Über das Buch
Eine Geschichte von Selbstfindung und Verrat, von Liebe und Erlösung. Und eine Geschichte über die Frage: Was bedeutet Freiheit? Barbados, 1830: Der Sklavenjunge Washington Black lebt und arbeitet auf einer Zuckerrohrplantage unter unmenschlichen Bedingungen. Bis er zum Leibdiener Christopher Wildes auserwählt wird, dem Bruder des brutalen Plantagenbesitzers. Christopher ist Erfinder, Entdecker, Naturwissenschaftler – und Gegner der Sklaverei. Das ungleiche Paar flieht von der Plantage in einem selbst gebauten Heißluftballon. Es beginnt eine abenteuerliche Flucht, die die beiden um die halbe Welt führen wird.
Über die Autorin
Esi Edugyan lebt in Victoria, der Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia. Washington Black ist ihr dritter Roman und wurde von Publikum und Kritik gefeiert. Er stand auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2018 und ist für den Giller Prize nominiert.
ESI EDUGYAN
WASHINGTON BLACK
ROMAN
Aus dem kanadischen Englisch
von Anabelle Assaf
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Titel der kanadischen Originalausgabe:
»Washington Black«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Esi Edugyan
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Aylin LaMorey-Salzmann, Berlin
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter
Verwendung einer Illustration von © Joe Wilson/Debut
und einem Design von Peter Dyer
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7842-9
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Cleo & Maddox
Faith-Plantage, Barbados
1830
Ich war vielleicht zehn, elf Jahre alt – genau kann ich das nicht sagen –, als mein erster Master starb.
Niemand trauerte um ihn; auf den Feldern ließen wir die Köpfe hängen, aber wir trauerten um uns selbst und um das Anwesen, das nun sicher bald verkauft würde. Er war sehr alt, als er starb. Ich hatte ihn immer nur aus der Ferne gesehen: Gebeugt und dünn saß er oft an einem schattigen Platz auf der Wiese schlafend in einem Stuhl, über dem Schoß eine Decke.
Wenn ich heute an ihn zurückdenke, kommt er mir vor wie ein besonderes, in der Flasche konserviertes Exemplar einer seltenen Spezies. Er hatte einen verrückten König und sogar den Sklavenhandel überlebt, hatte das Französische Kaiserreich fallen und das Britische Imperium aufsteigen sehen genauso wie den Beginn des industriellen Zeitalters, und mit seiner eigenen Nützlichkeit war es vorüber gewesen. Ich erinnere mich, wie ich an jenem letzten Abend mit blanken Fersen auf der steinigen Erde der Faith-Plantage hockte und eine Handfläche gegen Big Kits Wade presste. Ich konnte die Hitze spüren, die von ihrer Haut ausging, ihre Stärke und ihre Macht, während sich um uns herum das rote Sonnenlicht auf die Zuckerrohrpflanzen ergoss. Gemeinsam beobachteten wir stumm die Aufseher, die auf ihren Schultern den Sarg aus dem Haupthaus trugen. Sie ließen ihn mit einem schabenden Geräusch erst ein Stück auf das Stroh im Wagen gleiten und dann mit einem lauten Krachen hineinfallen, bevor sie ratternd davonfuhren.
Und so fing es an: mit Big Kit und mir, die dabei zusahen, wie die Toten die Freiheit fanden.
Sein Neffe traf eines Morgens etwa achtzehn Wochen später am Kopf einer Reihe staubiger Kutschen ein, die direkt vom Hafen in Bridge Town kamen. Dass das Anwesen nicht verkauft worden war, hielten wir zu jenem Zeitpunkt für einen Glücksfall. Die Kutschen schoben sich langsam ächzend im Schatten der Palmbäume die weiche Böschung hinauf. Auf einem flachen Fuhrwerk am Ende der Karawane stand ein seltsames, in Leinen gehülltes Objekt, so groß wie der Felsen im kleinen Feld, an dem wir ausgepeitscht wurden. Ich hatte keine Ahnung, was sich darunter verbergen mochte. An all das erinnere ich mich noch sehr gut, denn ich stand wieder neben Big Kit am Rande des Zuckerrohrs – in jenen Tagen wich ich kaum von ihrer Seite –, und ich sah Gaius und Immanuel, die steif die Kutschentür öffneten und die Treppe ausklappten. Vor dem Haupthaus sah ich die hübsche Émilie stehen. Sie war in meinem Alter, und an manchen Abenden konnte ich einen Blick auf sie erhaschen, wenn sie die Schüsseln mit dem Dreckwasser ins hohe Gras vor der Spülküche entleerte. Jetzt ging sie die ersten beiden Stufen der Veranda hinab und blieb, nachdem sie ihre Schürze geglättet hatte, still stehen.
Der erste Mann, der mit seinem Hut in den Händen heraustrat, hatte schwarzes Haar, ein Kinn, lang wie das eines Pferdekopfs, und Augen, die dunkel verborgen unter dichten Augenbrauen lagen. Er hob den Kopf, während er die Treppe hinunterschritt, und ließ den Blick über das Anwesen und die dort versammelten Männer und Frauen schweifen. Dann sah ich, wie er zu dem merkwürdigen Objekt schlenderte, es umkreiste und die Seile und Leinwände inspizierte. Mit einer Hand schirmte er die Augen gegen die Sonne ab, drehte sich um, und einen beängstigenden Moment lang fiel sein Blick auf mich. Er kaute auf irgendetwas Weichem herum, sein Kiefer arbeitete kaum merklich. Er wandte den Blick nicht ab.
Doch es war der zweite Mann, der finstere Mann in Weiß, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war unser neuer Master – wir alle sahen es sofort. Er war groß, ungeduldig, kränklich, seine Beine standen voneinander ab wie die Schenkel eines Zirkels. Unter seinem dreieckigen weißen Hut quoll ein Büschel weißer Haare hervor. Ich glaubte, helle Wimpern zu erkennen und milchig blasse Haut. Ein Mann, der einem anderen gehört, lernt schon sehr früh, auf die Augen eines Masters zu achten; was ich im Gesicht dieses Mannes sah, versetzte mich in Angst und Schrecken. Er besaß mich, so wie er all die anderen besaß, unter denen ich lebte. Nicht nur unsere Leben gehörten ihm, sondern auch unser Tod, und es freute ihn zu sehr. Sein Name war Erasmus Wilde.
Ich spürte, wie ein Schaudern durch Big Kit fuhr, und ich konnte sie verstehen. Sein glattes weißes Gesicht glänzte, seine makellos weiße Kleidung leuchtete unmöglich grell, wie ein Gespenst, ein Geist. Ich fürchtete, er könnte in der Lage sein zu verschwinden und unvermittelt woanders wiederaufzutauchen, ganz wie es ihm gefiel; ich fürchtete, dass er sich von Blut ernährte, um sich warm zu halten; ich fürchtete, dass er überall sein könnte, unsichtbar für uns, also verrichtete ich meine Arbeit von nun an stillschweigend. Ich hatte schon viele sterben gesehen: Ich kannte die Natur des Bösen. Es war weiß wie ein Gespenst, es schwebte eines Morgens aus einer Kutsche herab und hinaus in die Hitze, die über einer Plantage stand, auf der die Angst herrschte. Und in seinen Augen lag Leere.
Ich glaube heute, dass dies der Moment war, in dem Big Kit – ruhig und voller Liebe – beschloss, uns beide umzubringen.
Während meiner gesamten Kindheit hatte ich niemanden außer Big Kit, wie man sie auf den Feldern nannte. Ich liebte und fürchtete sie zugleich.
Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich die Frau verärgerte, die über unsere Unterbringung bestimmte, und zur Strafe in die unwirtlichste aller Hütten unter dem toten Palmbaum geschickt wurde, wo ich von nun an leben sollte. Kits Hütte. Am ersten Abend stahl man mir das Essen und zerbrach meine Holzschüssel; ein Mann, den ich nicht kannte, schlug mir so hart gegen den Kopf, dass ich das Gleichgewicht verlor und nichts mehr hörte. Zwei kleine Mädchen bespuckten mich. Ihre uralte Großmutter drückte mich zu Boden, ihre Krallen in meine Arme versenkt, und schnitt mir die selbstgemachten Sandalen von den Füßen, um an das Leder zu kommen.
Da hörte ich zum ersten Mal Big Kits Stimme.
»Den nicht«, sagte sie leise.
Das war alles. Doch dann strömte eine monströse Ladung dunkler Energie, gewaltig und unaufhaltsam wie eine Sturzwelle, in unsere Richtung und riss die alte Frau an den Haaren in die Höhe und warf sie zur Seite, als wäre sie nichts als ein knochenloser Stofffetzen. Ich glotzte entsetzt. Big Kit starrte einfach nur aus orangefarbenen Augen auf mich herab, als widerte ich sie an, und kehrte zu ihrem Stuhl in der Ecke zurück.
Am nächsten Morgen kauerte sie jedoch im blassen Licht neben mir. Sie bot mir ihre Schüssel mit Brei, fuhr die Linien meiner Hand entlang. »Du wirst großes, gewaltiges Leben haben, Kind«, raunte sie. »Leben aus vielen Flüssen.« Und dann spuckte sie in meine Hand und schloss meine Faust, sodass der Speichel zwischen meine Knöchel rann. »Das ist erster Fluss, genau hier«, sagte sie und fing an zu lachen.
Ich vergötterte sie. Sie überragte alle, war riesig und unerbittlich. Aufgrund ihrer Größe und weil sie im alten Dahomey, bevor man sie verschleppt hatte, eine Salzwasser-Hexe gewesen war, wurde sie gefürchtet. Sie säte Flüche in die Erdschicht unter den Hütten. Über Türschwellen hingen ausgeweidete Krähen. Drei Wochen lang nahm sie einem kräftigen Schmiedelehrling jeden Morgen und jeden Abend gewaltsam das Essen weg und aß es vor seinen Augen, schöpfte mit den Fingern aus seiner Schüssel, bis sie zu irgendeiner Art Übereinkunft gelangten. In den glimmenden Feldern glänzte sie wie eingeölt, summte leise seltsame Lieder und riss die karge Erde auf, wobei sich unter ihrer Haut die Muskeln wölbten. In manchen Nächten lag sie in der Hütte und murmelte etwas im Schlaf, in dieser tiefen, dichten Sprache ihres Königreichs, bevor sie laut aufschrie. Niemand redete je darüber, und am nächsten Tag arbeitete sie auf den Feldern stets wie eine wild gewordene Furie, wie eine schonungslose Axt, die keinen Unterschied machte, was sie zerstörte und was sie erntete. Ihr wahrer Name sei Nawi, wie sie mir einmal flüsternd erzählte. Sie habe drei Söhne gehabt. Sie habe einen Sohn gehabt. Sie habe keine Söhne gehabt, nicht einmal eine Tochter. Mit jedem Mond veränderten sich ihre Geschichten. Ich erinnere mich daran, wie sie manchmal bei Sonnenaufgang eine Handvoll Erde über ihr Messer rieseln ließ und irgendeine Beschwörungsformel murmelte, ihre Stimme belegt, wie von Gefühlen übermannt. Sie sog die Luft durch die Zähne ein und schielte nach oben, bevor sie zu erzählen begann: »Als ich königliche Wache war in Dahomey« oder »nachdem ich die Antilope mit meinen Händen zerquetscht habe, etwa so«, und sofort hörte ich auf, womit auch immer ich gerade beschäftigt war, und lauschte ihr gebannt. Denn sie war wie ein Wunder, Zeugin einer Welt, die ich mir nicht vorzustellen vermochte, weit weg von den Hütten und grausamen Feldern von Faith.
Unter unserem neuen Master wurde es auf Faith zunehmend düster. In seiner zweiten Woche entließ er die alten Aufseher. An ihrer Stelle erschienen grobschlächtige tätowierte Männer von den Docks, die in der Hitze die roten Gesichter verzogen. Ehemalige Soldaten oder Sklavenhändler oder einfach nur mittellose Inselbewohner, die ihre zerknüllten Papiere in der Tasche trugen und deren teuflische Augen tief in den Höhlen lagen. Dann begannen die Verstümmelungen. Wozu sollten wir mit solchen Verletzungen noch taugen? Ich sah Männer mit blutüberströmten Beinen in die Felder humpeln; ich sah Frauen mit blutdurchtränkten Bandagen über den Ohren. Sie schnitten Edward die Zunge heraus, weil er Widerworte gegeben hatte; Elizabeth zwangen sie, aus einem vollen Nachttopf zu essen, weil sie den vom Vortag nicht gründlich genug geschrubbt hatte. James versuchte, wegzulaufen, also statuierten sie an ihm ein Exempel. Der Master befahl einem Aufseher, ihn vor unseren Augen bei lebendigem Leib zu verbrennen. Später wurde in der Glut seines Scheiterhaufens ein Eisen erhitzt, und wir wurden gezwungen, an seinen entsetzlich verkohlten Überresten vorbeizugehen, während wir einer nach dem anderen ein zweites Mal gebrandmarkt wurden.
Mit James’ Tod begann eine neue Art des Tötens; viele weitere sollten auf ihn folgen. Kranke Männer wurden mit der Peitsche in Fetzen gerissen oder in den Bäumen über den Feldern gehängt oder erschossen. Ich war noch ein Kind und weinte nachts. Doch bei jedem neuen Tod grunzte Big Kit nur in grimmiger Genugtuung, die orangefarbenen Augen zu wütenden schmalen Schlitzen verengt.
Der Tod war eine Tür. Ich denke, sie wollte, dass ich dies begriff. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie gehörte einem alten Glauben an, tief verwurzelt in den hohen Flussregionen Afrikas, und in diesem Glauben wurden Tote wiedergeboren, fanden sich unversehrt und frei in ihrem Heimatland wieder. Mit der Ankunft des Mannes in Weiß hatte diese Idee in ihr zu keimen begonnen wie ein Tropfen Gift in einem Brunnen.
Eines Nachts weihte sie mich in ihre Pläne ein. Sie sagte, es würde schnell gehen. Wir würden nichts spüren.
»Hast du Angst?«, flüsterte sie an unserem Schlafplatz in der Hütte. »Vorm Sterben?«
»Nicht, wenn du keine Angst hast«, sagte ich mutig. Ich konnte den Arm spüren, den sie in der Dunkelheit schützend um mich gelegt hatte.
Sie grunzte. Ein langes tiefes Grollen in ihrer Brust. »Wenn du tot, du wachst wieder in deiner Heimat auf. Du wachst auf frei.« Darauf zuckte ich leicht mit einer Schulter, und als sie das spürte, nahm sie mit den Fingern mein Kinn und drehte mich zu ihr. »Was war das?«, fragte sie. »Glaubst du nicht?«
Ich wollte es ihr nicht sagen; ich hatte Angst, sie könnte wütend werden. Doch dann flüsterte ich: »Ich hab keine Heimat, Kit. Meine Heimat ist hier. Also wache ich hier wieder auf, als Sklave, oder? Nur du bist nicht da.«
»Du kommst mit mir nach Dahomey«, raunte sie nachdrücklich. »So geht das.«
»Hast du sie gesehen? Die aufgewachten Toten? In Dahomey?«
»Ich hab sie gesehen«, flüsterte sie. »Wir alle haben sie gesehen. Wir wussten, was sie waren.«
»Und sie waren glücklich?«
»Sie waren frei.«
Ich konnte spüren, wie mich die Erschöpfung des Tages überkam. »Wie ist das, Kit? Frei sein?«
Ich merkte, wie sie sich auf dem Erdboden bewegte, bevor sie mich an sich zog, ihr Atem heiß an meinem Ohr. »Oh, Kind, das ist wie nichts in dieser Welt. Wenn du frei, du kannst machen, was du willst.«
»Und immer hingehen, wo du willst?«
»Und immer hingehen, wo du willst. Immer aufstehen, wann du willst. Wenn du frei«, flüsterte sie, »und fragt dich jemand was, musst du nicht antworten. Du musst keine Arbeit fertigmachen, die du nicht fertigmachen willst. Du hörst einfach auf.«
Staunend schloss ich die müden Augen. »Stimmt das wirklich?«
Sie gab mir einen Kuss aufs Haar, gleich hinter mein Ohr. »Mhm mhm. Du legst einfach die Schaufel hin und gehst.«
Aber warum wartete sie dann so lange? Die Tage vergingen; auf Faith wurde das Klima rauer, brutaler; und doch tötete sie uns nicht. Vielleicht hatte sie eine Vorahnung, vielleicht warnte sie etwas davor, zu handeln.
Eines Abends führte sie mich hinaus in ihren kleinen Gemüsegarten, in dem wir allein waren. Ich sah die scharfe verrostete Klinge einer Hacke in ihrer Hand und begann zu zittern. Doch sie wollte mir lediglich die kleinen Karotten zeigen, die zu sprießen begannen. In einer anderen Nacht weckte sie mich auf und führte mich schweigend in die Dunkelheit, durch die langen Gräser zu dem abgestorbenen Palmbaum, aber auch dies diente nur dazu, mir einzubläuen, nichts von unseren Plänen zu verraten. »Wenn irgendwer davon hört, Kind, werden wir getrennt«, zischte sie. Ich verstand nicht, warum wir warteten. Ich wolle ihre Heimat sehen, sagte ich. Ich wolle mit ihr durch Dahomey gehen, frei.
»Aber man muss es richtig machen, Kind«, flüsterte sie mir zu. »Unter dem richtigen Mond. Mit den richtigen Worten. Sonst hören die Götter nicht.«
Doch dann begannen die anderen Selbstmorde. Cosimo schnitt sich den Hals mit einer Axt durch, Adam durchlöcherte sein Handgelenk mit einem aus der Schmiede gestohlenen Nagel. Beide fand man morgens verblutet im Gras hinter den Hütten, einen nach dem anderen. Wie Kit waren sie früher Salzwasser-Hexer gewesen, hatten geglaubt, im Land ihrer Vorfahren wiedergeboren zu werden. Doch als der junge William, der auf der Plantage zur Welt gekommen war, sich in der Wäscherei erhängte, begab sich Erasmus Wilde höchstpersönlich zu uns hinaus.
Langsam lief er in seinen blendend weißen Kleidern über den Rasen, mit wenigen Schritten Abstand folgte ihm ein Aufseher. Dieser trug einen zerfledderten Strohhut und schob eine Karre vor sich her. Darin lagen ein hölzerner Pfahl und ein Haufen aus grauem Sackleinen. Sie überquerten die Wiese in der gleißenden Sonne und machten am Rande des Zuckerrohrfelds Halt, wo man uns zusammengetrieben hatte. In der heißen grellen Luft musterte uns der neue Master.
Ich konnte das Fleisch unter seiner Haut sehen, in seinem Gesicht, an seinen Händen, wächsern und blutleer. Seine Lippen waren rosa, die Augen von stechendem Blau. Langsam schritt er an unseren aufgereihten Körpern vorbei, starrte jeden von uns einen kurzen Moment an. Über mir hörte ich Big Kit schwer atmen, und ich begriff, dass auch sie Angst hatte. Als der Master mich ansah, spürte ich seinen sengenden Blick und schaute sofort zitternd zu Boden. Die Luft stand still und roch nach Schweiß.
Dann gab der Mann in Weiß dem Aufseher hinter sich ein Zeichen. Dieser drehte die Griffe der Schubkarre um und kippte deren Ladung auf die staubige Erde.
Wie Wind ging ein Murmeln durch unsere Reihe.
Dort am Boden lag ausgestreckt in einem Bündel grauer Kleidung Williams Leiche. In seinem steifen Gesicht schien der Schmerz wie eingefroren; die Augen traten hervor, aus dem Mund quoll schwarz die Zunge. Seit seinem Tod waren einige Tage vergangen, und es geschahen bereits seltsame Dinge mit seinem Körper. Er sah dicker aus, aufgedunsen; seine Haut war fleckig und schwammig. Mich erfasste ein schleichendes Grauen.
Als der Master endlich zu uns sprach, war seine Stimme ruhig, trocken, gelangweilt.
»Was ihr hier seht, ist ein Nigger, der sich umgebracht hat«, sagte Erasmus Wilde. »Er war mein Sklave, und er hat sich umgebracht. Also hat er mich bestohlen. Er ist ein Dieb.« Er machte eine Pause, faltete die Hände hinter dem Rücken. »Ich habe gehört, dass einige von euch glauben, ihr würdet in eurer Heimat wiedergeboren werden, wenn ihr sterbt.« Er sah aus, als wollte er weitersprechen, hielt jedoch inne. Und dann drehte er sich plötzlich um und gab dem Aufseher bei der Schubkarre erneut ein Zeichen.
Der Mann beugte sich mit einem langen geschwungenen Abhäutmesser über die Leiche. Er griff einmal um sie herum, umfasste mit seiner schwieligen Hand Williams Kinn und begann zu sägen. Wir hörten, wie das grässliche feuchte Fleisch zerriss, hörten das Knirschen der Knochen, sahen, wie Williams lebloser Körper seltsam zusammensackte, als der Kopf sich löste.
Der Aufseher richtete sich auf und hielt den abgetrennten Kopf mit beiden Händen. Dann lief er zur Karre und nahm den hölzernen Pfahl heraus. Er hämmerte ihn erst in die trockene Erde und spießte dann Williams Kopf auf das spitze Ende.
»Kein Mann kann ohne seinen Kopf wiedergeboren werden«, rief der Master. »Dasselbe werde ich bei jedem neuen Selbstmord anordnen. Glaubt mir. Keiner von euch wird jemals sein Land wiedersehen, wenn ihr euch weiter umbringt. Lasst euren Tod auf natürliche Weise geschehen.«
Ich starrte hinauf zu Kit. Sie spähte zu Williams Kopf auf dem Pfahl, zu der Kugel des in der Sonne aufweichenden Fleischs, und in ihrem Gesicht lag etwas, das ich nie zuvor bei ihr gesehen hatte.
Verzweiflung.
Aber das ist kein richtiger Anfang. Erlauben Sie mir, noch einmal von vorn zu beginnen, fürs Protokoll.
Seit nunmehr achtzehn Jahren weile ich auf dieser Erde. Ich bin ein freier Mann, ich allein bin im Besitz meiner Person.
Im Jahr 1818 wurde ich auf jenem von der Sonne verbrannten Anwesen auf Barbados geboren. So wurde es mir jedenfalls erzählt. Einer anderen Version zufolge kam ich in einem mit Ketten verschlossenen Frachtraum während einer stürmischen Atlantiküberfahrt zur Welt, an Bord eines illegalen niederländischen Sklavenschiffs. Das wäre dann im Herbst 1817 gewesen. Letztere Variante beinhaltet den Tod meiner Mutter, die bei der schwierigen Geburt verstorben sein soll. Jahrelang favorisierte ich keine Herkunft über die andere, doch während meiner ersten Jahre in Freiheit litt ich unter seltsamen Träumen, Bildern, die immer wieder kurzzeitig aufblitzten: hohe Holzpalisaden, hinter denen sich der schwarze Dschungel erhob wie eine Wand. Nackte aneinandergekettete Männer, die verrottete Holzplanken hochwanken und in einer Brigg verschwinden. Träumte ich von der Goldküste, der Sklavenfestung in Annamaboe? Wie das möglich sein soll, fragen Sie? Überlegen Sie doch einmal selbst, was Sie von Ihren eigenen Anfängen wissen und ob Ihr Leben wirklich so anders ist. Die Geschichten über unsere Geburt müssen wir alle hinnehmen, denn obwohl wir bereits in ihnen vorkommen, sind wir darin noch nicht präsent.
Ich war ein Feldnigger. Ich habe Zuckerrohr geerntet, nur mein Schweiß war von Wert. Im Alter von zwei Jahren habe ich die Hacke geschwungen und gejätet, Futter für die Kühe gesammelt und den Dung mit meinen Händen in die Zuckerrohrlöcher geschaufelt. In meinem neunten Lebensjahr bekam ich einen Strohhut und eine Schaufel geschenkt, die ich kaum heben konnte, und ich war stolz, als Mann zu gelten.
Und mein Vater?
Den habe ich nie gekannt.
Mein erster Master gab mir einen Namen, wie er uns allen Namen gab. Getauft wurde ich auf George Washington Black – doch man nannte mich Wash. Voller Hohn behauptete mein Master, er habe in mir die Geburt einer Nation erblickt, einen Krieger und Präsidenten, ein Land der Wonne und Freiheit. Das war natürlich alles, bevor mein Gesicht entstellt wurde. Bevor ich mit einem Schiff in den Nachthimmel segelte und von Barbados floh, bevor ich wusste, was es hieß, gejagt zu werden, da auf den eigenen Kopf eine Belohnung stand.
Bevor der weiße Mann zu meinen Füßen starb.
Bevor ich Titch traf.