Edda ist schwanger. Wie konnte denn das passieren?
Und als wäre das nicht schon Aufregung genug im Hause Hederich, verrät sie partout nicht, wer der Vater des Kindes ist. Entgegen ihrer bisherigen Weigerung, sich selbst als Mutter zu akzeptieren, beschließt sie trotzdem, das Kind zu bekommen. Liebevoll wird sie hierbei von ihrer Familie unterstützt. Allerdings versucht sie vehement, die Schwangerschaft vor ihrem skrupellosen Großvater zu verbergen. Doch wie lang kann ihr dies überhaupt gelingen? Wird sie ihr Kind langfristig vor dessen Urgroßvater schützen können?
Als dann noch ein altes Märchenbuch neuen Aufschluss über Edos Forschung liefert, überschlagen sich die Ereignisse und es kommt zu unerwarteten Wendungen zwischen den Familien Hederich und Audorn, als ein Fremder versucht, die schwangere Edda umzubringen …
Alexandra Schmidt wurde 1990 geboren und studierte Theologie, Philosophie und Editions- und Dokumentwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie lebt mit ihrem Verlobten im Sauerland und schreibt Romane über die Tücken des Schicksals.
Weiterhin erschienen:
Ira – Zorn des Taaffeits (Die Betonys, Bd. I)
Gula – Gierige Flammen (Die Betonys, Bd. II)
Superbia – Erbe des Hochmuts (Die Betonys, Bd. III)
Flanders Fluch
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2019 Alexandra Schmidt
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-1180-1
Für
die einzigartige Liebe
aller Mütter
Nacht hat ihren dunklen Mantel über der Stadt ausgebreitet. Sternenklar und unendlich thront der Himmel über dem Stausee, der sich heute vor fünfzig Jahren auf die Dächer der Altstadt ergossen hat. Er spiegelt sich in dessen finsterer Oberfläche und vermag nicht die geisterhaften Schatten an seinem Grund zu erhellen; ein kleines Atlantis, mitten in Steinlind. So wurde aus der Neustadt eine Altstadt und diese vergisst bis heute nicht, was an ihrem Rande im Dunkeln schlummert. Düster sind die Schauergeschichten der Taucher, die sich den Geheimnissen jener Finsternis immer wieder zu stellen wagen.
Sie fühlt seine Hände auf ihrem Körper, die behutsam und zugleich fordernd Besitz von ihr ergreifen. Seine kristallklaren Augen verschlingen sie voller Liebe und trotz der kühlen Nacht bildet sich Schweiß zwischen ihren Leibern.
Er ist ihr Spiegelbild, ihr Negativ. Ihre Wildheit wird von seiner beherrschten Kühle aufgefangen und zu einer zahmen Flamme zurückgedrängt. Sie liebt ihn mehr als ihr eigenes Leben. Das Exzessive ist es, das sie auszeichnet, und er ist der Einzige, der weiß, wie sie zu bändigen ist. Wenn sie sich in Trostlosigkeit verliert, kann nur er sie zurück ins Licht holen, bevor sie sich in den dunklen Gewölben ihres Bewusstseins verirrt und nicht mehr hinausfindet. Sie sind eins, als wären sie ein Fleisch.
»Verlasse mich niemals!«, bringt sie zwischen den leidenschaftlichen Schauern hervor, die ihren vor Erregung zitternden Körper schütteln.
»Ich bleibe immer bei dir. Bis in den Tod«, raunt er in ihr Ohr und die Treue in seiner Stimme lässt ihr Herz lodern.
Das Zeugnis ihrer Liebe liegt nebenan im Bett und schläft tief und fest. Die Leidenschaft zwischen ihnen entbrennt zu einem Crescendo und damit das Kind nicht aufwacht, legt er ihr sanft die Finger auf den Mund. Ihre Körper werden noch im Anschluss von Schauern geschüttelt, während ihre Herzschläge sich langsam beruhigen.
Jetzt tastet er mit der einen Hand nach seiner Nachttischschublade, um sie zu öffnen und etwas hervorzuholen.
»Ich habe eine Überraschung für dich«, sagt er und legt eine Hand über ihre Augen. »Hast du eine Vermutung, was es ist?«
Sie kichert: »Hat es mit uns zu tun oder mit deiner Forschung?«
»Beides«, sagt er und seine Stimme klingt derart frohlockend, dass es nur eines sein kann.
»Hast du es etwa geschafft?«, flüstert sie ahnungsvoll. Das genügt ihm als Antwort und er nimmt die Hand von ihren Augen, die einen glänzenden kleinen Gegenstand erblicken, den er zwischen den Fingern dreht.
»Ich habe es geschafft«, bestätigt er und der Stolz glimmt in seinen feurigen Gletschern auf.
Ehrfürchtig nimmt sie den Stein aus seiner Hand und schaut ihn sich fasziniert an.
»Ich habe ihn produziert, als ich im Leuchtturm war«, erklärt er. »Dieser hier war der Erste von … Nun, er soll jedenfalls dir gehören, mein Liebling.«
Erstaunt sieht sie ihn an. »Mir? Aber … das geht doch nicht! Das ist viel zu kostbar.«
»So wie du«, lächelt er und küsst sie. »Ich muss ihn dir zwar noch einmal entführen, weil ich ihn als Beweis dafür brauche, dass ich es wirklich geschafft habe; aber ich leihe ihn mir nur von dir. Es ist deiner. Und bei dem, was ich noch sicher verwahrt habe, winkt uns ein gutes Leben.«
Automatisch schauen beide zur Wand, hinter der das Zimmer ihrer Tochter liegt. »Sie soll es gut haben. Das kann auch er nicht verhindern!«
Bei diesen Worten verhärten sich seine Züge und unwillkürlich durchfährt sie ein eisiger Schauer. Er spricht in letzter Zeit häufiger von ihm. Aber wer es ist, sagt er nie. Und doch greifen dunkle Schatten nach ihrem Herzen; jedes Mal, wenn er von ihm spricht …
Ein schmieriger Film haftet auf dem Asphalt der Straßen. Die Reste von Eis und Schnee mischen sich mit dem ersten Pollenflug und hinterlassen eine dünne, jedoch feste Membran auf Bürgersteigen, Autos und an Fensterscheiben. Es ist noch immer kalt, der Winter wehrt sich mit letzter Kraft gegen den Frühling, aber die Sonne gewinnt jeden Tag merklich an Stärke.
Es ist Ende Februar und wer sich die Zeit nimmt, einmal die Nase in den Wind zu halten, kann den Frühling bereits leise riechen; wie der Vorbote einer Schlacht, kündigt er sich mit sanfter Gewalt an und rückt unaufhaltsam näher, um zu kämpfen und zu gewinnen.
Edda nimmt sich die Zeit.
Sie steht auf ihrem Balkon und zieht sich das Nikotin über die Lunge. Die Sonne ist schon fast am Rand der Stadt hinabgesunken, doch ein paar milde Strahlen tauchen die Dächer und Eddas Balkon noch in beruhigendes rotes Licht. Allerdings spürt Edda die Beruhigung kaum. Ihre kleine Welt ist schon seit fast einem Jahr ins Wanken gebracht worden; dabei waren die letzten drei Monate durchaus etwas ruhiger und erlaubten es ihr, ihre Kraftreserven zu füllen. Das ist auch dringen nötig gewesen! Sonst würde sich Edda jetzt zerreißen, statt schweigend auf dem Balkon zu stehen und zu rauchen. Ihr kleines Universum – aus den Fugen gebracht. Diesmal jedoch für immer. Und das Schlimmste daran ist: sie kann niemand anderem die Schuld dafür geben.
Edda schaut auf den schmalen Streifen, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger noch immer festhält. In seiner Mitte sind nebeneinander zwei unmissverständliche Striche zu sehen. Sie leuchten Edda entgegen und verhöhnen – nein, verdammen sie. Das, was sie getan hat; in der Nacht, als das alte Jahr dem Neuen weichen musste.
Edda genießt die Zigarette ganz bewusst und schaut aus dem Augenwinkel auf die sich leerende Schachtel, die auf dem Fensterbrett liegt. Automatisch muss sie schlucken. Doch es wird ihre letzte Schachtel sein; für mehr als neun Monate.
Mit ruhigeren Fingern als es ihr Inneres vermuten lassen würde, zieht sie ihr Handy aus der hinteren Hosentasche und macht ein Foto von dem Streifen, verschickt es mit der nächsten Nachricht, die da lautet: Wir haben ein Problem.
»Das kommt in der Tat plötzlich«, konstatiert Gunnar trocken, als er mit Edda an den bunten Jahrmarktbuden entlangschlendert.
Orla sitzt auf seinen Schultern und vernichtet fröhlich ihre Zuckerwatte, während Edda aufrecht und scheinbar gefasst neben den beiden hergeht. Aber Edda weiß, dass Gunnar sie besser kennt. Besorgt sieht er auf sie herab.
»Es war nicht geplant, nehme ich an?«
»Natürlich nicht«, gibt Edda seufzend zurück. »Das war das Letzte, was ich wollte. Oder kannst du dir mich als Mutter vorstellen?«
Gunnar grinst. »Ich habe mir Tewes nicht als Vater vorstellen können und er macht seinen Job gar nicht so übel. Wieso solltest du eine schlechtere Mutter werden als andere vor dir?«
»Ich bin keine Mutter«, sagt Edda tonlos und weicht einem Kinderwagen aus, der von einer Frau mit beachtlichem Vorbau geschoben wird. Nervös blickt sie ihr hinterher. »Das da bin ich nun einmal nicht.«
»Soll das heißen, dass du es abtreiben lässt?«, fragt Gunnar ohne Wertung in der Stimme.
Erschrocken sieht Edda ihn an und schüttelt heftig den Kopf. »Hast du eine Meise?! Das kleine Ding hat nicht darum gebeten, zu leben. Aber das tut es jetzt nun einmal; und wer bin ich, ihm dieses Recht zu verwehren? Wenn es denn schon kommt, dann will es auch behalten.«
»Dann wäre das ja geklärt.«
Gunnar nickt zufrieden und lässt sich duldsam von Orla mit den klebrigen Fingern in den von grauen Strähnen durchzogenen Haaren wühlen.
»Astrid hat es gut aufgenommen«, sagt Edda und lächelt dankbar bei dem Gedanken daran, wie milde Astrid sie angesehen hat, als Edda es ihr vor etwa zwei Stunden anvertraut hat. Sie scheint sich sogar gefreut zu haben.
»Wieso auch nicht? Immerhin hat sie nun das, was sich alle Eltern wünschen: Enkelkinder von jedem von uns.«
»Du bist lieb«, entgegnet Edda nüchtern; aber nur, weil sie verbergen will, wie sehr es ihr gefällt, wenn sie als eines von Astrids Kindern bezeichnet wird. Ihre Tante ist für sie immer ihre zweite Mutter gewesen.
Eddas Onkel Carl stellte auf die Nachricht hin bloß sachlich fest: »Na, Prost Mahlzeit.« Und da er Edda damit aus der Seele sprach, hat sie den Kommentar tapfer geschluckt.
Während Edda und Gunnar mit Orla über den Rummelplatz spazieren, versucht Edda zunächst, den Gedanken an das Wesen in ihrem Bauch zu verdrängen. Sie hat noch zehn Zigaretten in der Schachtel und reduziert ihren Tageskonsum auf vier Stück. Zweieinhalb Tage also noch. Edda muss schlucken. Heute hat sie bereits eine geraucht und ihre Hände sind unruhig. Sie schafft es in der Regel auf eine ganze Schachtel am Tag. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es bald Zeit für ihre zweite Zigarette ist. Noch zehn Minuten. Sie kommen ihr wie Jahre vor.
Als es endlich soweit ist, steckt sich Edda gierig den Filter zwischen die Lippen und inhaliert, aber sie merkt, dass es ihr nicht mehr schmecken will wie vorher.
»Meinst du, du schaffst es?«, will Gunnar wissen. »Du wirst doch aufhören, nehme ich an?«
Edda nickt fahrig. »Natürlich höre ich auf. Nach dieser Schachtel ist Schluss.« Als sie Gunnar den Inhalt zeigt, schürzt dieser anerkennend die Lippen.
»Ich drücke dir die Daumen.«
Sie setzen Orla auf ein Kinderkarussell und die Zeit nutzt Gunnar, indem er fragt: »Wer ist denn der Vater?«
Auf diese Frage antwortet Edda mit Schweigen und sie sieht ihren Cousin nicht an. Er wartet. Als sie weiterhin schweigt, fragt er kein zweites Mal. Dafür dankt sie ihm stumm.
»Was muss ich jetzt eigentlich tun?«, fragt Edda schließlich und schaut Gunnar ratsuchend an. »Ich werde mein altes Leben ja wohl kaum so weiterführen können wie bisher.«
Darüber lacht Gunnar nachsichtig. »Nein, Knirps. Das kannst du wohl nicht mehr. Mach dich nicht verrückt. Wir sind ja alle bei dir. Und glaube mir, du wirst das Würmchen ziemlich gernhaben. Das kann ich dir versprechen.«
Edda wirft einen skeptischen Blick auf Orla, die in ihrem Karussell wild mit den Armen rudert und Edda Grimassen schneidet.
»Seit wann isst du Fleisch?«, fragt Tewes erstaunt und reicht Edda ungefragt den Teller mit den Frikadellen. Edda hasst Fleisch!
Sie ist schon seit einigen Jahren Vegetarierin, aber im Augenblick könnte sie tonnenweise Frikadellen in sich hineinstopfen. Und das tut sie auch. Wobei ihr das unwahrscheinlich peinlich ist.
»Du wirst bestimmt schick aussehen«, lächelt Gunnars Frau Diana. »So schön schlank wie du immer bist, bekommst du bestimmt nur eine kleine Murmel vorneweg.«
»Heureka«, knurrt Edda und schaut angewidert die Frikadelle an, die sie mehr widerwillig und trotzdem gierig in sich hineinschiebt. Einerseits stößt sie der Geruch ab, gleichzeitig kann sie nicht genug kriegen.
»Dein Kind verlangt danach«, erklärt Diana.
»Deines auch«, versetzt Tewes trocken, als Orla sich zwei Fleischbällchen auf einmal in die Backen stopft, offenbar in der Sorge, sie könne zu kurz kommen.
Diana übergeht den Kommentar und schaut Edda wohlwollend an. »Es wird noch nach merkwürdigeren Speisen fordern, glaube mir.«
»Ich glaube es dir ja«, schmatzt Edda resigniert und spült das tote Fleisch mit Malzkaffee herunter. Sie schaut an sich herab. Ihr Bauch ist flach und glatt, wie er immer war. Sie kann es sich noch nicht recht vorstellen. Dabei war sie auf ihre gute Figur immer stolz.
Diana schaut zu Tewes hinüber, der ein wenig abwesend an seiner eigenen Frikadelle mümmelt. »Wie geht es Claudia und Renée, Tewes?«
Der Angesprochene schaut sie etwas missvergnügt an. »Ich bekomme Renée das komplette nächste Wochenende. Beantwortet das deine Frage?«
Bedauernd schaut Astrid ihren Sohn an. Sie stellt eine weitere Platte voller frischer Frikadellen auf den Tisch, nach denen Orla bereits hascht, bevor sie die Tischplatte berührt. Sanft streicht Astrid Tewes das hellblonde Haar aus der Stirn und meint: »Lass ihr die Zeit, die sie braucht.«
»Ein halbes Jahr ist aber ganz schön lang«, bemerkt Gunnar und wirft seinem Bruder einen mitfühlenden Blick zu. »Ich denke, du solltest dich vielleicht mit anderen Dingen beschäftigen und nicht mehr allzu viel an sie denken.«
»Könnt ihr euch vielleicht mal um euch selbst kümmern?«, schnaubt Tewes und steht auf, um in den Garten zu gehen und zu rauchen. An Edda gewandt fragt er: »Hast du deinen Vorrat bereits vernichtet?«
Ein Schauer schüttelt Edda bei dem Gedanken an ihre Schachtel. Sie schaut hinein. Sechs Stück sind noch übrig.
»Nein, heute und morgen noch, dann ist es vorbei«, verkündet sie tapfer und steht auf, um ihrem Cousin zu folgen und ihre zittrigen Finger mit dem Nikotin zur Ruhe zu zwingen.
Als sie zurück in die Küche kommen, ertönt ein Knall. Eddas Onkel Carl hat die Tür seines Arbeitszimmers wüst aufgestoßen und kommt mit polternden Schritten in die Küche gelaufen.
»Ein Mirakel!«, ruft er. »Ein Mirakel! Ich habe es geschafft!«
Seine grauen Haare stehen wild zu Berge, die hellen Augen glänzen und selbst die Brandnarben erscheinen rosiger und gesünder als sonst.
»Was hast du geschafft, mein Lieber?«, fragt Astrid artig und bedeutet ihrem Mann, sich zu setzen und zu essen. Aber dieser ist viel zu aufgeregt. Er packt seine Frau bei den Armen und schüttelt sie, wobei er ihr mehrere Küsse auf den Mund drückt und ruft: »Es geht wieder aufwärts, mein Liebling! Es ist der Leuchtturm! Edo war ein Genie! Ich habe sein Energieprojekt vollendet! Es ist getan! Jetzt kann ich Leonard endlich …«
Ein Klirren unterbricht ihn. Edda hat ihre Gabel fallen gelassen, mit der sie gerade nach der siebten Frikadelle angeln wollte. Sie kann fühlen, wie ihr das Blut aus dem Gesicht weicht. Unwillkürlich fasst sie sich an den Bauch und saugt geräuschvoll die Luft ein. Sie begegnet den Augen ihrer Vettern.
»Den habe ich ja ganz vergessen«, flüstert Edda und wünscht sich, sie könnte direkt noch eine rauchen.
*
Edda hockt auf der Kante des wuchtigen Schreibtisches in Carls Büro und kaut nervös an ihrer Halskette herum. Ihr Onkel hat sich mit ihr dorthinein geflüchtet und schaut sie skeptisch an.
»Ein Urenkel für den alten Patriarchen also?«, spöttelt er trocken. »Damit hätte wohl niemand mehr gerechnet. Na, der wird seine Freude haben!«
Verächtlich schnaubt Edda eine Verwünschung und ihre lilafarbenen Zotteln stellen sich unwillkürlich auf. Carl trommelt mit den Fingern auf der Fensterbank herum und schaut in den diesigen Garten des Bromedornhauses. Es regnet und die Tristesse passt zu Eddas momentaner Stimmung.
»Siehst du ihn oft in letzter Zeit?«, erkundigt sich Carl.
Mit einem Achselzucken nickt Edda. »Wenn ich mich länger nicht melde, erinnert er mich liebevoll daran.« Das sagt sie spitz. »Es scheint für ihn bloß ein Gaudi zu sein, mich an sich zu binden; stellvertretend für den Sohn, den er fahrlässig vernichtet hat.«
Carl schenkt ihr ein verzerrtes Lächeln. »Immerhin hält der Waffenstillstand zwischen euch bisher an.«
»Wir bemühen uns drum«, entgegnet Edda mit Biss. Wenn sie an ihren Großvater denkt, kann sie nicht anders. Sie werden einfach nicht richtig warm miteinander. Waffenstillstand trifft es ganz gut.
Jedes Mal, wenn Edda ihm erneut gegenübersteht, knistert die Luft regelrecht, so geladen ist sie. Es wäre eine Lüge, wenn Edda behauptete, dass sie sich beide keine Mühe geben würden. Das tun sie. Auch der alte Mann, das kann man ihm nicht absprechen. Aber sie sind sich zu ähnlich und ihre gemeinsame Vergangenheit schlichtweg zu schwierig, um ungezwungen miteinander umgehen zu können. In Wahrheit erwarten sie das auch gar nicht voneinander. Darin sind sie sich zumindest unausgesprochen einig.
Doch Leonard Audorn hat offenbar Gefallen daran gefunden, Edda in sein Leben derart hineinzuzerren, während sie sich lange dagegen gewehrt hat. Manchmal fragt sie sich, ob das vielleicht der Grund ist. Audorn will der Sieger in dieser Angelegenheit sein. Ein reicher Tyrann, der immer seinen Willen bekommt. Edo ist für ihn unerreichbar; also holt er sich von ihm das, was noch übrig ist, notfalls mit Gewalt.
»Und wie steht’s mit deinem Onkel?«, fragt Carl weiter, weil das Schweigen schon zu lange währt.
»Ich mag das Wort nicht«, zischt Edda ungnädig. »Ich kann in ihm nicht meinen Onkel sehen, so wie ich dich sehe. Aber mit ihm komme ich soweit klar. Wir sehen uns ab und zu. Tatsächlich mag ich den raffinierten Kerl sogar mehr als ich sollte.«
»Gib dem Ganzen Zeit«, versucht Carl, sie zu trösten. Daraufhin entfährt Edda ein verzweifeltes Kichern und sie schaut an sich herunter.
»Zu viel Zeit sollte ich jetzt nicht vergeuden. Wenn ich das hier verheimlichen will, muss ich jede Sekunde sorgsam nutzen.«
Überrascht zieht Carl die Stirn kraus. »Du willst es deinem Großvater gar nicht sagen?«
Edda schaut aus dem Fenster, an dem lange Tränenspuren aus Regen und Graupel herabziehen. Sie schüttelt den Kopf. »Noch nicht. Das behalte ich erst einmal für mich; solange wie nur irgend möglich.«
Edda hält ihre ersten Ultraschallaufnahmen in Händen. Viel darauf zu sehen, gibt es nicht. Aber diese kleine Knospe dort ist tatsächlich ein Mensch. Eilig steckt Edda die Aufnahmen in ihre Handtasche und versucht, nicht mehr daran zu denken. Ihr ist schlecht. Trotzdem geht sie jetzt zur Arbeit; das wird sie ablenken.
Am Abend fährt sie nach Steinlind, um Astrid die Aufnahmen zu zeigen. Eddas Tante scheint viel aufgeregter zu sein als Edda selbst. Zärtlich sieht sie zwischen Edda und den Bildern hin und her und streichelt ihrer Nichte die Wange. »Ich habe immer gehofft, dass du es dir eines Tages doch noch anders überlegst. Immerhin hast du von jeher felsenfest behauptet, keine eigenen Kinder haben zu wollen.«
Edda grinst schattig. »Ich habe es mir ja auch gar nicht anders überlegt. Es war ein Versehen, für das ich nun geradestehen werde.«
Nachsichtig sieht Astrid sie an. Sie wirkt ein wenig ermattet. Kein Wunder, denn seit Carl und sie das Bromedornhaus an Leonard Audorn verkaufen mussten, ruht eine unsichtbare Hand auf ihnen beiden, die ihnen regelmäßig ins Gedächtnis ruft, dass ihre Unabhängigkeit für alle Zeit auf und davon ist. Zumindest, wenn sie in dem Haus bleiben wollen.
Carl arbeitet von früh bis spät an alten Projekten von Eddas Vater Edo und auch an eigenen Ideen. Zu diesem Zweck hat Audorn ihm sogar ein kleines Labor in einer Technikerschule von Selve angemietet.
Eigentlich scheint sich Carl ja gar nicht so unwohl zu fühlen. Er muss nicht mehr nachgrübeln, wie er seine Forschung und seinen Lebensunterhalt finanziert bekommt und kann sogar kostspielige Projekte hochziehen, für die er die geeigneten Mittel gestellt bekommt. Die Bedingung ist eine quartalsmäßige Berichterstattung an Leonard Audorn, möglichst periodische Erfolge und natürlich die Beteiligung an den resultierenden Gewinnen. Finanziell geht es Carl und Astrid so gut, wie schon ewig nicht mehr.
Astrid kommt mit der Situation allerdings weniger gut klar. Um sich ein wenig von ihrer Unabhängigkeit zu bewahren, hat sie angefangen, zusätzlich die Haushaltskasse zu füllen, indem sie sich als Kosmetikerin und Fußpflegerin versucht. Wenngleich sie nicht glücklich wirkt, scheint ihr der Kontakt mit den Kunden allerdings ganz gut zu tun. Es lenkt sie von den Strapazen des letzten Dreivierteljahres ab und gibt ihr ein gutes Gefühl. Die meisten Kunden sind aus der Nachbarschaft und nicht selten wird neben der Pediküre ausgelassen geschwatzt und Kaffee oder Tee getrunken.
»Freust du dich denn gar nicht auf das Kind?«, will Astrid wissen und lotst Edda mit sich in den Keller.
»Doch, natürlich«, versichert Edda und meint es ehrlich. »Wenn es denn schon einmal kommt. Ich bin bloß ein egoistischer Mensch und habe Sorge, dass ich meinen Job schlecht machen werde.«
»Deine Mutter hat damals genau dasselbe gesagt«, lächelt Astrid verschmitzt. »Und als du erst da warst, hast du ihr alles bedeutet.«
Darauf sagt Edda nichts. An ihre Mutter denkt sie oft mit gemischten Gefühlen, denn wenngleich sie Elinor für ihren Selbstmord wohl kaum anzuklagen wagt, wirft sie es