Am 15. Dezember erscheint Deinoid XT Band 6, » Die Piratenbraut von Scandus«.
Wir schreiben das Jahr 2615. Der Star Marshal Cormach Brogan wird auf den so genannten ›Korsar‹ angesetzt, einen berühmt-berüchtigten Piraten, der nicht nur die Frachter der NEO-Hanse und deren Konzernniederlassungen überfällt, sondern auch Menschen aus Strafgefangenenlager befreit.
Mit allen Mitteln versucht Brogan herauszufinden, wer dahintersteckt und wo die Piraten ihr Versteck haben – und stößt dabei auf eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes …
Deinoid Band 6
Impressum
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Epilog
Erstveröffentlichung November 2017
Copyright © 2017 Deinoid by Ben Ryker
Copyright © 2017 der eBook-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Petershagen
Cover und Umschlaggestaltung: Arndt Drechsler
Redaktionelle Betreuung: Thomas Knip
E-Book-Konvertierung: Die Autoren-Manufaktur
Alle Rechte vorbehalten
ISBN ePub 978-3-86305-209-6
www.verlag-peter-hopf.de
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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.
Eine laue Frühlingsluft strich über die Terrasse des ›Camouflage‹. Das Sonnenlicht brach sich in blanken Glastüren und exquisiten Gläsern, die Kellner in perfekt sitzenden roten Uniformen an die Tische brachten. Es waren nur wenige Gäste an diesem Nachmittag auf der Aussichtsplattform zu sehen.
Das Café war eines der exklusivsten der Stadt. Und das hatte mehrere Gründe.
Erstens: Der Blick auf den neuen Eiffelturm war phantastisch. Die Konstruktion aus blau gefärbtem Titan war mit 598 Metern fast doppelt so hoch wie das 2038 bei einem Terroranschlag zerstörte Original und dem Vernehmen nach ebenso beeindruckend.
Zweitens: Die Speisekarte war hervorragend. Das Restaurant bezog exotische und extraterrestrische Speisen direkt von der NEO-Hanse, Frische war garantiert.
Drittens: Die Kellner waren diskret. Sie ermöglichten ungestörte Treffen unter vier Augen in diversen Separees am Rande der Aussichtsplattform. Und dies war auch der Grund, aus dem Shenmi das ›Camouflage‹ für das Rendezvous ausgewählt hatte. Sie legte keinen Wert darauf, zusammen mit ihrem Gast gesehen zu werden. Und das ›Centre de Culture‹ war sie mittlerweile leid.
Dabei war es dieses Mal Dana Fedorova gewesen, die den Kontakt zu Shenmi gesucht hatte. Natürlich dezent und auf die gewohnt geheimnisvoll-verschwörerische Art, die Shenmi eher amüsant als beunruhigend fand. Sie war gespannt, was die Leiterin der Hanse Security von ihr wollte. Bislang war sie allerdings noch nicht aufgetaucht.
Gelangweilt spielte Shenmi mit ihren lockigen, roten Haaren – dass es sich um eine Perücke handelte, war für Außenstehende nicht zu erkennen. Sie betrachtete das Treiben auf den Champs Élysées. Die Menschen eilten geschäftig herum, als bestünde ihr Leben aus nichts als Eile. Diese Narren würden nie verstehen, dass ihr Herumrennen am Ende zu nichts führte. Solange sie die wahren Hintergründe von dem, was auf der Erde und in diesem System vor sich ging, nicht durchschauten, waren sie nichts als dumme Insekten, die blind vor sich hin werkelten. Bemitleidenswert.
»Ganz schön viel los heute in Paris.«
Wäre Shenmi nicht so gut ausgebildet gewesen, wäre sie sicherlich zusammengezuckt. Sie hatte Dana Fedorova nicht kommen sehen, geschweige denn, dass sie mitbekommen hätte, wie die vornehme Brünette auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz genommen hatte. Die Leiterin der Hanse Security sah deutlich besser aus, als bei ihrer letzten Begegnung. Sie war elegant gekleidet wie immer – graues Kostüm, perfekter Lidstrich, modische schwarze Schuhe mit Absätzen, deren Klappern Shenmi eigentlich aus einer Meile Entfernung hätte hören müssen.
Ihre eigene Unachtsamkeit ärgerte Shenmi maßlos, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen beugte sie sich vor und griff nach ihrem langstieligen Glas. »Sind Sie im Verkehr stecken geblieben oder warum sind Sie schon wieder so spät dran? Das scheint eine schlechte Angewohnheit von Ihnen zu sein«, fragte sie kühl und nippte an der rubinroten Flüssigkeit. Ein guter Jahrgang Marsianischen Weines, fast zu schade, um ihn in dieser Gesellschaft zu trinken.
Dana Fedorova zupfte an ihren Fingerspitzen, um sich betont lässig die Lederhandschuhe von den Fingern zu streifen. Nicht, dass sich Shenmi underdressed vorgekommen wäre. Sie wusste sehr gut, wie beeindruckend sie in dem weißen Etuikleid wirkte, das ihre zierliche Gestalt perfekt zur Geltung brachte.
»Mein Fahrer ist ganz gut durchgekommen«, sagte Fedorova. »Ich schätze, er sucht einen Stellplatz und wird dann im Foyer auf mich warten.«
Clever, dachte Shenmi. Die Agentin hatte somit klar gemacht, dass sie nicht alleine gekommen war, dass sie dieses Gespräch jedoch unter vier Augen zu führen beabsichtigte – ebenso wie Shenmi.
Fedorova orderte bei einem diensteifrig auftauchenden Kellner eine Tasse Tee und lehnte sich erwartungsvoll zurück. »Wollen wir lange um den heißen Brei herumreden oder gleich zum Punkt kommen?«, fragte sie süffisant. Das gefiel Shenmi, obwohl sie Dana Fedorova noch immer nicht besser leiden konnte als all die Male, bei denen sie sich zuvor begegnet waren.
»Ich mag Ihre direkte Art«, sagte sie lächelnd. »Ich nehme einfach einmal an, es geht um Ty Hawkins?« Zumindest war es das, was Shenmi hoffte.
Dana Fedorova zog die Augenbrauen nach oben. »Ich sehe, wir verstehen uns. Haben Sie mir etwas zu sagen?«
Shenmi nahm einen weiteren Schluck. »Vielleicht ist unsere Kommunikation doch nicht so perfekt wie gedacht. Ich habe nämlich keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
Der Kellner brachte den Tee und unterbrach die Unterhaltung für einige Augenblicke. Die beiden Frauen schwiegen, bis sich der Rotbefrackte wieder entfernt hatte. Dana Fedorova rührte etwas Zucker in den Tee und nahm einen kräftigen Schluck. »Herrlich erfrischend an einem solchen Tag. Ich trinke tagsüber keinen Alkohol mehr.«
Shenmi überhörte die Spitze geflissentlich. »Was genau wollen Sie denn von mir hören?«
Dana Fedorova setzte die Tasse ab und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sie haben es doch selbst angesprochen: Ty Hawkins ist das Stichwort. Haben Sie etwas von ihm gehört? Oder vielleicht Ihr Auftraggeber Van Bekeren – falls er denn noch Ihr Auftraggeber ist?«
»Von Hawkins habe ich nichts gehört, bedaure«, antwortet Shenmi, ohne auf die letzte Frage einzugehen und schlug lässig die Beine übereinander. Wir führen uns auf wie zwei Pfauen, die umeinander herumstolzieren und Rad schlagen, dachte sie belustigt. Aber das gehörte natürlich zum Spiel.
»Das soll ich Ihnen glauben?«, fragte Dana Fedorova leicht indigniert. »Hawkins hat Sie sicher kontaktiert.«
»Warum denken Sie, dass er das tun sollte?«, wollte Shenmi wissen.
Seelenruhig rührte Dana Fedorova in ihrem Tee, ließ Shenmi dabei jedoch nicht aus den Augen. »Nun, Sie haben ein enges Verhältnis zu Hawkins, da liegt es nahe.«
Haben wir das?, fragte sich Shenmi unwillkürlich. Sicher, Ty war ihr Geliebter gewesen, und ein verlässlicher Freund. Doch etwas stand stets zwischen ihnen. Und es war nicht nur die Tatsache, dass er mittlerweile wusste, dass sie eine Halb-Deinoidin war. Es gab da noch ein Geheimnis, das sie hütete, und das Ty irgendwann erfahren musste.
»Ich habe schon seit Ewigkeiten nichts von ihm gehört«, sagte sie wahrheitsgemäß. Ihr letzter Kontakt zu Ty und zur ›Shadow Dancer‹ lag wirklich schon geraume Zeit zurück – so lange, dass sie langsam begann, sich Sorgen zu machen. Deswegen hatte sie ihre Hoffnungen in das Gespräch mit Dana Fedorova gesetzt. Vielleicht wusste die Leiterin der Hanse Security ja mehr als sie zugab.
»Sie wollten nicht um den heißen Brei herumreden«, erinnerte Shenmi. »Also, was können Sie mir zu Ty Hawkins’ Verbleib sagen?«
Dana Fedorova lehnte sich zurück. Enttäuschung zeichnete sich in ihrer Miene ab. »Ich befürchte, genauso wenig wie Sie. Der Kontakt zur ›Shadow Dancer‹ ist abgebrochen. Ich hatte gehofft …«
Ein leiser, aber aufdringlicher Klingelton wie das zarte Zirpen einer Grille unterbrach sie. Fedorova runzelte die Stirn.
Shenmi lächelte unverbindlich. »Entschuldigen Sie – eine dringende Nachricht auf meiner Privatfrequenz«, sagte sie und griff in ihre weiße Handtasche, die so winzig war, dass gerade einmal der Kommunikator und ihre Brieftasche darin Platz hatten. Sie hatte den Kommunikator zwar extra für das Gespräch mit Fedorova abgelegt und trug ihn nicht am Handrücken, um nicht gestört zu werden. Doch der Signalton war eindeutig. Sie musste die Nachricht sofort annehmen.
Schon beim ersten Blick auf das Display war Shenmi klar, dass das Treffen beendet war. Es war nur ein Wort, das sie ansprang wie ein Löwe die Beute: Mantikor.
»Ich bedaure, meine Liebe, aber wir müssen unsere Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen«, sagte Shenmi und schloss die Tasche. Den Kommunikator befestigte sie wieder am Handrücken.
Sie freute sich über Dana Fedorovas überraschtes, ja, entrüstetes Gesicht.
»Was?«, entfuhr es der Agentin. »Aber wir haben doch noch gar nicht …«
»Nun, wie ich Ihnen bereits sagte, weiß ich nichts über den Verbleib von Ty Hawkins«, sagte Shenmi bestimmt. Sie stand auf, ohne ihre Rechnung zu begleichen. Man kannte sie gut im ›Camouflage‹ – der Betrag würde von ihrem Konto abgebucht werden. »Wir können uns gerne demnächst wieder auf eine Tasse Tee oder ein Glas Wein treffen – vielleicht haben Sie dann ja Neuigkeiten für mich, die es wert sind. Und dann habe ich im Gegenzug vielleicht auch welche für Sie.«
Shenmi eilte davon und ließ die verblüfft dreinblickende Dana Fedorova im Separee zurück. Sie war viel zu neugierig, um ihr noch einen weiteren Blick zu schenken. Immerhin hatte Shenmi sie nicht angelogen: Sie würde wirklich bald etwas von der ›Shadow Dancer‹ hören. Das Passwort Mantikor bedeutete, dass die Nachricht von ›Chimairis‹ stammte. Und dass es Probleme gab, in die Ty Hawkins auf irgendeine Weise verwickelt war.
Der Expresslift beförderte Shenmi innerhalb von Sekunden ins Erdgeschoss, ohne dass sie überhaupt spürte, dass ihr Körper bewegt wurde. Das ›Camouflage‹ ließ sich auch, was die technische Ausstattung anging, nicht lumpen. Doch Shenmi hatte keinen Blick mehr für das schicke Entree und den livrierten Pagen, der ihr die Glastür aufhielt. Geistig war sie bereits ganz woanders.
Natürlich würde sie nicht in ihr Penthouse zurückkehren. Das war ihr bereits klar, ehe sie den Fuß, der in einem sündhaft teuren Lackleder-Pumps steckte, auf die Straße gesetzt hatte. Sie fühlte einen leisen Stich des Bedauerns, als sie an den Whirlpool und die neue Badeessenz aus Südfrüchten dachte, die sie an diesem Abend eigentlich hatte ausprobieren wollen. Doch es war nur der Hauch eines Gedankens, der sofort von ihrer Neugier verdrängt wurde. Endlich gab es etwas Neues von Ty. Bei der Aussicht darauf verpuffte der imaginäre Duft der Badeessenz ins Unbedeutende.
Shenmi gab sich nicht die Blöße, sich umzusehen. Sie war sich durchaus bewusst, dass Agenten der Hanse Security, die Dana Fedorova mit Sicherheit rings um das Gebäude platziert hatte, sie beobachteten. Fedorova könnte ihre hohe Position nicht so sicher in den sorgfältig manikürten Händen halten, wenn sie nicht so gehandelt hätte. Shenmi wäre sogar beleidigt gewesen, wenn Fedorova sie nicht für wichtig genug gehalten hätte, um mindestens drei Agenten auf sie anzusetzen.
Und Shenmi war sich zweier weiterer Fakten bewusst: Ihre Verkleidung war gut, doch die Agenten wussten sehr genau, wer sie war. Und sie würden ihr folgen. Oder es zumindest versuchen.
Ebenso selbstbewusst wie zielsicher steuerte Shenmi auf die Metro zu und hüpfte mit mädchenhaften Schritten die Stufen hinunter. Den Zugang zur Pariser U-Bahn zierten wie seit Jahrhunderten die weltbekannten verschnörkelten Schilder aus geschwärztem Metall, doch unter der Erde war das Transportsystem, eines der ältesten der Erde, natürlich längst modernisiert worden. Schlanke Fünf-Personen-Kabinen standen bereit, um durch Vakuum-Röhren an ihr Ziel geschossen zu werden. Shenmi eilte auf eine leere davon zu und ließ sich in das weiche Polster fallen. Mit einem leisen Zischen schlossen sich die Türen.
Ehe die Kapsel losfuhr, erhaschte Shenmi noch einen Blick auf einen unauffällig gekleideten Jugendlichen, der am Absatz der Treppe stand und ihr mit den Augen folgte. Sie unterdrückte ein Lächeln. Dann umfing sie das Dunkel des Tunnels, und in der Kapsel erglomm ein sanftes rötliches Licht.
Rasch setzte Shenmi die Perücke ab und ließ sie in den Papierkorb fallen. Sie streifte das blickdichte Kleid herunter, so dass ein hellblauer, jugendlicher Jumpsuit mit kurzen Ärmeln und knappen Hosenbeinen zum Vorschein kam. Sie entsorgte auch das Kleid, wuschelte sich kurz durch die langen schwarzen Haare und griff in die Tasche, die größer war, als sie erschien. Sie zog eine Nickelbrille mit dezentem Alugestell hervor. Die Tasche wechselte auf einen sanften Knopfdruck Shenmis hin noch die Farbe auf Dunkelblau. Shenmi setzte die Brille genau in dem Moment auf, als sie die nächste Station erreichte und es wieder hell wurde.
Shenmi verließ die Kapsel und ging langsam und vorgeblich in die Anzeige ihres Kommunikators vertieft die Stufen hinauf. Sie befand sich nun auf der Avenue Victor Hugo, einer der aktuell größten Einkaufsstraßen von Paris.
Seitdem das traditionelle Einkaufsverhalten wieder in Mode gekommen war, schossen hier quasi täglich neue, angesagte Boutiquen aus dem Boden. Meist waren sie angesiedelt in jahrhundertealten Geschäftshäusern, in denen es seit Ewigkeiten keine Verkaufsräume mehr gegeben hatte. Dazwischen gab es natürlich auch Ausnahmen – meist so exklusiver Art wie Juweliere oder Antiquitätenläden, eben für Dinge, die auch in den vergangenen Jahren nur ungern virtuell gehandelt worden waren.
Shenmi bummelte durch das Gedränge und wechselte ein paar Mal die Richtung, ehe sie durch eine grüne Tür einen kleinen, dunklen Laden betrat. Auf den ersten Blick passte er gar nicht zwischen die hippen Geschäfte, doch Kenner wussten, dass es sich bei ›Flauberts‹ um eine der traditionsreichsten Buchhandlungen der Stadt handelte. Bücher waren heutzutage nur noch bei Liebhabern und Sammlern gefragt, doch für diese Zielgruppe war ›Flauberts‹ die erste Anlaufstelle.
Shenmi schloss die Tür hinter sich und wechselte einen Blick mit Angeline, der Händlerin hinter dem Tresen. Angeline nickte ihr leicht zu und widmete sich dann wieder ihrem Kunden, dem sie gerade eine antike Erstausgabe von ›Harry Potter und der Feuerkelch‹ zeigte.
Shenmi ging zwischen den Regalen hindurch, bis sie vor der Regalwand mit französischen Klassikern befand. Sie sah sich kurz um, fand sich alleine und griff gleichzeitig nach ›Les Miserables‹ und ›Les fleurs du mal‹. Sie drückte die Buchrücken eine Fingerlänge nach vorne, und umgehend schwang das Regal zur Seite.
Shenmi schlüpfte durch die Geheimtür in ein dunkles Hinterzimmer, in dem sich nur ein Schrank, ein Stuhl und eine Klappe im Boden befanden. Sie schob das Regal wieder zurück an seinen Platz und ging zu dem Schrank. Schon seit Jahren nutzte sie dieses Versteck und hatte die unterschiedlichsten Kostüme hier deponiert. Sie wusste nicht, wer das Versteck noch alles kannte, denn hin und wieder waren Kostüme verschwunden, dafür fanden sich neue. Dass ›Flauberts‹ so lange überlebt hatte, war nicht nur der exquisiten antiquarischen Auswahl zu verdanken, sondern auch der großzügigen Unterstützung von Leuten, die wie Shenmi hin und wieder ein Versteck gebrauchen konnten.
Nach kurzer Sichtung der vorhandenen Ressourcen entschied sich Shenmi für ein weites graues Schlabberkleid, das ihre schlanke Figur unvorteilhaft verbarg. Dazu versteckte sie ihre üppige schwarze Haarpracht unter einer wirren, schmutzig-blonden Perücke, zog klobige Gummistiefel an und band sich ein schmuddeliges Kopftuch um. Mit dem im Versteck vorhandenen Schminkset ließ sie ihren hellen, gepflegten Teint verschwinden und hatte schon bald das verlebte Äußere einer typischen Arbeiterin aus den Banlieues.
Nachdem ihre Verwandlung abgeschlossen war, griff Shenmi noch nach einer bunt gemusterten Einkaufstasche und ließ ihr Handtäschchen darin verschwinden. Sie brachte das Versteck wieder in Ordnung und öffnete dann die Falltür, die in die Kanalisation hinabführte.
Sie hatte nicht vor, ewig in der stinkenden Umgebung zu bleiben, sondern verließ den Pariser Untergrund schon zwei Straßen weiter. Durch eine Wartungstür gelangte sie in eine andere Metro-Station. Hier stieg sie, den schlurfenden und gebückten Gang einer älteren Frau imitierend, in eine vollbesetzte Billig-Transportkapsel Richtung Norden ein.
Shenmi stieg wenig später an der Station Saint-Denis aus. Der Pariser Vorort bot vor allem der ärmeren Bevölkerungsschicht eine Heimat, was auch an denjenigen sichtbar wurde, die zusammen mit Shenmi den Bahnhof verließen. Sie brauchte sich nicht mehr umzusehen. Sie war sicher, dass ihr nun niemand mehr folgte. Auf der Straße waren ohnehin nur ältere Frauen und herumgammelnde Jugendliche zu sehen.
Schlurfenden Schrittes passierte sie die Überreste des Stade de France. Der Verfall des ehemals imposanten Stadions hatte bereits vor Jahrzehnten begonnen. Damals hatte der populäre Fußballsport an Bedeutung verloren, weil sich andere, besser kommerzialisierbare Sportarten mit weniger verletzungsanfälligen Protagonisten in den Holo-Netzen durchsetzten. Heute spielten in dem Stadion hin und wieder Kinder auf dem ungepflegten Gras. Besonders arme Familien ließen dort verbotenerweise ihre Schafe weiden. Doch das war auch schon alles, was das Stadion noch mit Leben füllte.