Künstler als Pädagogen
Künstler als Pädagogen
GRUNDLAGEN UND BEDINGUNGEN EINER VERANTWORTUNGSVOLLEN INSTRUMENTALDIDAKTIK
HERAUSGEGEBEN VON FRAUKE GRIMMER UND WOLFGANG LESSING
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer SDP 115
ISBN 978-3-7957-8664-9
© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer UM 5005
© 2008 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
www.schott-music.com
www.schott-buch.de
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.
Inhalt
Einleitung der Herausgeber
Horst Rumpf
Die andere Aufmerksamkeit.
Über ästhetische Erziehung im Zeitalter der Weltbewältigung
Gerhard Mantel
Kunst und Pädagogik – ein Widerspruch?
Auf der Suche nach künstlerischen Kriterien
Frauke Grimmer
Ein Ton, in dem wir plötzlich die Welt entdecken...
Über das Künstlerische in der Ausbildung von Pianisten
Annette Unger
„Und manchmal Schokoladenpudding“.
Zum Verhältnis von künstlerischer und pädagogischer Praxis
Wolfgang Lessing
Musizieren als Interaktion.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung im Spannungsfeld zwischen ästhetischer Erfahrung und alltäglicher Lebenswelt
Michael Dartsch
Hochschullehre und pädagogische Tugend.
Ethische Aspekte einer künstlerisch-pädagogischen Tätigkeit
Sibylle Cada
Resonanz und Dialog.
Systemisches Denken und Handeln in der Instrumentalpädagogik
Erna Ronca
Ein ganzheitlicher Ansatz
Supervision und Coaching von ausgebildeten PianistInnen
Reinhart von Gutzeit
Was für ein „Typ“?
Welche Art Lehrende brauchen Musikhochschulen und wie können sie gefunden werden?
Barbara Busch
Künstler oder Pädagoge?
Ein Rollenkonflikt begleitet die Professionalisierung der Instrumentalpädagogik
Ulrich Mahlert
Didaktische Polyfonie.
Kommunikationspsychologische Überlegungen zu Sprechweisen in Instrumentalschulen
Einleitung der Herausgeber
Musikhochschulen sind Orte künstlerischen Lehrens und Lernens. Sie bilden einen organisierten Erfahrungsraum, der geprägt ist durch Rahmenbedingungen, Unterrichtsatmosphäre, durch soziale, pädagogische und künstlerische Beziehungen zwischen „Meister“ und „Novizen“. Diese Dyade ist Schonraum und Abhängigkeitsverhältnis zugleich. Im besten Falle ereignet sich in ihr ein inspirierender Erfahrungsaustausch über instrumentales Lernen und Musik als Kunst, der für Lehrende und Lernende produktiv ist.
Das Vorbild von Instrumentallehrern, von Künstlern als Pädagogen, und das heißt auch: von Künstlern mit besonderer Vermittlungsqualität, hat großen Einfluss auf die Entwicklung junger Musiker. Darin stimmen alle einschlägigen Untersuchungen im Zeichen von Life-Span-Forschung,1 musikalischer Hochbegabungsforschung2 oder musikpädagogischer Biografieforschung3 überein. Dialogfähigkeit und Empathie gehören zu den unverzichtbaren „Tugenden“ erfahrener Instrumental- und Vokalpädagogen, denn junge Musiker sind dem Erfahrungsvorsprung, den handwerklichtechnischen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie den künstlerischen Leitvorstellungen und Leistungserwartungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer oft über Jahre hinweg ausgeliefert.
Die Ausbildung zum musikalischen Künstler findet auch im 21. Jahrhundert noch weitgehend hinter verschlossenen Türen statt. Das hat Folgen für die Betroffenen, für die Entwicklung einer musikalischen Lernkultur und den pädagogischen Diskurs aller an der Ausbildung Beteiligten. Bedeutende Lehrtraditionen, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben, manifestieren sich in den Klassen der Künstler meist als exklusives Expertenwissen. Dessen ästhetische, lerntheoretische, pädagogische und methodische Voraussetzungen bleiben damit Geheimnis. Es fehlt an empirischer Forschung, die mit einem komplexen Methodenensemble die Bedingungen und Prozesse künstlerischen Instrumentallernens untersucht, und es fehlt in den Institutionen auch oft die Bereitschaft sich intersubjektiv zu verständigen: Über das je eigene Musikverständnis von Lehrenden, über Klangvorstellungen und Fragen der Interpretation. Nicht selten gleicht die Beurteilung künstlerischer Leistungen in den Abschlussprüfungen daher einer Odyssee.
Es war ein wesentliches Anliegen des internationalen Symposiums „Künstler als Pädagogen“, jene Bedingungen, Möglichkeiten und Probleme genauer auszuloten, die sich aus der Lehrer-Schüler-Beziehung für ein künstlerisch-musikalisches Lernen ergeben. Den Anlass zu diesem Kongress bot der 75. Geburtstag des international renommierten Cellisten, Pädagogen und Buchautors Gerhard Mantel, dessen langjähriges Wirken – darin wohl kaum einem anderen Musiker vergleichbar – exakt an jener Schnittstelle zwischen Kunst, Pädagogik und Wissenschaft angesiedelt ist, die eine Auseinandersetzung mit diesem Thema zwangsläufig mit sich bringt.
Bereits in der Planungsphase des Symposiums war den Veranstaltern bewusst, dass die vielschichtigen Perspektiven dieser Beziehung sich nur durch eine Begegnung unterschiedlichster Ansätze und Disziplinen erfassen lassen. In diesem Sinne kam es zwischen dem 3. und 5. November 2006 in der Dresdner Musikhochschule zu einem intensiven und fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen ausübenden Künstlern, Instrumentalpädagogen, Unterrichtsforschern, Erziehungswissenschaftlern und Hochschulrektoren, dessen Erträge im vorliegenden Band dokumentiert werden.
Im einleitenden Beitrag versucht Horst Rumpf einen Wahrnehmungshorizont freizulegen, vor dem sinnliche Eindrücke nicht lediglich als Fallbeispiele bereits bekannter Muster und Strukturen eingeordnet, eingeebnet und bewältigt werden. Rumpf geht es vielmehr um eine „andere Aufmerksamkeit“, die widerständige, oftmals auch irritierende Erfahrungen ermöglicht und eine dialogisch-tastende Weltaneignung eröffnet, die im Zuge leistungsorientierter Beherrschungsideologien verloren zu gehen droht. Sein Plädoyer stellt eine Herausforderung gerade für die künstlerische Ausbildung an Musikhochschulen dar, die sich fragen lassen muss, ob und inwieweit sie nicht selbst den Leistungs- und Beherrschungsideologien folgt, die die Chance ästhetischer Wahrnehmung eher behindern denn befördern.
Gerhard Mantel arbeitet in seinem Aufsatz „Kunst und Pädagogik – ein Widerspruch?“ ein zentrales Merkmal künstlerischen Lernens, das Moment der „Unsicherheit“, heraus. Dieses Moment wird in seinen Augen im institutionalisierten Ausbildungsraum Musikhochschule häufig vorschnell durch simple Gegensatzbeziehungen (falsch-richtig etc.) ersetzt, anstatt als genuines Merkmal künstlerischen Lernens anerkannt zu werden.
Mit ihrem Beitrag „Ein Ton, in dem wir plötzlich die Welt entdecken...“ gewährt Frauke Grimmer Einblick in ein von ihr durchgeführtes empirisches Projekt mit Feldforschung in der Ausbildung von Pianisten. Anhand von zwei dokumentierten Unterrichtsausschnitten an deutschen Musikhochschulen lässt sie künstlerisches Lehren und Lernen quasi nachträglich „in vivo“ miterleben. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Erscheinungsformen des Künstlerischen, die sich in der je eigenen musikalischen, sprachlichen und nonverbalen Interaktion von dem erfahrenen und heranwachsenden Musiker konstituieren.
Eine verwandte Themenstellung, nun allerdings aus der Perspektive der ausübenden Künstlerin, verfolgt Annette Unger. In ihrem Beitrag „Und manchmal Schokoladenpudding“ geht die Violinpädagogin auf den viel beschworenen vermeintlichen Rollenkonflikt zwischen „Künstler“ und „Pädagogen“ ein und betont demgegenüber die Verbindungslinien zwischen künstlerischer Erfahrung und pädagogischem Handeln.
Dass die Wirklichkeit institutionalisierter Unterrichtssituationen nicht zwangsläufig mit der Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung konvergiert, arbeitet Wolfgang Lessing heraus. Ausgehend von soziologischen Wirklichkeitstheorien umreißt sein Beitrag „Musizieren als Interaktion“ das Spannungsfeld zwischen „alltäglicher Lebenswelt“ (Alfred Schütz) und künstlerischer Sinnsphäre und leitet hieraus Konsequenzen für die Rolle des Lehrenden ab.
Auch der Beitrag Michael Dartschs zielt auf das Rollenverständnis des Lehrenden ab. Die „klassischen“ Ebenen künstlerischer, fachdidaktischer, musikpädagogischer und pädagogischer Kompetenz werden in seinem Beitrag „Hochschullehre und pädagogische Tugend“ um eine ethische Dimension ergänzt. Der Rückgriff auf eine Tugendethik als Leitfaden pädagogischen Handelns ist in seinen Augen notwendig, da wissenschaftliche Disziplinen wie Musikpädagogik und Pädagogik aus sich heraus zwar allgemeine Bedingungen für gelungenes pädagogisches Handeln formulieren, nicht aber die unmittelbare Lernsituation zwischen individuellen Lehrer- und Schülerpersönlichkeiten in den Fokus nehmen können.
Als ein konkretes Beispiel für die Entwicklung und Verbesserung der Unterrichtsinteraktion wendet sich Sibylle Cada der „Tugend“ der Kommunikation zu. In ihrem Beitrag „Resonanz und Dialog“ formuliert sie grundlegende Bedingungen für ein gelingendes „Arbeitsbündnis“ von Lehrer und Schüler. Ihre Überlegungen zur Entwicklung einer „Feedback-Kultur“ basieren auf den Erfahrungen, die sie seit mehreren Jahren im Rahmen von Seminaren zum Thema „Kommunikation im Unterricht“ an der Frankfurter Musikhochschule gewonnen hat.
Dass derartige und vergleichbare Foren eine notwendige Bedingung für die Qualitätsentwicklung von Instrumentalunterricht darstellen, zeigt Erna Ronca in ihrem Beitrag zu „Supervision und Coaching von Pianisten“, in dem sie ein Supervisionsmodell vorstellt und auswertet, das sie selbst vor einigen Jahren an der Musikhochschule Zürich maßgeblich mit entwickelt hat.
Dass die Qualitätsentwicklung eines Lehrkörpers an einer Musikhochschule auch von verlässlichen Kriterien bei den Auswahlverfahren abhängt, zeigt Reinhart von Gutzeit, der derzeitige Rektor des Mozarteum Salzburg. In seinem Beitrag „Was für ein ,Typ‘?“ beschreibt er die Vielfalt und Bandbreite dieser Kriterien und geht der Frage nach, welche Möglichkeiten eine Hochschule besitzt, geeignete Lehrpersönlichkeiten zu finden.
Die beiden letzten Beiträge des Bandes thematisieren die Lehrer-Schüler-Beziehung im Instrumentalunterricht nicht direkt, sondern in vermittelter Form. Barbara Busch analysiert das Bild des Instrumentallehrers in Literatur und Film. Die Frage, wieso Schriftsteller und Regisseure den Berufsstand vornehmlich ironisch-negativ beschreiben, wird von ihr mit dem Hinweis auf einen fundamentalen Rollenkonflikt beantwortet, dem sich der Instrumentalpädagoge seit dem 19. Jahrhundert ausgesetzt sieht. Ulrich Mahlert untersucht die nahe liegende und bislang erstaunlicherweise kaum thematisierte Frage, auf welche Weise sich die Sprache von Instrumentalschulen als zusätzliche Instanz in die Lehrer-Schüler-Beziehung einschaltet und die dialogische Beziehung von Lehrendem und Lernenden zu einer „didaktischen Polyfonie“ erweitert.
Der Kongress hätte ohne die finanzielle Unterstützung der DFG nicht stattfinden können. Ihr gilt unser besonderer Dank. Herzlich gedankt sei zudem den studentischen Hilfskräften Christoph Roßner, Therese Pflugbeil, Claudia Zobelt und Trang Nghiem, die für einen reibungslosen Verlauf der Veranstaltung sorgten. Christoph Roßner übernahm zudem die kritische Durchsicht der Manuskripte; auch dafür danken wir ihm.
Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat die vorliegende Publikation generös unterstützt. Die Herausgeber sind ihr und besonders dem Pädagogik-Ausschuss des Departements Musik zu großem Dank verpflichtet. Beteiligt an der Finanzierung der Drucklegung haben sich darüber hinaus die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, das Institut für Instrumental- und Gesangspädagogik e. V. Frankfurt am Main sowie das Mozarteum Salzburg. Auch diesen Förderern danken wir herzlich.
Frauke Grimmer
Wolfgang Lessing
1 Maria Manturzewska: „A biographical Study of the Life. Span Development of Professional Musicians“, in: Psychology of Music 18 (1989), S. 112-139.
2 Hans Günter Bastian: Leben für die Musik. Eine Biographie-Studie über musikalische (Hoch-) Begabungen, Mainz 1989.
3 Frauke Grimmer: Wege und Umwege zur Musik. Klavierausbildung und Lebensgeschichte, Kassel/London 1991.
Die andere Aufmerksamkeit
ÜBER ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG IM
ZEITALTER DER WELTBEWÄLTIGUNG
HORST RUMPF
Bei einem Kongress der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vor 25 Jahren in Göttingen weigerte sich der erste Hauptredner – es war Ivan Illich –, über Erziehung im herkömmlichen Sinn nachzudenken. Er provozierte die pädagogisch eingestimmten Zuhörer: „Ich will vom Gegenteil von Erziehung und Verziehung sprechen, nämlich jenem Vorgang, in dem die Erziehung die Technik darin unterstützt, der Umwelt ihre rätselhafte Sinnlichkeit zu entziehen. Wo unverwaltete Sinnfülle auch im Industriesystem noch glimmt, will ich sie zum Flackern bringen. Noch mehr Energie – nein danke, noch mehr Erziehung, danke nein.“1 Eine starke These: Erziehung und Technik ziehen demnach am gleichen Strang, beide sind damit befasst, etwas zum Verschwinden zu bringen, „der Umwelt ihre rätselhafte Sinnlichkeit zu entziehen“ – und zwar durch strukturverwandte Maßnahmen. Was haben sie gemeinsam? Eine erste Deutung: Beide sind angetreten, die ungebärdige und vieldeutig anbrandende sinnliche Erfahrungswelt eindeutigen Regeln zu unterwerfen. Sie machen Widerfahrnisse vorhersehbar, planbar, steuerbar – mit Hilfe immer sorgfältiger durchrationalisierter Instrumente und Organisationen. Davon hatte Illich genug.
Es lohnt, sich einen Augenblick auf diese Provokation einzulassen. Was hat sie im Visier? Man mag die Alltagssprache mustern, mit der wir landauf, landab, quer durch Inhaltsbereiche und durch Schulen und Hochschulen die Vorgänge bezeichnen, die durch Belehrungen und Übungen angekurbelt werden sollen. Da ist einmal allgegenwärtig das Ziel der „Beherrschung“. Das wird von Kindern wie von Studierenden am Ende verlangt. Es wird schließlich geprüft und benotet. Stammeln, Zögern, Schweigen, ratloses sich Annähern – solches schlägt natürlich negativ zu Buche. Die so genannten „learner“ sollen die Materie ihres Lernens, Übens und Studierens am Ende „im Griff haben“. Und die Inhalte werden dabei zu „Stoffen“, die „durchzunehmen“ und zu „bewältigen“ sind.
Der aktivistische Ton gegenüber einer zu unterwerfenden Materie ist unverkennbar. Und dazu passt die Rede, man müsse bestimmte Wissensgebiete „hinter sich bringen“ (nicht etwa „vor sich“!). Wenn man etwas kann, so hieß es vor einiger Zeit, ist es „gebongt“ oder „abgehakt“. Und selbstverständlich entspricht es diesen solcherart aufgebauten Beherrschungskompetenzen, dass sie kontrollierbar sein müssen, festzustellen, womöglich in Zahlen, die den strategischen Überblick darüber freigeben, wer in welchem Grad bestimmte zuvor festgelegte Leistungsstandards erfüllt. Die Nähe zur Technik drückt sich also auch in der Tendenz aus, die Produkte – also die Lernprodukte – zu quantifizieren. Und die Lehrprozesse auf messbare Wenn-Dann-Zusammenhänge hin zu stilisieren oder tunlich zu erforschen. Der verstorbene Historiker Reinhard Koselleck hat in Analysen moderner Lebensprozesse bewusst gemacht, in welchem Maß das Vokabular der Moderne von bestimmten Zügen geprägt ist: Das sprachlich organisierte Wissen ist nachhaltig geprägt vom politischen Formungs- und Bemächtigungswillen, der sowohl das intellektuelle wie das praktische Weltverhalten durchdringt.2
Durch diese Überlegungen und den Einspruch Ivan Illichs sind wir mitten im Problem: ästhetische Erfahrung und ästhetische Erziehung in einer von Technik geprägten Zivilisation und Schule. Wie hält sie sich in einem zivilisatorischen Prozess, der über viele Kanäle darauf abzielt, die Widerständigkeit der rätselhaften, sinnlichen Umwelt niederzuwerfen, um ihr Sicherheiten und Nutzbarkeiten abzugewinnen?
Aisthesis, das Wurzelwort der Ästhetik, bedeutet bekanntlich so viel wie Wahrnehmung, peilt also den Inbegriff der Fähigkeiten an, kraft derer wir als sinnliche Wesen mit der Welt kommunizieren, uns mit ihr austauschen. Fangen wir mit der Beschreibung unscheinbarer Selbstverständlichkeiten an.
Wir können unsere Sinne im Wachzustand nicht einfach abstellen wie einen Elektroherd. Was tun sie unentwegt, die Sinne, die den Kontakt zur uns umgebenden Welt gewährleisten? Einen Aspekt nannte Erving Goffman, als er schrieb, wir tasteten unsere Umwelt unentwegt auf Sicherheitssignale ab. Keineswegs nur mit den Augen sind wir dabei, unsere Umgebung daraufhin zu prüfen, ob alles normal ist und in erwartbaren Bahnen verläuft. Wir gewahren unverzüglich, wenn da etwas nicht stimmt – im Klang der Stimme eines vertrauten Menschen, im Geräuschgemisch des Alltags, in der befremdlichen Bewegungshast einer Menschengruppe auf der Straße, in einem Schmerz ohne erkennbare Ursache; solches fällt auf, solches stört die Wahrnehmung auf. Es mag Angst, Sorge oder auch Neugier wecken. Die Vertrautheitswelt hat einen Riss bekommen. Und wir haben in unserer Zivilisation inzwischen ein riesiges Arsenal von Denkmitteln und Apparaten, um solchen Aufstörungen zuleibe zu rücken, ihren Aufprall zu dämpfen. Sie unterstützen unsere Sinne, diese Normalitätswächter und Sicherheitsbeamten.
So harmlose Gewohnheiten wie der oft unwiderstehliche Drang, etwas Überraschendes zu fotographieren, hängen wohl mit dem Wunsch zusammen, das Ungewöhnliche einzugemeinden – und sei es ins Foto-Album. Das gar zu Flüchtige ist festgehalten. Das beruhigt.
Der Hirnforscher Gerhard Roth hat auf eine verwandte, etwas weniger dramatische Spielart der Sinnen-Regsamkeit hingewiesen. Er erinnert daran, dass es zwei sehr unterschiedliche Aufmerksamkeiten gibt, die man beispielsweise dem Inneren eines Arztwartezimmers entgegenbringt: Wenn jemand einen solchen Raum zum ersten Mal betritt, kommt er einem anders entgegen als etwa beim zehnten Mal.3
Im ersten Fall herrscht neugierige Gespanntheit – man tastet dieses Stück unbekannte Umwelt auf in ihr vorgezeichnete Bewegungsanweisungen ab, auch auf unbequeme oder widrige Züge. Im zweiten Fall genügt ein rasches Mustern der bekannten Räumlichkeit – man findet sich ohne Verzug zurecht. Im einen Fall sind die wahrnehmenden Sinne als Erkunder von Unbekanntem aktiv, im zweiten Fall sind sie vorwiegend nur noch Bestätigungsgehilfen des Vorwissens. Roth wagt die Formulierung: „Gedächtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan.“4 Das Vorwissen hat demnach eine entlastende Funktion. Man spart an der bewussten sinnlichen Wahrnehmungsarbeit – und man spart zeitaufwändiges Herumsuchen. Man „weiß Bescheid“. Je vertrauter mir eine Situation oder Gestalt ist, desto weniger „Eckdaten benötigt mein Wahrnehmungssystem, um ein als vollständig empfundenes Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das zu diesen Eckdaten passt“.5 Je solider und umfassender mein Vorwissen von einer Gegebenheit ist, um so weniger bleibt für die Erkundungs- und Berührungstätigkeit der Sinne zu tun. Das Vorwissen, das im Gedächtnis gespeichert ist, erspart die erneut ansetzende Annäherungsbemühung. Es hat den Anschein, dass „sinnenbewusste“ Auseinandersetzungen mit der Welt der Tendenz nach überflüssig werden. Für diese Art von Reizschutz hat man den Ausdruck „Verblüffungsfestigkeit“ erfunden.
Von ganz anderen Interessen herkommend hat der russische Kunstphilosoph Viktor Sklovskij zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schicksal des Sinnenbewusstseins in unserer Zivilisation ganz ähnlich gedeutet. Es geht um die Auszehrung sinnlich bewusster Weltberührungen durch automatisierte Gewohnheiten: „Wenn wir uns über die allgemeinen Gesetze der Wahrnehmung klar werden, dann sehen wir, dass Handlungen, wenn man sich an sie gewöhnt hat, automatisch werden. So geraten z. B. alle unsere Angewohnheiten in den Bereich des Unbewusst-Automatischen; wenn jemand sich an die Empfindung erinnert, die er hatte, als er zum ersten Mal eine Feder in der Hand hielt oder zum ersten Mal in einer fremden Sprache redete, und wenn er diese Empfindung mit der vergleicht, die er beim zehntausendsten Mal hat, dann wird er uns zustimmen.“6 Im gleichen Aufsatz ist er auf derselben Spur wie Roth, der dem Gedächtnis die Kraft zusprach, die sinnliche Betreffbarkeit zu entlasten oder überflüssig zu machen: „Dinge, die man mehrere Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahrzunehmen; der Gegenstand befindet sich vor uns, wir wissen davon, aber wir sehen ihn nicht.“7 „Sehen“ wird zum Gegenbegriff von Wiedererkennen. Eine fruchtbare Antithese. Das Vorwissen kann das Sehen entkräften, Analoges gilt für andere Wahrnehmungsmedien: Das hörbar Altbekannte und Gewohnte wird schnell allzu bekannt – es kann nicht mehr gehört werden. Wer hört noch „Freude schöner Götterfunken“. Das allzu Bekannte ist unhörbar gemacht worden. Wenn denn Hören heißt, sich treffen lassen von sinnlichen Klangestalten, die von Unbekanntem umwittert sind. Bei Sklovskij stehen Sätze, die wohl verdienen, Fundamentalsätze ästhetischer Erfahrung und Erziehung zu heißen: „Wir erleben und sehen das Gewohnte nicht, sondern erkennen es wieder. Wir sehen die Wände unserer Zimmer nicht... tot sind auch die Dinge, wir haben das Gefühl für die Welt verloren; wir gleichen einem Geiger, der die Bogen und die Saiten nicht mehr fühlt...“8
Die Betreffbarkeit durch die Sinnenerfahrung schwindet mit dem Wuchern einer immer leerer werdenden Sprache: Die ist zum abstrahierenden Zeichen geschrumpft, ihre vergegenwärtigende Bildkraft ist dahin. Sklovskij, der auf eine Theorie der dichterischen Sprache aus ist, sieht im Verlust der Unmittelbarkeit nur Verluste. Und spricht der Kunst das Potenzial zu, in Menschen die lebendige Wahrnehmung gegen Erstarrung in Gewohnheit wiederzuerwecken. „Den Stein steinern zu machen“, wie er schreibt. In der Poesie werden Worte dann nicht wie abgebrauchte Münzen verwendet, sondern der Gewohnheitsbedeutung ein Stück weit entrückt, auch durch klanglich-rhythmische Mittel und andere Verfremdungen.
Um innezuhalten: Es geht in diesem ersten Angang um Spielarten der Aufmerksamkeit. Und da drängen sich zwei Muster auf. Die eine Aufmerksamkeit schützt sich vor der verwirrenden Fülle der Widerfahrnisse durch Vorwissen, durch Automatisierung, durch Techniken der Einordnung und des Wiedererkennens. Und es wäre doch wohl eine kulturkritische Einseitigkeit, wollte man dieser Art, mit dem Leben zurechtzukommen mit Sklovskij nur kritisch begegnen. Es liegt ein großes Stück Kultur und Erwachsenheit darin, Ordnung und Distanz zu schaffen, sich nicht vom Vielerlei überwältigen und verwirren zu lassen. Ich nenne diese Aufmerksamkeit einmal der Einfachheit halber Aufmerksamkeit 1. Die Aufmerksamkeit des Wiedererkennens, des Einordnens, des Distanzierens. Die andere, die Aufmerksamkeit 2, ist pathisch getönt, das heißt auf Empfänglichkeit bezogen. „Sehendes Sehen“ hat der Kunstwissenschaftler Max Imdahl die Empfänglichkeit im optischen Wahrnehmungsfeld genannt, um die es hier geht.9 Dem entspräche ein „hörendes Hören“, das sich vom Hier und Jetzt des Gehörten treffen ließe und es nicht durch intellektuelle Einordnungsbedürfnisse entkräftete. Dieses „hörende Hören“ entspricht genau dem, was der Komponist Hans Zender als „das richtige und eigentliche Musikhören“ umschrieben hat. Es handelt sich bei dieser Aufmerksamkeit 2 nicht um eine primitive und rohe Sinnlichkeit. Es handelt sich um eine Aufmerksamkeit hoher Kultur – nur eben einer Kultur, die dem Drang nach Bewältigung und Beherrschung und schneller Erklärung entsagt. Und ihre Fruchtbarkeit ist gewiss nicht auf das Feld des Ästhetischen beschränkt. Man mag an den Ausspruch von Georg Christoph Lichtenberg, eines Naturwissenschaftlers und Philosophen aus der Hochzeit der Aufklärung denken: „Die Gelehrsamkeit kann auch ins Laub treiben. Man findet so sehr seichte Köpfe, die zum Erstaunen viel wissen.“ Jeder kennt das damit Gemeinte: Es gibt Leute, die – sagen wir über Mozart oder über ihr Fachgebiet – alles Erdenkliche wissen, von denen man aber den sicheren Eindruck hat, sie seien nie ratlos, verwirrt oder auch beglückt darüber gewesen, was sie mit ihrem begrifflich gefassten Wissen an dem Gegenstand nicht zu fassen bekommen. Seichte Köpfe, die gut Bescheid wissen – und die zu allem Unglück nicht ganz selten auch noch wie der Doktor Faust das lehren müssen, was sie nicht par coeur kennen.
Nikolaus Harnoncourt hat in seiner schönen Geburtstagsrede über Mozart, das allzu bekannte Geburtstagskind des Jahres 2006, geschrieben: „Man meint alles über ihn zu wissen – sein Leben ist ja bestens dokumentiert –, aber wenn man etwas über ihn sagen will, bemerkt man, dass man ihn überhaupt nicht kennt.“10 Er kennt ihn nicht, nicht obwohl, sondern weil er gewiss viele Stunden seines Lebens nichts getan hat, als sich in dieses Lebenswerk zu vertiefen. In solche Paradoxien kommt man hinein, wenn man über die Rätselhaftigkeiten dessen nachdenkt, was sich unseren verschiedenen Aufmerksamkeiten entzieht und was sich ihnen erschließt.
Harnoncourts Mozart: Das mag exemplarisch dafür stehen, wie heute mit Zeugnissen der Vergangenheit umzugehen wäre, ohne Konsumzwängen zu verfallen. Pädagogen und Kulturvermittler sind auf dem Holzweg, wenn sie glauben, sie müssten den Abstand und die Ferne der großen Toten unspürbar machen. Wer ihre Fremdheit abtötet, sie gar pädagogisch vereinnahmt, hat es nicht mehr mit ihnen zu tun, sondern mit seinen eigenen Phantombildern. Mozart ist kein zu verwaltendes Kulturgut, das irgendjemand zur Nutzung freigeben könnte. Wer die Vergangenheit verbiedert, sie mundfertig zubereitet – der schafft sie ab.
Allgemeine Forderungen, man müsse gerade in der Erziehung auch etwas zur Kultivierung von Aufmerksamkeit 2 tun, sind nicht sehr hilfreich, zumal wir alle, ob es uns gefällt oder nicht, unter einer Geheimmaxime der Epoche stehen, wie es Günther Anders genannt hat: „Was immer Dauer erfordert, dauert zu lange. Das Faktum, dass Handlungen Zeit kosten, gilt heute als Vergeudung. Gleich wie kurz sie währen – niemals sind sie kurz genug. Zeit = Langsamkeit.“11 Wie sehen sie aus, die Situationen, in denen sich die Aufmerksamkeit 2 gewissermaßen vortraut – gegen den Überdruck der Faktoren, die auf Beherrschung, Erledigung, Häufung drängen? Ich suche aus verschiedenen Bereichen Szenen auszugraben, in denen sich die Betreffbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung von der Rätselhaftigkeit der Welt zu melden scheint.
Es geht um den Wurzelbereich ästhetischer Erfahrung. Und der ist sehr viel weiter dimensioniert als nur in Kunsterfahrung im engeren Sinn. Der genialische Wahrnehmungsforscher und Künstler Hugo Kükelhaus hat zwei unterschiedliche Arten des Sehens und des Gehens bewusst gemacht. Er beschreibt die optische Wahrnehmung einer allseits grell ausgeleuchteten großen weißen Kugel in einer Kammer mit schwarzen Wänden: Man sieht nichts als eine flache helle Scheibe. Obwohl alles Erdenkliche zur Erhellung der Kugel getan wurde, entzieht sie sich in ihrer Eigenart dem von Licht unterstützten Blick. „Wie anders aber, wenn die gleiche Kugel durch ein schwaches seitlich einfallendes Licht aus dem Dunkel auftaucht!“12 Die totale Durchhellung macht die Qualität der Kugel unkenntlich. Ein erstaunlicher Tatbestand.
Das zweite Beispiel: Wir sind normalerweise darauf aus, wenn wir von A nach B wollen, diese Strecke möglichst rasch und reibungslos zurückzulegen, auch um Zeit und Kraft zu sparen. Kükelhaus schlägt ein Gedankenexperiment vor. Das ausschließlich auf Schleunigkeit und Reibungslosigkeit abzielende Gehen spiele sich ab auf einer schnurgeraden, ebenen, hell erleuchteten, völlig hindernisfreien Betonbahn – das andere verlaufe durch einen Wald, dessen Boden Unebenheiten, Äste, Steine aufweist, Gegebenheiten also, die allesamt spontane, zeitaufwändige und verlangsamte Reaktionen in den Bewegungspotenzialen des Körpers hervorrufen: „Da sind schlüpfrige Stellen. Das Licht ist dämmrig. Man muss dauernd balancieren. Ist ganz Auge, ganz Lunge, ganz Nase: vielerlei Düfte sind da, besonders vom Boden her...“13 Kükelhaus’ kaum bezweifelbares Resümee: Nach dem Zurücklegen des Betonwegs ist man erschöpft, nach dem Waldweg erfrischt, „fühlt sich wie neu geboren“. Einerseits sehr einleuchtend, andererseits hoch erstaunlich: Die auf Effizienz, Zeitersparnis, Reibungslosigkeit und also Kraftersparnis hin kalkulierte Bewegung führt zu Erschöpfung, das vielartige, Wahrnehmungskräfte und Reaktionen fordernde Gehen auf schütterem Grund erfrischt, lässt einen aufleben. Menschen sind halt keine technischen Apparate – die funktionieren effizient, reibungslos, kraftsparend, geradlinig. Das menschliche Wahrnehmungssystem – und nicht nur das – ist auf vielartige und unvorhersehbare, überraschende Herausforderungen angewiesen, um sich zu beleben.
„Herausforderungen vonseiten vielerlei mit Unsicherheiten und Wagnissen verbundener Hindernisse“ – das gilt auch für die unsichtbar gewordene Kugel: „Was dort die herausfordernden Unsicherheiten des Waldweges waren, ist hier die nur teilweise und schwache Beleuchtung der Kugel und die damit verbundene Verschattung auf der dem Licht abgewandten Zone und die Unsicherheit der Konturen.“14 Die durch Technik oder Totalerhellung vollkommen verfügbar gemachte Welt ist unspürbar geworden und wahrnehmbar bleibt eine Verstümmelung, die dazu noch die Eigenschaft hat, Menschenwahrnehmung zu unterfordern und dadurch zu erschöpfen.
Ich möchte hier nicht – was nahe liegt – die Ausstrahlungen dieser Züge des Wahrnehmungsvermögens in Bereiche des Denkens und Verstehens aufsuchen, sondern erinnere zunächst an manches, was jeder kennt: Wie lerne ich meine Heimat wirklich kennen? Gewiss nicht nur dadurch, dass ich sie in allen Details unter die Lupe nehme; viel eher doch wohl dann, wenn ich sie auch einmal von Ferne spüre, mich an sie erinnere, sie mir vorstelle, im Abschied, gar in der Trauer des Verlusts. Die Ferne bringt sie nahe. Manche Gegenstände werden uns doch wohl erst vertraut und bekannt, wenn wir sie verloren haben und wiederzufinden hoffen (und in der erinnernden Fantasie rekonstruieren). Weltausschnitte, Szenen werden uns dann nicht selten auffällig und intensiv präsent, wenn sie ein Künstler gestaltet – und zwar indem er durch Weglassen sichtbar macht. Woher sonst die Tragödien, die ausgearbeiteten Krisenmomente, die Zusammenbrüche und Katastrophen und Verfremdungen in allen Kunstarten? Das sind Verwandte der Verschattungen im Kükelhaus-Beispiel. Entrückungen, Entfernungen, Umwege, Erschwerungen, Erinnerungen, Abstände, Abschiede, Unterbrechungen – alles das sind andeutende Bezeichnungen für einen Umgang mit der Welt, bei dem wir die gemeinte Sache nicht technisch direkt und ohne Umwege und Zwischenräume angehen. „Bruchlinien der Erfahrung“ nennt Bernhard Waldenfels jene Risse, in denen die nicht verfügbare Wirklichkeit aufbricht.15 Und diese Brüche sind es, die jene Gestaltungen provozieren, die wir künstlerisch oder ästhetisch nennen. Wobei es nicht darum geht, die Risse und Verschattungen unkenntlich zu machen – das ist die auch hochbedeutsame Spielart des technischen Umgangs mit der Welt. Die ästhetisch getönte Sinnlichkeit setzt auf die Kultivierung von Brüchen, Annäherungen, Verfremdungen, Verlangsamungen. Und sie ist nicht zureichend als Ergänzung oder als Vorstufe des technischen Umgangs zu denken.
Sie steht aber in einem Dauerkonflikt mit dem Diktat der Schnelligkeit, mit der von Anders beschriebenen Diagnose, dass uns Modernen alles, was dauert, zu lange dauert. Sie merken: Ich komme wieder bei der grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Aufmerksamkeiten an. Sie scheint mir der neuralgische Punkt jeden Nachdenkens und jeder Praxis hinsichtlich der ästhetischen Erziehung und Erfahrung in der technisch durchherrschten Zivilisation.
Um die Eigenart der Lernprozesse, die zur ästhetisch gestimmten Aufmerksamkeit 2 führen, noch etwas weiter zu durchdringen, füge ich noch einige beispielhafte Texte an: Der Tänzer und Choreograf Merce Cunningham berichtet von seiner Tätigkeit, die ja gewiss auch einen hohen Anteil der Einübung in technische Bewegungsroutinen und Körperbeherrschung enthält. Insofern ist der Tanz ein Brennpunkt in der Auseinandersetzung beider Aufmerksamkeiten: „Als Tänzer, als Interpret muss man ständig versuchen, es sich selbst schwer zu machen. Ich meine nicht nur in technischer Hinsicht. Es hat etwas mit einer gewissen Unbeholfenheit zu tun... Vielleicht ist das nicht der richtige Ausdruck dafür, ich verwende ihn aber trotzdem immer. Man muss die Bewegung für sich selber beschwerlich machen, so als wüsste man nicht, wie man darangehen soll, sodass sie mit neuem Leben erfüllt wird, wenn man sie endlich hat.“16
Die Schwierigkeiten, die es bereitet, sich immer neu der Sache anzunähern und auf die zeitsparende Routine zu verzichten – die sind das Lebenselixier der lebendigen Tanzgebärde. Fast mit den gleichen Worten umschreibt der Dichter Ezra Pound die Leistung des – wie er schreibt – idealen Literaturlehrers, der mit seiner Klasse sucht, ein Meisterwerk zu Gesicht zu bekommen: Er müsste es „beinahe angehen, als ob er es noch nie gesehen hätte“.17
Im Zeitalter technischer Lernvorstellungen kann man das kaum anders verstehen als eine Aufforderung, die so genannte Motivationsphase nicht ungebührlich zu verkürzen. Weil es doch schließlich darauf ankomme, die Sache zu beherrschen und definitiv in den Griff zu bekommen – etwa als angemessene Interpretation und Einordnung. Ersichtlich kommt es Pound wie Cunningham aber gerade darauf an, den Schwebezustand dessen auszuhalten und durchzustehen, der die sinnliche Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit dieser Bewegung, dieses poetischen Textstücks gewissermaßen explodieren lässt.
Es handelt sich da um ein Grundthema in einer exemplarischen Schrift zur ästhetischen Erziehung in der Moderne. Man vergegenwärtige sich den folgenden Satz, der die Auseinandersetzung mit der Bestimmbarkeit, der Nichtfestgelegtheit sinnlicher Widerfahrnisse thematisiert: „Zwar lässt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken und zu Entschließungen übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit notwendig durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüter können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden.“18
„Gewisse Charaktere“ halten die Schwebe nicht aus: Sie instrumentalisieren die ästhetische Gestimmtheit auf dem Weg zu handhabbaren Resultaten. Zweihundert Jahre nach Schiller hat ein zeitgenössischer Philosoph beim Nachdenken über „die Ästhetik des Erscheinens“ über dasselbe Phänomen meditiert, das in den Zitaten von Cunningham und Pound jedes technische Lern-Denken irritiert und befremdet. Martin Seel: „Die ästhetisch zugelassene Gegenwart eines Sinnenobjekts ist kein Sosein, das registriert werden soll, sondern ein Geschehen, das immer dann zur Anschauung kommt, wenn wir eine rein erkennungsdienstliche oder verfügungsmächtige Behandlung bleiben lassen, wenn wir uns von der Fixierung auf eine Fixierung des Objekts befreien, wenn wir nicht am Festhalten festhalten.“19
Die Erfahrungsformen des Ästhetischen sind mitnichten auf den Bereich künstlerischer Gestaltungen im engeren Sinn begrenzt. Deshalb erwähne ich noch zwei Zeugnisse aus scheinbar anderen Welten. Ausgerechnet bei einem französischen Dominikaner, der über „Rhetorik und Gotteswort“ nachdenkt, finde ich Sätze, die eine untergründige Geistesnähe zu den erörterten Beispielen dokumentieren – und die zeigen, wie nahe ästhetische und religiöse Erfahrung beieinander liegen können. Pie Duploye schreibt: „Es geht darum, dass in der christlichen Predigt der Redefluss wieder ins Stocken kommt, ein Satz missrät oder ganz daneben geht, es bei Andeutungen bleibt, manches Ungehobelte unterläuft, was seinen tiefen Grund hat... es gilt dem Mysterium Christi die ihm eigene Dichte zurückzugeben, die Welt wieder in dem Stadium einzufangen, in dem sie noch eine klebrige Knospe ist; es kommt darauf an, den Cocktail, den Porridge wieder zusammenzurühren, wie er im Anfang war. Gott, sagt der hl. Thomas, arbeitet wie ein Künstler... Er ist ein Musikant, und sein Lied ist die Welt: carmen universitatis, carmen pulcherrimum. Es blieb Calderon vorbehalten, ihn zu einem Maler, sodann zu einem Theaterdirektor zu machen – zum Direktor jenes gran teatro del mundo, in dem er selber die Rollen verteilt.“20
Fatalerweise scheint es ja der herkömmliche Belehrer zu sein, der ästhetische wie religiöse Gegebenheiten ausdörren lässt. Martin Wagenschein sprach einmal vom „ehrwürdigen Zustand des Stammelns“. Bei Kindern können wir ihn vielleicht noch lernen.
Ein letztes Beispiel wieder aus einem anderen Bereich, der herkömmlicherweise nicht unter Ästhetik abgeheftet wird. Der jüngst verstorbene große Historiker Reinhard Koselleck schrieb einmal, „dass in der Geschichte immer mehr oder weniger passiert, als in der Vorgegebenheit enthalten ist“.21 Das heißt aber, jede Beschreibung, jede Gestaltung eines historischen Geschehniszusammenhangs, die nicht Klischees der raschen Erklärung verfällt, ist durchsetzt von Unbekanntheiten und Ungewissheiten: Was aus einer Handlung, einem Geschehnis wird, ist nie deterministisch festlegbar. Und die Darstellung von Ereignisfolgen muss demnach porös bleiben, umwittert von der Rätselhaftigkeit, die eindeutige Erklärungen verbietet und die Schwebe auszuhalten nahe legt. Und die Schwebe der Offenheit aushalten zu lehren – das ist weiß Gott nicht unsere, der Pädagogen, Stärke. Illich sah die „rätselhafte Sinnlichkeit der Umwelt“ durch die Belehrungswut vertrieben. Es gibt gewiss auch eine Erklärungswut und Faktenhuberei, die die Unbekanntheiten und Fremdheiten historischer Begebnisse in den versunkenen Welten der Vergangenheit wegrationalisiert – blind für das Ungewisse zwischen Ereignis A und Ereignis B. Und man kann entschieden der Meinung sein, dass die gesellschaftlich-historischen Lernbereiche ebenso wie die religiösen keineswegs auf einem anderen Planeten angesiedelt sind wie die ästhetischen Erfahrungen im engeren Sinn. Denn alles Denken und Wissen wurzelt – anthropologisch betrachtet – letztlich in der sinnlich-kommunikativen Wahrnehmungssensibilität. Wenn sie verkümmert, verödet der Geist. Mag er auch in der Weltbeherrschung wahre Triumphe feiern.
Als Zusammenfassung stelle ich mich der Frage, wie das beispielsweise konkret aussehen kann – Arten des Lernens, in denen die „rätselhafte Sinnlichkeit unserer Umwelt“ nicht unkenntlich, sondern kenntlich und erfahrbar gemacht wird, und zwar im Wurzelbereich ästhetischen Weltumgangs. Die Pädagogin Eva-Maria Kohl von der Universität Halle berichtet, wie Grundschulkinder auf Sprache aufmerksam werden können – in einem anderen als dem des korrekten Gebrauchs. Kinder kommen ins Erzählen, nachdem sie die expressive Ausstrahlung von Wörtern bewusst wahr und ernst genommen haben. Eva-Maria Kohl regt die Kinder an, Wörter zunächst in Wortkisten einzusortieren. So gibt es die heitere gemeinsame Suche nach Morgenwörtern oder nach Nachtwörtern. Es gibt eine hellgrüne Kiste mit Frühlingswörtern und eine mit Badewannenwörtern, es gibt Wutwörterkisten und Geburtstagswörterkisten und eine Kiste mit altertümlichen Wörtern. Man kann Wörter abtasten: Sind es dunkle, samtschwarze, kellertiefe Wörter oder eher grüne, frühlingshafte, wachsende, blätterrauschende Wörter? Die so gewürdigten Wörter werden dann zu Wortbausteinen für zu erfindende Geschichten. Das kann so aussehen: Wir erzählen uns eine Geschichte zusammengesetzt aus vier weißen Wörtern aus der weißen Wörterkiste (Taube, Eisbär, Ziege, Schnee) und einem einzigen tiefschwarzen Wort (Kohlenauto). Daraus machte Jennifer (9 Jahre) folgende kleine Erzählung:22
Sechs Tauben
Vier Eisbären und
Zehn weiße Ziegen
Saßen im Schnee.
Da kam ein Auto
Voller Kohlen und hupte:
Weg mit euch
Im Medium unseres täglichen Weltaustauschs werden Züge virulent, die eine andere Aufmerksamkeit freisetzen als es die ist, die auf reibungslos-effiziente Nutzung aus ist. Übertragungen auf andere symbolische Medien wie Klänge, Gesten, Farben, Rhythmen liegen nahe. Im Untergrund der Sprache lauern abenteuerliche Geschichten.
Ein letztes Beispiel: Es ist heilsam, bei Schriftstellern in die Schule zu gehen. Vielleicht ist bei ihnen mehr über verschüttete Aufmerksamkeiten zu lernen als bei Psychologen und didaktischen Profis. Ein Beispiel dafür ist der wunderbare Roman Briefe in die chinesische Vergangenheit von Herbert Rosendorfer. Ein Chinese aus dem 10. Jahrhundert wird per Zeitmaschine in das München von heute versetzt und berichtet über seine Eindrücke zurück in die Vergangenheit. Das liest sich beispielsweise so: „Dass sie [die europäischen Menschen des 20. Jahrhunderts] dennoch noch immer an Dämonen glauben – sozusagen an andere, tief hinter den Dingen zurückgezogene Dämonen –, ist mir auch klar. Selbst Herr Shi-shmi glaubt an sie. Er bringt ständig kleine Brandopfer dar. Die Brandopfer bestehen aus kleinen weißen Röllchen, die er in den Mund steckt und – erschrick nicht – anzündet... wie ein Feuerschlucker. Aber die Röllchen brennen nicht, sie glimmen nur, rauchen und stinken ziemlich. Trotz scharfer Beobachtung konnte ich keinen Sinn in diesen verglimmenden Röllchen erkennen. Tschai gaga Lai heißen die Röllchen – vielleicht auch der entsprechende Dämon. Es muss also eine kultische Handlung sein. Herr Shi-shmi beweist übrigens eine halsbrecherische und schon geradezu asketische Fertigkeit im Darbringen dieser Brandopfer. Bis das Röllchen nahe genug an seinen Mund gekommen ist, behält er es im Mund – erst wenn es so klein ist wie mein kleinstes Fingerglied, hört er damit auf. Dann scheint auch der Zauber (eine Bann-Beschwörung), an die er ziemlich fest glaubt, verflogen zu sein, denn den Rest des Röllchens wirft er achtlos weg. Etwa alle halbe Stunden – habe ich beobachtet – bringt Herr Shi-shmi so ein Rauchopfer dar. Nie vergisst er es. Er führt stets ein Päckchen mit solchen Röllchen mit sich und in der Wohnung bewahrt er einen großen Vorrat solcher Päckchen auf. Ich fragte ihn, warum er solche Brandopfer darbringt. Er wurde sichtlich verlegen. Offenbar schämt er sich seines Aberglaubens. Er lachte zwar, aber die Frage war ihm doch ziemlich peinlich. ,Ich weiß es selbst nicht‘, sagte er, ,ich kann es mir leider nicht abgewöhnen.‘“23 Der Chinese bemerkt erstaunt, dass auch Leute auf einer Zentraltreppe, auf der Straße im Gehen solche Brandopfer darbringen – und an den Straßenrändern sieht er riesige Köpfe auf Wänden abgebildet, die so ein Brandröllchen in der Hand oder im Mund halten, wohl Andachtsstätten für diese Dämonen, wie er meint.
Durch einen Kunstgriff wird die Haut der Vertrautheit von alltäglichen Geschehnissen abgestreift und unvermittelt trieft das allzu Bekannte von Unbekanntheit und Rätselhaftigkeit. Eine eindrucksvolle Vorschule der Ästhetik.