Über Helga Schütz

Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 übersiedelte sie nach Dresden. Sie erlernte den Beruf der Gärtnerin, anschließend studierte sie an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg und schloß als Diplom-Dramaturgin ab. Sie schrieb Drehbücher und Szenarien für Spiel- und Dokumentarfilme. Seit 1962 ist sie freie Autorin, 1993 erhielt sie eine Professur für Drehbuchschreiben an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Unter anderem gewann sie den Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF und der Stadt Mainz und den Brandenburgischen Literaturpreis. Helga Schütz lebt in Potsdam.

Zuletzt erschienen die Romane Grenze zum gestrigen Tag (2000), Knietief im Paradies (2005) und Sepia (2012).

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Von ihr, nur von ihr hängt das häusliche Glück und der Friede ab. Alle erwarten es so, die Kinder und der Gefährte, die Erpel im Gehege, das Pferd im Stall, am dringlichsten sie selbst. Die Ich-Erzählerin liebt ihre Pflichten, und sie ist froh, wenn ihre Sorgen aussehen wie die anderer Leute auch. Eine Mauer aus Aufgaben soll sie schützen vor Fluchtgedanken und Verzagen, denn nichts ist normal an diesem Leben im verschrobenen Haus am See. Mit aller Kraft übt sie das Augenverschließen: vor den Grenztürmen, den Minen und den Wachhunden am Ende des Gartens, vor den nicht gestellten Fragen an Hugo, den Partner, vor der unaufhaltsamen Krankheit der Tochter. Doch Stück für Stück entgleitet ihr dieses Leben. Nach Bettys Tod ist Hugos Ausbürgerung schon jenseits des Faßbaren.

Helga Schütz gelingt in diesem Roman jene seltene Heiterkeit und Leichtigkeit, durch die sich die schmerzvollen Dinge um so nachhaltiger mitteilen.

»Der Roman von Helga Schütz ist eines der Erinnerung bewahrenden Bücher, die wir im Jahr zehn der deutschen Einheit brauchen – gegen das Verschleifen, gegen das Verwischen, gegen das Gleichmachen, gegen das Vergessen.« Konrad Franke, Süddeutsche Zeitung

»Anders als Jirgl und Hilbig, die in den Bergwerken des Ostens nach den schwärzesten aller Sätze graben, steht Helga Schütz, nicht allzu weit von Sarah Kirsch und in den nämlichen Gummistiefeln, im Garten und liebkost in familiär erdzugewandter Prosa die Elemente, den Gefährten und das Haselgesträuch. Jede Zeile erzählt von der Diktatur, ohne von ihr versehrt worden zu sein. Man glaubt in solchen Zeugnissen lauter letzte Töne zu hören, die so verspätet wie das Sternenlicht bei uns ankommen und die morgen verschwunden sein werden.« Iris Radisch, DIE ZEIT

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Helga Schütz

Grenze zum gestrigen Tag

Roman

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Impressum

Asche. Mindestens sieben Eimer. Asche stürzt aus der Ofentür. Schwarze Lava und Staub. Wärmereste des gestrigen Tages. Asche fliegt, klebt in Nase und Auge, kriecht in den Schlossermantel, der meine Blöße bedeckt, hinten besser als vorn, weil Knöpfe fehlen. Ich drehe den Fidibus, zündle. Ich schaufle Asche, schichte die Schlacke zuoberst, ich packe die Henkel, gehe mit Schwung aus dem Kreuz. Ein hochträchtiger Maulwurf, so schleppe ich die Eimer aus dem Keller in den Kübel. Draußen fährt der Frost in mein spärliches Fell. Zwickt, zwackt in das Fleisch. So schnell kann ich den Deckel nicht schließen, als daß nicht eine schwefelstinkende Wolke entfährt.

Auf dem sauberen Rost knistern derweil meine schlau aufgekreuzten Scheite.

Feuer. Die Augen tränen. Wieder schaufle ich Asche zu Asche, eimervoll, zum Überlaufen. Zertrümmere mit dem Ofenspitz meinen größten Brocken. Den habe ich aufgehoben bis zum Schluß. Eine bewunderungswürdige Lavatafel aus gestriger Höllenglut. Zeichenbesetzt, beschrieben. Ein Gebirge, ein Dorf, das trockene Bett eines Baches, barocke Häuser, Ruinen, der Zwinger, die Frauenkirche, Bombentrichter. Was ich mir denken will.

Ich schaufle die Braunkohlenbriketts auf die hellen Flammen. Im schwarzen Ofenloch knistert das Holz. Ich schaufle obenauf guten Koks, bis der Kessel zwischen den Rippen voll ist. Es zündelt tief unter der Kohle. So muß es sein. Die Flammen haben zu tun. Ich fluche nicht mehr. Ich hänge den Aschemantel an den Schaufelstiel und horche zufrieden. So wie ich bin, steige ich nun hinauf. Wieder ist mir das Frührot drüben hinter den Bäumen zuvorgekommen. Der Vorhang hebt sich. Meine Rohre klopfen, es tickt in der Wand. Gleich wird uns warm. Dem Gefährten und dem Kinde in seiner Kammer.

Der Rauch vom Nachbarschornstein zieht mit einem Nordwestwind über den See.

Man kann unsere Sünden überall riechen, besonders bei hoher Luftfeuchtigkeit und Windstille. Schwefelasche. Die Schornsteine faulen allmählich. Die Birken ringsherum verlieren die Köpfe. Immer tut sich etwas. Schlechtes und Gutes.

Manchmal kommt die Aufregung von den Tieren.

Von Tieren soll hier manchmal die Rede sein.

Von einer Katze, von Enten, von Grenzhunden und von Pferden.

Noch zu Zeiten des Stacheldrahtes ist es gewesen, noch vor den Betonjahrzehnten.

Ein mannshoher Wulst zieht sich von Nord nach Süd. Die Grenze.

Sie schneidet uns ab von der Welt. Manchmal bereden wir den Draht und die Minen im Verhau und die Gewehrläufe in den Wachtürmen. Meist denken wir kurz in der Frühe das Wort Tod. Besonders im Winter, wenn die kahlen Bäume uns weit blicken lassen. Besonders an einem grauen Frostmorgen, wenn die Heizungsrohre ticken.

Die Katze ist stolz und einsam. Schwarz bis in die Ohren, aber die Pfoten, der Latz und die Schwanzspitze sind weiß. Wir kennen sie noch lange nicht.

Es ist ein lichthoher Herbstmorgen. Das Laub hat sich in Mulden gesammelt. Das Waldgras hat sich schon hingelegt. Da streift sie meine Gedanken. Sie tritt auf jenes Wort. Sie geht im gleichmäßigen Vierbeinerschritt parallel zum Stacheldraht. Aber in gehörigem Abstand. Sie kommt und geht jeden Tag. Immer zu der erwähnten Morgenstunde.

Wir wohnen am See. Das Haus lümmelt an der Uferböschung, es schaut mit den großen Fenstern in die schöne Richtung. Wo die Sonne aufgeht. Auf drübenscher Seite, am anderen Ufer, liegt das Jenseits, der freie Markt, die westliche Welt. Mithin, für uns geht im Westen die Sonne auf.

Es ist kein Wunder, daß unser Niklas mit einer solchen Meinung in der Schule beim Erdkundelehrer Ärger bekommt. Nach Gesetz muß die Sonne im Osten aufgehen. Wir sehen das jeden Tag anders.

Der Himmel hat Zacken und Stacheln, spitze Umrisse hat der Himmel.

Und damit geht es Schritt für Schritt ins Leben. Man übt das Augenverschließen.

Der Tag steigt über den Waldsaum. Im Hochsommer immer ungefähr dort, wo zu Besuchstagen Flugzeuge im Landeanflug verschwinden. Sondermaschinen der englischen Königin. Wir wissen schon ein paar Wochen vorher, daß die Königin kommt. Dudelsäcke probieren die Hymne und Marschmusik für den Gleichschritt. Man hört es von weit. Die westlichen Alliierten kümmern sich um den Status von Berlin. Die Franzosen, die Amerikaner, jeder hat einen Flugplatz. Der Flugplatz der Engländer liegt drüben hinter dem Wald.

Der Wind trägt uns manches zu. Im Sommer sogar das, was die Biertrinker in der Strandbaude am anderen Ufer reden.

Der See dampft. Ein Fischerboot läßt sich vom Westen herübertreiben. Schläft denn der Kerl? Oder dreht der mit Absicht so leichtfertig Richtung Osten? Der traut sich was. Noch mehr riskieren die Schlittschuhläufer und Schwimmer. Es ist nur ein Zeichen von Nachsicht oder Politik, daß sie in ihrer Tollheit noch leben. Auf dem Atlas verläuft die genaue Grenze in der Mitte des Sees. Das Wasser ist tief. Kein Balken hält die windgetriebenen Wellen. Die Aale und Havelzander leben wie in alten Zeiten. Die Vögel haben sowieso wenig Gesetz im Leibe. Keine Not mit der Schwerkraft, keinen Kummer vor Grenzen. In nämlichem Geiste scheinen die jenseitigen Schlittschuhläufer zu leben. Mit Musik und Sonntagslaune, so treiben sie bis an unser verdrahtetes Ufer.

Die Wächter auf den Türmen haben nicht geschossen. Bis jetzt nicht. Jedenfalls nicht mit Absicht.

Die kleine Regine war auf dem Pausenspielplatz hinter der Behelfsschule im Grenzgebiet, wo die geburtenstarken Jahrgänge der Klassen eins bis drei unterrichtet werden, vom dicken Querast der Weide gefallen. Plötzlich, wie tot. Der Doktor vom Landambulatorium hatte das Kind in seinem eigenen Auto ins Stadtkrankenhaus gefahren. Aus der Röntgenabteilung ging’s gleich in die Chirurgie. Ein Projektil hätte in ihrer Schulter gesteckt. Aber das war nur ein Gerücht, denn unser Doktor durfte bei der Operation nicht dabeisein. Sicherheitskräfte bewachten die Türen. Sie hatten die Röntgenaufnahmen sofort mitgenommen. Die Ärzte und das Personal bekamen verschärfte Schweigepflicht. Sicherlich ein Blindschuß, so vermuteten die Alten im Dorf, die mit Flinten und Kugeln noch vom Krieg her ihre Erfahrungen hatten. Regine hat Glück gehabt. Die Wunde heilte schnell. Die Weide wurde gefällt, die dicken Holzkloben abtransportiert. Die Pausenspiele hinter dem Gebäude verboten. Regine konnte sich an nichts erinnern. Sie hatte vergessen, daß sie von einem Ast gefallen war. Wenn sie es nicht einmal selber weiß. Auf Gerüchte soll man nichts geben. Das kleine sternförmige Zeichen unter dem Schlüsselbein?

Das ist schon lange, schon immer, erklärt Regine.

Einmal, beim Mittagessen, Linsen mit Rauchfleisch, das Gebell eines Hundes, ein lästiges Gejaule, dann ein Wimmern. Eine Weile wollten wir glauben, daß es Rollo wäre. Der raffinierte, ungezogene Heuler. Doch dann warfen wir die Löffel hin, wir rannten aus der Hintertür, den Garten hinunter. Hugo und Niklas. Ich hinterher. Ein fremder braunlockiger Hund hing mit beiden Ohren im Stacheldraht, mitten im Gestrick. Er hatte schon alles versucht, eine Mulde getreten, das Fell zerrissen, er kam nicht mehr los. Er lag nun still, gab nur noch wimmernde Laute. Der Nachbar stand oben neben seiner Wohnhütte. Er kam die Böschung herunter, vergaß den Abstand, den er sonst hielt, weil wir nicht riechen sollten, wenn er einen gehoben hatte. Verdammt. Wir standen da, mit hängenden Schultern. Hilflos. Der Nachbar drehte sich fluchend um. Verdammt. Er stieg hoch zum Werkzeugschuppen. Er kam mit einer Drahtschere zurück. Auch eine Kneifzange brachte er mit. Zack, murmelte er. Wie bitte? fragte Hugo. Der Nachbar schüttelte den Kopf. Er sprach mit dem Werkzeug. Verdammt, sagte er. Verdammt. Fluch und Gebet. Wir nickten. Er zog ein Taschentuch, schnaubte, um sich fertigzumachen. Er kniete hin, scharrte sich eine Position zum Liegen. Wir redeten dem Tier gut zu. Guter Hund. Versprachen einen Rauchfleischknochen, sogar unser ganzes Linsengericht. Er sollte nur weiter stillhalten. Er schwieg tatsächlich. Uns stockte der Atem. Der Nachbar schob sich auf dem Bauch bis hin zum Stacheldraht. Er setzte die Schere an. Zack. Dreimal sagte er zack. Er bog den äußeren Draht beiseite. Der Hund im inneren Gestrick rührte sich nicht. Hatte der beschwipste Nachbar vergessen, wo er zu Hause war und was er tat? – Die Schere, der dreimal zerschnittene Stacheldraht. Das faustgroße Loch. Auf die Verletzung des Drahtes stand Gefängnis oder Tod. Die Zeitungen nannten die Sperre damals noch Antifaschistischer Schutzwall, der Nachbar hatte mit unserer Beihilfe hineingekniffen, ein Loch geschnitten, den Schutzwall kaputtgemacht. Grenzverletzer. Kriegstreiber.

Wir schnauzten das Kind an. Niklas sollte sich in Entfernung auf den Weidenstamm setzen. Hugo schob auch mich weg. Zieh ab, geh zu dem Jungen. Eine Mine konnte hochgehen. Ein Schuß konnte fallen.

Das Knirschen der Drahtschere. Zack. Sommerliches Getöne. Haubentaucher. Ein Frosch. Mildes Blau. Ein schöner Tag im Juni, so müßte ich mich erinnern.

Hugo holte sich die Anglerjacke von Niklas. Er wickelte sich die Jacke um die Hand, knotete die Ärmel ums Gelenk. Ich knickte Blütendolden vom Holunder, bog die Äste, zog Zweige zu mir herunter. Alles, um dem Wachturm ein freundliches Bild zu malen. Die Holunderblütensammlerin. Holundertee, ein altes Hausmittel gegen Fieber. Ich pflückte noch mehr. In nämlicher Absicht zog ein Sperber über den See. Weil wir den Frieden gewährleisten wollten. Friedensholundertee. Friede über uns.

Auf dem Trampelpfad zwischen hüfthohem Beifuß näherte sich ein Grenzsoldat. Ein Fernglas, ein Gewehr. Die Patronen. Unser Leben. Soviel hing an dem jungen Kerl.

Flucht und auf der Flucht erschossen. Oder bleiben und mit unseren betagten Bäumen reden. Ein Ende abwarten. Wie der Nachbar. Der Hund. Die brütende Amsel vor dem Sperber. Der nickende Windhalm vor dem Stiefel.

Der Soldat legte sein ganzes eisernes Gehänge ins Gras. Er zog die Uniformärmel über die Hände und griff in das innere Drahtgeschlinge, zusammen mit Hugo zerrte er ein Loch, groß genug, daß der Nachbar flach auf dem Bauch bis fast zum Wasser durchrobben konnte. Der Hund hing mit den Ohren so fest in den Stacheln, daß man sich nun wieder entscheiden mußte. Ohren ab oder das andere, das Risiko. Der Nachbar kniff nicht in die Ohren, er kniff viermal kräftig in den Draht. Der Hund war frei. Er kroch aus dem Loch. Stumm lief er von einem zum anderen. Der Nachbar hob ihn auf den Arm. Zottlig schwarzbraun, ein ausgewachsener schwerer Kerl. Stacheldraht an den Ohren.

Wo bist du denn her? fragten wir so schön dumm wie nur möglich und weil es gutgegangen war.

Wahrscheinlich von drüben, meinte der Nachbar. Wahrscheinlich ein Westhund. Scheint ein guter Schwimmer zu sein. Der Grenzsoldat trat mit dem Stiefel das Loch im Drahtverhau zu. Er nahm das Gewehr. Jetzt wurde er sich der Übertretung bewußt und der anderen Gewehre in den Türmen rings um die Stadt. Es handelte sich um einen groben Verstoß, eine Grenzverletzung, einen Anschlag auf die Sicherheit des Weltfriedens. Von Befehls wegen steht darauf ein Verfahren.

Verlassen Sie die Anlage, sagte der Grenzsoldat. Der pflichtvergessene Junge. Er drehte uns militärisch den Rücken.

Danke, murmelten wir. Er stiefelte auf dem Trampelpfad Richtung Turm.

Niklas hatte den Topf mit Linsen herbeigeholt. Aber Linsen wollte der Hund nicht. Er lehnte stumm schnuppernd ab.

Vielleicht gewöhnt er sich an uns, sagte der Nachbar.

Der Hund blieb fortan im Gelände nebenan. Dort bewachte er die Schuppen, die der Nachbar einen nach dem anderen neben der Wohn- und der neuen Hundehütte baute. Buden aus grauem Gipskarton. Asbest, genauer gesagt.

Der Nachbar baut und baut. Der Hund mit den Drahtgehängen in den Ohren schaut zu. Und immer schweigend. Den Lärm macht Rollo, der Hund von der Bushaltestelle, versteckt hinter einer Ligusterhecke. Der bellt für zehne, so heißt es im Dorf. Der Nachbar hat eine Sammelstelle für Flaschen und Altpapier aufgemacht. SERO-Lehmann, so steht es am sperrangelweit offenen Tor. Der Hund kann ja aufpassen. Jedenfalls vorn. Hinten sind die Wachtürme. Der leere Weltraum. Auf den Landkarten ein weißer Fleck. Von da kann kaum etwas kommen. Nur Musik und, wie gesagt, Biertrinkerreden. Und einmal im Sommer zur Zeit der Holunderblüte die Aufregung mit dem Hund.

Von der schwarzen Katze soll noch die Rede sein.

Wenn ich nach dem Feuerschüren am Westfenster stehe, wenn ich in den Schenkeln spüre, wie die Wärme in die Heizrippen steigt, sehe ich sie unten am Drahtverhau kommen. Die Birke streut restliches Laub auf den Schnee. Die Sperlinge hängen im dürren Beifuß, unerschrocken. Ein instinktloser Schwarm. Die Katze zieht in ihrer ausgetretenen Spur ihre tägliche Bahn. Von rechts nach links. Sie schneidet die Nacht vom Tage, die Erkenntnis von der Schuld. Wehe, du kneifst ein Loch in den Verhau. Die Berührung des Zustandes dieser Welt heißt Tod. Du würdest die stationierten Raketen wecken. Den Knopf drücken, die Lunte des Weltfeuers zünden. Koexistenz, mit dem Namen etikettieren die Russen und Amerikaner dieses Bild. Ich warte, bis die Katze in den Büschen verschwindet. Sie hat einen Strich durch meine Gedanken gezogen. Ich stehe am Fenster, ich warte auf die Wärme und auf die Katze. Erst wenn der Strich gemacht ist, kann ich beginnen. Von rechts nach links – gelingt’s. Es ist eine fremde Katze. Niemand weiß, wo sie hingehört. Sie könnte eine von drüben sein.

Es braucht ein langes Jahr, ehe sie die Schwelle zu unserer Hintertür überschreitet.

Durch die Küchentür zieht der Dampf ab, vom Wecktopf und von der Waschmaschine. Krautschwaden flüchten aus dem Kochtopf in die Büsche oder hinauf in die Kronen der Birken. Zwischen den Baumstämmen hängt seit Menschengedenken ein Strick für Windeln und Handtücher. Für die große Wäsche ziehen wir extra eine neue unverwüstliche Plasteleine kreuz und quer. So ist unser Leben, weil wir eine Hintertür haben. Denn die Küchentür heißt Hintertür.

Im Winter wird Gekochtes, Milchreis zum Beispiel, zum Abkühlen einfach eine Weile vor diese Tür auf das Bänkchen gesetzt. Kann sein in den frischen Schnee, der seit der vergangenen Nacht die Stätte bedeckt, alles glatt und unbekümmert, die Treppe, die Simse, die Bank. Spurloses Weiß.

Einmal, es war noch im Herbst in der schneefreien Zeit, haben alle Hunde des Ortes, besonders aber der Nachbarhund und Rollo, mit unseren Verdächtigungen leben müssen. Der Milchreis. Die Stürze lag vor der Tür. Der Topf war leer. Alles ratziputz weg. Erst der Milchreis, als nächstes die Wurst, die sich draußen frisch halten sollte. Spurlos verschwunden. Tatsächlich spurlos. Denn Wochen später, wir hatten den Verlust inzwischen verschmerzt, sogar schon vergessen, war wieder eine zum Frischhalten vor die Tür gehängte Leberwurst fort. Aber da lag Schnee. Wunderbares Weiß. Der Schnee hätte den Beweis liefern müssen. Doch die Wurst war fort und der Schnee glatt, sauber, frisch, ohne Anhaltspunkte. Spurlos. Spurlos verschwunden. Es war gegen jede Vermutung und Möglichkeit. Eine Katze oder ein Hund konnte es nicht gewesen sein. Weder Rollo noch der vom Nachbarn. Diesmal nicht. Und die vorigen Diebereien?

Wir glaubten unterdessen an Geister, an solche, die Flügel und guten Hunger hatten. Wurst- und Milchreisfresser. Und außerdem mußten sie ziemlich schlau sein. Die Wurst hatte in einem Beutel gesteckt und war mit einer Schnur an einen Haken gebunden. Sie mußten Henkersknoten lösen und Stürzen aus der Topfrille heben können.

Unsere Neugier war groß. Wir wollten nichts mehr opfern, wir wollten es wissen.

Wir hängten einen mit Papier ausgestopften Beutel auf. Stellten den leeren Deckeltopf genau an den Platz.

Wir lauschten hinter der Tür.

Aber die Geister ließen sich durch unsere Attrappen nicht locken. Niemand kam.

Der Wind hatte den Schnee bis unter das Dach geweht.

Ein hauchdünner Schleier lag vor der Hintertür.

Mit meinen zwei Eimern voll Asche entdeckte ich eines Tages die Spur. Es war ihre Spur. In den Schnee geschrieben. Ihr Kommen, das unentschlossene Verweilen und das Gehen. Unter der gefrorenen Wäsche durch, dann im Tiefschnee hangabwärts bis zum ausgetretenen Katzenpfad am Stacheldraht. An der Grenze entlang. Wo sie seit Gedenken als schwarze Katze hingehörte. Wo ich sie täglich erwartete. Nun war sie zum erstenmal und mit Absicht heraufgekommen. Katzenspuren im Schnee. Das war ein Beweis.

Am nächsten Morgen stellte ich eine Schüssel handwarme Milch neben die Bank. Ich beobachtete, wie sie mit schiefem Blick die Milch bestaunte. Ich ließ sie in Ruhe.

Sie putzte die Schüssel, die Katzenschüssel mit der Katzenmilch, jeden Tag, darüber ging der Winter hin, sie fraß die Sprotten oder einen größeren Fischkopf. Ich legte ein Stück Wurst auf die Schwelle. Sie hielt Abstand. Fraß, wenn ich weg war. Sie kam näher. Einauge. Ein Blick wie aus der Mitte der Nacht. Das andere Auge war zugewachsenen. Eine vernarbte Wunde.

Einauge. Miez, rufe ich und denke: Wo hast du dir das Auge ausgerissen?

Ich lasse die Tür auf. Sie bleibt auf der Schwelle. Einmal ist sie hereingekommen. Einmal habe ich grade noch ihren schwarzen Schwanz mit der weißen Spitze gesehen. Flüchtend. Die Tür schwingt. Sie ist wieder im Haus gewesen. Wir reden leise, als könnte sie uns draußen noch hören. Sie hat den Vormittag auf der Bank gelegen.

Das Frühjahr und den Sommer hat es gedauert. Nun lebt sie bei uns. Sie heißt Einaug oder Mieze. Sie hat uns mit ihrem einen Auge erkannt. Unsere Lage. Wie wir stolpern. Unsere Fantasiegeschichten. Unsere Schuld sieht sie nicht. Vielleicht war es Absicht. Sie hat sich das Schuldauge ausgestochen. Ich bleibe lange mit ihr per Sie. Pluralis majestatis. Will Sie hinaus? frage ich. Sie dreht den Kopf schief, tut, als wollte sie etwas sagen, und ich öffne die Tür.

Wir wissen unterdes, wer die Wurst geklaut hat. Die Hunde und die Katze, sämtliches Fußvolk, haben wir fälschlich verdächtigt. Elstern sind es gewesen. Niklas hat eine auf frischer Tat erwischt. Wie sie, während ich noch die Kartoffelsäcke in den Keller trage, mit dem Schnabel eine Pfannkuchentüte aus dem Fahrradkorb zerrt. Wie sie wegfliegt. Auf der Birke sitzt. Wie eine andere Elster sich draufstürzt. Wie der Elsternstreit ausbricht und endet.

Elstern sind es gewesen. Wie im Lesebuch. Wie in der Oper. Ich finde einen lange vermißten Kochtopf unter der Birke im hohen Gras. Warum sind wir nicht gleich darauf gekommen?

Niklas sagt, darum. Weil Lieder nicht stimmen. So sind die Kinder. So wenig Glaube.

Manchmal sitzt einer der Hunde, der vom Nachbarn oder Rollo, mit der Katze beisammen. Sie sitzen auf der Treppe und beobachten die Vögel, die Sperlingsschwärme, ihren Leichtsinn. Aber nur, wenn es unserer Katze gefällt. Es ist ihr Haus und ihr Garten. Wir sind ihre Familie. Kommt ihr einer der beiden Hunde ungelegen, springt sie ihm fauchend ins Kreuz.

Gern sitzt sie auf einer lila Decke. Weil es schön aussieht. Oder auf dem Fensterbrett genau in der Mitte. Sitzt und gähnt in den Tag. Wenn ich unterwegs bin, wartet sie vor dem Tor. Sie rennt mir nicht entgegen, wie der Hund es macht, wenn der Nachbar nach Hause kommt. Sie wartet, bis ich an ihr vorbeigegangen bin. Dann kommt sie mir nach.

Ein Augusttag verändert unser Leben. Wir erfahren auf einmal, wie wir zusammengehören. Es geschieht, weil Betty gekommen ist. Ich habe sie euch mitgebracht. 54 cm groß, Augen wie der Augusthimmel, winzige Hugohände, Entenkükenhaar.

Voll Hoffnung bin ich vor einer Woche losgefahren. Das bereitstehende Gepäck. Mein naturgegebener Gattungsauftrag. Ich bin bereit. Ich habe ein Taxi bestellt. Ihr zu Hause mußtet euch, so allein und abgeschnitten vom Geschehen, mühsam mit ein wenig Alltag aushelfen. Schule und soviel Arbeit wie möglich. Die Teerpappe auf dem Dach ausbessern. Das Fallrohr muß künftighin fest sein. Die Rinne verklebt. Damit es nicht reinregnet. Damit euch die Zeit vergeht und alles gerichtet ist für nachher.

Ich bin weder zu früh noch zu spät im Krankenhaus angekommen. Für hohe Gefühle und Fürbitten bleibt keine Zeit. Ich muß mich gleich um meinen Körper kümmern. Die Atemtechnik. Dann das Pressen. Eine Zweitgebärende.

Die Aufnahme fragt: Kenne ich Sie? Sie weiß gleich selbst: Nikolaus vor sechs Jahren. Diesmal wird es leichter, und es wird schneller gehen.

Sie hatte recht. Kurz vor Dienstschluß legt sie mir das gewickelte Kind in den Arm und reicht mir gleich auch das Telefon.

Glück, sage ich. Mehr Wahrheit habe ich nicht parat. Das Wesen rührt sich. Die Hugohändchen fassen meinen Finger. Meine Stimme verkündigt euch da draußen in der Welt: Soeben wurde unsere Betty geboren. Ich lache gleich über meine gesalbten Worte. Wir lachen oft darüber. Soeben.

Betty will nicht wachsen. Die Waage zeigt es an. Erst fehlen hundert Gramm, dann zweihundert.

Wir kochen Reisschleim. Wir versuchen es mit Trockenmilch. Viel frischer Luft. Pferdemark und Liedern. Hugo singt am Abend mit seiner schönen Stimme. Heißa Kathreinerle. Am Morgen läuft Niklas mit vollgestopften runden Backen an ihr Bett und schmatzt ihr was vor. Damit Betty Essenlust bekommt.

Die Katze senkt das sehende Auge. Wir lauschen. Einaug geht mir den Weg durch die Küchentür voran. Im Birkenschatten geschützt von einer Tüllgardine der Kinderwagen. Ein zartes Schaukeln sagt uns, Betty schläft nicht mehr. Eine feine Stimme. Wehlaute. Bettys rudernde Hände, ihr glühend heißes Gesicht. Sie hat Fieber.

Die Ärzte erklären uns, daß sie Betty dabehalten wollen, weil sie an ihrem Hals einen kleinen Schnitt setzen müssen. Es dauert zwei Wochen. Danach ist alles gut. Betty trinkt. Sie ißt den Brei. Hält den Kopf schief, lächelt mich an. Weil sie so fröhlich plappert, schieben wir das Smaragd-Gerät unter ihr Wiegenbett. Damit wir ihre Stimme auf Tonband aufnehmen und an die Großeltern schicken können. Wir hören uns die Aufnahme an. Am liebsten, wenn Freunde uns mutig im Grenzhaus besuchen. Es ist ein Wagnis für sie, zu uns zu kommen, und nun erst recht. Stolze Eltern. Wir sind unerbittlich. Hört mal, das hat uns das Kindchen gestern erzählt. In der vorigen Nacht. Die langen Pausen. Wir neigen unser Ohr, das Gerät auf dem Tisch, das Band knistert, wir sind durch nichts abzubringen. Hugo tauscht mit mir einen zärtlichen Blick, weil wir wissen, was noch kommt. Viel, erspäht unser Besuch an der sich gemächlich drehenden Spule. Langsam schleift das Band über den Tonkopf. Unsere Tochter Elisabeth. Zwischendurch schleiche ich mich zu ihrer Wiege. Sie schläft, die süßen Lippen zucken, lächeln. Wer schickt dir so einen fröhlichen Traum? Ich kehre zurück zu unserem Besuch. Eine Anmerkung aus der Runde macht mich wach. Es wird ewig so bleiben, zu dem Schluß seid ihr wieder gekommen. Ihr redet vom schmutzigen Frieden in dieser Welt. Ich sage: Liebe Freunde, Betty ist die Schönste im ganzen Land.

Ich verwahre die Töne im Karton. Hugo hat das Datum auf die Kassetten geschrieben. Die Uhrzeit. Unsere Betty am Morgen. Betty antwortet der Taube. Prinzessin Goldhaar genießt das Bad. Goldhaar unter Nachbars Kirschbaum. Für später zum Erinnern. Damit uns nichts verlorengeht.

Betty ist aufgewacht. Hugo hebt das Kind auf den Arm. Auch Niklas kommt verschlafen, um zu hören, wer vorhin bei uns war.

Niemand. Hugo zwinkert verschwörerisch. Niklas zwinkert zurück.

Ich verpulvere in Gewinnerlaune unseren letzten Blitz für ein Foto. Hugo. Niklas. Betty. Meine Verschwörer im Nest. Mai 1964.

Mit soviel Gewißheit leben wir beinahe das ganze Jahr. Die Waage für Betty brauchen wir nicht mehr. Ich schenke sie dem Ambulatorium, damit können nun andere Mütter ihre Kinder abwiegen.

Was hat das zu bedeuten? Eine schwere Kettenraupe mit breitem Blatt schiebt den Stacheldrahtwulst in den See. Kräne und Lastwagen folgen. Betonsegmente werden aufgetürmt. Alles an einem Tag. In wenigen Stunden ist die Mauer fertig. Nun ist der Ring geschlossen. Unser Seeufer sei der letzte Abschnitt mit Stacheldraht gewesen. Ein Schandfleck und relativ instabil. Unter Brüdern mußte man es sich außerdem eingestehen: Der Draht, der Rost, die Stacheln weckten Gedanken an die jüngste Geschichte. Intern gesagt, an ein KZ. Die Grenze sollte ringsherum nicht nur todsicher, sondern auch modern sein. Statt Stacheldraht nun Beton. Sauber, undurchsichtig, stabil. Zugegeben, eine Zierde ist das auch nicht gerade. So sagen die Frömmsten. Auch der glatte Betonwulst sitzt nicht aus Schönheitsgründen auf der Mauer. Oder der stumpfe Überhang. Jeder Kletterexperte sieht sofort: Das packst du nicht. Von dort oben rutschst du wieder dahin, wo du hingehörst. Wie der Laubfrosch im Glas. Plauz!, liegst du auf dem Kreuz. Versuche gibt es immer wieder. Fluchtversuche. Und Leute, die sagen: So einer ist selber schuld, wenn ihn dabei die blauen Bohnen treffen. Das sieht doch ein Blinder, wie so was von verboten das ist.

Der Überhang hat seinen praktischen Sinn und so auch die Platzpatronen.

Vom Fenster aus kann ich die kleinen Metallstäbe im Sandstreifen erkennen. Gut verteilt unter dem feingesponnenen Stolperdraht.

Wenn ich will, sehe ich die Lücken in der Perfektion. Schlau wie Edgar. Wie Edgar aus Shakespeares King Lear. And worse I may be yet: the worst is not so long as we can say: This is the worst. – Es kann noch schlimmer gehn; ’s ist nicht das Schlimmste, solange man sagen kann: Dies ist das Schlimmste.

Es kann immer noch schlimmer kommen.

Der Nachbar baut übers Jahr eine Pyramide aus Zeitungsbündeln. Eine Stufenpyramide mit viereckigem Grundriß. Die Schuppen sind vollgestopft, weil das Zentrallager zur Zeit nichts mehr abholt. Er stapelt die Flaschen an den Wänden hoch bis unter die Traufen. Sortiert nach Größe, Halsform und Farbe. Er nimmt auch Flachmänner, die unser Nachbar fachmännisch Eulen nennt, obwohl die Erfassungsstelle solche Flaschen nicht abnehmen wird, weil sich im Falle der Eule die Fuhre nicht lohnt. Der Nachbar nimmt Eulen. Es ist wegen der Neigen. In Eulen ruhen die besten Reste. Die Prozente. Manchmal steckt auch in Weinflaschen noch ein Schluck. Aber meist ein kleiner. Wieder bloß ein Fingerhut und schmeckt nach Schimmel oder Essig. Der Nachbar spuckt und schluckt. Er ist selber schuld, daß ihm das Altpapier und die Flaschen mittlerweile über den Kopf gewachsen sind. Er könnte den Laden vorübergehend aus technischen Gründen schließen, aber nein, er nimmt weiterhin alles an, setzt aus den Papierbündeln eine neue Treppe, stapelt Hals zu Hals eine weitere Flaschenwand. Er hält sich ab und zu eine Flasche unter die Nase, schnüffelt den sauren Weingeruch oder ein feineres Aroma, Rauch, Holzfaß, Mandelkern, Kokosnuß.

Das Jahr über klirrt das Glas. Einmal hat er in einer Kiste zwischen dem Leergut eine Bauchflasche Grusinischen mit fünf Sternen entdeckt. Verkorkt. Versiegelt. Kein Betrug. Eine Flasche reinster Wahrheit. Einmal ist der Hund die Schräge an der Schuppenwand hinaufgeklettert, da sind die Weinflaschen ins Rutschen gekommen. Nicht alle auf einmal. Erst kullerte die Endflasche in der dritten Reihe, anderntags rutschte die vordere Wand. Darauf sank das dahinter aufgerichtete Stapelwerk haltlos in sich zusammen, dann kippte ein liederlicher instabiler Bauch nach vorn. Irgendwann rutschte nichts mehr, und es herrschte Stille über dem Scherbenhaufen und um die Schuppen herum. Eine nachtliedartige Ruh irritierte unser Ohr.

Betty liegt auf dem Bauch. Sie kann den Kopf nicht heben. Das ist eigentlich mit das erste, was so ein kleines Wesen lernt. Kopf hoch.

Betty hebt die Nase, so kann sie uns sehen, sie kann lachen, daß ihr die Tränen aus den Augen rollen, sie kann uns rufen, sie kann uns packen. Sie hält einen Hemdzipfel von Niklas. Er gibt ihr sein Lesebuch. Sie kann soviel, aber mit ihren Beinen kann sie immer noch nichts anfangen. Wir hören Geschichten von Kindern, die erst ganz spät laufen gelernt haben. Immer später, erst mit zwei Jahren oder gar erst mit drei. Kopf hoch, Betty. Wir stecken ihr ein Kissen unter das Kinn. Das muß schon sein. Sie soll erkennen, was man dabei gewinnt. Einen anderen Blick. Sie will nicht. Sie kann nicht. Wir befreien sie von dem Kissen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich mit Hugo deswegen gestritten habe oder ob wir uns gleichzeitig einig waren. Tu ihr nicht weh!

Sie liegt auf dem Teppich. Spielt mit einem Teddy und den Bilderbüchern. Sie wiederholt unsere Verse. Hasenmutter, Abendfutter. Einmal hat sie sich allein hingesetzt. Als ich aus dem Zimmer ging, lag sie noch auf dem Teppich. Sie hatte den speckig geliebten Bären zu sich gezogen, ließ die Bärenarme in den Gelenken knacken, die gegeneinander gezahnten Plastikplatten. Sie rollte vor Vergnügen von einer Seite auf die andere. Und lachte, das hörte ich vor der Tür. Und dann: ich zweifelte nicht! Ich traute sofort meinen Augen. Weil ich wußte, daß das Leben schön ist und Betty uns die Liebste ist auf der Welt. Sie hatte sich ganz allein hingesetzt. Den Kopf hochgehoben. Sie saß. Wie ein Kind, um das sich niemand eine Sorge zuviel machen sollte. Sehr aufrecht, aber ohne Anerkennung heischenden Stolz. Sie streckte mir einfach nur den Bären entgegen.

Betty sitzt. Betty wird laufen können. Ich war wie losgelassen vor Freude. Ich rannte barfuß über die Brache am Thälmannplatz. Ich stand in der Drogerie und wußte nicht, was ich wollte. Betty sitzt zu Hause auf der Decke, sie wartet auf mich. Sie hat sich allein hingesetzt, erklärte ich den beiden Verkäuferinnen. Ich ließ sie in ihrer Warenlieferung, ihren Schachteln und Waschpulverkisten und in ihrer Verwunderung stehen. Ich rannte zurück durch das Wäldchen. Die Kiefernzapfen verhießen dem Eichkater ein gutes Jahr, einen kalten Winter, an meinen Fußsohlen klebte Harz. Blätter und Gras und Nadeln, alles schleppte ich mit den Füßen ins Haus. Betty konnte sich alleine hinsetzen.

Es geschah noch einmal. Betty sollte eigentlich schlafen, aber da hatte sie sich hingesetzt. Wir suchten einander, erzählten uns: Sie sitzt schon wieder! In andächtiger Freude, wohl auch noch ein drittes Mal. Freude.

Ich trage Betty des Morgens in ihren gelben Sessel. Wenn ich ihr Kissen hinter den Rücken und unter die Arme stopfe, kann sie eine Weile darin bleiben. Es ist ein Drehsessel, ein guter Platz zum Essen und Spielen. Wenn ich einen Augenblick fortgehe, schiebe ich den Sofatisch davor. So kann sie nicht fallen.

Der Blick aus diesem Fenster geht nunmehr auf die Betonwand und auf den Himmel. Nebenan sehe ich über dem Beton das Wasser und das andere Ufer. Eingeheizt habe ich schon. Die Gußeisenrippen wärmen für einen Augenblick meine Schenkel. Wärme, eine Erinnerung an die Nacht und an Hugo. Dann wecke ich Niklas. Die Katze zeigt, daß sie anwesend ist. Von irgendwo, durch ein Fenster, eine Tür, übers Dach oder durch den Keller, ist sie pünktlich zur Stelle. Manchmal mahnt sie von draußen hinter der Fensterscheibe. Stumm, weil sie weiß, daß wir sowieso nichts hören würden. Ihr vorwurfsvoller Blick scheucht mich aus den Gedanken. Will Sie eintreten? Sie buckelt auf dem Fensterbrett, kennt den Weg und die Stunde. – Sie frißt, während ich in der Küche hantiere. Betty hat sich lange nicht mehr allein hingesetzt. Sie hat das Sitzen wieder verlernt.

Die Katze läuft mir nicht mehr nach. Sie geht voran, weil sie weiß, wohin ich mit dem Frühstückstablett gehen werde. Zielstrebig treppauf, in die Stube mit dem gelben Sessel, dort wartet Betty auf das Essen, Niklas wird hoffentlich das richtige Hemd richtig rum anziehen, ich habe ihn geweckt, er wird gleich kommen. Er muß schon sehr weise sein mit seinen sieben Jahren. Ich löffle Betty den Brei in den offenen Schnabel. Das Brot schiebt sie sich selbst in den Mund.

Die Katze guckt sachkundig zu.

Mit Niklas bespreche ich nun so wichtige Sachen wie die mit der Sonne. Warum sie bei uns im Westen aufgeht. Unterschied zwischen Politik und Geographie. Daß sich die Erde immerzu dreht.

Aber warum sie nicht ruckt, manchmal wenigstens. Solche Probleme. Dann muß er sich beeilen. Ich winke aus der Vordertür. Wie er rennt mit seiner gewaltigen Aktentasche auf dem Rücken, im Genick den Traghenkel für später. Die Zukunft. Einmal schaut er sich um. Da tue ich so, als wäre ich schon wieder im Haus. Hinter der Tür sehe ich ihn rennen. Es ist, weil er lernen muß, daß Betty uns braucht. Betty darf nicht lange alleine sein. Sie könnte den Tisch wegschieben, sie könnte herunterfallen.

Einmal habe ich sie grade noch gehalten. Ihre großen blauen Augen, dann scheint es, als würde ihr der Kopf zu schwer. Sie fällt mir in die Arme. Betty ist müde. Betty will schlafen, etwas anderes will ich nicht wahrhaben. Ich streichle ihre Stirn, damit die schönen Träume kommen. Sie lächelt aus weiter Ferne

Manchmal betrüge ich die Katze, meine einäugige Vorläuferin. Ich führe sie an der Nase herum. Schwenke mit dem Tablett statt treppauf plötzlich in Richtung Kellertür oder gehe, wenn ich Betty zum Schlaf hingelegt habe, gegen alle Sitte nicht in die Mittagsklause, sondern in die Küche. Die Katze hält inne, sie spitzt die Ohren. Ja, drehen sich die Gestirne samt Mond und Mutter nun rückwärts? Bevor ich mich noch entschuldigen kann – es sollte ein Scherz sein –, läßt sie mich wissen, daß sie bereit ist, weitere Risiken mit mir zu tragen. Der Blick ihres Auges, ihr entschlossener Schritt über Kreuz mir voran.

Der Tageslauf geht, wie es sich in unserem Hause gehört. Wenn Betty schläft, verschwinden wir beide, die Katze und ich, in das Zimmer mit dem Radio, dem Tisch, dem Stuhl, dem gelben Sessel. Wolle und Wäsche. Mäusezähnchen rings um Bettys Einschlafkissen, das Kissen will gerettet sein. Die Häkelnadel findet die Maschen. Die Katze liegt eingerollt auf der lila Decke, oder sie sitzt über der Heizung auf dem Fensterbrett. Sie schaut mit dem verbliebenen Auge lange in die schattenspielenden Blätter. Als könnte man dort eine ganze Menge entziffern. Wege. Irrtümer. Manchmal tippe ich auf der bordeauxroten Schreibmaschine einen Brief oder einen Merkzettel. Nicht vergessen. Hugo fragen. Hast du die Nachtigall gehört? Gestern, spät, wie du heim bist?

Die Nachtigall kommt stets am 2. Mai. Zwei Wochen später erwarte ich den Pirol.

Man schätzt die Mauer auf dreimännerhoch. Die Höhe, das Material. Aber auch die Zeit spielt eine Rolle. Allmählich entsteht der Ernst der Lage. Erst dachten wir, daß es vorübergehen würde, wie es die Lieder versprechen. Dann dachten wir: Wenn nicht heute, dann aber gewiß in unserer Kinder Leben. Aber nun? Beton ist Beton. Die Kinder denken: so ist die Welt. Und ein paar Wochen später sind die Schäferhunde da. Sie hängen mit Ketten an einem parallel zur Mauer geführten Laufband, so können sie je eine fünfzig Meter Grenzstrecke verbellen und gegebenenfalls verbeißen. Der Nachbarhund, der seit der Befreiungsaktion immer noch in beiden Ohren ein Stück Stacheldraht trägt, und unsere Katze mit dem ausgerissenen Auge meiden von nun an das untere Gartenterrain. Sie ignorieren den Grenzhund. Uns tut er leid. Wir geben ihm die Knochen vom Sonntagskotelett und bald auch einen Namen. Gesell, so rufen wir ihn. Wie Papas Bart sieht er aus, sagt Niklas.

Gesell ist ein Eiferer. Wie alle dieses Charakters von durchschnittlicher Schläue. Wenn er das Futterauto an der Seebucht in Höhe des Wachturmes herankommen hört, schnappt er sich den Blechnapf und rennt, so weit es die Kette erlaubt, dem Auto entgegen. Wir sind uns nicht einig, warum. Ich denke, er hetzt sich die Zunge aus dem Hals für ein Streicheln. Hugo meint, er ist dumm und gefräßig.

Alle vier Wochen gibt es eine Extra-Nummer. Zirkus. Der Tierarzt kommt. Es herrscht Stimmung unten am Draht. Wüten und Jammern. Das Klagegebell tönt immer lauter. Nun schon beim Nachbarn. Aber unser Gesell jauchzt. Übermütig hetzt er dem Arztjeep entgegen. Er kann es kaum erwarten, bis der Assistent den Klapptisch aufgebaut hat. Mit einem Sprung sitzt er oben. Wedelt, hält das eine Ohr hin und dann das andere. Empfängt seine Tropfen, die Impfungen und den Abstrich unter dem artig hochgestreckten Schwanz. Zum Schluß muß er spaßeshalber die Pfote geben. Die rechte. So ist es brav.

Der Grenzhundearzt zieht weiter. Immer um den Mauerring herum. Potsdam, Teltow, Mahlow, Berlin. Dann die Nordkurve. Ab Schildow dauert es nicht mehr lange. Ein paar Tage darauf, und der Jeep ist wieder da. Das euphorische Bellen. Die Assistenten in ihren dreckigen weißen Kitteln über den Uniformen. Der Klapptisch. Ohrentropfen. Spritzen. Die artige Pfote. Weiter. Bis ans Ende der Zeit.

Eines Tages kannten wir unseren Gesell nicht mehr. Der Tierarzt mußte sich bücken. Die Assistenten mußten den Hundeschwanz heben. Die Soldaten den Futternapf selber holen. Ein anderer Hund hing am Seil. Es war wirklich ein anderer. Ein Verweigerer mit gelben Augen. Vierzehn Tage später wieder ein fremder, so ging das weiter. Es handelte sich um eine neue Maßnahme. Die Hunde wechselten den Grenzabschnitt, denn es war Meldung erstattet worden, daß Gesell von uns Knochen und Bockwürste genommen hatte, stumm und freundlich direkt aus unserer Hand. Er war auf unseren Zuruf zum Gitter gekommen, hatte sich hingelegt, hatte sich streicheln lassen und gefressen. Gesell, der gute, mußte nun wandern. Alle Hunde mußten wandern, vierzehntägig fünfzig Meter weiter. Damit so etwas nicht mehr vorkommen konnte. So eine persönliche Kontaktaufnahme zwischen Grenzhund und unbefugten Zivilisten. Man könnte nun eine Rechnung machen, zwei R mal Pi durch die Einzellaufstrecke, so würden wir ungefähr wissen, wann unser wandernder Gesell wieder am alten Stand bei uns im Garten ankäme. Man könnte, aber wir haben ja nur Pi und ungefähr die Strecke, alle anderen Größen sind unbekannt.

Niklas meinte manchmal: Da ist er ja wieder.

Aber er war es wahrscheinlich nicht.

Später brauchten wir nicht mehr zu rätseln. Wir hatten erfahren, daß er mit anderen Bestechlichen abgeholt worden war, zur Erziehung ins Sacrower Schloß, in die Grenzhundeschule. –

Beim Pilzesuchen hörst du manchmal hinterm Wald das höllische Gebell. Es ist, wenn die Hunde drüben im Schloß aus Schulungsgründen längere Zeit ohne Futter gestanden haben. Erst der Hunger. Dann die Lockpuppe mit dem gezielten Geruch. Ob unser Gesell je wieder Wächter wurde oder ob er nach dem Unterricht zu anderen Aufgaben tauglich geworden war, als Spürnase für Menschenfleisch unter den Waggons der Eisenbahn oder in Kofferräumen? Niklas sagt, weißt du was, weißt du wo? So bißchen braungrau wie Papas Bart oder wie Gesell und grüne Augen wie Gesell, so einen Hund habe ich im Panzergraben gesehen. Ob er abgehauen ist? Hat er sich vom Seil losgerissen? Ist er über eine Mauer gesprungen? Wie mag er aus seinem Käfig entkommen sein? Jedenfalls Niklas behauptet, er habe ihn gesehen. Erst die Spur, dann die Augen. Einmal ist er über den Panzergraben gelaufen.

Ein Hund übers Wasser, nun spinnst du aber!

Nein, sagt Niklas, übers Eis.

Panzergraben! Das ist auch so ein Ort. Dort trägt das Eis einen Elefanten, in der Zeit ist der See noch vollkommen offen. Den Karpfenteich bedeckt höchstens eine dünne Kruste. Teich und See sind noch zu nichts zu gebrauchen. Aber das Panzergrabeneis taugt. So ist es jedes Jahr. Die Kinder vergessen das Heimkommen.

So ist es immer. Nicht nur im Winter, zu allen Jahreszeiten sind die Kinder von früh bis in die halbe Nacht am Panzergraben, du brauchst gar nicht erst woanders zu suchen. Es paßt mir nicht, daß Niklas immer wieder dorthin geht. Die Dorfleute behaupten, an dem Ort lauert längst keine Gefahr mehr, die steckt heute woanders! – Aber da bleibt immer noch das Wort. Panzergraben. Es schickt sich nicht, daß Kinder unter so einem Namen spielen, ebenso widrig ist es, daß in Bezirken dieses Names die gar schönsten und seltensten Kräuter wachsen, schöner und seltener als an gehegten Teichen. Gelbe und weiße Wasserrosen, die sibirische Iris, Sumpfpein, Löffelkraut, Uferpieper. Nymphenblumen. Libellen spiegeln sich im dunklen Wasser. Im Winter die Zehen der Vögel im Schnee. Hasenspuren. Rehstrecken.

Niklas schwingt sich die Schlittschuhe über die Schultern. Er wickelt Knochen vom Ochsenschwanz ins Schokoladenpapier. Aus dem streunenden Grenzhund ist inzwischen Iwan Zarensohn geworden. Wohnend in einem Unterwasserpalast im Panzergraben. Aber mit gutem Hunger auf Knochen. Sonst ist alles beim alten. Wir warten auf den Sommer.

Der Frost ist ja endlich aus dem Boden.

Es fehlte noch, daß es wieder kälter wird. Wir haben fast keine Feuerung mehr im Keller. Ich bin sparsam mit den Scheiten umgegangen, aber nicht sparsam genug.

Wieder mal retten uns die Russen. Am hellichten Nachmittag tuckert ein Taigaschreck vor unserem Gartentor. Eine schwarze Lawine stürzt von der Ladefläche aufs Straßenpflaster. Es ist eine Minutensache. Und schon ist das Auto weg. Es parkt rechts in der Richard-Wagner-Straße, unschuldig, ein leeres Schulfahrzeug, an dem ein Sowjetsoldat mit Radmuttern-Schlüssel hantiert. Ein zweiter bleibt vor dem Gartentor, um zu kassieren, er nimmt, was ich habe, er ist auch mit der Hälfte zufrieden. Da wäre noch ein Benzinkanister. Er schlägt mit der Stiefelspitze dagegen. Voll, zeigt er mir. Schwer. Ein Angebot. Nein, Benzin will ich nicht, weil ich’s nicht übertreiben möchte. Atabai, sagt er. Er tippt sich auf die Brust. Zeigt auf mich: Du Mama. Wir schütteln uns die Hände, der Kirgisenjunge und ich.

Er schlendert mit dem Kanister die Straße hinunter. Ein Auto hält an. Jemand steigt aus und öffnet den Kofferraum. Es ist unser Pfarrer. Mehr will ich nicht gesehen haben.

Der Nachbar hilft, er karrt den guten Koks von der Straße zum Kellerfenster. Kippt die Fuhre in den Schacht. Ich schaufle im Keller vom Fenster in die Buchte. Ich werfe meine Jacke ab, dann den Pullover.

Der wärmt gleich zweimal, ruft der Nachbar dem Koks hinterher. Es sind bestimmt noch gut fünfzig Karren. Bestimmt noch mal soviel. Oder noch mehr. Der Nachbar ist guter Dinge. Er poltert. Er trabt. Zu jedem Koksschwall fällt ihm was ein. Noch vierzig Karren. Er will mich lebendig begraben. Ich wühle mit der eisernen Zwölfzinkengabel oder mit der Schaufel oder lieber mit Eimern oder mit Händen. Mein Vorrat, meine schwarze Zuversicht. Nun kann der Winter bleiben.

Auch Holz werden wir übers Jahr unter Dach haben, mehr als die Kälte von uns verlangt. Die Bäume werden hinfallen, wie es uns nicht einmal die schlechtesten Träume diktieren. Wie geschlagene Seelen. Sie haben auf dem Grenzstreifen Wege-Rein ausgegossen. Ein Stoff, der lebendigen Pflanzenzellen das Wasser entzieht. So auch unseren Bäumen.

Die Russenkasernen liegen hinter Bretterzäunen. Bis vor kurzem waren die Zäune grün angestrichen. Nun hat der westeuropäische Spott diesem Grün ein Ende gesetzt. Keine grünen Zäune mehr. Die Rote Armee hat reagiert. Verwundert zwar, denn will nicht ein Bretterzaun von selbst, also beinahe von Natur aus, grün aussehen? Nun aber haben sie mit Konsequenzen gelernt, das ewige Grün ist zum Lachen. Der Gegner kann am grünen Zaun gleich erkennen, wo wir stecken. Das muß ja nicht sein. Es wäre ein Fehler. Es wäre sogar gefährlich. Mit der weitreichenden Einsicht wird nun jedes Brett grau gestrichen. Grün sieht nach russischem Dorf aus. Grau bedeutet Europa. Wie Pulverkaffee und Radios ohne Stecker, das gibt es neuerdings auch manchmal im Russenmagazin.

An der Bushaltestelle warten die warm angezogenen Frauen der Offiziere. Eine Wolke drängt am Fahrer vorbei. Maiglöckchen. Knoblauch. Niklas hält sich die Nase zu. Stinkt wie im Puff, sagt er. Aus seinem Rucksack auf den Knien guckt der schwarze Pittiplatsch. Stimmt’s, Pitti? Wie im Puff. Der Mann gegenüber nickt meinem Sohn aufmunternd zu. Stinkt. Ich kneife ihm in die Hinterbacken. Er rappelt sich beleidigt. Wie im Puff. Er pustet wie eine Dampflok. Puff.

Guck mal. Ich versuche es mit List.

Auf dem Bürgersteig gehen Schulkinder in schwarzbraunen Schulkleidern. Kahlköpfige Knaben. Mädchen mit festgeflochtenen Zöpfen, weißen Schleifen. Rote Halstücher. Alle so stolz und artig.

Guck mal, lauter sowjetische Pioniere. Mein Sohn bleibt dabei. Er hält sich die Nase zu und genießt das Schmunzeln der Leute.

Es klopft selten an unserer Tür. Weil die meisten keinen Ärger haben wollen. Wir wohnen im Grenzgebiet. Das Betreten des Hauses, so kündet alle zwanzig Meter eine Tafel, ist verboten.

Es gibt aber doch Leute, die auf so was pfeifen. Auf die sind wir angewiesen. Manche kommen gleich hintenherum durch die Küchentür, huschen ins Haus. Nun denken wir, sehen und hören uns die Ferngläser und Richtmikrophone nicht mehr. Es ist selten, daß einer kommt. Manchmal vergehen Wochen, Monate.

Ich wärme das Essen. Betty ruft mich schon. Die Katze mahnt. Hörst du nicht. Sie kennt meine Pflichten. Als ich die Kakaotasse endlich auf das Tablett gestellt habe, trabt sie treppan. Betty ruft. Dazwischen ein Geräusch an der Tür. An der richtigen Haustür. Pochen. Klopfen. Mit dem Knöchel, mit der Faust. Ich überhole die Katze, weil das Klopfen so dringlich ist, ich eile aus besagten Gründen. Der Teller, die Kakaotasse. Das laute Poltern.