Uschi Meinhold
Bruna-Brunhilde
Westgotische Prinzessin
Merowingische Königin Nibelungentochter
Historischer Roman
Für Gertrud und Franki
Kälte im Kerker von Renève, Schmerzen in den Gelenken. Kaum Schlaf. Brennende Wunden am Rücken. Schläge der Bewacher. Tag, Nacht, hell, dunkel. Nichts davon dringt zu ihr. Bodennässe breitet sich aus. Die Matratze schützt nicht davor. Das zerschlissene Kleid spendet keine Wärme.
Bruna. Der Vater hat den Namen ausgewählt. In der westgotischen Heimat in Spanien. Sie zieht die nackten Füße an den Körper, umschlingt die Knie mit den Armen.
Wie lange dauert die Haft? Wo hat der Prozess stattgefunden? Wo ist sie festgenommen worden? In Chalon? In Orbes?
Ihrer Freiheit hat sich Neffe Chlotar, König von Neustrien, bemächtigt. Wann wird er sie töten lassen?
Die Gefangene wartet auf den Tod, den Adel und Kirche vor dem Königsgericht als angemessene Strafe für vielfaches Morden erkannt haben. Ein Urteil, das sich gegen sie als merowingische Königin und Regentin richtet.
Mit geschlossenen Augen flüstert Bruna-Brunhilde ein Gebet. Den Psalm vom guten Hirten, der ihr als katholische Christin, einer ehemaligen Arianerin, vertraut ist:
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn. Immerdar. «
Die Königin nimmt die Kette mit dem Kreuzanhänger ab, zieht den Ring ihres Mannes Sigibert vom Finger. Sie gibt den Schmuck, den sie fast ein ganzes Leben lang getragen hat, Romana:
»Er wird dich bewahren. So wie er mich bewahrt hat. Ich habe dich noch so viel fragen wollen, meine Liebe. Jetzt ist es dafür zu spät. «
Die Soldaten, die Bruna, genannt Brunhilde, die in der Brünne kämpft, zum Richtplatz führen wollen, finden sie tot auf ihrem Lager. Die alte Königin entgeht so der grausamsten Hinrichtungsart, die der neustrische König Chlotar hat anordnen können: Brunhilde von vier wilden Pferden in Stücke reißen, vierteilen lassen.
Als Romana die Habseligkeiten der Toten einsammelt, entdeckt sie deren Gürtel unter der Matratze. Eine silberne Schließe ziert ihn. Und Pastillen, aus Mohnsaft hergestellt. Trotz des Schmerzes über den Tod ihrer Herrin und Freundin flüstert sie lächelnd:
»Bruna-Brunhilde, Westgotin, merowingische Königin in Austrasien und Burgund, Nibelungentochter hat ihrem Leben selbst ein Ende bereitet. Ein Ende? Ich werde mich immer an sie erinnern. Andere auch? «
Auch das Plätschern des Springbrunnens im Garten der Burg von Toledo konnte das Stöhnen der Gebärenden nicht übertönen. Freya hörte es, als sie sich dem Geburtszimmer näherte. Seit zwei Tagen und Nächten lag Goiswintha, Athanagilds junge Ehefrau, in den Wehen. Die Geburt ging nicht voran.
Die Hebammen baten maior domus Sisenand, einen Arzt zu Hilfe zu holen.
»Das kann ich nicht erlauben. Eine Geburt ist hier immer Frauensache. «
»Seit dem Morgen hält er sich schon auf der Burg auf. Ich bin besorgt. Deshalb habe ich ihn rufen lassen. «
»Was Ihr Euch herausnehmt, Freya! Ihr seid nicht befugt, eine solche Entscheidung zu treffen. «
Kammerfrau Freya, die seit Goiswinthas Ankunft am Hof Athanagilds die Königin als Kammerfrau betreute, hatte mit fester Stimme gesprochen. Sie ließ sich vom Zorn Sisenands nicht einschüchtern. Als Dienerin war sie für die junge Herrscherin eine mütterliche Freundin.
Der Geruch verbrennenden Weihrauchs im Zimmer trug zu Goiswinthas Entspannung bei. Mit einem Sud aus Schlafmohnsamen, der zerhackten Wurzel einer Alraune und den getrockneten Blättern des Bilsenkrautes tränkte der herbeigerufene Arzt Ibn Sina einen Schwamm, legte ihn der Königin über die Nase, vergewisserte sich, dass die für den Eingriff notwendige Tiefe der Betäubung erreicht war.
Als er sie anrief, reagierte die Königin nicht mehr. Der Arzt wiederholte dennoch die Prozedur, tränkte den Schwamm erneut mit dem Sud. Die Gebärende vertraute ihm. Oft hatte Ibn Sina das Leben verwundeter Soldaten durch Amputieren von Gliedmaßen unter Betäubung gerettet. Auf Geheiß Gois-winthas wurden die Schwerverletzten auf der Burg gepflegt. Freya half, hatte Verbände gewechselt.
Jetzt lag die junge Frau vor dem Arzt. Das Kind konnte den Leib durch den Geburtskanal nicht verlassen. Das schmale Becken der vierzehnjährigen Königin war Grund dafür. Noch nie hatte er eine solche Operation durchgeführt: Dem Kind durch den Schnitt in den Leib der Mutter auf die Welt zu verhelfen. Seine Forschungen aber verschafften ihm die dafür notwendigen Erkenntnisse, ermutigten ihn jetzt zu dem Eingriff.
Ein Gespräch mit dem Westgotenherrscher Athanagild, dem Vater des Kindes, hatte Ibn Sina die eigene Situation deutlich gemacht: Wenn ihm die Operation misslang, wenn auch nur das Kind starb, würde der Gote ihn töten. Er kündigte dem Arzt die Hinrichtung an, als dieser ihn über deren Notwendigkeit informierte:
»Ganz sicher werden ohne den Eingriff Mutter und Kind qualvoll sterben. «
»Ihr haftet mit Eurem Leben für ein gutes Ende. «
Im Umgang mit Gegnern war Athanagild erbarmungslos. Richtete sie hin, ließ ihnen vorher die Hände abhacken, die Zungen herausreißen.
Nadel, Faden, Messer, Klammern hatte Freya in kochendem Wasser sterilisiert und auf einem Tisch bereitgelegt. Nach seiner Gewohnheit wusch der Arzt sich die Hände, desinfizierte den Leib mit einer Alkohol-Wasser-Mischung, durchtrennte die Haut oberhalb der Scham, anschließend Muskelgewebe und Gebärmutterhülle. Es musste rasch gehen. Der Puls der Königin war schwächer geworden.
Der eröffnete Uterus war so weit gedehnt, dass das Kind von ihm gegriffen, herausgenommen, abgenabelt werden konnte. Ibn Sina hob es in die Höhe, schüttelte es leicht. Ein Mädchen. Es hustete, schrie, wurde rosig. Die Kinderfrau hüllte das Neugeborene in ein wärmendes Tuch. Kein Bad, das hatte der Arzt angeordnet. An der Brust der Amme, die sich mit dem weinenden Säugling in das Kinderzimmer zurückzog, endeten die Schluchzer.
Die Plazenta entnahm Ibn Sina aus der sich zusammenziehenden Gebärmutter. Auch jetzt musste er schnell arbeiten. Dennoch waren die einzelnen Hautschichten sorgfältig mit jeweils einer Naht zu verschließen. Die geübten Hände ließen ihn nicht im Stich. Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die Operation beendet, einen Verband angelegt hatte.
Zwei Kammerfrauen wechselten die Tücher in Goiswinthas Bett, Freya wachte neben der bewusstlosen Königin. Als der Arzt ihren Puls fühlte, trat Athanagild allein durch die Nebentür. Die Hand, mit der er seine Frau an der Schulter berührte, zitterte.
»Wie geht es ihr? «
»Jetzt gut. Wenn kein zu hohes Fieber eintritt, wird Königin Goiswintha leben. «
»Das Kind? «
»Ein Mädchen. Zart, aber gesund. «
»Bringt es mir. «
Freya erhob sich von den Knien, eilte ins Kinderzimmer, legte dem Herrscher das weinende Neugeborene in die Arme. Unter dem Raunen des Vaters wurde es still.
»Bruna sollst du heißen. Geweissagt wurde, dass du stark und mächtig sein wirst. «
Goiswintha öffnete die Augen.
»Wie fühlst du dich, meine Liebe? «
»Gut.« Sie streckte die Hände nach dem Kind aus:
»Was ist es? «
»Ein Mädchen. «
»Bist du zufrieden? «
»Ich bin glücklich über unsere Tochter Bruna. «
Die Mutter nahm sie in die Arme.
Auf Befehl des Herrschers brachte Freya das Kind zurück zur Amme. Athanagild küsste seine Frau, die vor Erleichterung seufzte. Der König hatte die Tochter akzeptiert. Ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, verließ er den Raum.
Ibn Sina forderte Freya und die beiden anderen Kammerfrauen auf, an Goiswinthas Bett zu wachen. Mit einem Blick auf seine Patientin rührte er Säfte an, gab Hinweise zur Wirkung der Heilmittel:
»Gegen zu hohes Fieber, gegen Schmerzen, die sie bald spüren wird. Dieser Saft hier dämmt Blutungen ein. Wir geben ihr die Medizin nacheinander. Dabei wechsle ich mich mit Euch ab, Freya. Die Königin wird überwacht. Auch in der Nacht, viertelstündlich. Ein Uhrglas steht hier auf dem Tisch. «
Das Fieber hielt sich in Grenzen. Die Tücher aber, in die Goiswintha gehüllt war, röteten sich durch unaufhörlich aus dem Leib sickerndes Blut. Als Freya ihrer Herrin einen frischen Verband anlegte, neue Laken ausbreitete, öffnete die Königin die Augen:
»Ich habe Durst. «
Mit Unterstützung der Kammerfrau setzte sie sich auf, trank gierig, fuhr mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Goiswintha sank in die Kissen zurück. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht:
»Keine Schmerzen spüre ich. «
»Das ist gut. Bleibt bitte wach. « Freya flößte der Mutter blutstillenden Saft ein.
»Jetzt kann nur noch die Jugend der Patientin helfen. Ich bin am Ende meiner ärztlichen Kunst angelangt. « Ibn Sina hatte sich in das Nebenzimmer zurückgezogen, sprach zu sich selbst.
Alle wachten die gesamte Nacht über am Bett der Königin, flößten Medizin ein, kontrollierten Puls und Stärke der Blutung.
Am frühen Morgen kniete Freya am Bett ihrer Herrin, der Arzt saß vor einem Fenster. Zwei Kammerfrauen schliefen. Erstes Licht fiel in den stillen Raum, beschien die Wände. Reiterbilder auf Teppichen tauchten auf. Ibn Sina beugte sich über Goiswintha:
»Wir wecken sie nicht auf. «
Gegen Mittag blutete die Königin nicht mehr, auch nicht später am Tag. Als sie erwachte, verabreichte ihr der Arzt noch einmal Medikamente. Freya wusch Goiswintha, erneuerte Tücher, kleidete ihre Herrin in Blau, deren Lieblingsfarbe.
»Ihr habt mir das Leben gerettet. Und das meines Kindes.« Die Königin umarmte Ibn Sina und die Kammerfrau.
Athanagild trat mit Bruna im Arm an das Bett der Königin:
»Ich schulde dir Dank. Und euch. «
Freya sank vor dem Herrscher auf die Knie. Der Arzt neigte den Kopf. Bruna schrie. Im Arm der Mutter beruhigte sie sich, saugte am dargebotenen Finger. Athanagild und seine Frau: Eng saßen sie nebeneinander. Mit diesem Bild in der Erinnerung zogen sich alle zurück.
Entsetzen hatte Goiswintha gepackt, als sie als junges Mädchen nach Toledo gekommen war, um am Hof des Westgotenherrschers zu leben. Die Eltern gaben ihn ihr zum Mann. Der Gote entsprach nicht den Vorstellungen der jungen Frau. Mit weinerlicher Stimme schilderte sie Freya eine der ersten Begegnungen zwischen sich und Athanagild:
»Zu alt ist er, grob in seinem Benehmen mir gegenüber. Er hat mich gegriffen. So wie er die Kebsfrauen anfasst. Und seine Sprache! Nur Grausamkeiten! Ganz rot ist er dabei im Gesicht angelaufen! Ich habe mir aus Angst zitternd die Ohren zugehalten. Das solle ich mir abgewöhnen als westgotische Königin, hat er gebrüllt. Grässlich! Ich bin seine Braut! Kein Schlachtross! «
Freya berührte ihre Herrin am Arm:
»König Athanagild hat es als Herrscher nicht leicht. Seinen Westgoten will er weitere Niederlagen und die nächste Vertreibung ersparen. In der Vergangenheit haben sich die erzwungenen Umsiedlungen zweimal ereignet. «
»Was du alles weißt. Ich will nach Hause, « jammerte Goiswintha.
»Beruhigt Euch und denkt an Eure Familie. Sie hat einen großen Teil ihres Vermögens für den Brautschatz aufgewendet. Den hält Euer Gatte zurück, wenn Ihr die Verbindung beenden werdet. «
»Ach, Freya, du bist überhaupt nicht auf meiner Seite! «
»Doch, das bin ich. Gebt ihm Zeit, sich an Euch zu gewöhnen. König Athanagild liebt seine Königin, und als Herrscher ist er bedeutend. «
»Was du von mir verlangst! «
»Ihr seid klug. Ihr werdet Euch nach einiger Zeit mit der neuen Lebenssituation abfinden. «
Das geschah. Goiswintha gestaltete steinerne Wände und Böden der Burg mit Teppichen. Sie bedeckten Kahles, wärmten durch eingewebte, farbige Figuren. Die Königin kaufte silbernes Geschirr, Gläser, Krüge aus Keramik für die Tafel. Mit Glasvasen, Spiegeln, Alabasterfiguren stattete sie ihre Räume aus.
Heute bot der Kaufmann Stoffe, Kissen und einen Pelz an. Den Mantel aus Silberfuchsfellen trug er über dem Arm, näherte sich Goiswintha damit, legte ihn ihr um die Schultern. Sie ließ es sich gefallen, strich mit den Fingern über weiches Fell. Der bodenlange Pelz war trotz seiner Weite und Länge federleicht.
»Ich habe ihn nur einmal. Nur eine Königin sollte ihn tragen. «
Er präsentierte Ketten, Ohrringe und Diademe, besetzt mit Saphiren. Rubine verzierten goldene Ringe.
Freya brachte Schmuck und Mantel in Goiswinthas Räume. Auch das Alabastergefäß mit dem Balsam von Gilead, den die Königin liebte, weil er nach Pfirsich duftete, wenn sie ihn auf der Haut verrieb.
»Bis zum nächsten Mal, Herrin. «
Der Händler verneigte sich. Um die Bezahlung der angebotenen Schätze musste er nicht fürchten. Athanagilds Frau besaß eigenes Vermögen, der Westgote erfüllte ihr außerdem jeden Wunsch. In den Räumen der Königin breitete Freya Teppiche aus. Dazu Kissen, Seidenkleider, den Pelz, Schmuck und Unterwäsche. Goiswintha und die Kammerfrau hatten sich an Hemden und Hosen aus Seide begeistert, als sie sie zum ersten Mal unter ihren Kleidern trugen.
»Wunderschön ist alles. Wann werdet Ihr Schmuck und Pelz anprobieren? « Freyas Augen glänzten vor Begeisterung.
»Später. Ich bin müde. Wo ist Bruna? «
»Sie spielt seit einiger Zeit mit Amme und Kinderfrau im Garten. «
Die Kammerfrau deutete auf die Szene: Vergeblich versuchten beide Betreuerinnen, das Mädchen einzufangen. Keine zwei Jahre alt, kreischte es vor Vergnügen, wenn es den Frauen entwischte. Die Kleine krabbelte mit großem Tempo durch deren Beine hindurch.
»Unsere Tochter wird so ungestüm werden wie ihr Vater. Gestern hat er das Kind wieder auf einem seiner Pferde reiten lassen. Ohne Sattel! Die Mähne ist der einzige Halt gewesen! Mein Herzschlag hat fast ausgesetzt. Brunas Jauchzen habe ich bis in mein Zimmer gehört. Hoffentlich ist das neue Kind nicht so wild. Mit Furcht sehe ich der zweiten Geburt entgegen, warte auf den persischen Arzt Ibn Sina. «
Der König und ich: Wir hatten uns in den zwei Jahren Ehe angenähert. Im Garten der Burg von Toledo warf mir Freya laut lachend einen Ball zu. Ich traf sie beim Werfen am Kopf, hielt aber sofort einen Schal unter die Brunnenfontäne, um die gerötete Stelle zu kühlen. Sie würde eine richtige Beule bekommen.
Unterbrochen wurde das Zusammensein, als mein Mann den Garten von seinem Arbeitsraum aus betrat:
»Die Königin muss wohl erst erzogen werden. «
»Warum? «
Statt einer Antwort hob Athanagild mich hoch, ging mit mir in seinen Schlafraum. Ich spürte sein Glied am Bauch, als er sich an mich presste. Gewänder sanken auf den Boden, er drang in mich ein. Wieder und wieder zuckte mein Leib. Bis auch er der Lust nachgab.
»Meine kleine Liebste. «
»Klein? Ich bin so groß wie du. «
Die Sonne stand hoch am Himmel, als der König mich verlassen hatte. Trotz der körperlichen Anziehung und erster Gefühle für ihn blieb Athanagild mir fremd wegen seiner Grausamkeit und dem ihm eigenen Unglauben. Obgleich er zur arianischen Kirche gehörte, lebte er völlig ohne deren Segnungen.
An einem der vielen heißen Nachmittage des Sommers näherte sich Freya Königin Goiswintha:
»Wegen der Wärme habe ich kaltes Fleisch, Obst, verdünnten Wein in der Laube beim Wasserbecken aufdecken lassen. «
»Denke daran, Freya: Ich erwarte den Lateinlehrer. Du bist doch beim Unterricht dabei? Oder hast du etwas anderes vor? « Goiswintha schlang die Haare zu einem Knoten.
»Ja. Ich habe etwas vor: einen Besuch. «
Die Kammerfrau hatte beschlossen, endlich mit dem persischen Arzt Ibn Sina allein in dessen Stadthaus in Toledo zusammenzutreffen. Dort empfing er Patienten, bereitete Operationen vor, entschied über einzusetzende Medizin, unterrichtete Studenten.
»Dann befreie ich dich für diesen Nachmittag und Abend von deinen Pflichten. Oder benötigst du auch die Nacht für das, was du in die Tat umsetzen willst? «
»Vielleicht. «
Freya nutzte den Weg, der von der Burg hinunter in die Stadt führte. Gemeinsames Reiten und Bogenschießen in der königlichen Arena hatten sie und den Arzt einander nähergebracht. Beide maßen dort ihre Kräfte, bevor Athanagild erschien, um Wagenrennen zu fahren. Auch die Arbeit, die sie bei Ibn Sinas Patienten leistete, trug zu gegenseitigem Vertrauen bei. Freya war voller Erwartung, als er ihr die Tür öffnete.
»Euer Besuch in meinem Haus ehrt mich. «
Keine Helfer, keine Studenten empfing er heute.
War es nicht respektlos, ihn aufzusuchen? Ohne Einladung?
Seine Ungezwungenheit nahm ihr die Scheu.
»Setzt Euch, bitte. Ich hole Saft. Er wird aus Granatäpfeln gepresst. «
Der Arzt verließ den Raum. Freya sah sich im Arbeitszimmer um. Ihre Augen wanderten über Regale voller Papyrusrollen. Auf den Tischen standen Gläser mit getrockneten Kräutern, eingelegten Wurzeln und einige Salbentiegel. Durch gemeinsame Arbeit war ihr bekannt, dass Ibn Sina Medizin selbst herstellte. Deren pflanzliche Bestandteile bezog er von Bauern aus der Gegend. Die betäubende und heilende Wirkung der Kräuter setzte er bei Brunas Geburt ein.
Auch das zweite Kind war durch eine Operation zur Welt gekommen. Dabei hatte der Geburtshelfer der von ihm hergestellten Medizin vertraut, Freyas Unterstützung benötigt. Dass sie ihn wegen der Arbeit an den Patienten bewunderte, darüber sprach die Kammerfrau oft mit ihm.
Sein fremdes Aussehen zog sie an: die Haare schwarz, kurz geschnitten nach römischer Mode. Ibn Sinas Körper war ihr von den gemeinsamen Wettkämpfen in der Arena bekannt. Das sportliche Aussehen des Arztes überraschte Freya, beschäftigte er sich doch die meiste Zeit mit Patienten und Studenten.
Fremd und irritierend musste für ihn die Erscheinung der Gotin sein: groß und kräftig der Körper, weißblond die Haare, von wasserhellem Blau die Augen. Als Ibn Sina ihr am Bett Goiswinthas Kräutersud zum Einflößen gereicht hatte, fing er zum ersten Mal ihren Blick auf. Jetzt sah er wieder in ihr Gesicht.
»Was hat Euch nach Toledo verschlagen? «
»Nicht Euch. Du. Ihr wisst, dass ich eine Geisel bin. Auch mein Bruder Roderich ist gefangen. Wir können Toledo nicht verlassen. Er arbeitet als Schwertschmied, stellt zusammen mit anderen Handwerkern Waffen für König Athanagilds Soldaten her. «
»Inzwischen bist du aber keine Geisel mehr? Du stehst der Königin sehr nah. «
»Doch. Mein Bruder und ich sind lebenslang Geiseln. Wir haben das Glück, dass der Herrscher uns Freiheiten lässt. «
»Woher kommst du? «
»Aus Salamanca. Vater hat dort als Königssklave und Verwalter großer Ländereien gewirkt. Dieses Privileg ist ihm von König Athanagild entzogen worden, weil er sich über seinen Herrn und Herrscher hat erheben wollen. Mit der Folge, dass wir in Toledo am Königshof leben müssen, um ihn am Opponieren zu hindern. Mein Bruder und ich haften für das Durchsetzen des Urteils mit unserem Leben. «
»Du hast dich damit abgefunden? «
»Was bleibt mir anderes übrig? Aber oft sind meine Gedanken in Salamanca. «
»Ich habe mich schon gewundert über deine Bildung. Auch vom Reiten und Bogenschießen, wie du es praktizierst, kann man begeistert sein. Dein germanisches Aussehen lenkt außerdem Aufmerksamkeit auf dich. «
»Das ist wohl so. Wegen der hellen Haare und blauen Augen könnte man vermuten, dass sich die gotischen Vorfahren während ihrer Wanderungen aus dem Norden von anderen Völkern ferngehalten haben. Was aber nicht wirklich der Fall gewesen ist. Unser Vater gibt ein Beispiel ab für Annäherung. Seine Frau, meine Mutter, und ihre Ahnen haben als Reiterkrieger aus dem Osten gekämpft. Die Verbindung zwischen meinen Eltern ist aber ohne Auswirkung auf mein offensichtlich germanisches Aussehen geblieben. «
»Wahrscheinlich kannst du wegen des mütterlichen Erbes so gut mit Pfeil und Bogen umgehen. Und Reiten. Da bist du besser als ich. «
Freya richtete den Blick auf Ibn Sina:
»Dass Ihr mich bewundert? Ich verehre Euch! «
»Warum? Wegen der Arbeit als Arzt? Ich tue nur meine Pflicht. «
»Ihr seid bescheiden. Ihr operiert. Das machen andere Ärzte nicht. «
»Meine Kollegen verachten die Chirurgie als Handwerk. Was sie ja auch ist. «
»Damit rettet Ihr Leben! «
»Königin Goiswintha hat fast ihr Leben verloren. Bei beiden Geburten ist sie in Gefahr gewesen. Aber nicht durch die Eingriffe. Gefäße in der Gebärmutter haben sich nicht geschlossen. Deswegen sind Nachblutungen entstanden. «
»Sie sind durch Eure Heilmittel gestillt worden. Andere Säfte haben Schmerzen unterdrückt. Auch nach den Geburten. «
»Für den Arzt ist eine Empfehlung an seine Patienten fast wichtiger als Operationen: Auf gesunde Ernährung achten und sich an frischer Luft bewegen. «
»Ich esse viel Obst, laufe täglich auf der Burg und in der Stadt. Gesund ist sicher auch der Saft, den Ihr mir gereicht habt. Er schmeckt sehr gut. «
»Die Früchte dafür stammen von einem der Granatapfelbäume in meinem Garten. Der Baum ist der Aphrodite geweiht. Das Fruchtfleisch soll die Empfängnisbereitschaft steigern. Ich setze den Saft ganz prosaisch zum Behandeln von Zahnfleischentzündungen ein, die Rinde bei Durchfall. Meine Mutter hat ihn den Baum der Erkenntnis genannt. Anstelle des Apfelbaums in der Genesis. «
»Ihr seid katholischer Christ? «
»Ja. Alle in meiner Familie sind Christen. Wir leben seit mehreren Generationen nicht mehr in Persien. Erst haben sich meine Vorfahren im Römischen Reich, dann im ostgotischen Italien, jetzt in Granada niedergelassen. «
»Ihr arbeitet nicht nur in Toledo? «
»Das ist richtig. Manchmal betätige ich mich hier, dann wieder in Granada. Dort haben Mutter und Vater Grundbesitz. Viele meiner Studenten sind dort zu Hause. Du schaust die Bernsteintropfen auf dem Tisch an? Für mich als Arzt sind sie kein Schmuck. Sie werden, aufgelöst in Alkohol, zu Salbe verarbeitet. Der Sud daraus hilft bei Erkältung, wenn er immer wieder tropfenweise eingenommen wird. «
»Schade um die schönen Steine. «
»Suche einen aus. Ich schenke ihn dir. «
»Die helle, durchsichtige Kugel nehme ich. Danke. Ihr macht mir damit Freude. « Freya bewegte sie in der Handfläche.
»Alraunenwurzel und Bilsenkraut kennst du schon von den Eingriffen. «
»Ja. Die Wurzel, getrocknet und zerstoßen, betäubt, das Bilsenkraut wirkt gegen Schmerzen. «
»Richtig, Freya. Da Königin Goiswintha nicht normal geboren hat, haben wir keinen Beifuß eingeflößt. Denn er fördert Geburt und Abtreibung. Auch die Rauke ist dafür einzusetzen. Ich nutze beide Kräuter in der Frauenmedizin. «
»Ihr seid ein Arzt für Frauen. «
»Nicht nur. Das weißt du. Denke an die Wunden der Männer, die du verbunden hast. Wir haben große Mengen Opiumpastillen an die Soldaten abgegeben. Ich stelle sie aus dem Saft unreifer Mohnkapseln her. Jetzt aber genug damit. Ein Abendessen ist im Garten vorbereitet worden. «
Der Innenhof des Hauses, beschattet von Olivenbäumen, lud zum Verweilen ein. Oleander blühte in Rot und Weiß, Päonien in zartem Gelb. Im Teich entfalteten Seerosen ihre lilafarbenen Blütenblätter.
Ein dunkelhäutiger Diener entzündete Fackeln, servierte Salat, Fleisch, Fisch in Safransauce. Ibn Sina und Freya aßen nach römischer Art im Liegen, tranken den Wein des Dionysos, kosteten zum Nachtisch Walnusskuchen, gebacken mit Früchten von Bäumen im Garten.
In der Nacht liebten sich der Dunkle und die Helle. Taumelnden in ihrer Lust von einem Höhepunkt zum andern, waren hingerissen von ihren Körpern.
»Ewig möchte ich bei dir bleiben. «
»Mein schöner Mann, hat dich der Wein so sehr berauscht? Ich weiß, dass du nicht bleiben wirst. Kurz ist in der letzten Zeit dein Aufenthalt in Toledo gewesen, weil du irgendwo Patienten betreut hast. Das wird sich wiederholen: Morgen, demnächst. Ich aber lebe nur hier als Dienerin Königin Goiswinthas.«
Ibn Sina verließ das Westgotenreich, ging zurück nach Persien, unterrichtete dort als Arzt an einer Universität, operierte im angeschlossenen Krankenhaus. Er starb an Verletzungen, die ihm moslemische Krieger bei der Erstürmung der Universität zugefügt hatten.
Freya lebte weiterhin als Kammerfrau bei der westgotischen Herrscherin. Nach deren Tod kehrte sie als Freie nach Salamanca zurück. Sie hatte einen Sohn geboren, der dort als Arzt wirkte. Freya starb hochbetagt in ihrem Heimatort.
»Melde uns dem König, Marschall. Wir wollen den Herrscher sprechen. «