Seoul, im April 1960. Johnny Kim, seine Geliebte Eve Moon und sein bester Freund aus Kindertagen Yunho Kang sind auf der Flucht vor der berüchtigten Nord-West-Jugend, einer antikommunistischen, paramilitärischen Schlägertruppe im Dienst der Regierung Südkoreas. Diese steht kurz vor dem Zusammenbruch, seit Wochen geht die Bevölkerung gegen den autokratischen Präsidenten Rhee auf die Straße. Gemeinsam wagen Johnny, Eve und Yunho die illegale Überfahrt nach Japan und finden Unterschlupf und Arbeit im koreanischen Viertel Osakas. Doch schon bald werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt: Ein Mädchen ist verschwunden, und der Verdacht fällt auf Johnny …
Spionagegeschichte, politischer und historischer Roman in einem, handelt DIE GROSSE HEIMKEHR von Freundschaft, Loyalität und Verrat, vom unmöglichen Leben in einer Diktatur. Das Buch erzählt von den Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel und von den Anfängen des heutigen Nordkorea, als die Gewaltherrschaft Kim Il Sungs noch in den Kinderschuhen steckte. Und es stellt sich der Frage: Wem gehört Geschichte? Den Siegern, die Archive verschließen und Dokumente schwärzen? Oder dem Einzelnen, der seine Erfahrungen von Verlust und Verlorenheit an andere weitergibt, Verlierer wie er selbst?
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren. 1979 zog die Familie nach Deutschland und schließlich weiter nach Wien, wo die Autorin seit 1984 lebt. 2004 erschien ihr erstes Buch, DIE BILDERSPUR, im Literaturverlag Droschl. Seither veröffentlicht sie Romane und Essays, zuletzt ANATOMIE EINER NACHT (2012) im Suhrkamp Verlag. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, unter anderem den Literaturpreis der Europäischen Union 2012.
ANNA KIM
DIE GROSSE
HEIMKEHR
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4888
Erste Auflage 2017
© Suhrkamp Verlag Berlin 2017
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildung: plainpicture/Rolau; abzee/Getty Images
eISBN 978-3-518-74853-4
www.suhrkamp.de
Die große Heimkehr
Oh, how the ghost of you clings
These foolish things they remind me of you
Holt Marvell, Harry Link, Jack Strachey,
These Foolish Things
Autrui détient un secret: le secret de ce que je suis.
Jean-Paul Sartre, L’Etre et le Néant
Meinem Vater
1
Das Licht des späten Nachmittags, noch immer durstig, ließ die Kiefern grüner, saftiger erscheinen und zog ein Schattenspiel zwischen den Mauern auf. Es war dieses Licht, an das ich mich erinnerte, ich hatte es vor vielen Jahren das erste Mal gesehen, als es die düsteren Fassaden der Altstadt zum Schimmern gebracht hatte; später hatte der Monsunregen alle Farben überdeckt und die Stadt in ein dampfendes Becken verwandelt, der Himmel war eine bleigraue Fläche, die vielen Gerüche aber, gekocht von der Hitze des Sommers und von der Nässe, waren intensiver gewesen, als ich es bisher von einem Ort gewohnt war. Doch heute und hier, im ehemaligen Viertel der amerikanischen Missionare, vor dem einzigen ebenerdigen Haus der Straße, das wie alle anderen Häuser auch von einer Mauer umgeben war, die den Blick zensierte und Teil eines Labyrinths war, das nur in Bruchstücken im alten Seoul erhalten ist, roch es modrig, weder nach Gewürzen noch nach Früchten, auf dem Gehsteig vor der braunen Hausmauer stand ein verrostetes Trockengestell mit schrumpeliger Wäsche und aus dem Hausinneren tröpfelte Musik, die maunzende Trompete, das trippelnde Klavier, der tapsende Bass und schließlich, lauter als die Begleitung, die Stimme Billie Holidays. Sie sang:
In my solitude
You taunt me
With memories
That never die
Ich hatte mir vorgenommen, auf das Ende des Liedes zu warten, die Stille zwischen den Nummern zu nutzen und an die Tür zu klopfen, als die Stimme eines Mannes aus dem Fensterspalt drang.
»Worauf warten Sie? Oder spionieren Sie mich aus? Wenn ja, sind Sie ein verdammt schlechter Spion, allerdings hoffe ich, dass Sie die Übersetzerin sind. Kommen Sie herein, wenn Sie schon da sind!«
Die letzten Sätze, gemurmelt, verstand ich nicht. Ich überlegte, ob ich nachfragen sollte, als es aus dem Inneren bellte: »So kommen Sie doch endlich, worauf warten Sie?«
Sobald ich das Haus betreten hatte, befand ich mich an einem Ort, der ausschließlich aus Musik bestand, in einer Höhle aus Geräuschen und Klängen. Erst nach geraumer Zeit wuchs ein Bild, die Umgebung füllte sich mit Farben und Details, ich erkannte Pflanzen in Töpfen, Kissen auf der Couch, Bilder an den Wänden, Figuren und Bücher in den dunklen Regalen, die das wenige Licht schluckten, ich hatte gedacht, es wären nur ein paar, tatsächlich waren es viele, sie stapelten sich sogar auf dem Boden – ich befand mich in einer Bibliothek.
Erst jetzt sah ich den Mann, der am Boden kauerte; von meinen Kollegen wurde er der Archivar genannt.
»Sie sehen aus wie eine Koreanerin«, sagte er und blickte mich aus unversiegelten Augen an. »Nicht ein bisschen wie eine Deutsche.«
Yunho Kang musterte mich im Schutz des Zwielichts, ich stand im Scheinwerfer des Fensters. »Ich bin beides«, antwortete ich.
»Habe ich das richtig verstanden, Sie wurden von einem deutschen Ehepaar adoptiert?«
»Ja.«
»Wie alt waren Sie?«
»Ich war vier Jahre alt.«
»Können Sie sich noch an Korea erinnern?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie sollten Sie auch. Ist dies Ihr erster Besuch hier?«
»Nein, mein zweiter.«
»Was wissen Sie über Ihre Heimat?«
Ich sah ihn ratlos an, er verbesserte sich: »Ich meine: Haben Sie die Geschichte Koreas studiert? Oder die Sprache?«
»Beides«, antwortete ich.
»Und Sie sprechen Englisch?«
»Ich habe eine Zeitlang in London gelebt.«
Er klopfte eine Zigarette aus der runzligen Packung und zündete sie an.
»Haben Sie sich über meine Anfrage gewundert?«
Ich zögerte mit meiner Antwort; ich weiß nicht, warum.
Man habe mich schon ein paar Mal gebeten zu übersetzen, sagte ich schließlich, offenbar gebe es Bedarf. Er musterte mich, dann nickte er langsam. »Sie sind sehr groß«, sagte er, »ebenso Ihre Ohren. So groß wie Mandarinen.«
Er lächelte.
»Wie lange arbeiten Sie schon für den Maryknoll-Orden?«
»Seit zwei Wochen.«
»Was sind Ihre Aufgaben?«
»Ich liefere Essen aus.«
»An Alte und Kranke?«
»Hauptsächlich an Alte und Kranke. Manchmal helfe ich auch im Büro aus.«
»Warum tun Sie das? Haben Sie keine andere Arbeit gefunden?«
»Ich habe noch gar nicht wirklich angefangen zu suchen.«
Er nickte wieder. Ob ich ihn gut verstehe oder ob er zu schnell spreche?
»Es geht«, antwortete ich.
»Es geht. Wo haben Sie Koreanisch gelernt?«
»An der Universität.«
»An der Universität.«
Yunho wiederholte meine Sätze, als müsse er sich vergewissern, dass er mich richtig verstanden hatte.
Später sagte er: »Sie haben einen japanischen Akzent.« »Ich habe einen japanischen Akzent?«, fragte ich; auch ich war sein Echo. Es sei meine Intonation, erklärte er. »Ich singe nicht, ich spreche«, sagte er, »ich schiebe die Wörter vor mir her. Wenn Sie sprechen, wirbeln Sie sie auf, Sie werfen sie.«
Er nahm einen tiefen Zug.
»Keine Angst«, sagte er und atmete den Rauch langsam aus, »es klingt niedlich.«
Als ich antwortete, bemühte ich mich, weder zu werfen noch zu wirbeln. Er habe ebenfalls einen Singsang in der Stimme, sagte ich und zwang meine zur Notlandung. Er sah mich nachdenklich an, das habe er noch nie gehört, da lache ja sein Nabel, und wie um sich zu vergewissern, dass diesem kein Lachen entfuhr, legte er die Hand auf seinen Bauch.
Yunho war achtundsiebzig Jahre alt, sprach neben Koreanisch fließend Japanisch und etwas Chinesisch. Sein Haar war silbrig, wellig und schulterlang. Da er meinte, dass seine Glatze größer werde, beäugte er jedes ausgefallene Haar sorgfältig, untersuchte die Wurzel, ehe er es in den Mülleimer legte; er warf es nicht, er legte es, ebenso wenig ging er, er schlenderte, dann schlenkerte die dunkle Nadelstreifenhose um seine Beine, und die Konturen seines Unterhemds schimmerten durch das weiße Oberhemd. Die Hose, die vom vielen Waschen dünn geworden war, reichte weit über seine Körpermitte und wurde von grauen Hosenträgern zusätzlich hochgezogen. Yunho ging nie ohne Gehstock, Handschuhe, Hut und Brille aus, letztere stammte von seinem Vater, und er sah nicht wirklich besser mit ihr, obwohl er es sich einredete.
Er siezte mich, das war ich nicht gewöhnt, ich kannte gesprochenes Koreanisch nur von meiner Kinderfrau, Yŏnghee Maria, die ich stets Jung-Maria genannt hatte, obwohl ich mich wunderte, dass sie, eine ältere Frau, in meinen Augen damals eine Greisin, sich als jung bezeichnete, es aber nicht mehr war; ich dachte, sie nenne sich jung, weil sie es nie gewesen war.
Sie nahm mich als Kind unter ihre Fittiche, fütterte mich mit koreanischen Sätzen und Speisen, während sie kleine Arbeiten im Haus verrichtete. Abends holte sie ihr Bügelbrett hervor, einen alten Kissenbezug, der mit Zeitungen gefüllt war, und hockte sich auf den Boden, einen Stapel sauberer Wäsche neben sich. Sie ließ das Bügeleisen nicht über die Kleidungsstücke gleiten, sondern drückte nur; sie fürchtete sich vor dem Dampf, beteuerte, das Gerät schnaube vor Wut. Wir bügelten abends, wenn Monika und Wolfgang, die ich nicht Mutter und Vater nennen wollte, ausgegangen waren, und ich war glücklich, dass ich im gelben Küchenlicht neben Jung-Maria auf dem Linoleumboden liegen konnte, der sich seltsam weich anfühlte, während sie Wäsche drückte und mir Geschichten erzählte, von einer Zeit in Korea, als die feinen Fräulein, gehüllt in bodenlange Seidenmäntel, die Gesichter unter einer Kapuze verborgen, im dämmrigen Schein der Gaslaternen ausgehen durften. Männer hatten ab diesem Zeitpunkt nichts mehr auf der Straße verloren, lediglich Blinden und königlichen Kurieren war es gestattet, sich unter die Damen zu mischen, dann holten die blinden Masseure ihre Flöten hervor und begannen auf ihnen zu spielen, und in der Stadt verbreiteten sich ihre traurigen Melodien; manchmal öffnete sich ein Fenster, und sie wurden ins Innere gebeten. Die Hunde, verführt von den Flötentönen, stimmten ihrerseits einen Gesang an, der vom rhythmischen Klopfen der Arbeiterfrauen untermalt wurde, die mit Holzkeulen auf die Wäsche einschlugen, um sie zu glätten.
Sie seufzte, tätschelte meine Hand und sagte, das Weinen der Vögel sei aber viel schöner, und ich rief: »Jung-Maria, Vögel können doch nicht heulen!«
Wenn ich an Jung-Maria denke, fällt mir die Puppe ein, die ich überallhin mitnahm, in die Schule, zum Klavierunterricht. Sie schlief im vorderen Fach meines Rucksacks, manchmal auch neben mir auf der Couch; in die Hosentasche passte sie nicht, und meine Röcke hatten keine Taschen, ein großes Manko, das deren Verbannung ins Sibirien des Kleiderschranks rechtfertigte. Als sie eines Tages wieder einmal neben mir auf dem Boden lag, nahm Jung-Maria ihr Halstuch ab und band mir die Puppe auf den Rücken. Nun trüge ich sie wie eine koreanische Mutter ihr Baby, sagte sie, in Korea gebe es keine Kinderautos, die Frauen hätten ihre Säuglinge stets auf den Buckel gebunden, das sei praktischer, als sie in einem Häuschen vor sich herzuschieben.
Während ich mit meinem neuen Rückenschmuck durch das Wohnzimmer galoppierte, kam mir plötzlich ein Gedanke. Ob auch ich von meiner Mutter auf dem Rücken getragen worden war, fragte ich. »Von deiner Mutter?«, fragte Jung-Maria. »Ja«, antwortete ich und bettelte, sie solle es vormachen.
Sie sah mich lange an; trotz ihrer braunen Augen hatte sie einen hellen Blick, ich würde sogar sagen, einen kühlen Blick, wach und hart, an dem Tag aber war er dunkel und weich, eingerahmt von kurzen Locken. Sie hatte sich eine Dauerwelle beim Friseur gegönnt, normalerweise machte sie sie selbst, und ich durfte zusehen, wie sie die Lockenwickler anlegte, den weißen Fixierschaum aufsprühte und dabei die wunderlichsten Schimpfwörter ausstieß.
Ich erinnere mich, dass sie laut seufzte und schließlich antwortete: »Nein, Hannaja, nein. Deine Mutter hat dich nicht mehr kennengelernt, sie trennte sich sofort nach der Geburt von dir. Sie ließ dich bei dem Pfarrer zurück, der dich deinen deutschen Eltern vorstellte.«
Sie ließ mich bei dem Pfarrer zurück, der mich meinen deutschen Eltern vorstellte.
Es war dieser Satz, der mich zur Kündigung meiner Arbeit und meiner Wohnung veranlasste; der mich in ein Flugzeug steigen ließ und mich in ein Land brachte, in dem ich bloß eine Menschenseele kannte. Ich vergaß, leichte Kleidung mitzunehmen, so war ich stets auf der Suche nach Klimaanlagen, offenen Fenstern und Türen. Die ersten Tage nach der Ankunft verschlief ich, mich verwirrte der Zeitunterschied, ich glaubte, es sei abends, wenn es morgens war, das Licht irritierte mich zusätzlich, es verhielt sich anders, als ich es gewohnt war: wie das helle Licht des Frühlings im Spätsommer.
Gleich nach meiner Ankunft in Seoul unternahm ich einen Versuch, Jung-Maria zu finden. Ihr Name, Yŏnghee Jang, machte es mir unmöglich, zu normal ist er, zu gewöhnlich, zu viele tragen diesen Namen.
Schließlich brach ich zum Ordenshaus der Maryknoll-Brüder auf, im Rucksack einen Stadtplan und ein Wörterbuch, in der Hoffnung, eine Arbeit zu bekommen, mit der ich mich fürs Erste über Wasser halten konnte.
Blue moon, sang Billie Holiday; tatsächlich befanden wir uns auf einem blauen Mond, zwischen uns eine Stehlampe, deren Schein die niedrigen Tische und Kissen, die über dem Holzboden verstreut waren, sowie den gläsernen Aschenbecher mit einem bläulichen Schimmer überzog, sogar den Qualm blau einfärbte, der der Zigarette entwich – und Yunhos Profil, das ich in Ruhe studieren konnte, da er stets meinem Blick auswich. Mit der Zeit meinte ich keinen Menschen vor mir zu haben, sondern eine Fotografie, ein Bild aus Licht und Schatten, in dem eine Stimme lebte, und etwas Rauch; es passte in diese Welt, in der ich die Tage durchträumte und die Nächte durchwachte.
»Hanna«, sagte er, und aus seinem Mund klang es wie hana, eins auf Koreanisch, und in meinem Kopf zählte ich weiter, dul, zwei, ßeht, drei, neht, vier, »werden Sie nach Ihren Eltern suchen?«
Ich hatte auf diese Frage gewartet; ich hatte gehofft, vergeblich zu warten.
»Wahrscheinlich. Das habe ich noch nicht entschieden.«
Er nickte. Ich müsse mir das gut überlegen, wer weiß, wen ich finden würde. Selbst die Menschen, die man gut kenne, überraschen einen mit ihrem geheimen Leben.
»Mit ihrem geheimen Leben?«
»Ja. Jeder besitzt Geheimnisse. Sie doch auch.«
»Und Sie?«
Er hielt meinem Blick stand, wechselte aber das Thema.
»Habe ich das richtig verstanden, Sie sind Übersetzerin?«
Ich hatte mir vorgenommen, vorsichtig zu sein, also sagte ich: »Gelegentlich.«
»Und aus welchen Sprachen übersetzen Sie? Aus dem Englischen, aus dem Koreanischen?«
»Aus dem Englischen ins Deutsche.«
»Und aus dem Koreanischen?«
»Seltener.«
Ich griff nach einer Zigarette. Die letzte hatte ich vor einem Jahr geraucht. »Warum fragen Sie?«
»Ich möchte, dass Sie diesen Brief für mich übersetzen.«
»Einen Brief?«
Er habe ihn vor ein paar Tagen erhalten, einen Brief aus Amerika, aber er könne ihn nicht lesen. Yunho legte ihn auf den Tisch, der Umschlag war schneeweiß, die Adresse in Druckbuchstaben geschrieben, die Handschrift ungelenk. Er räusperte sich und murmelte, als wollte er die Worte vor mir verstecken, er glaube, dass er wichtige Wörter enthalte, ich müsse ihm sagen, welche.
Er gab mir das Kuvert, ich öffnete es und entfaltete das Blatt. Der Absender war ein Altersheim in Richmond, Virginia. Mrs Linda Miller schrieb, dass Mrs Eve Lewis in der Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten des letzten Monats friedlich von uns gegangen sei. Da Mr Lewis bereits tot sei und Mrs Lewis keine Kinder habe, auch keine anderen Verwandten in den USA, habe sich die Heimverwaltung dazu entschlossen, die Benachrichtigung an die einzige Adresse zu senden, die man in Mrs Lewis’ Unterlagen gefunden habe. Vielleicht könne der Adressat Mrs Lewis’ Verwandte in Südkorea von ihrem Dahinscheiden informieren?
Mit aufrichtigem Dank und Beileid
Linda Miller
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als ich bemerkte, dass Yunho weinte. Ich drückte die Zigarette aus, setzte mich neben ihn auf den Boden und reichte ihm mein Taschentuch; es war zerknüllt. Er nahm es, wischte die Tränen vom Brief und sagte, Eve sei also tot.
»Eve.«
Er wiederholte, diesmal mit dem Anflug eines Lächelns: »Eve Moon.«
Er habe ihren Namen nie richtig aussprechen können, im Koreanischen gebe es kein W oder V, nur B. Er sah mich nachdenklich an. Wieso habe sie sich bloß solch einen schwierigen Namen ausgesucht?
Er wühlte in seiner Hosentasche, zog eine Packung Zigaretten hervor. Ich sagte, ohne viel nachzudenken, vielleicht habe sie nur von Amerikanern angesprochen werden wollen. Er nahm einen tiefen Zug und nickte bedächtig, das könne schon sein. Sein Schweigen und das Rauschen der Platte zwangen mich zu sprechen, und ich hörte mich fragen: »Wer war Eve Moon?«
Er sah mich an, mit klaren, stillen Augen. Das sei eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gebe.
»Möchten Sie wirklich wissen, wer Eve war?«
Er klopfte die letzte Zigarette aus der Packung und zündete sie an.
»Die einfache Antwort lautet: Sie war Mrs Henry Lewis, Eve Lewis. Sie war allerdings auch Eve Moon, Yunmee Moon und Mizuki Takahashi. Sie hatte viele Namen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wo und wann ich sie zum ersten Mal gesehen habe: in Johnnys kleinem Zimmer in Seoul, vor mehr als fünfzig Jahren …«
Von diesem Nachmittag an trafen wir uns täglich in diesem Raum, in dem alle Uhren anders gingen, die Kuckucksuhr an der Wand schneller war als der Wecker auf der Anrichte und dieser flinker als die Standuhr mit dem tiefen Gong, und Yunho erzählte, seine Stimme unterlegt von jenem mehrstimmigen Ticken, einem Rhythmus, dem er sich nie entzog, von den Ereignissen in Seoul und Osaka, in den Jahren 1959 und 1960.
Seoul, 1959