Für Andrea und Scerstine,
Julia, Leonard und Dario
Gunther Schmidt
Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten
Neunte Auflage, 2021
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
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Jakob R. Schneider (München)
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Dr. Therese Steiner (Embrach)
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Karsten Trebesch (Berlin)
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Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Neunte Auflage, 2021
ISBN 978-3-8497-0191-8 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8285-6 (ePUB)
© 2004, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag und
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Geleitwort
Vorwort
Einführung
Der Weg vom systemischen zum hypnosystemischen Ansatz
Zum Titel des Buches
Grundannahmen des hypnosystemischen Ansatzes
Teil I: Grundsätzliche Aspekte
Hypnosystemische Kompetenzentfaltung – Möglichkeiten der Nutzung von Problemkonstruktionen
Übersicht
Probleme – gibt’s die?
Utilisation von gemeinsamem Problem Talk als Prüfmöglichkeit für zieldienliche Kooperation
Utilisation von problem talk, der als beziehungsstiftendes Ritual gedacht war
Utilisation von problem talk, der als unverzichtbares Mittel für „Ursachenforschung“ gedacht war
Wie „bastelt“ man ein Problem, und wie kann man gerade dies für erfüllende „Lösungen“ nutzen?
Grundüberlegungen für Musterinterventionen
Nutzung der mit bisherigen Problemmustern einhergehenden Zielvorstellungen
Typische Phasen eines Beratungsprozesses
Abschluss
Gedanken zum ericksonschen Ansatz aus einer systemorientierten Perspektive
Erickson, ein systemischer Praktiker
Symptome systemisch gesehen und die Relevanz des „Überweisungskontextes“
Hypnotherapie und Trance, ein kontextuelles Geschehen
Das ericksonsche Unbewusste, ein Beispiel für die Nützlichkeit einer Verdinglichung
Zum Abschluss
Systemische Familientherapie als zirkuläre Hypnotherapie
Einleitung
Prämissen
Formen indirekter Suggestionen
Suggestive Kommunikation in Familien
Praktische Konsequenzen einer hypnotherapeutischen Perspektive für den systemischen Ansatz
Einige Anwendungsmöglichkeiten indirekt-suggestiver Strategien im systemischen Ansatz
„Wahrgebungen“ aus der „inneren“ und „äußeren Welt“ des Therapeuten und ihre Nutzung für zieldienliche therapeutische Kooperation
Therapeuten und Berater als strategische Gesprächs-„Führer“
Konstruierte Wahrnehmung und hypnotische Prozesse
Aufmerksamkeitsfokussierung
Trance
Problemmuster und Lösungsmuster
Das Prinzip der Utilisation und die Rolle der Therapeuten
Wechselseitige „Hypnose“ in Interaktionen
Aufbau von therapeutischen Systeme zu optimal zieldienlichen Kooperationssystemen
Aufbau der optimalen Therapeutentrance
Nutzung der inneren Reflecting Teams
Hypnosystemische „Senoi“-Konversation
Utilisation von Auftragsdilemmata
Fallbeispiele
Teil II: Therapeutische Anwendungsfelder
Systemische und hypnotherapeutische Konzepte für die Arbeit mit als psychotisch definierten Klienten
Ergebnisse der Familientherapieforschung
Therapeutische Interventionsmöglichkeiten
Systemisch-hypnotherapeutische Konzepte für die Kooperation mit als depressiv definierten Menschen und ihren Beziehungssystemen
Einführung
Prämissen
Therapeutische Interventionen – Intervention als Unterschiedsbildung
Zur zeitlichen Orientierung durch Fragen in der Therapie
Individuumzentriertes oder systemzentriertes Arbeiten?
Das Prinzip der Utilisation
Zur Beziehungsgestaltung in der Therapie und zum Aufbau des Therapiesystems als zieldienliches, kompetenzstärkendes und als sinnvoll erlebtes Kooperationssystem
Utilisation des Attributionsstils
Dissoziationstechniken und „innere Konferenzen“
Depressionen übersetzen als Information über wertvolle, berechtigte Bedürfnisse
Depression symbolisieren als „Besucher“ und andere symbolische, rituelle Interventionen
Balance zwischen Lösungsfokussierung und Wertschätzung des „Problems“
Können wir der Familie eine erfolgreiche Hypnosetherapie ihres „Patienten“ zumuten?
Einführende Bemerkungen
Das Interview
Abschlusskommentare
Sucht-„Krankheit“ und/oder Such(t)-Kompetenzen – Lösungsorientierte systemische Therapiekonzepte für eine gleichrangig-partnerschaftliche Umgestaltung von „Sucht“ in Beziehungs- und Lebensressourcen
Zur Technik der Lösungsorientierung
Suchtmuster und suchtstabilisierende Glaubenssysteme – Suchtverhalten als beziehungsgestaltende Interventionen
Suchtregulation als dissoziative „Trance“-Regulation
Sucht als implizite Suchkompetenz
Implikationen aus der Ressourcenperspektive für die Haltung der Therapeuten gegenüber der „süchtigen“ Seite und für die Bestimmung der therapeutischen Ziele
Wer definiert die Ziele? Die therapeutische Haltung: Entwicklung eines gleichrangig-kooperativen therapeutischen Kontexts
Nachteile einer Pathologieorientierung
Vom so genannten Rückfall zur Nutzung von „Ehrenrunden“ als wertvoller Informationsquelle
Ist der „Rückfall“ vom Umfall(en) bedroht?
Vom „Bröckeln“ einer Bastion
Fortschritt oder „Ehrenrunde“ – eine kompetenzorientierte Definition von Prozessen, die bisher „Rückfall“ genannt wurden
Die Realitätskonstruktion „Rückfall“ wirkt hypnotisch
Den so genannten „Rückfall“ als Lösungsversuch anerkennen
„Ehrenrunden“ als wichtige Informationsfortschritte und wie man sie therapeutisch nutzt
„Ehrenrunde“ als Informationsgewinn für stimmigere Zielgestaltung
Achtung der unterschiedlichen Aufträge
Zielkonstruktion und die Frage der Abstinenz
Loyalitätskonflikte durch Nutzung der Lösungskompetenz
„Ehrenrunden“ als Information über ungestillte Sehnsüchte
„Ehrenrunden“ als Information über die Stärke der „Problemtrance“
Teil III: Nutzungsmöglichkeiten im Bereich Team- und Organisationsentwicklung
Das Team als Kompetenztreibhaus – Hypnosystemische Teamentwicklung
Teams – gibt’s die?
Systemische Prämissen
Schritte einer hypnosystemischen Teamentwicklung
Anwendungsmethoden
Die Klinik als lernende Organisation
Hypnosystemische Prämissen
Grundsatzüberlegungen zu Aspekten einer „Lernenden Organisation“.
Was hat eine Organisation zu beachten, um eine LO zu werden und zu bleiben?
Optimale Balance zwischen Aspekten einer lernenden und einer wissenden Organisation
Was man noch so alles lernen kann beim Lernen?
Tempo und Klima des Lernens
Relevante Musterebenen einer LO
Beispiel: Eine Klinik und ihre Ziele
Einige Ebenen, auf denen Lernprozesse für diese Ziele in der und für die Klinik gefördert werden können
Literatur
Veröffentlichungshinweise
Über den Autor
Die meisten Angehörigen unserer systemisch-therapeutischen Zunft kennen Gunther Schmidt als einen hinreißenden Redner, dem die Ideen und Worte nie auszugehen scheinen. Das bekundet sich nicht zuletzt in den vielen Audiokassetten, die inzwischen von ihm im Handel sind. Dass er auch gut schreiben kann, wissen vergleichsweise wenige. Es werden viel mehr sein, wenn sich das Erscheinen dieses Buches erst einmal herumgesprochen hat.
Ich selbst habe Gunther Schmidt viel zu verdanken. Vor bald einem Vierteljahrhundert begann unsere Zusammenarbeit an der damals von mir geleiteten Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Die Arbeit, die uns immer wieder begeisterte und uns immer wieder zu neuen Einsichten verhalf, vollzog sich in einem Team von zumeist nur vier Mitarbeitern.
Darin waren gerade Gunthers Begeisterung und Innovationsfreude ansteckend. Und er lieferte noch einen ganz speziellen Beitrag: Als einziges Teammitglied hatte er den legendären Hypnotherapeuten Milton H. Erickson persönlich kennen gelernt. Er vermochte uns schnell zu belehren, dass Hypnose keine magische Zirkustrickserei ist, die sich anbietet, um passiv gebaute Menschen einzulullen und zu manipulieren – dies eine Vorstellung, die auch Freud geteilt und bewogen haben könnte, sich von der Hypnose ab- und der Psychoanalyse zuzuwenden. Vielmehr vermochte mich Gunther bald zu überzeugen, dass die Hypnotherapie, die er von Milton H. Erickson lernte und dann selbst als systemischer Therapeut weiter entwickelte, nicht nur therapeutisch ungewöhnlich wirksam sein kann, sondern auch unserer Fähigkeit zu autonomem Handeln keinen Abbruch tut, vielmehr diese Fähigkeit noch auszuweiten vermag.
Aber es liegt mir fern, Gunther als Hypnotherapeuten einzuordnen. Angesichts seiner lebendigen Neugier und Energie, die ihn immer wieder neue Forschungs- und Praxisbereiche erschließen lassen, entzieht er sich allen Etikettierungen. Das werden auch die vielen Leser und Leserinnen, die ich diesem Buch wünsche und die es sicher auch finden wird, bestätigen.
Helm Stierlin
Mai 2004
Seit Jahren drängen mich Freunde und Kollegen, ich solle doch endlich einmal meine Arbeiten zum hypnosystemischen Ansatz in Buchform bringen. Zwar fand ich die Idee grundsätzlich auch gut, da ich aber immer wieder neue Projekte anging und es mir einfach wichtiger war, einige andere Visionen umzusetzen (wie z. B. den Aufbau der hypnosystemischen Psychosomatik an der Fachklinik am Hardberg in Siedelsbrunn und die SysTelos-Klinik in Bad Hersfeld), habe ich dieses Vorhaben immer wieder in die so genannte Zukunft geschoben.
Dabei konnte ich mich immer wieder damit trösten, dass ja viele der Konzepte und Interventionsideen, die ich über die Jahre entwickelt habe, auf Audiocassetten oder als Video-Editionen erschienen sind. Andererseits hat diese Haltung mit dazu beigetragen, dass inzwischen viele Kollegen, die bei mir an diversen Weiterbildungen und Ausbildungsprogrammen teilgenommen haben, diese Konzepte von mir übernommen und in eigenen Veröffentlichungen verwendet haben. Dies hat mir die Ehre beschert, für mindestens acht solcher Bücher ein Vorwort zu schreiben, was ich auch gerne getan habe, weil dort wenigstens die Quellen fair zitiert wurden. Dafür möchte ich mich bei den Kollegen bedanken.
Allerdings gab es auch andere Phänomene, so z. B., als vor einigen Jahren ein vorher von mir als Freund angesehener Mensch die Inhalte eines meiner Seminare mit dem (von Bernhard Trenkle und mir entworfenen) Titel „Familientherapie ohne Familie“ als Teilnehmer aufgezeichnet hatte. Wie sich schließlich herausstellte, hatte er ohne Rücksprache und Zustimmung sowohl den Titel als auch die Inhalte meines Seminars in seinem Buch verwendet und als von ihm stammend ausgegeben. Ich muss gestehen, dass es mir nicht sofort gelang, dieses Verhalten meines Bekannten (den ich seitdem auch nicht mehr nahe stehen lasse) als Ehrung meiner Originalbeiträge auf seine (verschämte?) Art anzusehen. Da hilft, wie mein Sohn mir empfiehlt, am besten die buddhistische Haltung des Nicht-An haf tens.
Schon um nicht mehr mit gequältem Gesicht auf die Fragen danach, wann denn nun endlich ein Buch von mir erscheine, reagieren zu müssen, habe ich mich nun doch entschlossen, dieses hier vorzulegen. Neben einer ausführlichen Einführung enthält es verschiedene Artikel zu diversen Schwerpunktthemen in unterschiedlichen Anwendungsfeldern des hypnosystemischen Konzepts. Diese Artikel sind in ihrer Ursprungsform im Verlauf der letzten 20 Jahre in verschiedenen Büchern und Fachzeitschriften erschienen. Sie stellen eine kleine Auswahl aus meinen Veröffentlichungen dar, die repräsentativ sowohl für psychotherapeutische als auch für Organisationskontexte sein können. Zwar hätte man noch viele weitere Artikel aufnehmen können, aber das hätte den Rahmen des Buches gesprengt. Vielleicht gibt es ja irgendwann noch einmal ein ähnliches Projekt … Die Artikel wurden aktualisiert, aber im Wesentlichen in der Originalfassung belassen. Diese Entscheidung wurde mit Bedacht getroffen, um den Lesern auch die Möglichkeit zu geben, Entwicklungen nachvollziehen zu können, die sich in 20 Jahren vollzogen haben. So braucht auch, wer sich für diese Konzepte interessiert, nicht mehr mühsam durchs Netz zu surfen, um die bisher verstreuten Artikel (hoffentlich) genießen zu können.
Mein Freund Bernhard Trenkle charakterisiert mich gerne mit der Bemerkung, er habe gehört, dass ich vor einiger Zeit selbst etwas irritiert gewesen sei, als ich auf dem Weg zu einer professionellen Verpflichtung beim Blick aus dem Fenster des ICE-Speisewagens im entgegenkommenden ICE im dortigen Speisewagen mich selbst habe sitzen sehen, auf dem Weg zu einer anderen professionellen Verpflichtung an einem anderen Ort. Ich kann dazu nur sagen, dass mich diese Legende ehrt, ich wahrscheinlich (unbewusst) zwar auch seit langer Zeit an dem Phänomen der Bilokalisation arbeite, so weit nun aber doch nicht gediehen bin.
Mit einem hat Bernhard allerdings Recht: Ich war viel unterwegs in den letzten Jahren. Bei dem Versuch, die diversen Kontexte einigermaßen zufrieden stellend auszujonglieren, habe ich immer wieder dazu geneigt, die Vollendung dieses Buches zu verschieben – zumal ich selbst der Meinung war (und es immer noch bin), dass man nicht jede Idee und jede Interventionsstrategie, die man entwickelt hat, sofort an die große Glocke hängen muss und sich ob ihrer vermeintlichen Bedeutungsschwere quasi gleich ethisch verpflichtet fühlen muss, sie der breiten Öffentlichkeit kundzutun. Letztlich war es mir doch eine große Hilfe, so konsequent mahnende (und manchmal auch quälende) Erinnerungshilfen dafür zu bekommen.
Deshalb möchte ich mich bei allen, die nicht locker ließen, wenn ich sie vertröstet habe, sehr herzlich bedanken. Insbesondere gilt dieser Dank Helm Stierlin, Fritz Simon, Gunthard Weber, Bernhard Trenkle, Bernd Schmid und Jeffrey Zeig. Und ich hoffe auch, dass Helm Stierlin so jetzt endlich das Gefühl entwickeln kann, mich „sauber“ zitieren zu können und nicht immer auf (für ihn) so exotische Audio-Publikationen verweisen zu müssen.
Gunther Schmidt
im Juli 2004
In diesem Buch möchte ich einige der vielen Chancen beschreiben, die sich im Feld der Psychotherapie und der Beratung von Individuen, Teams und Organisationen durch hypnosystemische Konzepte eröffnen. Ich habe diesen Begriff „hypnosystemisch“ vor ca. 20 Jahren geprägt, um eine spezifische Form der Integration systemisch- konstruktivistischer und ericksonscher Hypnotherapiekonzepte zu kennzeichnen, für deren differenzierte Ausgestaltung ich mich engagiere, seit ich 1979 das Glück hatte, an Milton Ericksons unbeschreiblicher Verbindung von Genius, Fleiß und riesiger Erfahrung teilhaben zu dürfen.
In den weiteren Kapiteln bietet das Buch Artikel zu diversen Anwendungsfeldern der hypnosystemischen Arbeit. Da ich den Vorzug genieße, auch begünstigt durch meine beiden Berufe als Diplomvolkswirt und Facharzt für psychotherapeutische Medizin, in unterschiedlichsten Kontexten als Psychotherapeut, Berater, Coach, aber auch als Führungskraft zu arbeiten, konnte ich die hier beschriebenen Konzepte in all diesen Kontexten anwenden. Die dabei gemachten Erfahrungen fließen ein in die verschiedenen Kapitel. Diese Artikel wurden in ihrer ursprünglichen Form im Laufe meiner professionellen Entwicklung zu verschiedenen Zeiten geschrieben und in verschiedenen Büchern und Fachzeitschriften veröffentlicht. Sie wurden für das hier vorliegende Buch überarbeitet und aktualisiert. Sie sind in sich selbst jeweils als geschlossene Gestalt nebeneinander gestellt und erheben gerade nicht den Anspruch, aufeinander aufzubauen. Da und dort werden die Leser und Leserinnen deshalb auch bemerken, dass sich bestimmte wesentliche Aspekte des hypnosystemischen Konzepts in ihnen manchmal in unterschiedlicher Beleuchtung wieder finden, eine hoffentlich eher hilfreich wirkende, das kontextbezogene Verständnis des Konzepts vertiefende Redundanz. Dabei habe ich aber Wert darauf gelegt, dass ihre ursprünglichen Grundaussagen erhalten blieben, schon deshalb, damit auch meine eigene Entwicklung deutlich nachvollziehbar wird, hin zu immer mehr Transparenz, Achtung und, ja, sogar einer gewissen Demut vor der autonomen Kompetenz der Klienten und Klientinnen, mit denen ich arbeiten durfte. Ein für mich wichtiger Wahlspruch ist: „Wer einigermaßen der Gleiche bleiben will, muss sich ständig verändern.“ Und bedeutsam ist für mich Maturanas Urteil: „Leben ist ein Erkenntnis gewinnender Prozess“ (1982). Ständige Lernprozesse als der entscheidende Wirkstoff für Lebendigkeit resultieren daraus. Dieses Buch soll auch ein wenig überprüfbar machen, ob es mir möglich war, solche (hoffentlich hilfreichen) Lernprozesse zu machen.
Durch die Verbindung dieser beiden zentralen Konzepte (und ihre Anreicherung durch diverse andere wichtige Einflüsse wie z. B. Psychodrama, Ideen aus Gendlins Focusing (1981), Transaktionsanalyse und Körpertherapien wie z. B. Hakomi) lässt sich das Spektrum von Beschreibungs- und Interventionsmöglichkeiten, welches wir aus den „klassischeren“ systemisch-konstruktivistischen Ansätzen kennen, deutlich erweitern. Dadurch ergeben sich sehr viel mehr Chancen, die professionellen Angebote in Therapien und Beratungsprozessen passgenau auf die Einzigartigkeit der Kundensysteme abzustimmen und ihnen so würdigend gerecht zu werden. Mit „klassischer“ meine ich hier Modelle wie z. B. den Mailänder Ansatz (Boscolo, Cecchin, Prata, Selvini Palazzoli) und dessen diverse Weiterentwicklungen, die Konzepte unserer so genannten Neuen Heidelberger Schule (Stierlin, Simon, Weber, Schmidt, Retzer, Schweitzer u. a.), so genannte narrative Ansätze wie z. B. der Gruppe um Goolishian und Anderson, Hoffmann, Tomm, White, Andersen (Reflecting Team) u. v. a. Dabei dürfte es ja ohnehin Konsens darüber geben, dass es „die“ systemische Therapie oder Beratung nicht gibt, sondern sich ihre Geschichte auszeichnet durch das vielfältige, gleichzeitige Blühen vieler Ausdifferenzierungen der Grundansätze.
Als Teil dieser Integration zum hypnosystemischen Modell erweist es sich oft als besonders wichtig, die Prozesse, welche bisher von den Klienten und Klientinnen und ihrem Beziehungssystem als „Symptome“, „Probleme“ erlebt und bezeichnet wurden, aus einer kompetenzfokussierenden Perspektive zu beleuchten. Solche Symptome lassen sich dann verstehen und behandeln nicht als reines Defizit, sondern als (oft unterbewusste) Interventionen im Dienste bestimmter Bedürfnisse, in ihren Auswirkungen können sie als beziehungsgestaltende Kompetenzen bewertet werden. Dadurch verändert sich typischerweise die Auftragsdynamik in einer Therapie oder Beratung nachhaltig. So können dann Aufträge entwickelt werden, die sowohl den bisher bewusst wahrgenommenen Zielen als auch den Anliegen gerecht werden können, die bisher (mehr unbewusst) durch die Symptome repräsentiert wurden. Die so genannten Probleme stehen dann nicht mehr in massivem Gegensatz zu den gewünschten „Lösungen“, sondern beide Aspekte lassen sich ergänzen und verbinden sich zu optimierten, zieldienlichen Synergieprozessen. So kann Therapie bzw. Beratung mehr zur Versöhnung bisher antagonistischer Kräfte und zu ganzheitlicheren Entwicklungen beitragen. Um dies besonders herauszuheben, habe ich diesem Buch gezielt seinen zugegebenermaßen etwas romantizierenden Titel gegeben, der eben darauf hinweisen soll, wie „Problemmuster“ und „Lösungsmuster“ erfreuliche, über ihr ursprüngliches Wesen hinausgehende Entwicklungen (im schönsten Falle „Liebesbeziehungen mit Folgen“) anregen können.
In diesem Buch möchte ich Sie nicht langweilen mit weiteren endlosen Entwürfen zur Systemtheorie. Davon gibt es schon genug, zweifellos auch sehr verdienstvolle. Viele Interessierte in der Praxis der Therapie und Beratung aber, das erlebe ich noch immer fast täglich, stöhnen angesichts der ihnen als Ungetüme erscheinenden hochkomplexen Theoriegebirge und rätseln darüber, mehr oder weniger konfusioniert, was das alles denn für ihre konkrete Arbeit heißen könnte. Deshalb geht es mir vor allem darum, den Theoriehintergrund systemischer und hypnotherapeutischer Ansätze praxisorientiert zu übersetzen, damit daraus viele konkrete Handlungsschritte abgeleitet werden können. Als Mittel dafür möchte ich den Weg meiner eigenen Entwicklung hin zum hypnosystemischen Ansatz nutzen.
So werde ich hier die theoretischen Prämissen nur relativ kurz skizzieren. Die systemischen Grundannahmen dürften inzwischen den meisten Lesern und Leserinnen ohnehin eher vertraut sein (außerdem gibt es dazu sehr bewährte Arbeiten, z. B. von Schlippe u. Schweitzer 1996, Mücke 2002 u. a.).
Die inzwischen sehr weit verbreiteten systemischen Beratungskonzepte haben ihre Wurzeln in der Tradition der Familientherapie (Hoffman 1982; von Schlippe u. Schweitzer 1996). Im Laufe der letzten 25 Jahre haben sie sich aber darüber hinaus zu einem allgemeineren Metakonzept entwickelt, innerhalb dessen systemisch-familientherapeutische Arbeit nur ein (wenn auch relativ wichtiges) Anwendungsfeld ist.
Heute werden systemische Konzepte nicht nur für die Beratung von Familien, sondern auch intensiv für die Beratung anderer sozialer Systeme genutzt. Insbesondere auch in der Anwendung auf Organisations- und Teamberatung hat sich geradezu ein Boom entwickelt, wobei aber stringente und konsistente Modelle für die systemische Arbeit mit Teams noch relativ selten sind.
In die Entwicklung der systemischen Konzepte sind viele Anleihen aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen eingeflossen, z. B. aus der Biologie und Medizin (von Bertalanffy, Cannon), der Kybernetik, der Physik, der Synergetik (Haken) u. a. Wichtige Theorien für die modernen systemischen und hypnotherapeutisch-lösungsorientierten Konzeptionen sind die Theorie der Selbstorganisation lebender Systeme (Autopoiese) (Maturana, Varela), der Radikale Konstruktivismus (von Glasersfeld) und der Soziale Konstruktionismus (Gergen 1996). Letzterer beschäftigt sich damit, wie jeweils Realitäten in wechselseitigem Austausch, im gemeinsamen Aushandeln der Beteiligten konstruiert werden.
Menschliche Erlebnis- und Verhaltensweisen erfolgen immer in Zusammenhang mit und in Bezug auf andere Menschen und andere Umweltkräfte. Die relevante Grundeinheit, die es zu betrachten gilt, ist, über den individuellen Organismus hinausgehend, das ganze Ökosystem, in das er eingebettet ist. Das Ökosystem umfasst zumindest den Organismus und die ganze biosoziale und physikalische Umgebung, d. h. Menschen, Tiere, Pflanzen, geografische Faktoren usw. (Guntern 1984). Ohne diese ökosystemischen Umgebungsbedingungen ist ein Organismus nicht verstehbar, sein individuelles Sein nicht denkbar.
Vom ursprünglichen Wortsinn her bedeutet „System“ etwas, was zusammen- (syn) -steht (stamein) oder -liegt (histamein). Eine gängige Definition lautet: „ein Satz von Elementen und Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen diesen Objekten und ihren Merkmalen“ (Hall u. Fagen 1956). Hiermit wird intensiv auf Wechselwirkungen fokussiert und nicht auf den Elementen inhärente „Eigenschaften“. Es sind diese Wechselwirkungen, die den Zusammenhalt des Systems gewährleisten. Diese Organisation der Wechselwirkungsmuster sind genauso wesentlich wie die einzelnen Elemente des Systems. Diese Wechselwirkungen (oder auch Beziehungen) laufen nicht planlos und zufällig ab, sondern folgen bestimmten Regeln. Für lebende Systeme wird angenommen, dass die Regeln darauf ausgerichtet sind, das System dazu fähig zu machen und sein Bestehen auch ganz darauf auszurichten, dass es sich in sich selbst organisierender Weise selbst reproduziert (Autopoiese, siehe Maturana 1982). Leben reproduziert sich selbst, die wichtigste Aufgabe des Lebens scheint das (nach der Thermodynamik unwahrscheinliche) Produzieren von Leben zu sein. Dies wird durch den Aufbau von Negentropie-Ordnungsprozessen gewährleistet – so „trotzen Organismen gerade dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz und produzieren Ordnung statt Entropie“ (Willke 1991, S. 98 f.). So schaffen lebende Systeme gegen die Wirkung starker Außenkräfte „über hyperzyklische, metabolische und schließlich Sinn konstituierende Prozesse … unwahrscheinliche Zustände und organisierte Komplexität“, die „Gesetzmäßigkeiten aufweist, welche sich nicht auf die Gesetz der Physik reduzieren lassen“ (ebd.).
Damit also ein lebendes System sein Leben sichern und sein Leben reproduzieren kann, entwickelt es selbstrückbezüglich Regeln, die seinen Aufbau auch erst wieder ermöglichen und die u. a. auch wieder dafür sorgen sollen, dass die Regeln weiter aufrechterhalten werden. Da dies aber wieder in Auseinandersetzung mit einer sich ständig fluktuierend ändernden Umwelt geschieht, reicht es nicht aus, die bisherigen Regeln alle starr zu belassen (Homöostase), sondern einen Teil der Regelungen muss das System auch immer wieder in Abstimmung mit der Umgebung verändern (Morphogenese), um gerade zu sichern, dass seine Stabilität weiter ermöglicht wird: „Wer eini-germaßen der Gleiche bleiben will, muss sich ständig verändern …“ Es geht also immer um die optimale Balance zwischen Homöostase- und Morphogenesetendenzen im Austausch mit der Umwelt.
Im sozialen Bereich weisen diese Fähigkeiten z. B. alle jene gewordenen Gruppen auf, die sich als funktionale Einheiten mit Zielen entwickelt haben und sich an darauf abgestimmten Regeln orientieren. Familien, aber auch andere Gruppen, ebenso z. B. Therapeut-Patient-Beziehungen können so als lebende soziale Systeme verstanden werden. Auch diese Systeme sind natürlich wieder in größeren Systemen vernetzt. Allerdings kann es bei sozialen Systemen auch häufig solche geben, die von vornherein darauf ausgelegt sind, für bestimmte Ziele zu wirken und sich dann auch gerade als Teil ihrer sinnvollen Organisation selbst wieder aufzulösen, z. B. Projektorganisationen, Hilfsorganisationen, die nur für die Abwicklung einer bestimmten Notsituation gegründet wurden, oder eben auch Therapeuten-Patienten-Systeme etc. Der Zweck des „Lebens“ solcher Systeme ist eben dann nicht der Selbstzweck, ihr Überleben auf Dauer zu sichern, genau das würde vielleicht eher Probleme schaffen. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zu biologischen lebenden Systemen dar, sowohl im Hinblick auf das Verständnis der Organisation und Dynamik solcher Systeme als auch auf die Bildung eventueller Interventionen. Deshalb sollten biologische Systemmodelle (z. B. Homöostasemodelle aus der Medizin) nicht platt übertragen werden auf die Betrachtung sozialer Systeme.
Individuelle Erlebens- und Verhaltensprozesse werden also auch aufgefasst als Phänomene, die sich in Interaktionsnetzwerken ereignen und auf die solche Regelungen einwirken. Sie können nicht mehr nur aus Betrachtungen des „Ich“, „Selbst“ usw. beschrieben werden. Dabei üben alle an einer Interaktion Beteiligten wechselseitig (oft synchron) Einfluss aufeinander aus, sie bestimmen auch immer wechselseitig die jeweiligen Bedingungen der anderen im Interaktionsfeld. Sie wirken mit all ihren Beiträgen ständig als intensives Feedback füreinander. Linear-kausale Zuschreibungen im Sinne vom „Dies war die Ursache, dies die Wirkung“ (z. B. eines Verhaltens) stellen eine willkürliche und verzerrende Interpunktion dar (Watzlawick, Beavin u. Backson 1967), die sofort auch wieder rückbezüglich das Geschehen beeinflusst (z. B. eine Schuldzuweisung). Bei Prozessen, in denen die „Wirkungen“ auf die „Ursachen“ zurückwirken und so aus den „Ursachen“ wieder „Folgen“ werden und umgekehrt, spricht man von zirkulären Prozessen (Bateson 1982).
Noch einmal zusammengefasst, sind für systemisch orientiertes Arbeiten in Therapie und Beratung wichtige Aspekte:
Zirkularität: Nicht nur der individuelle Zustand einzelner Mitglieder ist wichtig, sondern besonders die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen ihnen sind es. Jedes Verhalten jedes Beteiligten ist gleichzeitig Ursache und Wirkung des Verhaltens der anderen Beteiligten (Zirkularität). So ist es auch wenig sinnvoll, bestimmte „Charaktereigenschaften“ zu definieren, zu sagen, eine Person „sei“ so, sondern ihr „Sosein“ wird verstanden als Teil eines Wechselwirkungsprozesses, einer Interaktion in ihrem systemischen Sinnzusammenhang.
Kommunikation: Eine wichtige Betrachtungs- und Gestaltungsebene ist die Art, wie Kommunikation wechselseitig geregelt wird, ebenso die Art, wie diese Kommunikation psychische und biologische Abläufe beeinflusst und wie diese wiederum die Kommunikation beeinflussen (Feedbackschleifen). Hierbei muss besonders berücksichtigt werden, wer wie wann mit wem als zum relevanten System gehörend oder nicht dazugehörend betrachtet wird (System-Umwelt-Grenzen).
Kontext: Alles gewinnt seine Bedeutung, seinen Sinn und seine Wirkung erst in seinem Situationszusammenhang, seinem (ökosystemischen) Kontext. Werden verallgemeinernde, aus den jeweiligen Kontexten gerissene Beschreibungen vorgenommen, etwa bei psychopathologischen oder Organisationsdiagnosen, erscheinen viele Phänomene in ihrem Sinn als nicht mehr verstehbar.
Dies hat gravierende Folgen für die Beteiligten selbst, aber auch für Berater, die Aufträge erhalten, die auf der Basis solcher aus dem Kontext gerissenen Verallgemeinerungen und Individualisierungen erteilt werden. Ob zum Beispiel etwas als Kompetenz, als verstehbarer, womöglich wertschätzbarer Lösungsversuch oder gar als adäquate Lösung für bestimmte Ziele unter bestimmten Situationsbedingungen verstanden werden kann oder ob genau das gleiche Phänomen eher als Inkompetenz, Krankheit, Versagen gesehen wird, hängt ausschließlich vom Kontextrahmen ab, in den man es stellt und in dem man es sieht. Erlebte (oder erlebt zu unserer Zeit) beispielsweise jemand als Mitglied einer Kultur mit dionysischen Ritualen, in der zum Zweck religiöser, „höherer“ Ziele (ekstatische Erfahrungen) intensivster Alkoholkonsum (oder der Konsum anderer Hilfsmittel zum Erreichen von Ekstase, z. B. Peyote, Ayahuasca etc.) praktiziert wird, einen enormen Kontrollverlust, so gilt dies als beglückende und bereichernde Erfahrung, die den Erlebenden ehrt und ihm in seiner Gemeinschaft eine bedeutsame Position sichert. Praktiziert jemand in unserer Gesellschaft einen physiologisch völlig identischen Kontrollverlust aber in einer Kneipe (also in einem anderen Kontext), die offensichtlich nicht einen gleichwertigen rituellen Sinnzusammenhang repräsentiert wie ein tief in der Tradition eines sozialen Systems verwurzeltes religiöses Ritual, dann gilt dies eher als ekelhafte, beschämende, ja kranke Verhaltensweise, die den Erlebenden tendenziell sogar aus der Gemeinschaft der als gleichwertig Geltenden ausgrenzt.
Deshalb ist es für kompetenzorientiertes systemisches Arbeiten von überragender Bedeutung, dass die relevanten Beobachter alle Phänomene so beschreiben und so mit Zielaspekten und Kontextbedingungen in Zusammenhang stellen, dass sichtbar werden kann, wofür (z. B. für welche Ziele, für welche Situationen) ein bestimmtes Verhalten überhaupt als Kompetenz verstanden werden könnte (Prinzip der Kontextualisierung und der Utilisation).
„Krankheit“ wird, insbesondere auch psychische und psychosomatische, dies folgt aus solchem Verständnis, nicht als „wirklich wahres“ Phänomen angesehen, sondern ebenfalls als Konstrukt. Aber: Gerade das Konstrukt „Krankheit“ kann eminent wichtiges Organisationselement eines Systems werden, deshalb sollte aus dieser konstruktivistischen Sicht keineswegs zwangsläufig geschlossen werden, man solle z. B. in einer Therapie das Konstrukt „Krankheit“ zielgerichtet auflösen, um so die Menschen zu unterstützen, aus dem Erleben herauszukommen, ausgelieferte Opfer zu sein (wie dies heute noch häufig in der systemischen Therapie praktiziert wird – übrigens gerade von unserer Heidelberger Gruppe vorgeschlagen, siehe z. B. Retzer 1991). Darüber wird später noch mehr zu reden sein (siehe die Kapitel über Sucht bzw. Depression).
Konstruierte „Wirklichkeit“ (= wirksames Erleben): Wirklichkeit wird durch die Art konstruiert, wie etwas von etwas anderem unterschieden wird, wie es bezeichnet, wie es erklärt und wie es bewertet wird (Spencer-Brown 1969). Wird etwas zum Beispiel als Defizit bewertet und wird in erster Linie darauf geschaut, was fehlt, was sich an Unerwünschtem abspielt, ohne dass auf Ausnahmen davon hingewiesen würde (z. B. auf Fälle, in denen etwas Gewünschtes, „Erfolgreiches“ ablief), oder wird es mit vielen Verallgemeinerungen versehen („immer“, „nie“ etc.), wird damit das Bewusstsein aller Beteiligten auf diese Sichtweisen hin eingeengt, quasi „hypnotisch gefärbt“, auch das der Berater. Dann können vorhandene Kompetenzen und erfolgreiche Lösungsversuche nicht mehr gesehen oder viel undeutlicher werden; dies bewirkt dann auch ein Erleben von weniger Kompetenz und Selbstvertrauen.
Muster und Regeln: Werden in einem System solche Wirklichkeitskonstruktionen gestaltet durch miteinander verkoppelte Beiträge, die sich regelhaft wiederholen, wird die Beschreibung dieser Verkoppelungen von Beiträgen in Wechselwirkung „Muster“ genannt. Typische „Bausteine“ solcher Muster sind z. B. die Art, wie ein Phänomen beschrieben wird, wie ihm Bedeutung gegeben wird, z. B durch Erklärungen, Bewertungen, Schlussfolgerungen, welche Lösungsversuche daraus abgeleitet werden und welche Reaktionen darauf wieder gewählt werden, welches Verhalten, welche emotionale Reaktion usw. Dies sind Ebenen der Musterbildung, die auch in den interaktionellen Austausch einfließen. Ich nenne sie „Makromuster“.
Gleichzeitig läuft aber immer im internalen Erlebnissystem der Beteiligten eine Vielzahl von Prozessen ab, auch in regelhafter Weise. Diese sind für die Wahrnehmung und Verarbeitung all dieser Außenreize zentral, ich nenne sie „Mikromuster“. In der Diskussion der hypnotischen Prozesse erlangen gerade diese „Mikromuster“ größte Bedeutung.
Jedes System zeigt Tendenzen, Muster stabil zu halten (Homöostase), da dies Orientierung und offensichtlich auch Sicherheit gibt. Jedes System braucht aber auch in einer sich ständig ändernden Umwelt Musteränderungen (Morphogenese), da es sonst nicht überleben kann. Die Regelungen in sozialen Systemen wirken auf das Erleben der Beteiligten, und dies wirkt wieder auf die Regelungen zurück.
Typische Regelungsbereiche, die wir in lebenden individuellen und sozialen Systemen immer wieder finden, sind z. B. Definition und Auswahl der Beteiligten (wer gehört dazu, wer nicht?); Zielentwicklungsprozesse; die Art, wie Ziele kommuniziert werden; Entwicklung der Schritte zum Ziel; wie und worüber wird kommuniziert bzw. darf kommuniziert werden? Grenzbildungen innen, zwischen den Teilbereichen des Systems; Nahtstellen – Koordination intern, wie verbinden sich die abgegrenzten Innenbereiche wieder? Aspekte der Wertschätzung, Förderung, Motivation der Beteiligten; Abspracheregelungen; Rollenverteilung; Entscheidungsregeln bzw. Hierarchieprozesse; Feedbackregelungen; Konfliktregelungen; informelle Begegnungsrituale; Grenzbildung nach außen; Nahtstellen – Koordination nach außen (z. B. Nachbarn, Freunde, Kunden, andere Teams).
Die hier aufgeführten Grundprämissen systemischer Konzepte sagen noch nicht, quasi sich selbst erklärend, was sie nun für die therapeutische Praxis heißen. Die komplexen systemtheoretischen Konstrukte müssen übersetzt werden auf praktisches Handeln in Therapie und Beratung. In diesen Kontexten geht es in aller Regel eben nicht darum, schöne akademische Metabeschreibungen zu entwerfen in Bezug darauf, wie man die Dynamik von Systemen verstehen könnte. So etwas wäre in Therapie oder Beratung allenfalls einmal ein Mittel zum Zweck. Vielmehr sind dies immer Kontexte, in denen Menschen in aller Regel mit spezifischen Anliegen kommen und eine professionelle Dienstleistung in Auftrag geben. Diese Kunden und Kundinnen (in manchen Kontexten wie z. B. dem „Gesundheitswesen“ – welches wohl besser „Krankheitswesen“ genannt würde – werden sie immer noch z. B. „Patienten“ und „Patientinnen“ genannt) kommen mit der berechtigten Erwartung, dass dann auch von den Auftragnehmern (Therapeuten und Therapeutinnen, Berater und Beraterinnen) spezifisch etwas geleistet wird, das ihren Anliegen dient. Alle Maßnahmen und Angebote an die Kunden sollten konsequent daraufhin geprüft werden, ob sie diesen Anliegen effektiv dienen, die Güte eventueller Interventionen sollte auch daran abgelesen werden. Wir brauchen also eine auftragseffektive Umsetzung systemischer Theorie in die Praxis.
In den meisten Fällen werden an Therapeuten bzw. Berater Aufträge mit Veränderungserwartungen herangetragen. Wie dann damit umgegangen wird, hängt wieder davon ab, wie man sich a) die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen und Symptomen und b) die Entwicklung von Veränderung und, daraus folgernd, c) die Rolle und Aufgaben von Therapeuten bzw. Beratern vorstellt.
In den diversen „traditionelleren“ Therapieverfahren gibt es typischerweise bestimmte Annahmen darüber, was für eine hilfreiche, gesundheitsförderliche Entwicklung in der Therapie nötig sei. Diese heben je nach Konzept auch sehr unterschiedliche, teilweise sich auch widersprechende Aspekte hervor, z. B. die Idee, man müsse zunächst im therapeutischen Prozess die „Übertragung“ sich entwickeln lassen, die man dann zu analysieren habe, um die Genese der Probleme im geschichtlichen Kontext zu „verstehen“ und „durchzuarbeiten“, emotionale Prozesse müssten aktiviert, eventuelle emotionale „Blockaden“ aufgelöst, Lerndefizite aufgefüllt werden etc.
In der systemischen Arbeit aber geht man davon aus, da ja jede Realität ohnehin als jeweils konstruiert verstanden wird, dass ein Problem Ausdruck von ungünstig wirkenden Realitätskonstruktionen (individuell und interaktionell) in bestimmten Kontexten ist. Hinzu kommt als wichtiges Kriterium, wie man sich aus systemischer Perspektive das Erzeugen von Information vorstellt. Information entsteht aus dieser Sicht jeweils durch das Bilden von Unterschieden, Information ist der Prozess und das Ergebnis von Unterschiedsproduktion. Deshalb versucht alle Therapie, „im weitesten Sinne die Beschreibungen zu verändern, über die Wirklichkeit erfahren wird“. Sie erscheint als „ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen. Alle psychologischen Maßnahmen verändern, wenn sie erfolgreich sein sollen, die Art und Weise, wie in der Familie übereinander, über Probleme, über psychische Störungen, Krankheit und die damit zusammenhängenden Optionen gesprochen wird. Sie verändert also die den Betroffenen gemeinsamen Sinnstrukturen im Kontext eines jeweiligen Systems“ (von Schlippe 1995, S. 23 f.). Dies sollte nicht nur kognitiv, sondern auch durch konkrete leibliche Erfahrungen geschehen.
Dieses Grundverständnis nun lässt wieder viel Raum dafür, wie man Veränderungen anregen könnte. Die Entwicklungsgeschichte der Familientherapie allgemein und der systemischen Therapie im Besonderen weist da viele teilweise übereinstimmende, teilweise recht weitgehend voneinander abweichende Konzeptionen auf, die auf Anwender (wie ich durch viele entsprechende Kommentare bei vielen Weiterbildungen und Supervisionen weiß) häufig nicht hilfreich, sondern eher verwirrend wirken. Ich selbst hatte die Gelegenheit (und das Glück?), seit Mitte der 1970er-Jahre praktisch alle relevante Entwicklungen der Familientherapie und der systemischen Therapie und Beratung ganz hautnah in Theorie, vor allem aber in gelebter Praxis mitmachen zu dürfen. Zunächst durch die weltweit intensive Vernetzung, betrieben von Helm Stierlin, und später dann durch unsere gemeinsamen Aktivitäten als Heidelberger Gruppe hatten wir die in dieser Zeit einmalige Situation, dass praktisch alle international wichtigen und führenden Vertreter und Vertreterinnen der Familientherapie und der systemischen Konzeptionen zu uns nach Heidelberg kamen und wir voneinander lernen konnten. Ich selbst, ursprünglich Diplomvolkswirt, hatte meinen Beruf gewechselt und noch Medizin studiert, ausschließlich deshalb, weil mich die Ansätze, Probleme nicht mehr nur aus einem „gestörten“ individuellen Prozess heraus zu erklären, sondern in einen kontextuellen Sinnzusammenhang zu stellen, ungemein faszinierten, insbesondere im Bereich der Therapie von Psychosen.
Die, geschichtlich gesehen, zeitlich aufeinander folgenden Modellvorstellungen leben nämlich mit durchaus noch recht kraftvollem Eigenleben wie verwandte, aber mutierte Spezies im Reich von Fauna und Flora unverdrossen nebeneinanderher.
Die mehr geschichtlich orientierten Mehrgenerationen-Familientherapiemodelle wie die von M. Bowen, I. Boszormenyi-Nagy, die frühen Bindungs-/Ausstoßungs-/Delegationskonzepte von Helm Stierlin oder die Vorstellungen von N. Paul (hinsichtlich unbewältigter Trauerprozesse in Familien, die zu Symptomen führen können) fordern wieder mehr die Beachtung des Kontenausgleichs der Schuld- und Verdienstkonten und die Beachtung der familiären „Vermächtnisse“ etc. Gerade diese Sichtweisen finden sich dann übrigens wieder in den Konzepten der „richtigen Ordnung“ von Bert Hellinger – allerdings oft, ohne dass dies auch genügend transparent gemacht würde, was gerade der dort so hochgehaltenen Idee, die jeweiligen Vorgänger zu würdigen, ja gar nicht entspricht.
In den Anfangsjahren unserer Heidelberger Gruppe orientierten wir uns vorrangig an diesen Mehrgenerationenkonzepten