die bewegte sich nicht.
»Wenn du deinen Arm dort … AUA!« Ka-Tsching bildete die Spitze des Knäuels und versuchte, sich aufzurichten. In seiner menschlichen Gestalt war auch sein Gewicht keine Illusion. Aber Moment … Das war die Idee! Kurzerhand verwandelte er sich in die Registrierkasse und rutschte klimpernd seitlich an den anderen Körpern hinunter. Ring tat es ihm gleich. In der Erscheinung der Türglocke rollte er bimmelnd seinem Kumpan nach und schlug mit einem Plong gegen das Dach.
»Autsch! Dit nenn ick ma n Abjang.«
Jetzt blieb auch Arthur und Finn genug Platz, sich zu entwirren.
»Euer Mitdenken überrascht mich«, brummte der Alte.
»War eine spontane Eingebung. So was geschieht selten, ist allerdings durchaus möglich«, argumentierte die Kasse. Ihre Schublade formte ein freches Grinsen.
»Keene Sorje, dit isn Ausnahmezustand, dit bleibt nich so.« Ring räusperte sich. »Wenna schon ma steht, seita so jut und reicht uns na oben? Brauchn wa nich klettan.« Er garnierte die Bitte mit einem süffisanten Augenaufschlag.
Finn prüfte sorgsam die neue Kleidung und zupfte sie zurecht. »Welch feiner Schachzug von euch.« Er packte die Glocke an der Halterung und warf sie in hohem Bogen durch die Öffnung. Deren Klöppel schlug laut gegen den Korpus und verbreitete einen hellen Ton. Fred fing sie auf und stellte Ring sicher neben sich.
»Jetz is ma schlecht«, jammerte dieser.
Mit großen Augen bat die Kasse um eine sanftere Behandlung, schließlich sei sie ein zartes Geschöpf. »Wohl eher zartbitter«, meinte Arthur und reichte sie hinauf.
Gleich darauf bot er Finn mit den Händen eine Räuberleiter. Der nahm die Hilfe dankbar an und kraxelte ins Sonnenlicht. Trotz der äußeren Erscheinung war Arthur kräftig und agil. Mit wenigen Zügen war er bei den anderen.
Ring und Ka-Tsching verwandelten sich zurück in ihre menschliche Gestalt und sprangen von der Seite der Kutsche. Finn hingegen traute sich den Sprung nicht zu, aus Angst, die neue Kleidung zu ruinieren. Umständlich fand er einen Weg über die Streben des Kutschbocks. Sein Blick glitt augenblicklich zu den Pferden. Sie hingen im Gespann, probierten, zurück auf die Beine zu gelangen. Fred eilte zu ihnen und stemmte sich gegen das Gewicht der Strebe, damit die Tiere sich aufrichten konnten. Nach einigen Versuchen schnaubten sie zufrieden und schüttelten Dreck und Staub ab.
Die Gruppe stand im Sonnenlicht auf einer Art Lichtung, die von dichtem Wald gesäumt wurde. Sie lugten ins Unterholz.
»Wie um alles in der Welt konnte das passieren?«, fasste Ka-Tsching die allgemeine Verwirrung zusammen. Fred zuckte mit den Schultern. Er war blass und schien wie unter Schock zu stehen. Offensichtlich war ihm solch ein Malheur bisher nicht passiert.
»Geht es euch gut?« Arthur ließ seinen Blick ernst über die Anwesenden gleiten. Er hatte mit der Kasse den Großteil des Sturzes abgefangen. Dementsprechend zeichneten sie die meisten Schrammen. Zum Glück hatte das gesplitterte Glas niemanden ernsthaft verletzt. Ansonsten hatte der Dreck seinen Weg unter und auf die Kleidung gefunden und sorgte nun für merkwürdige Bewegungen, weil sie alle versuchten, den Schmutz zu entfernen.
Die Gruppe antwortete nicht. Ähnlich wie Fred standen auch sie unter Schock, unfähig, den Unfall aus dem Kopf zu bekommen.
»Fred, kannst du sagen, was passiert ist?«, wandte sich Arthur an den jungen Kutscher.
Der nahm die Mütze ab und fuhr sich durchs blonde Haar. »Ehrlich gesagt nicht. Wir waren nicht sonderlich schnell unterwegs. Der Weg war frei. Es gab einen Knall und wir sind umgestürzt. Irgendwas hat uns also getroffen.«
Einmal mehr wanderten die Blicke in die Umgebung. Doch nirgends gab es sichtbare Spuren auf Widerstände, die die Kutsche erfasst haben könnte. Finn gingen zahlreiche Fragen durch den Kopf. Aber auch das Antlitz zweier Buchfiguren, für die solch ein Rätsel ein Kinderspiel wäre.
Ka-Tsching stieß einen hohen Schrei aus, als sich Sherlock Holmes und Dr. Watson neben ihnen materialisierten. Fred klappte die Kinnlade herunter. Bevor jemand etwas sagen konnte, ergriff Sherlock Holmes das Wort.
»Das überrascht mich jetzt.«
»Frag mich mal, ihr wart eben noch in meinem Kopf.« Schlagartig wurde Finn sich wieder seines außergewöhnlichen Talents bewusst. Wenn er intensiv an eine Phantasie oder Figur dachte, konnte er diese zum Leben erwecken. Einfach so. Und nicht nur das: Er hatte gelernt, dass Phantasien tatsächlich existierten! Man konnte sie nicht nur am Leben erhalten, indem man bloß an sie dachte, von ihnen träumte oder las, nein, man konnte sie wahrhaftig materialisieren. Ihm war dies verrückt erschienen, bis er es aus Versehen getan hatte. Genau wie jetzt.
»Dit is aba praktisch, dassa da seid, wir hättn da n paar Fragn.«
»In der Tat könntet ihr helfen, zu verstehen, was hier vorgefallen ist«, stimmte Arthur zu.
Holmes fasste sich an den grauen Zylinder und tippte sich anschließend ans Kinn. »Vielleicht hätte jemand von euch die Güte, einmal zu erläutern, wie es dazu kam?«
»Das ist genau das Problem«, meinte Ka-Tsching. »Wir wissen es eben nicht. Etwas hat die Kutsche getroffen und wir sind umgestürzt.«
Watson löste sich aus der Gruppe und verfolgte die Spuren auf dem sandigen Weg. Tatsächlich machte die geradlinig verlaufende Linie der Räder plötzlich einen Knick. Als hätte sie irgendetwas aus der Fahrtrichtung gedrängt.
Holmes kniete sich neben seinem Partner nieder. »Da die Räder nicht defekt sind, können wir einen Schaden an der Kutsche ausschließen. Diese Spur spricht für eine Außeneinwirkung.«
Watson stimmte ihm zu und begab sich abseits des Weges. Sollte die Gruppe recht haben, musste der Auslöser aus dieser Richtung gekommen sein. Er erblickte Abdrücke im hohen Gras. »Holmes, sehen Sie sich das an.« Die beiden Detektive betrachteten einige Kuhlen, die etwas Schweres im weichen Untergrund hinterlassen hatte.
»Dies sind gewiss keine Bärentatzen«, mutmaßte Holmes. »Gibt es hier überhaupt Bären?«, rief er, der Gruppe zugewandt.
Ring nickte. »Himbeern hab ick da vorn jesehn.« Sein dürrer Arm wies irgendwo ins Dickicht.
»Ich denke, er meint richtige Bären.« Finn klopfte ihm schmunzelnd auf die Schulter.
»Für mich sahn se ziemlich echt aus, wa«, entgegnete er feixend. Ka-Tsching gluckste.
»Wir sollten das Gefährt aufrichten, um es zu untersuchen«, schlug Watson vor. Er legte sich eine Hand an den Rücken und kam erhobenen Hauptes näher. »Seid ihr dafür kräftig genug?«
»Der Dicke is zwa kräftich, aber Kraft hatta keene.« Ring lachte. Ka-Tsching nicht.
»Ich könnte Unterstützung holen«, warf Finn ein. Fred schien von der Idee ganz aus dem Häuschen zu sein und klatschte aufgeregt in die Hände. Trotz seiner jungen Jahre hatte er bereits viel in Esidor erlebt, so etwas wie jetzt allerdings nicht.
Finns Gedanken schweiften zu Gulliver, der prompt tänzelnd und wild rudernd neben ihm erschien. Irritiert blinzelte dieser in die Umgebung.
»Dann also kein Kampf in Liliput«, stellte er fest.
Ich dachte, der wäre größer, monierte Finn seine eigene Vorstellung. Warte … das kann ich ändern. Mit zusammengekniffenen Augen ließ er Gullivers Gestalt in seiner Phantasie anwachsen, bis er die Anwesenden um etliche Köpfe überragte.
Doch Gulliver wusste nicht so recht, wie ihm geschah, mit erschrockenem Blick wanderten seine Augen über die Anwesenden, die den Riesen – der er jetzt war – ebenfalls musterten. Bevor Gulliver jedoch Fragen stellen konnte, packte Arthur ihn am Arm und zog ihn zur Kutsche. Sein Plan ging auf. Ohne Widerworte stemmte er sich energisch gegen das Dach. Es brauchte einige Anläufe, bis der hohe Schwerpunkt überwunden war und das Gefährt unter Stöhnen und Ächzen laut polternd auf die Räder fiel.
Noch im quietschenden Schaukeln folgte ein »Aha!« aus Watsons Mund. Sie alle sammelten sich auf der anderen Seite und begutachteten, was der Detektiv lautstark entdeckt hatte: Krallenspuren.
»Also doch ein Bär«, meinte Ka-Tsching.
Holmes reckte den Kopf und tippte sich erneut ans Kinn. »Wohl kaum. Bären besitzen fünf Krallen, ich zähle nur vier. Zudem hätte er mit nur einer Pfote getroffen. Das ist eher unwahrscheinlich. Sie greifen für gewöhnlich mit beiden Klauen an, um ihr Opfer zu Boden zu drücken.«
»Aber was soll es sonst gewesen sein?«, wollte Finn wissen.
Arthurs Brummen unterband die Antwort. »Mich beunruhigt viel mehr, dass uns überhaupt etwas attackiert hat. Und das am helllichten Tag. Schließlich war die Kutsche kein Futter.«
Gulliver räusperte sich. »Apropos Futter, braucht ihr mich noch? Nein? Prima.« Ohne eine Antwort abzuwarten, entschwand Finns Phantasie ins Nichts. Eine ganze Weile stand der verbliebene Trupp stumm da, sah sich an, starrte auf die Spuren an der Kutsche und sah zurück in die fragenden Gesichter des jeweils anderen.
»Fred, ist die Kutsche fahrtauglich?«, fragte Arthur. Dessen Blick ging zu den Achsen und den großen Rädern, bevor er dem Alten ein zurückhaltendes Nicken zuwarf.
»Meine Herren, dann würden wir uns ebenfalls empfehlen. Haben Sie eine angenehme Weiterreise.« Sherlock Holmes hob den Hut zum Gruß. Gleich darauf verschwand auch er mit seinem Partner.
Zögerlich näherten sich die Übriggebliebenen der Kutsche. Finn öffnete die Tür und stieg als Erster ein. Der Boden war voller Scherben. Nun erfreute er sich am festen Schuhwerk. Es knirschte unter den Sohlen bei jedem noch so vorsichtigen Schritt. Fred gab den Pferden die Peitsche und sie setzten sich mit einem Ruck in Bewegung. Das kaputte Fenster ließ das herrliche Wetter herein. Ins Rattern des Wagens mischte sich Vogelgezwitscher sowie das Rauschen der Bäume. Zwischen der Gruppe in der Kutsche herrschte dagegen Stille.
Der Vorfall drückte auf die Stimmung. Nebst anhaltendem Schweigen starrte jeder hinaus und hing den eigenen Gedanken nach. Wenigstens wurde niemand verletzt und sie setzten die Reise fort. Finn wollte fragen, wie weit es noch war, traute sich jedoch nicht. Eigentlich konnte es ihm auch egal sein, immerhin genoss er die Fahrt. Zudem war er froh über jeden Meter, den er einmal nicht laufen musste. Dieser Luxus war gewiss nicht alltäglich. Irgendwann hielt er die Stille nicht mehr aus.
»Wie lange dauert eine Ausbildung zum Buchwächter?« Finns Gegenüber sahen ihn durchdringend an, als wüssten sie keine Antwort.
»Ick würd sagn, dit hängt von deinen Fähichkeitn ab. Manch eena is nach zwee Jahn fertich, andre brochn via.«
»Und wie lange habt ihr gebraucht?« Finns Frage sorgte für roten Teint auf Rings und Ka-Tschings Gesichtern.
»Nun ja, so pauschal würde ich das jetzt nicht stehen lassen. Manche nutzen die Zeit zur Spezialisierung.« Ka-Tsching betonte das Wort übermäßig, sodass Finn stutzte.
Eine Ausrede. Er wollte schmunzeln, beschloss jedoch, das Spiel mitzuspielen. »Worauf habt ihr euch spezialisiert?«
Seine Frage brachte die Buchwächter dazu, tief Luft zu holen.
»Ick hab mich uffs Bewachen einjeschossen. Wollte da mehr machn.«
»Ist das nicht ohnehin eure eigentliche Aufgabe?«, erwiderte Finn.
In Arthurs Bart kam Bewegung. Ihm fiel es schwer, das Lachen noch zu unterdrücken. Er mochte die pfiffige Art des Jungen.
»Nein, nein, nein, wo denkst du hin!« Ka-Tsching wedelte mit den Armen. »Es gibt bewachen und … bewachen. Verstehst du?« Seine aufgerissenen Augen würden ihm jeden Moment aus den Höhlen purzeln. Mehr Sinn konnten sie der Äußerung dennoch nicht verleihen.
»Mmh.« Finn verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mmh? Wat solln dit heißn? Denkste, wir sind faul und habn deswejen so lange jebrocht?«
Arthur lachte aus vollem Hals. »Jap. Und das macht euch trotzdem nicht weniger liebenswert. Auch wenn ihr mir ab und an gehörig auf die Nerven geht.«
Ausdruckslose Gesichter.
»Was ist das für Rauch?«
Ring und Ka-Tsching hielten Finns Frage für eine Ablenkung vom Thema, was ihnen sehr willkommen kam angesichts der Faulheitsvorwürfe. Deswegen verarbeiteten ihre Gedanken jedoch erst danach, was er eigentlich gefragt hatte. Sie folgten Finns Blick, drückten sich durch das kaputte Fenster, die Köpfe zu den Baumkronen gerichtet.
Dunkle Schwaden zogen ihre Bahnen zum Himmel. Verschmolzen dort mit vereinzelten weißen Fetzen, bis sie ganz verschwanden. Der Weg führte noch immer zwischen dichten Bäumen hindurch und erlaubte keine Sicht auf die Feuerquelle. Ring sah ohnehin primär den runden Kopf seines Freundes. Also rutschte er zur anderen Seite und presste das Gesicht gegen die Scheibe. Die nächsten Minuten trommelte er mit den Fingern dagegen, bis Finn sie still hielt.
Warum sind sie plötzlich so nervös? Stimmt etwas nicht?
Ring riss ihn aus den Gedanken, brabbelte allerdings mehr, als dass er sprach. »Nein, dit kann nicht sein.«
Finn versuchte, zu ergründen, was er sah. Die Bäume lichteten sich und er erblickte zwischen den Stämmen tanzende Lichtfetzen. Ist das Feuer? Das muss ja riesig sein! Wie ein Vorhang zogen die Bäume an ihnen vorbei, öffneten den Weg vor ihnen. Dann konnte es jeder sehen.
Terrassenartig ergossen sich Wasserfälle in weißen Bahnen über ein Felsmassiv in einen See. Mittendrin hatte man eine Stadt errichtet. Die Spitzdächer lugten aus dichtem Grün wie Zipfelmützen. Ihre Fenster glichen angsterfüllten Augen. Sie umringten ein Schloss, das direkt in einem Wasserfall zu stehen schien. Hohe, aufragende Fenster zierten die Fassade. Finn hätte sich daran nicht sattsehen können – würde die Stadt nicht lichterloh brennen. Die roten Flammen hüpften über die Dächer, winkten aus den Fenstern und lachten in dröhnendem Knistern.
Ring drückte sich gegen die Scheibe. Ka-Tsching und Arthur waren aufgerückt, während Fred die Kutsche zum Stehen gebracht hatte. Nun konnte keines der grausamen Details sich ihnen entziehen.
»Dit darf einfach nich sein.« Ring strich über das Fenster, als könnte er die Szenerie berühren. Eine Träne rollte ihm über die bleiche Wange.
Finn wollte helfen, trösten, wusste nur nicht wie. Mit den Augen verfolgte er einen Vogel, der über der Stadt kreiste und prompt durchs Flammenmeer flog. Finn stutzte. Kein Vogel würde durch Feuer fliegen. Die Stirn krausgezogen suchte er nach anderen Vögeln, doch er fand keine. Dafür erblickte er ein anderes Detail, das nicht ins Bild passte. In dem See zwischen ihnen und den Wasserfällen spiegelten sich keine Flammen. Zwar hielt der Wind die Oberfläche in Bewegung, dennoch sollten sich darin rote Flecken des Feuers zeigen. Hier stimmt etwas nicht.
Ring und Ka-Tsching fielen in ihr Sitzpolster, die Gesichter starr auf den Boden gerichtet. Arthur lehnte sich ebenso stumm zurück.
»Seht euch das an!«, versuchte Finn, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Ring hob bloß die Hand und winkte ab. Offenbar hatte er bereits mehr als genug gesehen. Diese Bilder würde er nie vergessen.
»Seht auf den See!«, forderte Finn sie schroff auf.
Arthurs Blick wurde interessiert. Er folgte der Aufforderung und sah hinaus.
»Was soll dort …« Doch er unterbrach sich, denn er bemerkte es ebenso. »Was in Rahns Namen geht hier vor?« Der überraschte Ausruf holte auch die anderen beiden aus ihrer Trance.
»Ist das eine Illusion?«, fragte Arthur.
Kaum ausgesprochen verschwamm das Bild der brennenden Stadt. Nach kurzem Flimmern war der Spuk verflogen und Esidor lag vor ihnen, wie sie es in Erinnerung hatten. Gischtwolken stoben zwischen den Häusern empor, die Sonne legte ihren hellen Schein auf Baumwipfel und Dächer und das Schloss thronte wie eine Krone in der Landschaft. Alles war intakt.
Arthur rutschte nervös auf dem Sitz hin und her, schüttelte dann den Kopf, als wollte er wirre Gedanken loswerden. »Das ist alles kein Zufall. Nichts fällt einfach so eine Kutsche an und erst recht kann niemand die Illusion eines so großen Feuers erzeugen.«
Stille legte sich eine ganze Weile über die Gruppe, bis Ka-Tsching plötzlich die Augen aufriss und mit einer Idee herausplatzte.
»Nur ein mächtiger Zauber kann das!«
»Aba et jibt keene Zauberer mehr. Nur Magiebejabte und die wärn koom imstande, so wat zu machn. Hoff ick zumindest.«
Arthur nickte zustimmend. »Ring hat recht. Mit einfacher Magie ist so etwas nicht zu bewerkstelligen. Jemand sehr Mächtiges versucht, uns davon abzuhalten, Esidor zu erreichen.« Er erhob sich schwerfällig, beugte sich über die Buchwächter und klopfte an die Außenwand, um Fred zu signalisieren, weiterzufahren. »Diesem Jemand werden wir diesen Gefallen allerdings nicht tun.«
V om groben Leinen gänzlich verhüllt, stahl sich die Gestalt durch die dunklen Gassen von Esidor. Die Sonne stand hoch und schob das Leben durch die Straßen. Ein quasselnder, euphorischer Strom nicht abebben wollender Figuren. Dennoch nutzte sie einen Verdeckungszauber, man konnte nicht vorsichtig genug sein. Für normalsterbliche Augen wirkte sie wie ein Greis, der sich gebückt voran arbeitete. Die Nacht wäre sicher ein besserer Begleiter gewesen, um unbemerkt zu sein. Doch es gab ohnehin keine ruhigen Momente in dieser Stadt. Besonders in der Nacht wussten die Wirte den Studenten geschickt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und so würden selbst zu später Stunde zahlreiche Figuren durch die kargen Lichter der Laternen in Richtung Unterkunft schwanken.
Der Alte drückte sich zwischen dem Treiben hindurch und verschwand in der dunklen Gasse zweier Häuser. Im Dunst feuchten Holzes arbeitete er sich am Gerümpel vorbei, was jedoch nicht gänzlich geräuschlos blieb. Das Rauschen der Wasserfälle überdeckte sein ungeschicktes Vorankommen allerdings. Eines seiner Verstecke lag am Rand der Stadt, dank seines Zaubers war es als unscheinbarer Schuppen getarnt. Der Eingang lag auf der Rückseite und entzog sich so neugierigen Blicken. Selbst dann musste man erst dichtes Buschwerk beiseite drücken, um ihn zu erreichen. Der schwere Metallschlüssel klapperte im Schloss, als der Alte ihn hineinschob. Knarzend öffnete sich die Tür.
Zwei schmutzige Fenster warfen gelbe Streifen in den Raum. Zu wenig, um ihn vernünftig auszuleuchten oder Details zu erkennen, aber genug, um sich in der Finsternis nicht die Knochen zu brechen. Ein alter Tisch stand halb im Licht und war das Ziel der Gestalt. Fest donnerten ihre Schritte über den Holzboden auf dem Weg dorthin. Sie zog einen Stuhl beiseite und ließ sich nieder. Unter dem Umhang holte sie eine große Ledertasche hervor, schob sie auf den Tisch und glitt mit zittrigen Fingern ins Innere.
Langsam und vorsichtig kam eine Rolle zum Vorschein. Braune Flecken prangten auf dem Beige des Papiers, das staubig roch. Rahns Liste war unscheinbar. Die alten Finger drückten das Ende der Rolle auf und fischten hinein, um sie zu entrollen. Nicht einmal eine Überschrift gab es. Diese Liste war eine bloße Aneinanderreihung von Buchtiteln. Hastig sprangen die Augen der Gestalt von einem zum anderen. Irgendwo musste es sein.
Nebst dem Titel und dem Autor war eines noch wichtiger: der Ort, an dem das Buch zu finden war. Dies hier waren nicht irgendwelche Bücher. Was er hier in den Händen hielt, war die Auflistung aller magischen Bücher, die der Rat der Buchwächter versteckte. Es hatte so viele Mühen gekostet, an diese Liste zu gelangen. Das Herz pochte ihm in der Brust, die Finger umklammerten zittrig das Papier. Dann schien es für einen Moment auszusetzen.
Bei einem der Bücher fehlte der Titel. Und der Ort.
Namenlos stand da und Unbekannt. Hastig schoben die alten Finger die Rolle weiter auf. Mit aufgerissenen Augen überflog er die anderen Titel, ohne sie ganz zu lesen. Er war noch nicht einmal zu einem Drittel durch und es gab bereits drei namenlose Bücher, die potenziell seines sein konnten.
Nein, nein, nein! Das darf nicht sein! Unter der Wut versteiften sich seine Finger, hätten die Rolle beinahe zerknüllt. Er legte sie auf den Tisch, um anschließend seinem Unmut freien Lauf zu lassen. Der Stuhl flog nach hinten und er presste sich den dicken Umhang vor den Mund, um einen Schrei zu verbergen. Er wirbelte durch den finsteren Raum und fand einen Balken, in den er seinen Frust schlagen konnte.
Es tat gut. Auch wenn die Hand nun schmerzlich pochte.
Der Alte besann sich zur Ruhe. Derlei Ausbruch war nicht hilfreich. Vielleicht war das Buch ja doch aufgelistet und es handelte sich um welche, die für ihn gar nicht von Interesse waren? Hastig packte er den Stuhl und suchte weiter. Er musste die Rolle direkt ins Licht halten, um die schnörkelige Schrift zu entziffern. Rahn hatte vermutlich Jahre gebraucht, um all diese Titel zusammenzutragen. Genauso alt schien die Tinte, mit der alles niedergeschrieben worden war. Einige der Buchstaben stahlen sich bereits davon, während andere kräftig leuchteten. Und das Papier bekam erste Risse.
Am Ende der Liste folgte Ernüchterung. Die Befürchtung traf ein, sein Buch war nicht aufgelistet. Gibt es vielleicht eine weitere Liste? Die Bücher aus der Bibliothek der Universität sind nicht aufgelistet. Statt klarer Antworten gab es nun noch mehr Fragen. Vielleicht ist das Buch auch so besonders, dass es niemals auf solch einer Liste aufgeführt würde? Daran hatte der Alte bisher gar nicht gedacht. Er lehnte sich zurück in den Stuhl, der genauso enttäuscht stöhnte wie er. Er rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Es musste doch herauszufinden sein, wo sein Buch sich befand. Sein Blick glitt erneut zur Rolle. Natürlich! Die Liste war voll mit Büchern für jedweden Zweck. Also musste es auch eines geben, das ihm bei der Suche behilflich sein konnte. Von neuem Elan beschwingt, ging er die Auflistung ein weiteres Mal durch. Im letzten Drittel wurde er fündig. Er tippte auf den Ort, der hinter dem Buch stand. Sein Grinsen entblößte schmutzige Zahnstümpfe.
Jetzt gab es nur noch ein Problem: Die Gruppe, die auf dem Weg hierher war, könnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Zumindest würde es die Arbeit nicht erleichtern. Der Versuch, sie samt Kutsche aufzuhalten, war kläglich gescheitert, doch ihm würde schon etwas Neues einfallen. Er müsste nur nah genug an jeden von den vieren herankommen.