Psychoanalyse im 21. Jahrhundert
Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen
Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne
Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens
Berater der Herausgeber
Ulrich Moser
Henri Parens
Christa Rohde-Dachser
Anne-Marie Sandler
Daniel Widlöcher
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1. Auflage 2016
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-022321-9
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Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.
In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.
Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.
Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.
Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.
In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.
Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Cord Benecke, Lilli Gast,
Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens
Als erstes wollen wir uns bei den Herausgebern, die uns für das Buch »Depression« aus der Reihe Psychoanalyse im 21. Jahrhundert ausgewählt haben, für diese Ehre und ihr Vertrauen in uns bedanken. Sodann gilt unser Dank ganz besonders Herrn Poensgen vom Kohlhammer Verlag für seine große Geduld und die wiederholt herausragend gute Kooperation. Für Schreibarbeiten bei der Manuskripterstellung geht unser herzlicher Dank an Frau Mleczko.
Nicht zuletzt danken wir aber auch den depressiven Patienten, sowohl denen, die an unserer Münchner Psychotherapiestudie teilgenommen haben und in Interviews wie auf Fragebögen so bereitwillig über sich Auskunft gaben, als auch denen, die sich bei uns in analytischer Psychotherapie befanden – beide Patientengruppen haben sehr viel zu unserem Verständnis der Depression und damit auch zu diesem Buch beigetragen.
Eine Schwierigkeit, im Jahre 2015 über die Psychoanalyse im 21. Jahrhundert zu schreiben, besteht darin, dass dieses Jahrhundert erst zu fünfzehn Prozent vorüber ist; deshalb wird das vorliegende Buch mehr ein Ausblick als ein Rückblick sein. Damit bewegen wir uns nicht mehr auf dem einigermaßen gesicherten Boden der Vergangenheit, sondern blicken in die Zukunft, wollen Tendenzen aufzeigen, was notwendigerweise ein sehr subjektiver Vorgang ist. Wir halten es deshalb für sinnvoll, wenn wir dem Leser die empirische Basis unserer Ausrichtung für dieses Buch zu erkennen geben, damit er selbst unseren Beitrag zur Depression einordnen kann und die Relevanz, die er für ihn hat.
Unsere Überlegungen zu diesem Buch sind geprägt worden von einigen Veröffentlichungen am Ende des vergangenen und am Beginn des neuen Jahrhunderts und der Sorge um die Psychoanalyse, sollte sie sich nicht den aus diesen Publikationen resultierenden Diskussionen stellen; einige wichtige davon werden wir, sozusagen als empirischen Anstoß zum Verständnis dieses Buches, im Folgenden kurz darstellen.
Einen Anfang der Versorgungsforschung machte die DGPT-Praxisstudie aus dem Jahre 1987 an Psychoanalytikern, die ihre Ausbildung an einem psychoanalytischen Weiterbildungsinstitut der DGPT abgeschlossen hatten. Sie zeigte, dass nur ca. 7 % der Patienten mit vierstündiger Einzeltherapie, ca. 18 % mit dreistündiger Einzeltherapie, der überwiegende Anteil der Patienten aber mit zweistündiger (37 %) und mit einstündiger Einzeltherapie (ca. 30 %) behandelt wurden.
In neuerer Zeit führten Albani et al. (2010) im Rahmen einer Studie zur Versorgungsforschung ein Telefoninterview durch mit 1212 Personen, die innerhalb der letzten sechs Jahre psychotherapeutisch behandelt wurden oder seit mindestens drei Monaten behandelt werden. Von den Befragten gaben 47 % an in Verhaltenstherapie, 41 % in tiefenpsychologisch fundierter Therapie und 5 % in psychoanalytischer Therapie zu sein oder gewesen zu sein. Die mittlere Therapiedauer betrug 48 Sitzungen. Die einstündige Psychotherapie war am häufigsten (41 %), gefolgt von Psychotherapien mit einer Frequenz von zwei bis dreimal pro Monat (26 %) und einmal oder weniger pro Monat (20 %); 10 % waren oder sind in einer Therapie mit einer Frequenz von zwei bis dreimal pro Woche und nur 2 % waren in einer Therapie von mehr als dreimal pro Woche. Diese Befunde wurden in neuerer Zeit durch Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) repliziert (Multmeier, 2014).
Brauer und Brauer (1998) gaben in ihrer Übersichtsarbeit der American Psychoanalytic Association (APsaA) an, dass amerikanische Psychoanalytiker in den 1990er Jahren mehr Patienten in einstündiger Psychotherapie als in den anderen psychoanalytischen Therapieformen behandelten. Die drei- und vierstündigen Analysen machten nur noch knapp 5 % des Anteils der behandelten Patienten aus. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen (zitiert nach Cherry, Wininger, & Roose, 2009).
Das damals aufregende und verstörende Ergebnis der DGPT-Praxisstudie hat sich national wie international bestätigt und zeigte, dass der überwiegende Anteil der ambulanten Psychotherapien mit einer Sitzungsfrequenz von ein oder zwei Wochenstunden durchgeführt wird und nur der geringere Anteil als Psychoanalysen mit einer Sitzungsfrequenz von drei oder vier Wochenstunden. Dieses Ergebnis sollte immer noch und sogar noch mehr verstören, bedeutet es doch, dass der Einfluss der Psychoanalyse im Gesundheitswesen geringer geworden ist, dass damit auch ihre empirische Forschungsbasis sich verschmälert hat. Damit wir nicht missverstanden werden: wir plädieren nicht für die Kurzzeitpsychotherapie. Im Gegenteil: wir sind besorgt darüber, dass die psychotherapeutische Praxislandschaft sich so deutlich und kontinuierlich in Richtung der Kurztherapien bewegt und das, obwohl empirische Evidenz sich mehrt, dass die Langzeittherapien (psychoanalytische Psychotherapie und Psychoanalyse) eine Tiefe und Nachhaltigkeit ihrer Ergebnisse aufweisen, die den kürzeren Therapieformen fehlt ( Kap. 6).
Um Daten aus der Perspektive des Psychoanalytikers zu erhalten, haben Cherry et al. (2009) Ausbildungskandidaten eines psychoanalytischen Institutes (Columbia University Center for Psychoanalytic Training and Research) nach ihrem Institutsabschluss mit Fragebögen und Interviews in ihrer psychoanalytischen Praxis weiterverfolgt. Sie fanden fünf Jahre nach dem Abschluss zwei divergierende, gleich häufige Karrieren: eine, die dadurch operationalisiert war, dass sie weiterhin vierstündige Analysen durchführten, die andere, die dadurch operationalisiert war, dass sie psychoanalytische Psychotherapien mit zweistündiger oder niedrigerer Frequenz durchführten. Die Untersuchung zeigte, dass die mit niedrigerer Frequenz Arbeitenden weder demoralisiert noch weniger talentiert waren als die »Vierstündigen«, dass sie im Gegenteil positiv sowohl über die Psychoanalyse als auch über ihre individuelle Ausbildung dachten, dass sie aber eine Identität als psychodynamische/psychoanalytisch orientierte Psychotherapeuten ausgebildet hatten und die analytische Technik und Theorie auf ihre Psychotherapien anwandten.
Im Forschungsgutachten zur Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten und zum Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten (Strauß et al., 2009) zeigte sich bei einer Befragung von insgesamt 3223 Ausbildungsteilnehmern, dass ca. 63 % Verhaltenstherapie als Vertiefungsrichtung gewählt hatten und ca. 34 % eine psychodynamische/psychoanalytische Orientierung (= analytische Psychotherapie und/oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie). Eine Befragung von 666 Absolventen im Rahmen des Gutachtens ergab, dass ca. 78 % eine verhaltenstherapeutische Ausbildung abgeschlossen hatten und 14 % eine psychodynamisch/psychoanalytische orientierte Ausbildung. Bei einer Befragung unter Psychologiestudierenden (Strauß et al., 2009) gaben über 50 % an, »ziemlich entschieden« oder »definitiv entschieden« zu sein, eine Psychotherapieausbildung beginnen zu wollen. Als Vertiefungsverfahren wurde die Verhaltenstherapie von 38 % der Ausbildungsinteressierten gewählt, 7 % wählten die Ausbildung in analytischer Psychotherapie und 13 % die Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Als Gründe für diese Wahl gaben die Befragten am häufigsten inhaltlich-theoretische Faktoren an, darunter wurden auch wissenschaftliche Gründe genannt: 36 % nannten: »die Wirksamkeit des Verfahrens ist empirisch überzeugend nachgewiesen« und 24 % nannten: »das Verfahren ist wissenschaftlich anerkannt«. Die Autoren fanden erwartungsgemäß auch heraus, dass die Präferenz der Studierenden von der Verfahrensorientierung des Lehrstuhlinhabers für Klinische Psychologie/Psychotherapie abhängt; dabei fällt für die Ausbildungssituation ins Gewicht, dass von 47 Lehrstühlen für Klinische Psychologie/Psychotherapie mindestens 41 (= 87 %) verhaltenstherapeutisch orientiert sind und nur vier (= 7 %) psychodynamisch (Stand 2009). Eine Online-Umfrage unter Studierenden eines Masterstudiengangs Psychologie an einer öffentlichen Universität in Deutschland bestätigte die Präferenz für eine Ausbildung in kognitiver Verhaltenstherapie (Benecke & Eschstruth, 2015).
Es liegt also eine klare Präferenz des therapeutischen und wissenschaftlichen Nachwuchses für die Verhaltenstherapie vor, der sich möglicherweise an der theoretischen Ausrichtung der akademischen Lehrer orientiert. Bemerkenswerterweise ist eine der Begründungen dafür deren wissenschaftliche Fundierung und Orientierung, die offenbar dem akademischen Nachwuchs überzeugender dargeboten wird, als es die Psychoanalyse vermag. Damit wir nicht missverstanden werden: es geht uns nicht darum, die Ausbildungsinstitute zu kritisieren, sondern es geht uns darum, die Diskrepanz aufzuzeigen zwischen dem, was gelehrt wird, und dem, was praktiziert wird. Entsprechend ist eine Umorientierung an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten unausweichlich geworden und viele Ausbildungsinstitute haben sich dieser Situation angepasst, bzw. sind in einem Prozess der Veränderung hin zu einem Ernstnehmen der niederfrequenten Langzeittherapie.
Wir wollen einen Anreiz setzen, die Überzeugungskraft der Psychoanalyse wieder herzustellen, z. B. dadurch, dass sie mehr bereit ist empirische Forschungsaktivität zu entwickeln und ihre zahlreichen Hypothesen auf einen empirischen und so überzeugenden Prüfstand zu stellen. Erste erfreuliche aber auch dringend notwendige Studien liegen vor oder sind unterwegs ( Kap. 6 und Leuzinger-Bohleber & Kächele, 2015), aber es ist noch ein weiter Weg zu gehen. Vorschläge und Ideen dazu werden wir in den Kapiteln 7 und 8 geben. Eine zweite erfreuliche Tendenz sehen wir in den seit Beginn dieses Jahrhunderts zunehmend entstehenden privaten Psychoanalytischen Hochschulen, die als Reaktion auf die oben beschriebene deutliche Unterbesetzung von Psychoanalytikern an deutschen Universitäten entstanden sind und die sowohl in der Lehre als auch in der Forschung qualitative und quantitative bzw. konzeptuelle mit empirischen Denkansätzen verbinden.
Im Rahmen der Evidenz-basierten Medizin (EBM), einer Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich fordert, dass Entscheidungen in der Patientenbehandlung auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit (externe Evidenz) getroffen werden müssen, ist von der Task Force on Promotion and Dissemination of Psychological Procedures of the American Psychological Association [APA; Clinical Psychology (Division 12)] 1995 ein Katalog von wissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung der Effektivität von Psychotherapien aufgestellt worden, auf den zwei Updates folgten. Davon sei hier nur festgehalten, dass die Bewertung von Psychotherapien auf einer streng empirischen Grundlage erfolgte, d. h., dass nur die Psychotherapien als »empirically supported treatment« (EST) anerkannt sind, deren Wirksamkeit durch ein randomisiertes Kontrollgruppendesign (RCT) nachgewiesen wurde und die nach einem Manual durchgeführt wurden, was weitreichende Folgen für die Finanzierung der Therapien, die Ausbildung und die Psychotherapieforschung haben kann. Deshalb ist es in der Vergangenheit zu einer heftigen Diskussion mit vielen Contras (z. B. Bohart, O’Hara, & Leitner, 1998, Henry, 1998) und Pros (z. B. Beutler, 1998, Crits-Christoph, 1996, Fonagy & Target, 1996) gekommen. Beutler (1998) beispielsweise stellte die provozierende Frage: »Identifying empirically supported treatments: what if we didn’t?« [Empirisch gestützte Behandlungen identifizieren: was wäre, wenn wir es nicht täten? (eigene Übersetzung)] und gibt darauf die Antwort, dass die wissenschaftlich fundierte Festlegung von Effektivitätskriterien, so angreifbar sie auch immer sein mag, die logische Antwort auf kritische Entwicklungen im Gesundheitswesen ist. Die Alternative wäre, sich auf implizites und ungeprüftes Wissen von Fachverbänden, Gerichten oder Funktionären des Gesundheitswesens zu verlassen, was weder im Sinne der Praktiker noch der Forscher wäre. Auch Fonagy und Target sehen ohne eine empirische Ergebnisforschung, die die klinische Praxis beeinflusst, die Zukunft der psychoanalytischen Psychotherapie bedroht (Fonagy & Target, 1996). Diese Entwicklung ist auch kritisch gesehen worden. Lambert (2013) beispielsweise hat in seinem geschichtlichen Rückblick auf die EST-Bewegung darauf hingewiesen, dass das Beharren auf Forschungsparadigmata wie RCT-Forschungsdesign und Manualisierung der Therapie, einen sich selbst aufrechterhaltenden Effekt hat, denn Forschergruppen werden bevorzugt gefördert, die bereits erfolgreich mit RCT-Designs gearbeitet haben, und diese werden weiterhin mit RCTs »empirically supported treatments« beforschen, so dass weder die ganze Bandbreite der Therapien noch die ganze Bandbreite von Patienten erfasst und ein umfassender Lernprozess über Therapien und Patienten verhindert wird.
Wir denken, und damit sind wir nicht alleine, dass die Psychoanalyse sich an die empirischen Standards der »empirically supported treatment« heranwagen muss und kann, dass eine empirisch fundierte Ergebnisforschung unabdingbar ist, die die Annahmen über die Ergebnisse der Psychoanalyse, die nur auf Expertenwissen (Evidenzstufe IV = Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten aus klinischer Erfahrung, Expertenkommissionen, beschreibenden Studien) beruhen und nicht durch eine methodisch robuste Forschung nach den neuesten Forschungsstandards erzielt wurden, die »scientific community« und auch die entscheidenden Instanzen im Gesundheitswesen nicht überzeugen wird. Damit wir nicht missverstanden werden: Wir behaupten nicht, dass sich die Psychoanalyse in der Vergangenheit einer empirischen Erforschung ihrer Ergebnisse verweigert hat, aber sie muss sich den Herausforderungen der neueren empirischen Methodik stellen und sie muss noch erhebliche Anstrengungen machen, um eine Anzahl von empirischen Ergebnisstudien zu generieren, die überzeugt, sonst zieht die Karawane weiter. Unsere Gedanken dazu werden wir in Kapitel 7 differenzierter entwickeln.
Was folgt daraus? Wir meinen, dass die Psychoanalyse, will sie das 21. Jahrhundert überleben, sich am wissenschaftlichen Diskurs der »scientific community« beteiligen muss und das nicht nur nach dem Motto: »if you can’t beat them, join them«. Sich am wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen meint, die zahlreichen aus der Einzelfallforschung generierten Hypothesen einer Überprüfung nach den Regeln der empirischen Forschung zu unterziehen, so wie es ja in einigen Studien schon begonnen wurde ( Kap. 6) und nicht nur neue Hypothesen zu generieren, die dann ihrerseits empirisch unüberprüft bleiben. Es kann nicht das Ziel der Psychoanalyse sein, den Zustand zu vermehren, von dem Grünbaum, ein ernstzunehmender Kritiker der Psychoanalyse, sagt, die Psychoanalyse leide darunter, dass sie auf einer viel zu schmalen empirischen Basis zu viele Hypothesen gegründet hat (Grünbaum, 1984). Sich am wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen meint u. a., das reiche psychoanalytische Wissen um Veränderungsprozesse und Ergebnisse so zur Verfügung zu stellen, dass psychometrisch gesunde Messinstrumente entwickelt bzw. weiter entwickelt werden können, die helfen, Forschung um eine Tiefendimension zu erweitern, die ihre Ergebnisse klinisch relevanter und heuristisch stimulierender machen können. Wir meinen ferner, dass die oben genannten Befunde verdeutlichen, dass es dafür »Fünf vor Zwölf« ist.
Was folgt für das Buch daraus? Wir haben das Buch so konzipiert, dass wir die empirische Forschung stark gewichten, vor allem im zweiten Teil des Buches, in dem wir die Ergebnisse der empirischen Psychotherapieforschung bei der Depressionsbehandlung und ferner über die kontroverse Diskussion der empirischen Forschung in der Psychoanalyse berichten und die mögliche Integration von klinischer Einzelfallforschung und extra-klinischer Forschung am Beispiel der Depression diskutieren werden. Unser Motiv ist die Sorge um die Psychoanalyse und nicht die Lust, sie zu kritisieren. Unser Ziel ist es, dem entgegenzuwirken, was der Nobelpreisträger Kandel mit den Worten beschrieben hat: »Am wichtigsten und enttäuschenden ist die Tatsache, dass die Psychoanalyse sich wissenschaftlich nicht weiter entwickelt hat. Insbesondere hat sie keine objektiven Methoden zur Prüfung ihrer aufregenden Ideen entwickelt, die sie früher formuliert hatte. Als Ergebnis hiervon schwindet der Einfluss der Psychoanalyse bei ihrem Eintritt ins 21. Jahrhundert« (Kandel, 1999, S. 120). Dem möchten wir mit diesem Buch entgegen wirken.
Die depressive Erkrankung, die lange als eine Art Schnupfen unter den seelischen Störungen galt, hat dieses belächelte Image lange schon abgestreift und wird mittlerweile zu den großen Geißeln der Menschheit gerechnet. Patienten mit depressiven Störungen stellen also einen sehr großen Teil der Behandelten, sowohl in ambulanter als auch in stationärer Psychotherapie. Das große persönliche Leid der Patienten, aber auch die gesellschaftlichen Folgekosten unterstreichen die Bedeutung der Behandlung von Depressionen und es gibt viel wissenschaftliche Evidenz, dass die depressiven Störungen einen großen Beitrag zur »Global Burden of Diseases«, der globalen Krankheitslast, leisten.
• Über die weite Verbreitung der Depression Bescheid wissen.
• Den rezidivierenden und zunehmend häufiger chronischen Verlauf der Depression kennen und die Bedeutung für die Behandlung und die Erfolgsbeurteilung einschätzen können.
• Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Symptomatik der Depression kennen und ihre Bedeutung einordnen können.
• Die wichtigsten Auslösesituationen benennen können.
Der Bundesgesundheitssurvey 1998/1999 in Deutschland zeigte für die depressive Störung eine 12-Monatsprävalenz (= Anzahl der Erkrankten in einem Jahr) von durchschnittlich 8,3 % (♂: 5,5 %, ♀: 11,2 %) der deutschen Bevölkerung. Das bedeutet, dass vier Millionen Menschen in Deutschland an einer depressiven Störung leiden. Für die Dysthymie zeigte sich eine 12-Monatsprävalenz von durchschnittlich 4,5 % (♂: 3,2 %, ♀: 5,8 %) in der deutschen Bevölkerung, das bedeutet, dass 2,2 Millionen Menschen in Deutschland an einer Dysthymie leiden. Insgesamt leiden also 12,8 % der deutschen Bevölkerung oder 6,6 Millionen Menschen in Deutschland im Laufe eines Jahres an einer nach ICD-10 Kriterien diagnostizierbaren depressiven Erkrankung (Jacobi, Klose, & Wittchen, 2004). Innerhalb Europas gilt für die Depression eine 12-Monatsprävalenz von 6,9 %, die drittgrößte psychische Krankheitsgruppe nach den Angsterkrankungen und den (nicht-organischen) Schlafstörungen und vor den somatoformen Störungen und den Abhängigkeitserkrankungen; das entspricht in absoluten Zahlen im Jahre 2011 30,3 Millionen EU-Bürgern, die in diesem Zeitraum erstmalig oder wiederholt an einer depressiven Erkrankung litten (Wittchen et al., 2011). Die 12-Monatsprävalenzrate für eine depressive Störung für die gesamte Weltbevölkerung beträgt 4,4 % (♂: 3,3 %, ♀: 5,5 %), das bedeutet, dass 298 Millionen Menschen auf der Welt im Jahr 2010 an einer depressiven Störung litten (Ferrari et al., 2013). Die 12-Monatsprävalenzrate für Dysthymie für die gesamte Weltbevölkerung beträgt 1,9 % (Charlson, Ferrari, Flaxman & Whiteford, 2013).
Die Lebenszeitprävalenz, also die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei bis zu 12 % für Männer und bis zu 26 % für Frauen. Nach Schätzungen der WHO werden die depressiven Störungen 2020 die zweithäufigste Erkrankung weltweit sein; mit Recht kann deshalb von einer »Volkskrankheit Depression« gesprochen werden.
Die typische Symptomatik einer depressiven Episode besteht aus depressiver Stimmung, Antriebsminderung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Dysphorie, Energielosigkeit, Müdigkeit, Unruhe, Konzentrationsstörungen, verminderten Selbstwertgefühl, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit sowie Suizidideen, Appetitstörung, Gewichtsverlust, Libidoverlust, Schlafstörung und körperlichen Missempfindungen. Wenngleich viele der genannten Gefühlszustände und Beschwerden allen Menschen bekannt sind, liegt bei Überschreiten einer bestimmten Intensität bzw. Dauer (zwei Wochen) ein depressives Syndrom vor, das dann die Kriterien für die Diagnose einer Depression erfüllt. Mit psychoanalytischer Psychotherapie werden hauptsächlich Patienten mit den folgenden Diagnosen behandelt:
• depressive Episode (F32)
• rezidivierende depressive Störung (F33)
• psychotische Depression (F32.3)
• Dysthymie (F34.1)
• rezidivierende kurze depressive Störung (F38.1)
• Anpassungsstörung, längere depressive Reaktion (F43.21).
Es sind also Patienten aus den diagnostischen Kategorien F3: Affektive Störungen und F4: Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen im ICD-10. Bei der depressiven Episode und der rezidivierenden depressiven Störung wird jeweils zwischen leichter, mittelgradiger und schwerer depressiver Episode unterschieden. Psychoanalytiker mit einer speziellen Zusatzausbildung behandeln auch psychotische Depressionen, wie z. B. von Mentzos (2011; Kap. 4.5) beschrieben.
Die Dysthymie ist durch leichtere Symptome als die depressive Episode gekennzeichnet, aber auch durch lang andauernde depressive Verstimmung (mindestens zwei Jahre), d. h. durch einen chronischen Verlauf. Wenn die Kriterien für eine depressive Episode erfüllt sind, muss nach ICD-10 diese Diagnose gestellt werden, auch wenn gleichzeitig eine Dysthymie vorliegt. Im DSM-IV bestand die Möglichkeit, eine »double depression« zu diagnostizieren – dies hat insofern Bedeutung, als diese Form der Depression als die am schwersten behandelbare gilt (Roth & Fonagy, 2005). Im DSM-5 wurde stattdessen neu die »persistent depressive disorder« eingeführt, um die lange Zeit vernachlässigte chronische Depression abzubilden.
Die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ist hoch, sie findet sich etwa bei 60 % aller Patienten mit unipolaren depressiven Störungen (Berger & van Calker, 2004). Besonders häufig ist die Depression bei Patienten mit Angst- und Panikstörungen, bei Patienten mit Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit, Essstörungen, somatoformen Störungen und Zwangsstörungen; eine Persönlichkeitsstörung wurde bei mehr als 40 % der depressiven Patienten diagnostiziert (DGPPN et al., 2009). Die Wechselwirkungen zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen sind häufig, darauf weisen Screening-Untersuchungen in Allgemeinarztpraxen und Kliniken hin, mit ihren erheblichen Quoten von depressiven Störungen, denn zum einen gehen schwere körperliche Erkrankungen häufig mit Depressionen einher, zum anderen zeigen epidemiologische Studien, dass depressive Patienten ein erhöhtes Risiko für somatische Erkrankungen haben.
Die Depressiven, die in die psychotherapeutischen Ambulanzen oder Praxen kommen, haben in aller Regel eine jahrelange Vorgeschichte von depressivem Leiden und verschiedenen Behandlungsversuchen hinter sich. Oft ist ihnen durch antidepressive Medikation oder Kurzzeitpsychotherapie (z. B. Roth & Fonagy, 2005) nicht ausreichend geholfen worden oder die Beschwerden sind wiedergekehrt.
Die Ergebnisse epidemiologischer Forschung zeigen klar (siehe 2.1), dass die Depression prinzipiell als eine wiederkehrende Störung aufgefasst werden muss. Deshalb hat Ende des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel in der Auffassung der depressiven Störungen stattgefunden: weg von der Betrachtung der depressiven Erkrankung als einer einzelnen Krankheitsepisode, hin zu einer prinzipiell wiederkehrenden Erkrankung. Als Konsequenz für die Evaluation der Depressionstherapie hat Judd (1997) deshalb vorgeschlagen, nicht länger den Effekt einer Behandlung auf eine Indexepisode zu bewerten, sondern ob es einer Behandlung gelingt, weitere Episoden und die Chronifizierung zu verhindern. Die Bewertung einer depressiven Indexepisode für den Therapieerfolg kann irreführend sein, weil depressive Episoden selbstlimitiert sein können und innerhalb von sechs bis acht Monaten auch ohne jede Therapie zurückgehen (Berger & van Calker, 2004). Dieser Paradigmenwechsel hat in den letzten Jahrzehnten eine epidemiologische Forschung stimuliert, die eine Fülle von Daten über den episodischen Verlauf der Depression erbrachte. Patienten mit der Diagnose: depressive Episode erleiden in 25 % bis 40 % mindestens eine weitere depressive Episode innerhalb von zwei Jahren; innerhalb von fünf Jahren sind es 60 % (Boland & Keller, 2002). Bei 75 % der Patienten, die die Diagnose »depressive Episode« erhalten haben, kommt es zu vier weiteren Episoden. Als ein wesentlicher Prädiktor des Krankheitsverlaufs erwies sich die Zahl der vorangegangenen depressiven Phasen. Nach Boland und Keller (2002) ist das Rückfallrisiko 50 % innerhalb eines Jahres nach der ersten depressiven Episode; es steigt auf 60 % nach einer zweiten Episode und noch weiter auf 70 % nach einer dritten Episode. Es wird geschätzt, dass zwischen 15 % und 20 % depressiv Erkrankter mit einem chronischen Verlauf ihrer Erkrankung rechnen muss. Diese Befunde sind aber stichprobenabhängig, z. B. hatten Patienten in Allgemeinarztpraxen eine deutlich höhere Remissionsrate (z. B. Steinert, Hofmann, Kruse, & Leichsenring, 2014). Immer häufiger wird deshalb von einer therapieresistenten oder therapierefraktären Depression gesprochen, auch als »difficult-to-treat«-Depression bezeichnet. Nach Leuzinger-Bohleber et al. (2010) sind es diese »difficult-to-treat«-Depressionen, an denen sich die analytische Psychotherapie beweisen sollte.
Bei diesem rezidivierenden Verlauf interessierten sich Psychotherapieforscher besonders für die Risikofaktoren, die Patienten für einen prognostisch ungünstigen Verlauf prädisponieren. Mit einem Diathese-Stress-Modell, das auch Freud schon als Erklärung für die Verursachung von Neurosen nahm, wird erklärt, wie eine individuelle Prädisposition, die sich nach Freud aus der sexuellen Konstitution und dem individuellen infantilen Erleben zusammensetzt, auf ein belastendes Lebensereignis trifft, das so zu einem Auslöser der Depression wird. Auf der Suche nach diesen prädisponierenden Risikofaktoren ist man auf Persönlichkeitsfaktoren aufmerksam geworden, die mit spezifischen Lebensereignissen so interagieren, dass ein Rezidiv oder eine Neuerkrankung entsteht (Krueger & Eaton, 2010, Krueger & Markon, 2006). Fava, Ruini und Belaise (2007) stellten in ihrem Literaturreview fest, dass es Persönlichkeitsfaktoren am Ende einer Behandlung sind, die Rückfall und Neuerkrankung voraussagen. Huber, Henrich und Klug (2013) fanden heraus, dass sowohl die selbsteingeschätzten Persönlichkeitseigenschaften als auch vor allem die durch Experten eingeschätzten Persönlichkeitsstörungen die besten Prädiktoren für den Nicht-Erfolg nach psychotherapeutischer Behandlung waren. Auf der anderen Seite, der Seite der Lebensereignisse, wurden durch die Arbeiten von Brown (1989) vor allem die Verlusterlebnisse in den Vordergrund gerückt; sie konnten aber nur einen kleinen Anteil der auslösenden Situationen erklären. Hammen (2005) in ihrer Analyse der auslösenden Lebensereignisse differenzierte zwischen abhängigen (zu denen der Patient selbst beigetragen hatte) und unabhängigen, schicksalsmäßen Lebensereignissen; sie sah eher chronischen als akuten Stress und eher abhängige als unabhängige Lebensereignisse als depressiogen an. Robins (1995) ging in seiner Differenzierung noch weiter und entwickelte eine Kongruenzhypothese, die beinhaltet, dass die Depression immer dann ausgelöst wird, wenn spezifische belastende Lebensereignisse mit spezifischen Verletzbarkeiten des Patienten interagieren. Am Beispiel der von Blatt (2004) entwickelten Depressionstypen wird diese Interaktion im Kapitel 4.3 dargestellt.
In einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung betrug die 12-Monatsprävalenz für Depression bei Frauen 8,1 % und bei Männern 3,8 % (Busch, Maske, Ryl, Schlack & Hapke, 2013). Im Vergleich zu Frauen haben Männer also eine deutlich verminderte Prävalenz von (diagnostizierten) Depressionen. Bei Einsatz von speziellen Erhebungsinstrumenten, die auch Symptommuster wie Ärgerattacken, Risikoverhalten, Irritabilität und Substanzabusus mit einbeziehen, wurden annähernd gleiche Prävalenzraten bei Männern und Frauen gefunden (Martin, Neighbors & Griffith, 2013). Bei Männern besteht ein höheres Risiko für Alkohol- und Drogenabhängigkeit und für vermehrte Gewalt, zudem haben Männer in Deutschland eine sechsmal höhere Suizidrate als Frauen, meist im Rahmen einer Depression (Erster deutscher Männergesundheitsbericht, 2010, Hopf, 2014). Zu Depressionsauslösern wird berichtet: Während bei Frauen Depressionen insbesondere im Bereich des sozialen Umfeldes bzw. innerhalb von Beziehungen ausgelöst werden, reagieren Männer eher auf reale oder fantasierte Bedrohung ihres Status sowie auf beruflichen und finanziellen Druck mit einer Depression. Während Frauen eher die »klassischen« depressiven Symptome zeigen, neigen Männer eher zu erhöhter Aggressivität, Unzufriedenheit, Reizbarkeit und Verstummen im Sinne einer Kontaktreduktion. Bei Männern kommt es öfter zur »Selbstmedikation« durch Alkohol und Drogen.
Die unterschiedlichen und eher untypischen Symptome bei Männern werden als eine Ursache für das Unterdiagnostizieren der Depression bei Männern gesehen, das einhergeht mit deren vermindertem Inanspruchnahmeverhalten von Psychotherapie.
Es handelt sich bei der Depression um eine gravierende psychische Erkrankung, deren große Verbreitung wie auch zunehmende Chronizität ein wachsendes Problem für das erkrankte Individuum wie auch die Gesellschaft darstellt; in diesem Zusammenhang wird zu Recht von der »Volkskrankheit Depression« gesprochen. Die Komorbidität mit anderen Erkrankungen, sowohl psychischen als auch somatischen, ist sehr hoch. Erst in den letzten Jahren erlangte die Geschlechtsperspektive zunehmend an Bedeutung, so dass die bisher geringeren Prävalenzraten bei Männern aufgrund einer anderen, spezifischen Symptompräsentation überdacht werden müssen. Als prädisponierende Risikofaktoren wurden in neueren Untersuchungen die Interaktion von Störungen der Persönlichkeitsstruktur (strukturellen Störungen) und belastenden Lebensereignissen (wie Trennungs- und Verlusterlebnisse) hervorgehoben.
Will, H., Grabenstedt, Y., Völkl, G. & Banck, G. (2006). Depression. Psychodynamik und Therapie (3., überarbeitete und erweiterte Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
Huber, D. & Will, H. (2007). Psychoanalyse. In H. Schauenburg & B. Hofmann (Hrsg.), Psychotherapie der Depression. Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend (S. 65–76). Stuttgart, New York: Thieme.
Blatt, S. J. (2004). Experiences of Depression. Theoretical, Clinical, and Research Perspectives. Washington, D. C.: American Psychological Association.
• Wieso ist es so wichtig, geschlechtsspezifische Unterscheidungen im Verständnis der Depression zu treffen und welche Auswirkungen könnte dies auf die Behandlung haben?
• Was macht die Depression so besonders bedrohlich für den Einzelnen wie für die Gesellschaft und wo könnte man gegensteuern?
• Führen die berichteten Persönlichkeitsveränderungen bei Depressiven zusammen mit der Bedeutung von Lebensereignissen zwangsläufig zu einer resignativen Einschätzung der Prognose?
In diesem Buch, das explizit die Psychoanalyse im 21. Jahrhundert