Für Ruth und Mary, Mistress der Kunst
und Mistress des Wissens
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Deutsche Erstausgabe
Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2018
Originalcopyright © 2018 by Rebecca Ross
Published by Arrangement with Rebecca Ross
c/o NEW LEAF LITERARY & MEDIA INC., 110 West 40th Street, Suite 2201, New York, NY 10018 USA
Originalverlag: HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
Originaltitel: The Queen’s Rising
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Aus dem Englischen von Anne Brauner und Susann Friedrich
Lektorat: Rebecca Wiltsch
Umschlagbilder: shutterstock.com © Oleg Gekman/Bariskina
Umschlaggestaltung: formlabor
Herstellung: Gunta Lauck, Wiebke Lück
Satz und E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN: 978-3-646-92903-4
Für Ruth und Mary, Mistress der Kunst
und Mistress des Wissens
HAUS MAGNALIA
Die Vorsteherin von Magnalia
Die Aériale von Magnalia:
Solene Severin, Mistress der Kunst
Evelina Baudin, Mistress der Musik
Xavier Allard, Master des Schauspiels
Therese Berger, Mistress des Esprits
Cartier Évariste, Master des Wissens
Die Arden von Magnalia:
Oriana DuBois, Arden der Kunst
Merei Labelle, Arden der Musik
Abree Cavey, Arden des Schauspiels
Sibylle Fontaine, Arden des Esprits
Ciri Montagne, Arden des Wissens
Brienna Colbert, Arden des Wissens
Weitere Besucher in Magnalia:
Francis, Bote
Rolf Paquet, Briennas Großvater
Monique Lavoie, Gönnerin
Nicolas Babineaux, Gönner
Brice Mathieu, Gönner
HAUS JOURDAIN
Aldéric Jourdain
Luc Jourdain
Amadine Jourdain
Jean David, Lakai und Kutscher
Agnes Cote, Hauswirtschafterin
Pierre Faure, Koch
Liam O’Brian, Lehnsmann
Weitere Personen im Zusammenhang mit Jourdain:
Hector Laurent (Braden Kavanagh)
Yseult Laurent (Isolde Kavanagh)
Theo d’Aramitz (Aodhan Morgane)
HAUS ALLENACH
Brendan Allenach, Lord
Rian Allenach, der erstgeborene Sohn
Sean Allenach, der zweitgeborene Sohn
Weitere wichtige Personen:
Gilroy Lannon, König von Maevana
Liadan Kavanagh, die erste Königin von Maevana
Tristan Allenach
Norah Kavanagh, die drittgeborene Prinzessin von Maevana
Evan Berne, Drucker
DIE VIERZEHN HÄUSER VON MAEVANA
Die Gewitzten des Hauses Allenach
Die Aufgeweckten des Hauses Kavanagh*
Die Älteren des Hauses Burke
Die Grimmigen des Hauses Lannon
Die Kühnen des Hauses Carran
Die Barmherzigen des Hauses MacBran
Die Beliebten des Hauses Dermott
Die Gerechten des Hauses MacCarey
Die Weisen des Hauses Dunn
Die Besonnene des Hauses MacFinley
Die Freundlichen des Hauses Fitzsimmons
Die Standhaften des Hauses MacQuinn*
Die Aufrechten des Hauses Halloran
Die Flinken des Hauses Morgane*
* kennzeichnet ein in Ungnade gefallenes Haus
Im Hochsommer 1559
Provinz Angelique, Königreich Valenia
Das Haus Magnalia galt als Bildungsanstalt, in der wohlhabende begabte Mädchen ihre Passion meisterten. Es war nicht für Mädchen gedacht, die den hohen Ansprüchen nicht genügten, oder für uneheliche Töchter und schon gar nicht für Mädchen, die ihrem König die Stirn boten. Rein zufällig trifft all das auf mich zu.
Ich war zehn Jahre alt, als mein Großvater zum ersten Mal mit mir nach Magnalia fuhr. Es war nicht nur ein sehr heißer Sommertag – ein Nachmittag für Wolkenungetüme und gereizte Gemüter –, sondern noch dazu der Tag, an dem ich die Frage stellte, die mich verfolgte, seit ich ins Waisenhaus gekommen war.
»Großpapa, wer ist mein Vater?«
Großvater saß mir gegenüber. Seine Lider waren schwer von der Hitze, bis meine Erkundigung ihn aufrüttelte. Er war ein anständiger Mann, herzensgut und doch sehr zurückgezogen, und aus diesem Grund vermutete ich, dass er sich für mich schämte – für das uneheliche Kind seiner geliebten verstorbenen Tochter.
Doch an diesem drückend heißen Tag war er dazu verdammt, mit mir in der Kutsche zu sitzen, und ich hatte eine Frage geäußert, die er beantworten musste. Stirnrunzelnd betrachtete er meine erwartungsvolle Miene, als hätte ich ihn gebeten, mir den Mond vom Himmel zu holen. »Dein Vater ist kein achtbarer Mann, Brienna.«
»Hat er einen Namen?«, bohrte ich weiter. Hitze machte mich wagemutig, während sie ältere Herrschaften wie Großpapa zum Schmelzen brachte. Ich war zuversichtlich, dass er mir endlich erzählen würde, von wem ich abstammte.
»Das hat wohl jeder, nicht wahr?« Nun wurde er griesgrämig, nachdem wir bereits seit zwei Tagen in dieser Gluthitze reisten.
Ich sah zu, wie er sein Taschentuch herauskramte und sich den Schweiß von der faltigen Stirn wischte, die wie ein Ei gesprenkelt war. Er hatte ein rötliches Gesicht mit einer besonders großen Nase und einen weißen Haarkranz. Dem Hörensagen nach war meine Mutter recht ansehnlich gewesen – und ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten –, doch ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand, der so hässlich war wie Großpapa, etwas Schönes hervorbringen sollte.
»Ah, Brienna, mein Kind, wieso musst du nach ihm fragen?«, seufzte Großpapa ein wenig freundlicher. »Reden wir doch lieber über das, was auf dich zukommt. Über Magnalia.«
Ich schluckte meine Enttäuschung hinunter, die mir wie eine Murmel in der Kehle stecken blieb. Über Magnalia wollte ich nicht sprechen.
Bevor ich noch trotziger werden konnte, bog die Kutsche ab und die Räder rollten aus den Furchen auf eine glatte, gepflasterte Zufahrtsstraße. Als ich aus dem staubverschmierten Fenster sah, schlug mein Herz schneller. Ich beugte mich vor und legte die Hände an die Scheibe.
Als Erstes fielen mir die Bäume auf. Ihre Äste hingen bewundernswert über der Einfahrt, wie Arme, die uns willkommen hießen. Pferde grasten träge auf den Weiden, ihr Fell glänzte feucht von der sommerlichen Hitze. Jenseits der Weiden lagen die fernen blauen Berge von Valenia, das Rückgrat unseres Königreichs. Ihr Anblick besänftigte meine Enttäuschung – dieses Land befeuerte meine Neugier und meinen Mut.
Klappernd fuhren wir unter den Zweigen der Eichen einen Hügel hinauf und kamen schließlich in einem Vorhof zum Stehen. Durch den aufgewirbelten Staub betrachtete ich die grauen Steinmauern, die gleißenden Fensterscheiben und den Kletterefeu des Hauses Magnalia.
»Aufgemerkt, Brienna«, sagte Großpapa, der hastig sein Taschentuch einsteckte. »Hier ist tadelloses Benehmen geboten – als würdest du vor König Phillipe stehen. Lächele, mach einen Knicks und sag nichts Unpassendes. Kannst du deinem Großpapa diesen Gefallen tun?«
Ich nickte. Mir war, als hätte ich auf einmal die Sprache verloren.
»Sehr gut. Dann lass uns beten, dass die Vorsteherin dich aufnimmt.«
Als der Kutscher die Tür öffnete, wies Großpapa mich an, zuerst auszusteigen. Meine Beine zitterten, so klein kam ich mir vor, während ich den Hals verdrehte, um das herrschaftliche Anwesen zu bestaunen.
»Ich spreche erst unter vier Augen mit der Vorsteherin und dann wirst du sie ebenfalls kennenlernen«, sagte Großvater und zog mich die Treppe zum Eingang hoch. »Denk stets daran, Höflichkeit zu bewahren. In diesem Haus leben sittsame Mädchen.«
Er musterte mich, als er klingelte. Mein blaues Kleid war von der Kutschfahrt zerknittert, meine Zöpfe hatten sich gelöst und die Haare hingen kraus um mein Gesicht. Doch die Tür wurde bereits schwungvoll aufgezogen, bevor Großvater einen Kommentar zu meinem wenig ansehnlichen Äußeren abgeben konnte. Seite an Seite traten wir in den bläulichen Schatten der Eingangshalle von Magnalia.
Während Großvater in das Arbeitszimmer der Vorsteherin gebeten wurde, blieb ich im Gang stehen. Der Diener bot mir einen Platz auf einer gepolsterten Bank an und ich setzte mich allein dorthin, um zu warten. Vor Aufregung ließ ich die Beine baumeln und starrte auf den schwarz-weißen Boden im Schachbrettmuster. Im Haus herrschte eine tiefe Ruhe, als würde ihm das Herz fehlen. Und da es so still war, hörte ich die Unterredung meines Großvaters mit der Vorsteherin. Ihre Worte flossen durch die Zimmertür.
»Für welche Gabe verspürt sie eine besondere Neigung?«, fragte die Vorsteherin. Ihre Stimme war tief und fein wie Rauch, der an einem Herbstabend in die Höhe stieg.
»Sie zeichnet gern … Zeichnen kann sie wirklich gut. Außerdem hat sie eine lebhafte Fantasie – im Schauspiel würde sie sicher brillieren. Und was die Musik angeht: Meine Tochter hat es auf der Laute weit gebracht und ich bin sicher, dass Brienna etwas von ihrem Talent geerbt hat. Was noch … Ach ja, im Waisenhaus liest sie wohl gern. Sie hat sämtliche Bücher zweimal gelesen.« Großpapa schweifte ab. War ihm überhaupt bewusst, was er da sagte? Er hatte mich noch nie zeichnen sehen oder auch nur einmal eine selbst erdachte Geschichte aus meinem Munde gehört.
Ich rutschte von der Bank, schlich langsam zur Tür und presste mein Ohr daran. Begierig lauschte ich ihren Worten.
»Das ist alles gut und schön, Monsieur Paquet. Aber wie Ihr sicherlich wisst, versteht man unter dem Meistern einer Passion, dass Eure Enkelin sich in einer der fünf Gaben auszeichnen muss, und nicht etwa in allen.«
Ich machte mir Gedanken über diese fünf. Kunst. Musik. Schauspiel, Esprit. Wissen. In einer Einrichtung wie Magnalia wurden Mädchen als Arden angenommen – als Schülerinnen eines Fachs. Man konnte eine der fünf Passionen wählen und sie anhand der sorgfältigen Anweisung eines Masters oder einer Mistress fleißig studieren. Wer sein Talent vollkommen ausgeschöpft hatte, erhielt selbst den Titel Mistress und zudem den Umhang – eine persönliche Auszeichnung, die den Erfolg und den Stand betonte. Auf diese Weise wurde man zu einer Berufenen der Kunst, der Musik oder einer der anderen drei Gaben geweiht.
Mein Herz pochte laut in meiner Brust und meine Hände waren schweißnass, während ich mir ausmalte, eine Berufene zu sein.
Welches Fach würde ich wählen, falls die Vorsteherin mich annahm?
Doch ich hatte keine Zeit, darüber zu grübeln, denn Großvater sprach weiter: »Brienna hat einen hellen Verstand, das verspreche ich Euch. Sie kann jede der fünf Passionen meistern.«
»Es freut mich, dass Ihr Eure Enkelin so hoch einschätzt, aber ich muss Euch sagen … mein Haus ist sehr anspruchsvoll und schwierig. Für diese Saison habe ich meine fünf Arden bereits beisammen. Falls ich Eure Enkelin aufnähme, müsste ein Aérial zwei Arden unterrichten. Das ist noch nie vorgekommen.«
Ich versuchte mir vorzustellen, was ein Aérial sein mochte – möglicherweise eine Art Lehrer? –, als ich ein scharrendes Geräusch hörte und von der Flügeltür zurücksprang, weil ich fürchtete, sie würde auffliegen und mich als Lauscherin entlarven. Doch anscheinend hatte Großvater nur nervös seinen Stuhl verschoben.
»Ich versichere Euch, Madame, Brienna wird Euch keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Sie ist ein sehr gehorsames Mädchen.«
»Aber sagtet Ihr nicht, sie sei im Waisenhaus aufgewachsen? Und sie trägt nicht Euren Namen. Wie kam es dazu?«, fragte die Vorsteherin.
Eine Pause entstand. Ich hatte mich auch schon immer gewundert, dass mein Nachname sich von dem meines Großvaters unterschied. Also drückte ich das Ohr noch ein wenig fester ans Holz …
»Es dient dazu, Brienna vor ihrem Vater zu schützen, Madame.«
»Sollte sie in Gefahr schweben, kann ich Brienna leider nicht aufnehmen, Monsieur –«
»Bitte hört mich an, Madame, nur einen Augenblick. Brienna ist zwei Staaten angehörig. Ihre Mutter – meine Tochter – war Valenianerin. Ihr Vater stammt aus Maevana. Er weiß von Brianna und ich war besorgt … besorgt, er könnte sie ausfindig machen, wenn sie so hieße wie ich.«
»Und wieso wäre das so entsetzlich?«
»Weil ihr Vater –«
Weiter hinten im Gang wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, Stiefelschritte näherten sich. Ich lief rasch zu der Bank zurück und warf mich buchstäblich darauf, sodass meine kurzen Beine über den Boden kratzten wie Fingernägel über eine Tafel.
Ich wagte nicht aufzublicken und lief vor Scham rot an, während der Stiefelträger immer näher kam und schließlich vor mir stehen blieb.
Ich hielt ihn für den Diener, bis ich den Kopf hob und einen jungen Mann bemerkte, der mit seinen weizenblonden Haaren ungemein gut aussah. Er war groß und schlank, keine einzige Falte verunstaltete seine Kniehose oder seine Tunika, doch am meisten beeindruckte mich … sein blauer Umhang. Da die Farbe Blau die Gabe des Wissens symbolisierte, war er ein Berufener, ein Master. Und ausgerechnet er hatte mich beim Lauschen an der Tür der Vorsteherin erwischt.
Bedächtig ging er in die Hocke, um mir in die Augen zu sehen. Er hatte ein Buch in der Hand und seine Augen waren kornblumenblau wie sein Passionsumhang.
»Wen haben wir denn da?«, fragte er.
»Brienna.«
»Das ist ein schöner Name. Wirst du als Arden nach Magnalia kommen?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur.«
»Möchtest du es denn gern?«
»Ja, sehr gern, Monsieur.«
»Du musst nicht Monsieur zu mir sagen«, schalt er mich freundlich.
»Wie soll ich Euch denn sonst nennen, Monsieur?«
Er gab keine Antwort, sondern sah mich nur an, den Kopf ein wenig geneigt, sodass sein blondes Haar über eine Schulter glitt, wie ein Ausschnitt des Sonnenlichts. Er sollte fortgehen und doch wünschte ich mir gleichzeitig, dass er sich weiter mit mir unterhielt.
In diesem Augenblick wurde die Tür des Arbeitszimmers geöffnet. Als er das hörte, stand der Master des Wissens auf und drehte sich um. Mein Blick fiel auf die silbernen Fäden des Umhangs, der über seinen Rücken fiel – sie fügten sich auf dem blauen Stoff zu einer Sternenkonstellation, die ich sehr bewunderte. Zu gern hätte ich ihn gefragt, was dieses Bild zu bedeuten hatte.
»Ah, Master Cartier«, sagte die Vorsteherin, die an der Tür stehen geblieben war. »Wärt Ihr so freundlich, Brienna zum Arbeitszimmer zu geleiten?«
Ich verstand seine ausgestreckte Hand als Einladung und legte vorsichtig meine Finger hinein. Meine Hand war warm, seine kühl, während wir durch den Gang auf die wartende Vorsteherin zugingen. Bevor er losließ, drückte Master Cartier kurz zu und setzte dann seinen Weg fort. Er ermunterte mich, tapfer zu sein, aufrecht und stolz, um meinen Platz in diesem Haus zu finden.
Nachdem ich das Arbeitszimmer betreten hatte, wurde die Tür mit einem leisen Geräusch wieder geschlossen. Großvater saß in einem Sessel. Daneben stand ein zweiter, der mir zugedacht war. Behutsam setzte ich mich, als die Vorsteherin um den Schreibtisch herumging und mit einem flüsternden Rauschen ihres Kleides dahinter Platz nahm.
Mit ihrer hohen Stirn, die verriet, dass sie ihr Haar viele Jahre straff zurückgekämmt unter einer eng anliegenden Prachtperücke getragen hatte, machte sie einen recht strengen Eindruck. Mittlerweile verbarg sie die weißen Locken, die ihrer Erfahrung Rechnung trugen, fast vollständig unter einer Haube aus schwarzem Samt. In kalter Eleganz thronte sie auf ihrem Scheitel. Ihr Kleid, das in einem dunklen Rot schimmerte, hatte eine tief sitzende Taille und einen rechteckigen, mit Perlen besetzten Ausschnitt. In diesem Moment, als ich mich im Anblick ihrer reifen Schönheit verlor, verstand ich, dass sie mich in ein Leben einführen konnte, das mir sonst nicht vergönnt sein würde. Ein Leben, in dem ich berufen werden konnte.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Brienna«, begrüßte sie mich lächelnd.
»Madame«, entgegnete ich und wischte meine verschwitzten Hände an meinem Kleid ab.
»Dein Großvater hat mir dein Loblied gesungen.«
Ich nickte und warf ihm einen beklommenen Blick zu. Er betrachtete mich mit einem heiklen Funkeln in den Augen und hielt erneut sein Taschentuch in der Hand, als müsste er sich an etwas festklammern.
»Welche Gabe bevorzugst du, Brienna?«, fragte sie und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Oder hast du sogar eine angeborene Neigung zu einer der Passionen?«
Bei den Heiligen im Himmel, ich wusste es nicht. Fieberhaft ging ich sie im Geiste noch einmal durch … Kunst … Musik … Schauspiel … Esprit … Wissen. Und dann platzte ich mit dem heraus, was mir als Erstes in den Sinn kam. »Kunst, Madame.«
Sehr zu meinem Missfallen zog sie eine Schublade auf und holte einen unbeschriebenen Pergamentbogen und einen Bleistift heraus, die sie unmittelbar vor mir auf eine Ecke ihres Schreibtisches legte.
»Zeichne etwas für mich«, wies mich die Vorsteherin an.
Widerstrebend blickte ich zu Großvater, weil ich fürchtete, dass unsere Täuschung auffliegen würde. Er wusste so gut wie ich, dass ich nicht künstlerisch begabt war, und dennoch griff ich nach dem Bleistift.
Dann holte ich tief Luft und dachte an etwas, das mir am Herzen lag. Vor meinem inneren Auge erschien der Baum im Hinterhof des Waisenhauses – eine alte knorrige Eiche, auf die wir Kinder gerne geklettert waren. Und einen Baum konnte ja wohl jeder malen.
Während ich zeichnete, unterhielt sich die Vorsteherin mit meinem Großvater, um mir genügend Raum zu lassen. Als ich fertig war, legte ich den Bleistift hin, betrachtete mein Werk und wartete.
Es war eine erbärmliche Abbildung, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem erinnerten Baum aufwies.
Die Vorsteherin sah sich die Zeichnung genau an. Sie runzelte leicht die Stirn, doch ihrem Blick ließ sich keine Regung entnehmen.
»Bist du sicher, Brienna, dass du dich dem Studium der Kunst widmen willst?« Sie sprach ohne Wertung, doch ich nahm die unterschwellige Herausforderung wahr, die in ihren Worten lag.
Beinahe hätte ich Nein gesagt und dass ich nicht dorthin gehörte. Doch die Vorstellung, ins Waisenhaus zurückzukehren und Küchenmädchen oder Köchin zu werden wie all die anderen Waisenmädchen, machte mir bewusst, dass dies meine einzige Chance war, dem zu entkommen.
»Ja, Madame.«
»Dann will ich für dich eine Ausnahme machen. Ich habe bereits fünf Mädchen in deinem Alter in Magnalia angenommen. Du wirst die sechste Arden sein und bei Mistress Solene Kunstunterricht bekommen. Die nächsten sechs Jahre verbringst du hier mit deinen Ardenschwestern, indem du lernst und aufwächst und dich auf deine siebzehnte Sommersonnenwende vorbereitest. Dann nämlich wirst du zur Berufenen geweiht und von einem Gönner erwählt.« Als sie innehielt, war ich vollkommen überwältigt von ihren Worten. »Wärst du damit einverstanden?«
Blinzelnd stammelte ich: »Ja, ja sehr wohl, Madame!«
»Hervorragend. Monsieur Paquet, bitte bringt Brienna im Herbst zur Tagundnachtgleiche zurück. Und vergesst nicht das Schulgeld.«
Als mein Großvater eilig aufstand und sich verbeugte, verströmte er Erleichterung wie ein aufdringliches Parfüm. »Vielen Dank, Madame. Wir sind beglückt! Brienna wird Euch nicht enttäuschen.«
»Nein, das denke ich auch nicht«, erwiderte die Vorsteherin.
Ich stand auf, machte einen schiefen Knicks und folgte Großpapa zur Tür. Kurz bevor ich in den Gang hinaustrat, warf ich einen Blick zurück.
Die Vorsteherin sah mir traurig nach. Obwohl ich noch ein junges Mädchen war, kannte ich diesen Blick. Mein Großvater hatte irgendetwas gesagt, das sie dazu bewogen hatte, mich aufzunehmen. Ihr Zugeständnis war nicht mein Verdienst und beruhte auch nicht auf meiner möglichen Entwicklung. Hatte sie sich vom Namen meines Vaters umstimmen lassen? Von diesem Namen, den ich nicht kannte? Spielte er wirklich eine so große Rolle?
Die Vorsteherin glaubte, dass sie mich aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte und dass ich niemals berufen werden würde.
In diesem Augenblick nahm ich mir fest vor, ihr das Gegenteil zu beweisen.