Die Autorin

Anna Brüggemann – Foto © William Minke

ANNA BRÜGGEMANN, 1981 geboren, wuchs in Südafrika, Stuttgart und Regensburg auf. In dem Fernseh-Thriller Virus X stand sie 1996 erstmals vor der Kamera. Es folgten Hauptrollen in diversen Fernseh- und Kinofilmen. Mit ihrem Bruder, dem Filmemacher Dietrich Brüggemann, schrieb sie das Drehbuch für den Spielfilm Kreuzweg, der bei der Berlinale 2014 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. 2019 war sie als Drehbuchautorin an Als Hitler das rosa Kaninchen stahl beteiligt. Anna Brüggemann lebt in Berlin.

Das Buch

Was geschieht in den letzten dreißig Tagen einer Beziehung? Wann ist der Moment zu gehen? Kann man den selbst bestimmen? Und kann man in der Liebe überhaupt irgendetwas selber bestimmen?

Thomas und Eva, beide Anfang dreißig, sind seit acht Jahren ein Paar. Als Eva von einem Auslandsaufenthalt wiederkommt, könnten sie eigentlich den nächsten Schritt machen. Heiraten, Familie gründen. Aber Thomas ist sich nicht mehr so sicher. Andererseits: Kann es richtig sein, einen Menschen zu verlassen, der so grundsympathisch und klug ist wie Eva? Ist sexuelle Anziehung nicht sowieso überbewertet? Eva kann das schwankende Verhalten von Thomas nicht deuten und denkt sich immer neue Sachen aus, um ihre Beziehung zu retten. Aber auch Thomas gibt nicht so schnell auf, und so ringen beide um ihre verschwindende Liebe.

Anna Brüggemann

Trennungsroman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2516-3

© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagmotiv: © Sheila Hicks, courtesy of Sikkema Jenkins & Co., New York
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Noch 31 Tage

Thomas steht am Flughafen und wartet. Er hat sich weder die Haare gekämmt noch ein frisches T-Shirt angezogen.

Er ist aus dem Haus gehetzt, hat ein Taxi gerufen, am Flughafen dem Fahrer unglaubliche 45 Euro in die Hand gedrückt, ist zum Gate geeilt und jetzt steht er da, die Hände in den Hosentaschen, die anderen Wartenden fast alle überragend. So verharrt er schon seit mindestens zwanzig Minuten und beobachtet die Ankommenden. Eva ist nicht dabei. Es ist immer das Gleiche. Man hetzt sich ab, um dann zu warten.

Thomas weiß, wie wichtig es Eva ist, von ihm abgeholt zu werden. Und weil er nicht im Entferntesten weiß, was ihm selber gerade wichtig ist, fügt er sich ihrem Wunsch. Sie werden sich ab heute, nach fast zwei Jahren Fernbeziehung, zwar sowieso wieder jeden Tag sehen. Aber ja, es ist schön, vom Flughafen abgeholt zu werden.

Thomas geht noch einmal die letzten Stunden durch. Vielleicht bekommt er ja noch ein wenig Ordnung in seine Gedanken, bevor er Eva wiedersieht.

Vor sechs Stunden war er noch auf seiner Station, eine letzte Runde drehen, bevor er den Bericht für die Nacht schreiben, die Übergabe machen und nach Hause gehen konnte.

Frau Brake auf Zimmer vier schlief unruhig, der Drainagebeutel war voll, offensichtlich hatte sie nachgeblutet. Kopfschüttelnd wechselte Thomas den Beutel und ging zu Schwester Brigitte, die eingenickt war.

»Der Beutel von Frau Brake war voll.«

»Ja, und?«

»Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, den zu wechseln.«

»Ich hatte auch noch andere Aufgaben.«

»Wenn die Patientin nachblutet, müssen wir das wissen.«

»Weiß ich, Dr. Wiedhoff, ich bin ja nicht erst seit gestern hier.«

»Wenn Sie hier Patientin wären, würden Sie auch gerne gut behandelt werden.«

»Ich tu, was ich kann.«

Thomas machte weiter seine Runde. Sein Nacken versteifte sich, und seine Schritte wurden staksig. Er hasste solche Auseinandersetzungen, er hasste sie. Er öffnete die Tür zu Zimmer Nummer neun, Herr Bertram lag hier, alleine.

»Dr. Wiedhoff, guten Morgen.« Herr Bertram war schon wach. Er richtete sich nicht im Bett auf, aber seine hellen Augen begrüßten Thomas.

»Guten Morgen und gute Nacht, mein Dienst ist gleich zu Ende, ich geh jetzt schlafen.«

Thomas mag Herrn Bertram. Auch wenn er jetzt am Flughafen an ihn denkt, muss er kurz lächeln. Herr Bertram ist fein, er ist freundlich, er ist höflich, und obwohl sie immer nur wenige Worte miteinander wechseln, ist da auf beiden Seiten ein gewährendes Verständnis füreinander. Herr Bertram hat sich nicht dumpf seiner Krankheit ergeben, er starrt nie trübe vor sich hin und wundert sich, wie das alles passieren konnte, dieser Körper, dieses Leben. Er ist einfach da. Todkrank, heiter.

»Und, was hat die Nacht gebracht?«, fragte Herr Bertram.

»Nicht viel, zum Glück.« Thomas schwieg kurz. »Aber heute kommt meine Freundin nach Hause, deshalb ist ein besonderer Tag.«

»Ihre Freundin, wie schön. Wo war sie denn?«

»Sie war zwei Jahre in Paris. Wir haben uns natürlich oft gesehen, alle zwei Wochen. Aber jetzt kommt sie wieder, endgültig.«

»Per Zug oder mit dem Flugzeug muss man in Ihrer Generation ja fragen.« Herr Bertram schloss kurz die Augen, hörte aber weiter zu.

»Sie wollte mit dem Nachtzug kommen, aber die Bahn in Frankreich streikt. Jetzt kommt sie mit dem Flugzeug. Meine Freundin wollte das nicht unbedingt. Sie ist sehr korrekt, also, sehr pflichtbewusst.«

»Wie heißt sie denn?«

»Eva.«

»Wissen Sie, es ist seltsam. Mein einer Sohn wohnt in Tokyo, der ist da Architekt und hat zwei Kinder. Der andere wohnt noch immer in Steglitz und arbeitet in einer Computerfirma. Wir wissen gar nicht so genau, was er macht. Er kommt alle zwei Wochen bei uns vorbei. Er ist immer alleine. Ich weiß nicht, was wir bei ihm falsch gemacht haben.«

»Vielleicht gar nichts, vielleicht ist er einfach so.«

»Ich glaube, meine Frau war lange Jahre enttäuscht von mir«, redete Herr Bertram schon weiter. »Vielleicht hat das auf den Jungen abgefärbt. Sie hatte sich mehr von der Ehe mit mir erhofft. Blumen, Romantik, endlich dieses Gefühl, dass alles gut ist. War es aber nicht. Es war einfach alles normal. Aber wissen Sie, wenn die Dinge normal laufen, dann ist das Luxus. Mehr kann man nicht verlangen vom Leben. Ich wollte nie mehr als eine ruhige Normalität. Und deswegen habe ich selten alles gegeben. Nicht im Beruf, nicht in der Liebe. – Ich war übrigens auch Arzt.«

»Ich weiß, das steht in Ihrer Akte.«

»HNO. Da sieht man vielleicht Sachen. Aber das tun Sie hier ja auch. Medizin ist manchmal ganz schön scheußlich.«

»Haben Sie denn irgendwo Schmerzen, Herr Bertram? Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Feierabend mache?«

Herr Bertram richtete seinen Blick auf Thomas. Seine Augen lächelten.

»Hab ich ein bisschen viel geredet?«

Thomas schüttelte den Kopf, von ihm aus konnte Herr Bertram noch viel mehr reden, er hörte ihm gerne zu.

»Verraten Sie mir nur noch eine Sache: Kaufen Sie Ihrer Freundin heute Blumen, wenn sie wiederkommt?« Thomas verzog das Gesicht und lächelte. So etwas machte er nicht, nie. Blumen, Liebesbriefe, das wirkte auf ihn immer wie eine schale, überfrachtete Behauptung.

»Weiß ich noch nicht. Ich glaube eher nicht.«

»Machen Sie mal. Und dann erzählen Sie mir, ob sie sich gefreut hat.«

»Tschüss, Herr Bertram, bis morgen früh, da bin ich wieder da.«

»Tschüss, Dr. Wiedhoff, auf Wiedersehen.«

Herr Bertram schaute Thomas hinterher, bis dieser leise die Tür schloss. Wirklich ein freundlicher Mann. Ein rücksichtsvoller Mann. Kein auf Konkurrenz erpichter Mann wie Dr. Peiffer, Thomas’ Chefarzt, der ihm gerade entgegenkam.

»Na, Kollege, alles frisch?«

»Ja.«

»Na dann, schlafen Se mal gut und schnell!« Ein etwas zu lautes Lachen, ein Kopfnicken.

Thomas fuhr mit dem Fahrrad nach Hause, sprang unter die Dusche, die letzte Dusche, bevor Eva wiederkam. Das letzte Mal Schlafen, bevor sie wieder da war. Wecker stellen nicht vergessen.

»Wenn ich mir eine Sache wünschen würde«, hatte Eva beim letzten Telefonat gesagt, »dann, dass du mich abholst. Das ist vielleicht etwas old school und abgeschmackt, aber irgendwie auch wirklich romantisch.«


Bei dem Wort »Romantik« verkrampft sich Thomas regelmäßig. Für das Ausleben von Gefühlen gibt es keine klaren Handlungsanweisungen, also kann man schnell versagen. Thomas schaut wieder in die Menschenmenge. Eva ist immer noch nicht da. Er studiert die Anzeigetafel. Der Flug aus Paris ist gelandet. Er streckt sich ein wenig und beobachtet die Menschen aufmerksamer. Mann, ist er müde.


Als er vor gerade mal fünf Stunden erschöpft ins Bett gefallen war und die Decke bis über die Ohren gezogen hatte, erwartete er, sofort einzuschlafen. Aber sein Gehirn spielte ihm immer wieder Bilder zu, wie er mit Bus und Bahn zum Flughafen fuhr. Rolltreppe rauf, Rolltreppe runter, rein in den Flughafenbus, und so weiter. In Dauerschleife machte er die Reise nach Schönefeld und zurück. In Dauerschleife stellte Eva ihren großen Reiserucksack im Flur ab und wollte wissen, wie es ihm ging. SIE WOLLTE WISSEN, WIE ES IHM GEHT. Das will sie immer wissen. Dabei weiß er es nicht, er weiß es einfach nicht.

Thomas fühlt nicht mehr viel, seit Wochen schon, seit Monaten. Er funktioniert zwar, aber ohne Freude. Auch ohne bodenlose Traurigkeit. Er ist da. Er macht seine Arbeit. Er ruft abends seine Freundin an. Innerlich neutral. Soll er das Eva sagen? Das hat er schon oft genug gesagt. Sie hat ihn jedes Mal besorgt angeschaut, ihm die Hand auf den Rücken gelegt und gesagt: »Das wird schon, wenn ich wieder da bin. Mach dir keine Sorgen.« Jetzt kommt sie also wieder, und jetzt wird alles gut.

Nach vier Stunden wurde Thomas mit einem Ruck wieder wach. Es war elf Uhr. Der Wecker hatte nicht geklingelt. Er hatte ihn gestellt, aber nicht aktiviert. Evas Flieger landete um 11.30 Uhr. Das war nicht zu schaffen.

Thomas rannte ins Bad und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Deo, T-Shirt, Unterhose, Hose, Socken, Schuhe. Handy, Schlüssel, Portemonnaie, Taxi-App. »Ihr Taxi kommt in drei Minuten.«

Thomas stand auf der Straße, das Taxi kam nicht. Er rief beim Taxi-Service an. »Oh, der Fahrer hat wohl einen anderen Fahrgast aufgenommen. Wir schicken Ihnen ein anderes Fahrzeug. Das kommt in acht Minuten.«

Thomas stand auf dem Gehweg, spielte unruhig mit seinem Telefon und wollte am liebsten die Zeit anschieben. Endlich kam das Taxi, sanft, leise, ein Elektroauto. Thomas stieg ein. »Nach Schönefeld bitte«, er schaute aus dem Fenster, es war nicht viel los, es sollte klappen. Er würde vielleicht zehn Minuten zu spät sein, mehr nicht. Und so lange brauchte man sowieso mit dem Gepäck und so weiter.

Ich hätte auch mit dem Bus fahren können, denkt Thomas und ärgert sich. Er ärgert sich, dass er überhaupt zum Flughafen gefahren ist. Er hätte genauso gut zu Hause alles schön machen können für Evas Ankunft. Jetzt werden sie sich gemeinsam durch die Stadt wälzen, wo ist da der Mehrwert?

Da sieht er Eva.

Sie hat ihren großen Rucksack geschultert, ihre mittellangen mittelblonden Haare hängen ihr auf die Schulter, sie steht da, mit gelassenem, geradem Rücken, und sucht ihn. Thomas geht auf sie zu.

Die Schönheit ihrer hellblauen Augen, die von einem dunklen Kranz umgeben sind, ihre dunklen Wimpern und den entschieden geschwungenen Mund – all das sieht man erst, wenn man sie wirklich mag. Eva ist ein Mensch, an dem man erst einmal vorbeigeht. Aber wenn man genauer hinguckt, lässt sie einen nicht mehr los.

Und jetzt steht sie dort, und ihr Blick wandert suchend zwischen den Reisenden hin und her.

Als sie Thomas entdeckt, sein feines, etwas abgehetztes Gesicht, das sich aufhellt, als er Eva sieht, lacht sie und winkt.

Sie umarmen sich, und kurz drückt Eva ihr Gesicht in seine Achselhöhle. Thomas ist groß. Groß, sehr schmal. Braune, wellige Haare, verschwimmende, blaugrüne Augen. Sein Mund ist fein, an den Mundwinkeln lustig nach oben geschwungen. Seine Nase ist weder gerade noch gebogen, sondern beides. Gerade mit einem kleinen Höcker.

Eva hingegen ist athletisch. Starke Schultern, schöne Oberweite, sportliche Beine. Sie neigt ihren Kopf zart in Richtung Thomas. Sie lächeln sich an.

Mitten ins Lächeln hinein sagt Eva plötzlich: »Ich hätte mich wirklich gefreut, wenn du pünktlich gewesen wärst.«

»Ich war pünktlich, ich warte hier schon seit Stunden!«

»Komisch, ich auch. Dann haben wir uns wohl übersehen. Wo warst du denn?«

»Da drüben.«

»Aber da habe ich dich nicht gesehen.«

»Ich war aber da.«

»Du kannst ruhig sagen, wenn du zu spät warst, ist nicht schlimm.«

»Aber ich war nicht zu spät.«

Sie gehen durch den Flughafen und tun so, als hätte der kleine Disput nicht stattgefunden. In einem Feinkostladen gibt es Rosen aus Schokolade, die in rote Folie gewickelt sind. In der Mitte steckt eine Praline.

»Blumen?«, fragt Thomas und deutet mit leichtem Grinsen auf die Rosen.

Eva lacht. »Ich mag doch gar keine Schokolade.«

Thomas zuckt mit den Schultern und legt den Arm um sie. »Schön, dass du endlich wieder da bist.«

»Find ich auch.«

Eva erhascht im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel. Sie sieht müde aus, ihre Haut ist vom Flug leicht gerötet. Hätte sie doch Make-up tragen sollen? Oder wenigstens getönte Tagescreme? Sie schiebt den Gedanken beiseite. Thomas kennt sie jetzt lange genug, er weiß, dass sie hübsch sein kann. Außerdem trägt er auch kein Make-up.

Sie sieht mit einem Grinsen zu Thomas, um ihm den kleinen Witz zu erzählen, aber der ist schon ein paar Schritte voraus und bahnt sich mit leicht hochgezogenen Schultern den Weg.

Geht er neben ihr her, oder rennt er vor ihr weg? Eva holt ihn ein und greift nach seiner Hand. Wahrscheinlich findet er die Umgebung stressig, das kennt sie schon von ihm, vor allem in letzter Zeit.

»Doof, dass der Nachtzug ausgebucht war, ich wäre viel lieber mit dem Zug gekommen.«

»Hm, verstehe ich.«

Sie steigen in den Bus, und Eva denkt an die Wohnung. Ob da irgendetwas besonders ist, anders als sonst, weil sie endlich wieder da ist?

»Soll ich eigentlich den Rucksack mal nehmen?«, fragt Thomas.

Eva schüttelt den Kopf. So etwas machen sie nicht, haben sie noch nie gemacht. Der Bus fährt mit einem Ruck los, Eva klammert sich an eine Stange und schaut hinaus.

Berlin, da ist es wieder. Nicht nur für zwischendurch, jetzt ist sie hier wirklich wieder zu Hause. »Es ist vielleicht albern, aber ich bin aufgeregt«, wendet sie sich Thomas zu. »Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet. Vor zwei Jahren habe ich mich gefragt, wie ich wohl sein würde, wenn ich zurückkomme. Wie du sein würdest, wie wir sein würden, und jetzt ist es plötzlich so weit. Ich stelle mir allerdings mein Zukunfts-Ich immer wesentlich reifer und gelassener vor, als es dann tatsächlich ist.« Sie lacht kurz, und Thomas stimmt ein.

»Geht mir auch so.«

»Aber trotzdem ist heute ein Feiertag. Von dem niemand eine Ahnung hat außer uns beiden« Thomas lächelt, aber sein Blick sagt eher, »ich freue mich auch für dich«, als dass Eva bei ihm genuine Freude spüren könnte. Sie versucht trotzdem, sich ihre Festtagsstimmung nicht nehmen zu lassen und lächelt tapfer aus dem Fenster.


Als Eva und Thomas in die Wohnung kommen, spürt Eva gleich, alles ist wie immer. Die Wohnung schläft leicht unaufgeräumt vor sich hin.

Trotzdem atmet Eva erleichtert auf. Diese große, schöne Wohnung mit den breiten, matten Dielen. Ihren Schwedendielen, wie Eva sie nennt, weil sie mit Anfang zwanzig der Überzeugung war, alle Fußböden in Schweden sähen so aus. Diese Wohnung, die Thomas und sie zusammen geprägt haben. Zusammenwohnen, das können sie gut und das hat ihnen gefehlt die letzten zwei Jahre.

Eva stellt ihren Rucksack ab. Aber sie fragt nicht »Wie geht es dir?«, so wie Thomas es sich ausgemalt hatte. Sie fragt: »Was machen wir jetzt?« Darunter liegt der leise Vorwurf von »Wir haben einen ganzen Tag für uns, aber ich kann nicht bestimmen, wie dieser Tag verläuft, denn ich war nicht da, sondern ganz woanders. Ich habe eine Reise hinter mir und bräuchte jetzt jemanden, der einen Plan hat, oder zumindest was zu essen. Der Jemand müsstest du sein.«

»Ich koche uns was!«, ruft Thomas aus der Küche. »Risotto mit getrockneten Tomaten?«

»Okay, gerne.«

Eine Minute später kommt er aus der Küche.

»Ich muss noch mal schnell einkaufen.«

Thomas verschwindet, und Eva lässt sich leer auf das Bett fallen. Dieses Bett, das sie vor sechs Jahren für sich und Thomas gekauft hat. Damals kam ihnen so ein großes Doppelbett schrecklich seriös vor. Überhaupt zusammenzuziehen und dann auch noch in eine derartig große Wohnung, das war unerhört erwachsen.

Was ist eigentlich mit ihm los, fragt sich Eva. Sie klingt dabei nicht vorwurfsvoll und auch nicht besorgt, sondern ehrlich interessiert. Der war schon immer so, denkt sie. Irgendwann ist er wieder normal. Manchmal muss er einfach ausschwingen. Oder sich an die neue Situation anpassen.

Ihr Blick fällt auf einen Streifen Passfotos, den sie irgendwann mal neben das Bett gepinnt hat. Thomas und sie, beide mit dicken Mützen, und beide einigermaßen angetrunken in die Kamera grinsend. Der Streifen fällt immer wieder herunter, weil die Stecknadel nicht hält. Eva hängt ihn wieder auf.


Die Wohnungstür geht, Thomas ist wieder da. Er schleppt zwei Stoffbeutel voll mit Einkäufen in die Küche. Anscheinend war wirklich überhaupt nichts mehr zu essen im Haus.

»Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir diese Fotos gemacht haben?«, ruft Eva ihm zu.

»Ja, klar, da waren wir ganz frisch zusammen! Da trägst du die Mütze von Ludwig, die er bei mir vergessen hatte. Und du hattest gerade das erste Mal bei mir übernachtet.«

»Wir hatten auch gerade das erste Mal miteinander geschlafen«, ruft Eva aus dem Schlafzimmer. Und nach einer Pause: »Kannst du dich eigentlich an unser erstes Mal erinnern?«

»Ja, klar.«

»Ja, klar und sonst nichts?«

Eva kommt aus dem Schlafzimmer und lehnt sich an die Küchentür. Da steht sie, die Arme verschränkt, in einem weißen T-Shirt und einer hellblauen Stoffhose. Thomas fröstelt, es ist ja erst Ende Mai, aber Eva ist nie kalt. Ihre Haut ist immer hell gebräunt und sonnenwarm. Unter dem T-Shirt zeichnen sich ihre Brüste ab. Thomas hat noch nie gesagt, dass er sie schön findet. Dabei wäre das bestimmt mal angebracht. Sie sind sehr schön. Sie sprechen nur nicht zu ihm.

Er stellt sich zu Eva, nah, liebevoll.

»Also, wie war das denn. Wir hatten uns abends getroffen, mit ›deinen Freunden‹, das war einigermaßen aufregend für mich. Also mit Desi und Inga und Faris, die beiden waren da schon zusammen, aber niemand wusste es. Wir sind als Letztes gegangen, und zum Abschied habe ich dir einfach einen Kuss auf den Mund gedrückt und hatte Angst, du schaust mich entgeistert an und sagst, ›Ich dachte, wir sind nur gute Freunde‹.« – »Das weiß ich doch, das weiß ich doch alles! Und zwei Tage später sind wir dann alleine auf dieses Konzert in dem kleinen Kellerlokal und danach in den Wedding zu dir. Aber ich meine konkret den Sex! Kannst du dich daran nicht erinnern?«

Eva fragt sich, warum ihr der Sex plötzlich so wichtig ist. Vielleicht, weil sie in Paris zwar oft an Thomas gedacht hat, aber nicht an Thomas beim Sex. Eher stellte sie sich lange Spaziergänge mit ihm vor. Spaziergänge machen Thomas Spaß. Sex irgendwie nicht mehr so. Das war früher anders.


Thomas schweigt kurz. In Sekundenschnelle denkt er an die allererste Nacht mit Eva. Nach dem Konzert war klar, heute musste etwas passieren, heute oder gar nicht.

Er wusste nicht einmal sicher, ob er mit Eva ins Bett wollte, aber er wollte mit ihr zusammen sein und ihre intelligente, lebenspraktische Art in seinem Leben haben. Also fragte er sie, ob sie mit ihm nach Hause wollte, und sie fuhren auf ihren Fahrrädern zu ihm. Im Wedding wohnte er damals noch, in einer heruntergekommenen Wohnung mit Dusche in der Küche, zusammen mit einem Kommilitonen, der diese Dusche nie benutzte und eigentlich auch nie studierte.

Thomas lächelt Eva an. Er weiß noch, wie es war. Aber er glaubt nicht, dass sie das hören möchte.

Eva lag unten und küsste ihn. Wieder hielt sie den Kuss länger als er, so wie zwei Tage vorher auch schon, sie hatte wohl größere Beharrungskräfte, und Thomas, der gerne flüchtig und spielerisch knutschte, ließ sich darauf ein. Ein paar Beharrungskräfte taten ihm ganz gut.

Hoffentlich findet sie mich nicht zu dünn, dachte er. Aber dann merkte er, dass Eva immer einen Teil der Bettdecke über sich zog, anscheinend hatte sie umgekehrt Angst, ihm könne etwas an ihr nicht gefallen.

Er sah in ihre Augen, hellblau mit einem dunklen Kranz um die Pupille, schöne, kluge Augen.

»Du bist aber schön«, flüsterte er und merkte, wie Eva sich entspannte. Er versuchte, ihr T-Shirt auszuziehen, aber er war vorsichtig, er wollte nicht männlich-dominant wirken. Eva half ihm, überkreuzte ihre Arme und zog mit einem Schwung das T-Shirt aus. Darunter trug sie einen schwarzen praktischen BH, aber das war Thomas egal. Männer, die auf Dessous übergroßen Wert legten, waren ihm sowieso suspekt. Und dann war da eben ihr Busen.

Viele Männer hätten ihn um eine Nacht mit einem solchen Busen beneidet, aber er mochte nun mal lieber kleine, handgroße Brüste. Natürlich hätte er vorher wissen können, dass Evas Busen groß war, aber ihm war alles andere an ihr wichtiger gewesen. Er versuchte, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Das Verletzungspotenzial in so einer ersten Nacht ist groß, und Thomas wollte Eva auf keinen Fall verletzen.

Eva küsste ihn, und er streichelte versuchsweise über ihre Brüste. Überrascht sah sie ihn an. »Du bist aber vorsichtig«, sagte sie.

Thomas lächelte sie vielsagend an. Ich könnte ganz anders abgehen, sollte sein Blick sagen. Aber ich respektiere dich eben.

Sein Blick wanderte weiter zu Evas Bauch, der breit und flach war und sehr schön, und er sah ihre sportlichen Beine. Vor allem aber sah er nach wie vor ihre Augen. Und diese Augen schauten ihn an mit einer Mischung aus nüchterner Distanz und Mitgefühl. An diesem Abend und alle weiteren Tage und Abende in den nächsten sieben Jahren.


»Also«, sagt Thomas schließlich. »Die puren Fakten: Du warst unten, ich oben, wir haben ein Kondom benutzt, du bist, glaube ich, nicht gekommen, aber ich habe dich danach noch ›manuell befriedigt‹, und ich konnte nicht fassen, was für schöne Augen du hast.«

»Und du warst sehr vorsichtig, fast schüchtern, das fand ich sehr besonders.«

»Ja, dazu komme ich jetzt. Neben den ›puren Fakten‹ hat es sich angefühlt wie nach Hause kommen.«

Eva lächelt ihn glücklich an. »Magst du eigentlich meinen Busen?«

»Ja!«

»Du sagst nie was über ihn.«

»Echt nicht? Vielleicht, weil mir das übergriffig vorkäme. Also: Dein Busen ist sehr schön.«


Ein paar Stunden später liegt Eva frisch geduscht im Bett und wartet auf Thomas. Sie schreibt eine Nachricht an ihre beste Freundin Desi.

»Bin wieder da«. Zu mehr ist sie nicht mehr in der Lage, der Tag war lang, die Knochen sind schwer, sie ist müde.

Was für ein seltsamer Abend das war. Ein Abend der unangenehmen Mitte. Ihr Hochgefühl, ihre Freude haben nicht genug Raum bekommen. Alles war etwas zu normal. Eva fühlt sich ein bisschen wie eine Stehlampe, die nach längerer Reparatur wieder an ihrem angestammten Platz ist. Es war doof ohne die Lampe, etwas leer und etwas dunkel, aber jetzt, wo sie wieder da ist, kann man endlich wieder zum Alltag übergehen.

Wo bleibt Thomas eigentlich? Und warum bleibt er immer so lange im Bad?

Eva kann sich erinnern, dass es in ihrer Kindheit eine der Sachen war, die man nicht machte, stundenlang im Bad verschwinden. Als WG-Kind sowieso, aber auch als Frau. Man machte sich nicht für die Männer schön, sondern für sich. Das betont ihre Mutter bis heute mit einem gewissen Stolz auf sich und Verachtung für die anderen. Was sie nicht davon abhält, immer genauestens ihre Wirkung zu kontrollieren.

»Thomas, alles ok?«

»Jaaa, bin gleich da!«


Thomas steht vorm Spiegel und redet leise mit sich selbst. Seine Gedanken wandern zu Herrn Bertram. Thomas macht sich Sorgen um ihn. Und um Eva. Und um sich selber. Ein tintenblaues, waberndes Gefühl der Sorge liegt auf seinem Körper. Er reißt sich los, macht die Badezimmertüre auf und versucht, mit einem Sprung auf das Bett und zu Eva seine Sorgen zu vertreiben. Eva sieht ihn überrascht an. Sie hat sich ein Taschenbuch geschnappt und liest halb interessiert darin herum.

»Schön, dass du in meinem Bett liegst.« Thomas gibt Eva einen Kuss.

»Genau genommen ist das mein Bett. Das habe ich damals bezahlt.«

»Schön, dass du in deinem Bett liegst«, sagt Thomas und lacht kurz. Eva lacht mit.

»Was hast du denn so lange im Bad gemacht?«

»Na, was macht man im Bad?« Thomas schaut peinlich berührt. Eva verdreht die Augen.

»Ich musste an einen Patienten denken, den ich mag.«

»Wie alt?«

»Fünfundachtzig.«

»Oh.«

»Ich würde mich gerne mal mit ihm länger unterhalten. Ich glaube, wenn wir gleich alt wären, könnten wir befreundet sein. Ist albern, ich weiß.«

»Was würdest du ihn denn fragen wollen?«

»Wieso fragen, ich meinte unterhalten.«

»Ich dachte … du suchst doch immer unbewusst so eine Mentoren-Figur. So jemanden wie dein Vater, nur weniger bestimmend.«

»Tu ich das?« Thomas windet sich. Eva meint mal wieder, ihn besser zu kennen als er sich selbst. »Ich mag meinen Vater eigentlich ganz gern.«

»Ich auch, aber man hat doch immer Fragen an die eigenen Eltern, die bei näherer Betrachtung eher an die ältere Generation im Allgemeinen gehen als an die Eltern direkt. An jemanden, der einfach schon länger gelebt hat, aber nicht familiär mit einem verstrickt ist. Also ich habe das.«

»Na ja, also wenn Herr Bertram allwissend wäre, würde ich ihn fragen, ob ich im richtigen Beruf bin.«

»Sonst nichts?«

Thomas schüttelt den Kopf.

Was könnte man nicht alles fragen.

»Haben Sie es je bereut, Kinder bekommen und Ihre Frau geheiratet zu haben? Sind Sie froh, in der Stadt geblieben zu sein, oder wären Sie doch lieber in die Provinz gezogen? Soll man ein Haus kaufen? Bauen? Oder doch lieber mieten? Und könnte ich mal mit meiner Freundin vorbeikommen, und Sie sagen mir, ob sie die Richtige für mich ist? Ich zweifle manchmal an ihr – und uns. Dabei ist sie das, was andere eine ›tolle Frau‹ nennen. Das Beste, was jemandem wie mir passieren kann. Ich zweifle übrigens erst in letzter Zeit an uns. Also seit … Ich weiß es nicht. Mein Zeitgefühl ist mir ein bisschen abhandengekommen, Ihnen auch?« Er wird nichts von alldem fragen. Er traut sich viel zu wenig, und das Leben bleibt dadurch immer gleich. »Was würdest du denn einen weisen alten Herren fragen oder eine weise alte Dame?«

»Wie du mich gerade anschaust, ich glaube, das ist der Grund, warum ich mit dir zusammen bin.«

»Wie … wie schaue ich denn?«

»Mit Wärme und Interesse. Das macht dich wirklich attraktiv.«

»Oh, danke schön.« Thomas bekommt ein bisschen Lust auf Sex.

Ihre Augen verhaken sich ineinander. Aber Eva gibt nicht ganz nach. Etwas Stoisches ist in ihrem Blick, etwas, das Thomas in letzter Zeit öfter gesehen hat und das er gar nicht so gerne mag.

»Ich muss gar keinen alten Herren fragen, ich frage dich direkt«, setzt Eva an.

Da küsst Thomas sie. Sie erwidert den Kuss, und schon knutschen die beiden. Es ist nicht ganz so wie in seiner Vorstellung, irgendwie etwas nüchterner, aber Thomas genießt es trotzdem.

»Also, ich bin ja jetzt wieder da …« Eva hält inne und nimmt Thomas’ Penis in die Hände. Sie knutschen wieder. »Und wir hatten ja mal überlegt, ob ich dann die Pille absetze.«

»O ja, stimmt.«

Eva blickt ihn an.

»Das hatten wir gesagt«, sagt Thomas noch einmal und weiß nicht so recht weiter. Er streichelt über Evas Po, ihre Beine und ihre Scham. »Vielleicht besprechen wir das morgen?«, fragt er.

»Klar«, nickt Eva. »Du musst auch nicht sofort was dazu sagen. Aber das ist die Frage, die ich dir im Moment stellen würde. Beziehungsweise stelle.«

Das Thema ›Pille‹ wollte Eva eigentlich noch gar nicht ansprechen. Nicht am ersten Abend, nicht, wenn Thomas so wenig greifbar ist. Sie ärgert sich.

Thomas küsst Evas Nacken, sein Zeigefinger fährt langsam ihre Schamlippen entlang, dann dringt er mit den Fingern in sie ein. Gleichzeitig lenkt ihn ein Gedanke ab, der sich nicht mehr verscheuchen lässt. Hat Eva die Pille schon abgesetzt, ohne es ihm zu sagen? Möchte sie nur noch sein Ok?

Eva zieht ihn auf sich und legt ihre Arme um ihn, um seinen knochigen Rücken. Thomas tastet ihren Körper entlang und fühlt sich nicht mehr wohl. Er küsst Eva wieder in der Hoffnung, dass etwas passiert. Emotional und konkret, bei seiner Erektion, die etwas instabil geworden ist. Soll er lieber aufhören? Ist das nicht furchtbar verletzend für sie beide? Da fährt Eva mit ihren Fingern, diesen athletischen, stets gut durchbluteten Fingern, in seine Haare und dreht seinen Kopf zu ihr.

»Wir müssen das hier nicht weitermachen, wenn du nicht willst.« Sie sieht ihn an. Stoisch. Enttäuscht.

»Entschuldige«, sagt Thomas.

Er legt sich bäuchlings auf sein Kissen, Eva auf das Kissen neben ihm. Sie schauen sich stumm in die Augen.

»Kannst du mich in den Arm nehmen?«, fragt Thomas.

»Okay«, sagt Eva zögerlich.

»Entschuldige, ich habe zurzeit keine klare Struktur. Alles in mir ist durcheinander.«

Ruhig blickt Eva in das dunkle Zimmer. Thomas ist zum Heulen zumute. Nach einer Weile nimmt Eva ihren Arm wieder weg.

»Ich hab die Pille übrigens noch nicht abgesetzt, falls du dich das fragst.«

Thomas tastet nach ihrer Hand. »Komm, wir schlafen«, sagt er. »Morgen ist ein neuer Tag.«