Status quo
Prinzessin Aurora drehte sich um sich selbst.
Sie konnte nicht anders.
Wenn ihr die Flure endlos lang und breit und leer erschienen … Wenn das helle Licht der Sonne durch die Dornenranken drang und goldglänzende Muster auf den Boden zeichnete, die so aussahen, wie sie sich einen Wald vorstellte … Wenn der weiche Teppich sie anlockte, auf dem dunkle und helle Flecken ein Muster bildeten, das so aussah, wie sie sich Wiesen und Felder vorstellte … Dann begann sie zu singen, drehte sich und tanzte durch die Korridore, spürte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, wenn sie die Arme ausstreckte. Und dabei versuchte sie, kleine Bruchstücke von Träumen zu erhaschen, die manchmal tatsächlich etwas mit den Wäldern zu tun hatten.
Manchmal zog sie sogar ihre goldenen Schuhe aus.
Sie sang, was immer ihr in den Sinn kam und dem Augenblick angemessen erschien. Hübsche Balladen, die der Minnesänger ihr beigebracht hatte, ernste Lieder, die ihr Musiklehrer sie gelehrt hatte, Wiegenlieder, an die sie sich von früher erinnerte, und kleine, selbst erfundene Melodien. Wenn sie im Bett lag und kurz vor dem Einschlafen war, erklang Musik in ihren Ohren, ertönten ganze Orchester und Chöre und kündeten fröhlich von Dingen an die sie sich nicht erinnern konnte. Manchmal versuchte sie, sich später wieder an diese Melodien zu erinnern und sie nachzusingen.
Dieser Flur war besonders gut geeignet, um sich um die eigene Achse zu drehen. Er lag auf der Südseite des Schlosses direkt über der großen Halle, und wenn es den warmen Winden gelang, Rauch und Ruß zu vertreiben, sah und spürte sie sogar manchmal Sonnenstrahlen. Der Flur mündete auf eine Treppe mit einem steinernen Geländer zu beiden Seiten. Daran stieß sie sich ab und warf sich hin und her wie ein übermütiges Reh, das sich fröhlich von einem Wasserfall in die Tiefe tragen lässt.
Moment mal, vermutlich wäre der Vergleich mit einem munteren Fisch besser gewesen. Aurora brachte die verschiedenen Tierarten manchmal durcheinander.
Wenn sie am Ende der Treppe angekommen war, versuchte sie ihre Füße zu kreuzen, wie sie es bei den Troubadouren und Tänzerinnen gesehen hatte. Ihr goldenes Haar wallte über ihre Schultern, mal zur einen, mal zur anderen Seite, je nachdem wie sie sich bewegte. Sie hob den Saum ihres Kleids, damit sie ihre Füße betrachten konnte, um sicherzugehen, dass sie taten, was sie von ihnen verlangte. Sogar diese Geste wirkte so graziös, dass jeder Zuschauer sie für einen Teil der Vorstellung gehalten hätte.
Gleichzeitig hätte er sich bestimmt darüber gewundert, dass diese junge Frau – die sogar eine Prinzessin war – so wild durch die Flure tanzte.
Aurora vollführte Pirouetten entlang des Tischs im Bankettsaal, hüpfte mit kleinen Schritten durch eine der Vorratskammern, trippelte an einem nur leicht erstaunten Diener vorbei und huschte durch den Saal, der einmal die Orangerie gewesen war und dessen hohe Fenster nun Dornengestrüpp überwucherte.
Die junge Prinzessin hörte nur dann auf zu singen und zu tanzen, wenn sie vor der eisernen Tür ankam, durch die man ins besondere Verlies gelangte.
Am Ende einer langen, gewundenen kalten Steintreppe erreichte man einen Gang mit kleinen runden Nischen, die aussahen wie die Kammern der aus Schlamm gefertigten Nester von Grabwespen. Die meisten waren leer, denn unter den knapp tausend Schlossbewohnern waren Verbrechen kaum mehr an der Tagesordnung, da niemand flüchten konnte. Außerdem gab es nichts, was man hätte stehlen wollen.
Früher hatte die Königin den Minnesänger, wenn er betrunken war oder sich frech benommen hatte, in einen Stall sperren lassen. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn ins Verlies geworfen, damit er dort seinen Rausch ausschlief.
Nein, die einzigen Personen, die jetzt dort ihr Dasein fristeten, waren die Verursacher des Endes der Welt: Prinzessin Auroras Eltern König Stefan und Königin Leah.
Einmal hatte sie sich getraut und war nach unten geschlichen, um ihre Ahnen zu besuchen.
Tante Maleficent hatte ihr nicht verboten, dies zu tun – ihre Tante verbot ihr überhaupt nichts. Aurora wusste auch nicht so genau, warum sie das Gefühl hatte, sie müsste es heimlich tun.
Sie hatte abgewartet, bis Maleficent wieder heraufgestiegen war. Sie hatte dort unten Fackeln anzünden lassen, daher war es nicht vollständig dunkel. Aurora hatte ihre goldenen Schuhe ausgezogen und war auf Zehenspitzen hinuntergegangen, immer dicht an die rauen Mauern gedrückt – wie ein Kind, das Verstecken spielt.
Der König und die Königin hatten sie benommen angestarrt und geschwiegen. Sie hockten in ihrer winzigen Zelle auf einer harten Bank und glotzten ins Leere. Auf ihren Gesichtern war keine Gefühlsregung zu erkennen. Sie saßen da wie Statuen, die auf das Ende der Zeit warteten, an dem endlich die Mauern des Schlosses zusammenfallen und alles unter sich begraben würden.
Aurora war erschauert und so schnell, wie sie konnte, wieder nach oben zu ihrer Tante Maleficent gerannt, um sie zu umarmen, wie sie es manchmal tat, obwohl die Alte das nicht besonders mochte.
Danach hatte Aurora nie mehr Lust verspürt, ein weiteres Mal ins Verlies hinabzusteigen.
Auch jetzt erschauerte sie kurz und eilte dann an der Tür vorbei, um sich weiter ihrer Tanzleidenschaft hinzugeben.
Ihre Eltern hatten getanzt, so wurde berichtet, als die Welt um sie herum zusammenbrach.
Ihre Verdorbenheit, ihre Bösartigkeit, ihre Gier und Herzlosigkeit waren legendär gewesen und hatten ihnen im Blut gelegen. Und ihr Blut floss auch in Auroras Adern, so wollte es die Natur.
Sie merkte, wie sie Panik ergriff, und rannte zum Thronsaal. Vor der Tür blieb sie kurz stehen, strich sich das Kleid glatt und bemühte sich um eine königliche Haltung, bevor sie eintrat.
Maleficent saß auf dem Thron mit einer Eleganz, die Aurora gern besessen hätte. Sie gestikulierte mit ihren schmalen Händen, während sie sprach, und deutete mal hierhin, mal dorthin. Die Zeit des Midvember-Balls rückte näher. Seit einem Monat hatte es kein Fest mehr gegeben. Im Saal drängten sich Diener und Angehörige des Hofstaats, die letzte Fragen zu ihrer Kostümierung klärten und um bestimmte magische Utensilien baten. Außerdem wurden Wünsche zur Menüfolge vorgetragen und die Erlaubnis für bestimmte Tänze eingeholt.
Einige Diener waren keine Menschen im eigentlichen Sinn.
Manche waren grau und schwarz und eigenartig geformt. Sie hatten Schnäbel statt Mündern oder Schweinerüssel oder – noch schlimmer – gar keine Münder. Manche waren Paarhufer oder hatten Hühnerkrallen oder gespreizte Pranken anstelle von Füßen.
Aber sie alle waren nötig, um die schlimmeren Ungeheuer im Zaum zu halten, die draußen lauerten. Maleficent hatte sie aus Lehm und dem Geist einer anderen Welt geformt – einer Welt, die nicht sehr angenehm war, wie die Prinzessin vermutete.
Die Intelligenz dieser Dienerkreaturen war bescheiden, und die Königin hatte ihnen Schweigen verordnet, weil sie bemerkt hatte, wie unwohl die Bewohner des Schlosses sich bei ihrem Anblick fühlten. Aurora wusste nicht, wie sie das finden sollte. Einerseits fand sie es unfair, dass die Ungeheuer so streng behandelt wurden. Andererseits … waren es nun mal Ungeheuer.
Maleficent bemerkte Aurora und verzog das Gesicht zu einem Lächeln.
„Komm doch zu mir, meine Liebe. Du bist eine willkommene Abwechslung. Die Vorbereitungen ziehen sich mal wieder arg in die Länge.“
„Tante“, sagte Aurora erleichtert, ging zum Thron und stellte sich neben die Königin. Wie immer vergingen all ihre Ängste und Zweifel, wenn sie sich der Retterin des Königreichs näherte. Bei ihr fühlte sie sich sicher und geborgen. „Du solltest dich wirklich nicht mit all diesen Kleinigkeiten befassen. Du tust doch schon so viel für unser Land!“
„Mag sein, aber das ist wichtig für die allgemeine Moral, meine Liebe“, erwiderte Maleficent und schaute stirnrunzelnd auf ihren versammelten Hofstaat. „Da wir das Schloss nicht verlassen dürfen, bevor das Land wieder geheilt ist, sind diese Feste sehr wichtig, um uns zu zerstreuen und die Stimmung zu heben.“ Sie hob ihre schmale Hand und schob eine goldene Strähne hinter Auroras Ohr. „Abgesehen davon haben deine Eltern dich sechzehn Jahre lang vernachlässigt. Sechzehn Jahre lang hast du als Prinzessin keine Feier und keinen Ball an deinem Geburtstag abhalten dürfen! Selbst die Bauern kümmern sich mehr um ihren Nachwuchs.“
„Vielen Dank, Tante Maleficent“, wisperte Aurora und senkte den Kopf. Sie spürte eine unendliche Dankbarkeit gegenüber dieser Frau, die sich so hingebungsvoll um sie kümmerte. Trotzdem konnte sie ihrer Tante nicht in die Augen sehen, die eigenartig gelb waren. Sie schienen nie etwas oder jemanden direkt anzublicken. Es war unmöglich herauszufinden, was diese Frau fühlte. Es sei denn, sie sagte etwas.
„Mir gefällt das Motto, das du dir diesmal ausgedacht hast“, sagte Maleficent, und die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Lippen. „Das Blau des Himmels und des Wassers – das klingt sehr poetisch.“
„Ich muss mir das alles ja ausmalen“, erklärte Aurora. „Denn ich habe noch nie einen Fluss oder das Meer gesehen.“
In ihren Träumen flossen manchmal glitzernde Ströme an kühlen und schattigen Ufern vorbei – aber sie waren nur Produkte ihrer Vorstellung und hatten oft keine anderen Farben als alle Schattierungen von Braun.
„Das hast du gut gemacht.“ Maleficent tätschelte Aurora den Kopf wie bei einem … Schoßtier. Es war eine eigenartige Geste, die anscheinend ursprünglich mal für ein anderes Wesen gedacht war. Auch das war so eine der seltsamen Angewohnheiten ihrer Tante. „Hör mal, du weißt ja, dass dieser Ball heute bis spät in die Nacht gehen wird. Warum hältst du nicht ein Nickerchen, damit du heute Abend wieder voller Energie bist? Ich weiß doch, wie gern du tanzt.“
„Aber ich möchte doch helfen …“
„Ein anderes Mal, Herzchen“, beschwichtigte Maleficent sie und strich ihr freundlich über die Wange. „Dafür wird in den kommenden Jahren noch genug Zeit sein.“
„Ja, Tante Maleficent. Vielen Dank, Tante Maleficent“, sagte Aurora folgsam. Dann beugte sie sich vor und gab ihrer Tante einen kleinen Kuss auf die eingefallene Wange.
Maleficent warf nervöse Blicke um sich.
Die mächtige Fee hatte nicht darum gebeten, sich als Retterin der letzten Menschen zu betätigen. Vor allem aber hatte sie nicht gewollt, dass die Welt überhaupt zerstört wird.
Und sie hatte sich auch nicht darum beworben, die Ersatzmutter einer vernachlässigten Prinzessin zu werden.
Wahrscheinlich hätte sie lieber ihr eigenes Leben gelebt, in ihrem alten Schloss, wo sie Zaubersprüche ausprobieren und mit verborgenen Mächten kommunizieren konnte, die nichts mit dem Dasein der Sterblichen zu tun hatten.
Wenn sie es also nicht gewöhnt war, umarmt oder geküsst zu werden oder sonstige Zuneigungsbekundungen von Aurora zu erhalten, dann mussten sie eben beide lernen, damit umzugehen. Aurora, die nie echte Eltern gehabt hatte, würde ihr Herz mit der Zeit schon erweichen.
Die Prinzessin ging zurück zu ihrem Zimmer.
Der Flur war sehr breit und lud zum Tanzen ein, aber dieses Mal verzichtete sie darauf. Sie fühlte sich nutzlos und leer.
„EURE HOHEIT.“
Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter.
Erschrocken wirbelte Aurora herum – aber es war nur der alte Bänkelsänger. Er war blass, und seine Nase war sehr lang und sehr spitz. Er wirkte wilder und verrückter als je zuvor. Seine Kleider waren zerfetzt, und er hatte Kratzer um die Augen. Es sah aus, als würde er Blut weinen.
„Ihr seht nicht gut aus, Meister Tommins“, sagte Aurora freundlich. Sie roch nichts an ihm, nicht mal den selbst gebrannten Schnaps, den einige Bauern im Schlosshof destillierten. Mitunter schien es, als würde es ihn körperlich ruinieren, dass er nichts zu trinken bekam.
„Sie ist da draußen. Dort! Es gibt eine Außenwelt!“, raunte der alte Mann. Dann schaute er furchtsam hinter sich, fasste Auroras Hand und drückte sie. „Eure Hoheit, ich konnte entkommen!“
„Lasst meine Hand los, Ihr seid krank“, erwiderte Aurora, die sein Benehmen nur leicht beunruhigte. Sie sorgte sich eher um seine Gesundheit und darum, was passieren würde, wenn er einem anderen in dieser Stimmung unter die Augen trat.
Bekannte und merkwürdig unstete Schritte näherten sich. Das Geräusch ängstigte den Sänger bis zur Hysterie.
Aurora legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht solltet Ihr Euch kurz hinlegen …“
Aber es war zu spät. Zwei Angehörige der Privatgarde von Maleficent kamen um die Ecke: ölige schwarz-graue Monster, die mit schief sitzenden Köpfen nebeneinander marschierten. Sie wirkten, als könnten sie sich nur knapp aufrecht halten, und sahen aus, als hätte jemand sie falsch zusammengesetzt.
Der Bänkelsänger geriet bei ihrem Anblick in Panik. Trotzdem wandte er sich nicht von der Prinzessin ab.
„Eure Hoheit …“
„Entferne dich von ihr, du singendes Menschlein“, rief der Gardist, der am ehesten einem Schwein ähnelte. „Maleficent befiehlt dir, dich auszuschlafen und sie in Ruhe zu lassen.“
„Ihr seid der Schlüssel“, flüsterte der Sänger und drängte sich dicht an die Prinzessin, um in ihr Ohr zu sprechen. Sie musste an sich halten, um ihn nicht abzuwehren. „Ihr! Denn draußen ist alles noch da!“
„MINNESÄNGER!“, rief der andere Wächter, der einen Hahnenkamm und gelbe Augen wie ein Dämon hatte.
Sie packten den Sänger mit ihren Klauen an den Schultern und schleuderten ihn herum, als wöge er nicht mehr als eine Feder.
„Eure Hoheit!“, kreischte er.
Die Unholde lachten.
„Sing uns ein Lied, dann tun wir dir nicht zu sehr weh auf dem Weg in den Kerker!“, verlangte der erste Gardist.
„Seid bitte vorsichtig mit ihm“, bat Aurora. „Er hat doch nur einen Anfall und braucht einen Arzt und keine Schläge …“
„SING!“, befahl der zweite Wächter, ohne auf sie zu hören. Weder er noch sein Kumpan machten sich die Mühe, sich vor ihr zu verbeugen, als sie gingen. „LOS! SING!“
Der Bänkelsänger gab sein Bestes, während ihm die Tränen über das blutige Gesicht rannen. Die albtraumhaften Gestalten packten ihn und hoben ihn auf ihre Schultern.
„Douce … douce dame jolie …“
Erschüttert sah Aurora zu, wie sie ihn fortschafften.
Aber da war noch etwas, ein Fünkchen von etwas, das zu schaurig war, um es zuzugeben. Die Erleichterung darüber, dass dieser Nachmittag doch noch abwechslungsreich geworden war.
Als die drei verschwunden waren, hingen nur noch die Bruchstücke des Liedes in der Luft wie dünner Rauch, der sich in einem Saal verlor.
„Pour dieu ne pensés mie
Que nulle ait signorie
Seur moy fors vous seulement …“
Aurora hielt noch immer die Hände verschränkt, nachdem der Sänger sie gedrückt hatte. Als sie sie auseinanderfaltete, bemerkte sie, dass er ihr etwas zugesteckt hatte.
Verwundert hob sie es in die Höhe.
Es war eine blau schimmernde Feder.