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J. J. Preyer

SHERLOCK HOLMES UND DAS GEHEIMNIS DER MRS HUDSON

Meisterdetektive Band 8

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Etwas stimmt nicht mit Mrs Hudson, der Hauswirtin von Sherlock Holmes und Dr. Watson. Sie verbrennt den Frühstücksspeck, versalzt das Essen und – ja, so peinlich es ist, es zu erwähnen – sie trinkt heimlich.

Holmes muss das Geheimnis um Mrs Hudson lösen, das mit einem Giftmord, einem pornographischen Buch und einem mysteriösen Gasthaus an der Themse zu tun hat, unterstützt von seinem treuen Freund Watson.

In dieser Reihe sind bereits erschienen:

Band 1: SHERLOCK HOLMES UND DAS DRUIDENGRAB, Hrsg. Alisha Bionda

Band 2: SHERLOCK HOLMES TAUCHT AB, Tobias Bachmann & Sören Prescher

Band 3: SHERLOCK HOLMES UND DIE TOCHTER DES HENKERS, Hrsg. Alisha Bionda

Band 4: SHERLOCK HOLMES UND DAS VERSCHWUNDENE DORF, Barbara Büchner

Band 5: SHERLOCK HOLMES UND DIE SELTSAMEN SÄRGE, Barbara Büchner

Band 6: SHERLOCK HOLMES UND DIE LOGE DER WIEDERKEHR, Deisrée Hoese

Band 7: SHERLOCK HOLMES UND DER HÖLLENBISCHOF, Barbara Büchner

Band 8: SHERLOCK HOLMES UND DAS GEHEIMNIS DER MRS HUDSON, J. J. Preyer

Nach den Charakteren „Sherlock Holmes“ und „Doktor John H. Watson“
Geschaffen von Sir Arthur Conan Doyle

© Fabylon Verlag 2019
Herausgeberin: Alisha Bionda
eISBN 978-3-946773-12-2
Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
www.fabylon.de

Inhalt

Teil 1
PLUS-POL

Kapitel 1 – Drei Affen

Kapitel 2 – Feuer am Dach

Kapitel 3 – Geheimes Leben

Kapitel 4 – Lily Montero

Kapitel 5 – Das Gasthaus an der Themse

Kapitel 6 – Süßes Sehnen

Kapitel 7 – Besuch bei Lestrade

Kapitel 8 – Vier weiße Perlen

Teil 2
MINUS-POL

Kapitel 9 – Die Iden des März

Kapitel 10 – Victoria

Kapitel 11 – Ein großzügiges Angebot

Kapitel 12 – Ein weiterer Mord

Kapitel 13 – Stern des Südens

Kapitel 14 – Ein höchst frivoler Zwerg

Kapitel 15 – Und wieder Lestrade

Kapitel 16 – Mrs Hudsons Lover

Kapitel 17 – Es herrscht Krieg

Teil 3
ENTLADUNG

Kapitel 18 – Entschlafen

Kapitel 19 – British Museum

Kapitel 20 – Holmes‘ Schatten

Kapitel 21 – Ein Schuss im Dunkeln

Kapitel 22 – Die fehlenden Seiten

Kapitel 23 – Enthüllungen

Kapitel 24 – Watsons geheimes Leben

TEIL 1
PLUS-POL

Kapitel 1
DREI AFFEN

Die Ereignisse überschlugen sich in jenen Tagen des Jahres 1889. In den späten Märztagen, in denen die Natur bis in die Baker Street drang, bis in den winzigen Vorgarten, in dem hinter den schwarzen Eisenstäben des Zauns Küchenkräuter wuchsen und blühten.

Wäre da nicht das Unkraut gewesen, das alles zu überwuchern begann. Dr. John H. Watson schüttelte ungläubig den Kopf, als er das Haus in der Baker Street 221B betrat und ihm der Geruch eines offenbar verbrannten Kuchens in die Nase stieg.

Er hatte schon bei seinen letzten Besuchen bemerkt, dass die Hauswirtin nicht sie selbst war. Mrs Hudson vernachlässigte sich, das Haus und ihren verbliebenen Mieter.

Die Mahlzeiten, die sie Sherlock Holmes und seinen Gästen bereitete, hatten nicht die gewohnte Qualität, ja, waren zeitweise geradezu ungenießbar. Verbrannt, versalzen, zu kurz oder zu lang gebacken oder gebraten.

„Guten Abend, Herr Doktor!“, grüßte Mrs Hudson aus der Küche, deren Tür einen Spaltbreit geöffnet war. „Schön, dass Sie sich Zeit für Mister Holmes nehmen. Wie geht es Ihrer Frau?“

„Mary geht es ausgezeichnet, wenngleich ihr die blühenden Gräser Atembeschwerden verursachen.“

„Das tut mir leid. Und beruflich, wie geht es beruflich?“, fragte Mrs Hudson durch den Türspalt.

„Die üblichen Krankenbesuche“, antwortete Watson. „Das Frühjahr stellt die Gesundheit vieler Leute auf die Probe. Nicht ohne Grund sterben zu dieser Jahreszeit und im Herbst die meisten Menschen. Davon abgesehen, dass wir alle sterben müssen.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte die Hauswirtin, und Watson vermutete, dass sie ihm gar nicht zugehört hatte.

„Und wie geht es Ihnen, Misses Hudson?“, erkundigte sich Watson und bewegte sich auf die Tür zur Wohnung im Erdgeschoss zu.

„Gut, gut. Gut natürlich“, versicherte sie und Watson sah, wie die kleine, rundliche Frau mit ihrer Schürze rasch über die Augen wischte.

Sie hatte geweint, wollte aber nicht über ihre Sorgen reden.

„Sie müssen mich entschuldigen, Herr Doktor. Ich muss noch backen, bevor Lady Balfour kommt.“

„Ja, man riecht, dass Sie backen.“

„Ich war leider abgelenkt, und dabei …“

„Sie sagten Lady Balfour. Ist das nicht …“

„Ich erzähle Ihnen davon, wenn ich mehr Zeit habe.“ Sie wollte augenscheinlich das Gespräch beenden. „Einen guten Abend.“

„Ebenso“, brummte Watson und zog sich gekränkt zurück.

Die gute Frau hat schon Manieren wie Holmes, dachte er, als er die Treppe nach oben stieg. Zu seiner Überraschung roch es im ersten Stockwerk wesentlich besser als im Erdgeschoss.

„Kommen Sie herein, Watson!“, rief Holmes, bevor der Doktor geklopft hatte. „Ich kenne Ihre Schritte“, erklärte der Detektiv, als Watson eintrat und die Quelle des angenehmen Geruchs erkannte.

Holmes experimentierte in seinem Labor, das er, da er nunmehr allein hier lebte, in das Wohnzimmer verlegt hatte, mit Lebensmitteln. Im konkreten Fall, wie Watson erkannte, mit Weißbrotscheiben, die er auf einem Drahtgitter platziert hatte, das von der Flamme eines Gasbrenners, eines sogenannten Bunsenbrenners, erhitzt wurde. „Sie kommen zur rechten Zeit, mein Freund.“ Holmes zeigte sich gastfreundlicher als Mrs Hudson. „Toast und Tee stehen bereit, und das in bester Qualität, im Gegensatz zu dem, was mir Misses Hudson in letzter Zeit zumutet. Ich denke sogar daran, mich anderweitig umzusehen.“

„Aber …“, wollte Watson einwenden, doch Holmes stoppte ihn mit einer abwehrenden Bewegung seiner rechten Hand.

„Wir wollen uns den Teegenuss nicht durch diese seltsame Person stören lassen. Ich bin über meinen Bruder in den Besitz einer kleinen Lieferung weißen Tees aus Singapur gelangt. Eine absolute Köstlichkeit, wenn Sie mir meinen Enthusiasmus verzeihen. Aber urteilen Sie selbst!“ Mit diesen Worten lud Holmes seinen Freund zu einer Tasse Tee ein, an der dieser zunächst roch und ihn dann ohne Milch und Zucker probierte.

Watson genoss das Getränk und lobte den Geschmack von Beeren und Vanille, bevor er Sahne und Zucker hinzufügte.

Holmes legte daraufhin das frisch geröstete Weißbrot auf einen Teller und schob eine Schale mit Butter sowie ein Glas Orangenmarmelade über den Tisch.

„Sie zuerst, Holmes“, zierte sich der Doktor, und Holmes bestrich lächelnd ein Stück Toastbrot mit Butter und Marmelade.

„Sie machen sich Sorgen, Watson“, stellte der Privatdetektiv nach einem Schluck aus der Teetasse fest.

„Ich weiß, Sie erkennen das entweder an meiner Atmung, meinem Blick, der Haltung meiner linken Hand …“

„Nichts von alledem“, unterbrach ihn Holmes, der auf Watson überraschend frisch, geradezu gesund wirkte mit seinem leicht gebräunten Teint. Er musste viel Zeit im Freien verbracht haben. „Sie haben wie ich die Veränderungen in diesem Haus bemerkt, die sich optisch sowie olfaktorisch manifestieren. Verbrannte Speisen, vernachlässigte Sauberkeit …“

„Sie hat geweint, als ich sie begrüßt habe.“

„Ja, Misses Hudson ist unzweifelhaft außer Balance geraten“, bestätigte Holmes, um rasch hinzuzufügen: „Und das macht den Aufenthalt in diesem Hause nicht gerade angenehm. Ich bin, wie gesagt, auf der Suche nach etwas anderem.“

„Aber …“

„Sie meinen, man könne die arme Frau nicht im Stich lassen, wenn sie Probleme hat?“

„So ungefähr“, stimmte ihm der Doktor zu. „Wir müssen ihr helfen.“

„Ja. Auf die für jeden von uns passende Weise.“

„Und das heißt?“

„Das heißt in meinem Fall, dass ich mir eine andere Bleibe suche. Sie werden mir gleich erzählen, was Sie planen.“

„Ich verstehe Sie nicht, Holmes“, wandte Watson ein. „Ein Mensch ist in Nöten, und Sie wollen ihm helfen, indem Sie ihn verlassen?“

„Ich versuche zu helfen, indem ich adäquat auf das reagiere, was mir die Frau zumutet. Wir sind keine Kinder, wir sind Erwachsene.“

„Was ist so schlimm daran, wenn Misses Hudson kurzfristig weniger gut kocht und das Haus und Sie weniger umsorgt?“, fragte Watson mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme, weil er nicht wusste, ob er mit seiner Kritik nicht zu weit ging.

Tatsächlich reagierte Holmes ziemlich scharf: „Genau das ist es, was ich vermeiden möchte, dass die übliche Ordnung gestört wird, die einen Halt in meiner nicht leichten beruflichen Tätigkeit darstellt. Bevor Sie jetzt mit einem Aber versuchen, all das zu widerlegen, was ich Ihnen mitteile, werden Sie schweigen und mir weiterhin zuhören.“

„Aber …“

„Sehen Sie, Watson. Genau das habe ich befürchtet. Hören Sie! Ich funktioniere am besten, wenn mich Gegensätze animieren. Sie sind, was die Ermittlungsarbeit betrifft, ein wandelnder Gegensatz zu mir. Ein Mensch, der sieht und hört wie ich, aber seine Phantasie mitschwingen lässt, seinen unentwegten und unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Ein Arzt als Ermittler. Im Gegensatz zu mir.“

„Aber …“

„Ich werde mich hüten, meine Vorzüge aufzuzählen. Das wäre Wasser auf Ihre Mühlen. Sie, der mich oft für verschroben, verrückt, rücksichtslos und …“

„Nichts von alledem trifft zu.“

„Sie lügen. Das merke ich an den Querfalten Ihrer Stirn. Sie strengen sich an, wollen sich wehren. Nein, kein Aber. Sie lassen mich jetzt den Gedankengang zu Ende führen.“

„Natürlich.“

„Zuerst jedoch die Erklärung, warum Sie so unschätzbar wichtig sind, warum erst die Zusammenarbeit mit Ihnen …“

„Sie übertreiben, Holmes“, unterbrach ihn Watson verlegen.

„Warum sollte ich? Ein rein wissenschaftlich zu erklärendes Phänomen. Nehmen wir die Energie der Zukunft, die sich unaufhaltsam in unserem Land verbreitet …“

„Die Dampfmaschine.“

„Insofern sie elektrischen Strom erzeugt. Die Elektrizität ist das Medium, das die Menschheit voranbringen und an ihre Grenzen führen wird. Sie funktioniert wie unsere Zusammenarbeit. Zwischen zwei Polen besteht eine Potenzialdifferenz …“

„Nennt man das nicht Spannung?“

„Sehr vereinfacht“, stimmte Holmes widerwillig zu.

„Plus, minus. Und Sie wollen mir einreden, Sie seien der Plus-, ich der Minuspol.“

„Sie machen es mir schwer, Watson. Sie schmieden selbst eine Waffe, richten diese gegen Ihre Brust und machen dann mich dafür verantwortlich. Ich weise auf die Unterschiedlichkeit zwischen Menschen hin. Je stärker diese ausgeprägt ist, desto … desto … desto mehr kommt dabei heraus. Im Idealfall arbeiten Menschen wie Sie und ich zusammen, im schlimmsten Fall treffen Menschen wie Moriarty und ich aufeinander …“

Holmes wurde zu Watsons Erleichterung durch das Schellen der Türglocke in seinen Ausführungen unterbrochen.

„Das wird sie sein“, stellte Watson fest.

„Der Besuch, für den Misses Watson gebacken hat.“

„Misses Hudson“, korrigierte ihn Watson.

„Verzeihen Sie! Dieser Irrtum passt perfekt zu dem, was ich Ihnen klarmachen möchte.“

„Dass ich wie Misses Hudson bin“, erwiderte Watson beleidigt.

„Dass Misses Hudson ebenfalls einen Gegensatz zu mir darstellt, der dazu beiträgt, dass mein Leben funktioniert. Sie, die Häusliche, Ordentliche. Ich derjenige, der das Haus ins Chaos stürzt.“

„Sie, der Gute, der moralisch Einwandfreie; die Verbrecher, die Sie jagen, das Gegenteil davon.“

„Irre ich mich“, stellte Holmes mit einem Lächeln fest, „oder entdecke ich so etwas wie Schalk in Ihren Augen?“

„Nein. Ich meine es so, wie ich es gesagt habe.“

„Gut. Und ja. Dieser Gegensatz existiert in seiner reinsten Form, was Moriarty betrifft, und wird sich auch in diesem Fall zeigen. Sie wird kommen, mich um Hilfe bitten, und ich werde einen der interessantesten Fälle meiner Karriere lösen.“

„Oh.“

„Ja.“

„Mich würde es interessieren, was diese Gräfin zu ihr führt.“

„Lady Balfour.“

„Sie wissen …?“, fragte Watson erstaunt.

Holmes nickte und sagte dann: „Sie redet seit Tagen über nichts anderes. Und sie hat etwas zu verbergen.“

„Lady Balfour?“

„Leicht möglich, wenngleich sich meine Feststellung auf die Hudson bezog.“

Die Hudson!

So weit ist es gekommen, dachte Watson. Holmes, der die Hauswirtin immer mit großem Respekt behandelte, obwohl sie ihn oft mit ihrem Ordnungssinn und ihrer mütterlichen Fürsorge irritierte, nannte sie nun despektierlich „die Hudson“.

„Misses Hudson“, verbesserte sich der Detektiv und legte weitere Scheiben Brot auf das Drahtgitter des Gasbrenners. „Noch Tee?“, erkundigte er sich dann.

„Wenn es möglich ist. Ja, bitte. Ich habe keinen leichten Tag hinter mir.“

„Da sehen Sie, Watson“, wandte sich Holmes an seinen Freund. „Ich rede ausschließlich von mir, von meinen kleinen Sorgen, während Sie – um das Wohl der Menschen besorgt – viel mehr zu erzählen hätten – äh – haben.“

Watson beobachtete lächelnd das Gesicht des Detektivs und meinte dann: „Jetzt sind Sie nicht ehrlich, Holmes. Nun ist Ihre Stirn gefurcht und der Versprecher …“

„Wie auch immer“, wischte Holmes den Einwand beiseite. „Erzählen Sie!“

„Ordination wie gewohnt, zahlreiche Hausbesuche. Die tägliche Routine, die ich durch einen Besuch bei Ihnen durchbrechen wollte.“

„In der Hoffnung auf einen neuen Fall, der Sie von der täglichen Last befreien könnte.“

„So in etwa.“

„Ich werde Sie nicht enttäuschen, Watson. Dieser Fall wird interessanter als das meiste, was uns bisher auf dem Gebiet des Verbrechens untergekommen ist. Nur ist er noch nicht reif.“

„Was fehlt denn?“

„Dass Misses Hudson mich um Hilfe bittet und mir verrät, was sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hat.“

„Und wenn sie …“

„Sie wird. Besonders nach dem gestrigen Einbruch, den sie bisher verschwiegen hat.“

„Ein Einbruch?“

„Ein Einbruch“, bestätigte Holmes. „Bedienen Sie sich! Der Tee ist frisch aufgegossen, das Brot kross, die Butter …“

„Leicht gesalzen, wie ich sie liebe.“

„Die Orangenmarmelade aus Misses Hudsons besseren Tagen.“

„Erzählen Sie!“

„In der Nacht von gestern auf heute wurden die Kellerräume durchwühlt. Man sucht etwas, das Misses Hudson vor mir – vor uns – verbergen möchte.“

„Aber woher wissen Sie, dass …“

„Dass jemand ins Haus eingedrungen ist?“

Watson, der den Mund voll hatte, nickte stumm.

„Geräusche, die durch den Kamin zu hören sind, der als Abzug für unseren – jetzt leider nur mehr meinen – Feuerplatz dient. Er zieht sich durch das ganze Haus und …“

„Das habe ich nie bemerkt.“

„Weil Sie ein mäßig neugieriger Mensch sind. Im Gegensatz zu mir.“

„Aber könnten Sie dann nicht …“

„Ja. Ich könnte lauschen, was Misses Hudson und Lady Balfour einander zu sagen haben, würde ich mich nahe genug an das Feuer begeben. Aber das werde ich nicht.“

„Natürlich nicht. Sie stehen über solchen Dingen.“

„Sollte man meinen.“ Holmes lächelte, dann wechselte er abrupt das Thema: „Sie werden wiederkommen und auch hier einzudringen versuchen.“

„Aber …“

„Das heißt, ich muss auf der Hut sein. Und das bin ich, soweit sich das machen lässt. Um auf die Gegensätze zurückzukommen, die Sie angesprochen haben, mein lieber Watson …“

„Waren das nicht Sie, Holmes?“, fragte der Doktor, doch Holmes reagierte nicht auf den Einwand seines Freundes. Er blickte starr vor sich hin, ging ans Fenster, von dem aus er über einen an der Außenseite montierten Spiegel den Hauseingang kontrollierte, nickte zufrieden und kehrte an den Tisch zurück. „Sie müssen entschuldigen, Watson. Meine Nerven sind etwas überreizt“, meinte er dann. „Der Tee ist wohl zu stark …“

„Was haben Sie gehört und gesehen?“, erkundigte sich Watson.

„Alltägliches. Der Schornsteinfeger hat bei Misses Hudson geläutet.“

„Ihr Gehör hat sich weiter verfeinert, seitdem ich …“

„Seitdem Sie einen eigenen Haushalt gegründet haben. Habe ich Sie schon gefragt, wie es Ihrer Frau Roxy geht?“

„Nein, Sie haben nicht gefragt und ich antworte, dass es Mary gut geht.“

„Das freut mich, das freut mich. Sehr. Sehen Sie, das verhält sich so. Der Gegensatz, um, wie gesagt, darauf zurückzukommen, zu meiner Wachsamkeit, die sich durch die Veränderungen in diesem Haus ergibt … oh, Sie haben keinen Tee mehr.“

„Vielen Dank. Ich bin, wie soll man sagen …“

„Es reicht. Sie wollen keinen Tee mehr.“

„Ja.“

„Ein Glas Port?“

„Dazu sage ich nicht nein.“

„Gut. Ich auch nicht.“ Holmes erhob sich, entkorkte eine Flasche und ließ eine beinahe schwarze Flüssigkeit in zwei Gläser laufen. „Vintage Port aus dem Dourotal. Von einem Klienten, dessen Gepard gestohlen worden war. Einer meiner geringeren Fälle, vom Portwein abgesehen. Ah, köstlich. Wirklich köstlich“, schwärmte Holmes nach einem Schluck. „Sie müssen ihn probieren.“

„Sehr gerne. Ja. Etwas Außergewöhnliches.“

„Die Sonne Spaniens. Im Gegensatz zu unserem kärglichen Klima.“

„Wollten Sie nicht von einem anderen Gegensatz erzählen, Holmes?“

„Sie haben völlig Recht, mein lieber Watson. Wichtige Gedanken müssen zu Ende gebracht werden.“ Bei diesen Worten erhob sich Holmes und schritt auf die schwarze Figur dreier Affen zu, die auf seinem Schreibtisch stand. Eine Figur, die Holmes noch nicht besessen hatte, als Watson mit ihm die Unterkunft geteilt hatte.

„Diese drei Affen stehen im Gegensatz zu mir“, erklärte er. „Sie wollen nichts sehen und nichts hören.“

„Und nichts sagen.“

„Wie Misses Hudson im Augenblick“, murmelte Holmes mehr zu sich selbst. „Es kommt darauf an, im richtigen Moment zu hören, zu sehen, zu riechen und zu handeln. Timing nennt man das. Dazu braucht man einen klaren Geist, ein trainiertes Gehirn.“

„Wobei man auf den Genuss schädlicher Substanzen verzichten muss“, sprach der Doktor ein altes Streitthema zwischen ihm und dem Detektiv an.

„Außer“, korrigierte ihn Holmes, „diese Substanzen ermöglichen demjenigen, der sie gezielt nimmt, tiefere Einsichten.“

„Das ist Illusion, Täuschung.“

„Wie dem auch sei. Wollen Sie den Fall um das Geheimnis der Misses Hudson mit mir lösen?“

Dieses Angebot nahm Watson für einen Augenblick den Atem, sodass er nicht gleich antworten konnte.

„Ich kann natürlich verstehen, wenn Sie Ihren Beruf nicht vernachlässigen wollen wegen eines alten Freundes und einer alten Frau, die Ihnen nichts mehr bedeuten, seitdem …“

„Ich würde das liebend gerne machen“, unterbrach Watson den Detektiv. „Aber sagten Sie nicht vorhin, dass Sie dieses Haus verlassen wollen, dass Sie Misses Hudson erst helfen werden, wenn sie darum bittet?“

„Sie wird bitten, denn ihre Situation wird immer komplizierter, immer gefährlicher. Und unsere ebenso“, fügte Holmes hinzu.

„Unsere Situation?“, fragte Watson ungläubig.

„Unsere Situation“, beharrte Holmes.

„Inwiefern?“

„Insofern, als ich Augen und Ohren offenhalte und Sie warne.“

„Wovor warnen Sie mich?“

„Habe ich Ihnen nicht erzählt, dass ein Schornsteinfeger das Haus betreten hat?“

„Ja, daran erinnere ich mich.“

„Haben Sie irgendetwas von seiner Tätigkeit mitbekommen? Akustisch, meine ich.“

„Nein. Eigentlich nicht.“

„Und das alarmiert Sie nicht?“

„Warum sollte es?“

„Das werde ich Ihnen gleich zeigen. Kommen Sie, nehmen Sie die Waffe!“

„Wohin?“

„Auf den Speicher. Aber schnell.“

Kapitel 2
FEUER AM DACH

„Sie muss von innen verbarrikadiert sein“, erklärte Holmes, als sich die Tür zum Dachboden nicht öffnen ließ. „Wir machen das gemeinsam. Auf mein Kommando“, befahl er und stieß zusammen mit Watson mit dem rechten Bein gegen die schwere Tür, die nach dem vierten Versuch zögerlich nachgab und sich einen Spaltbreit öffnete.

Die Waffe im Anschlag spähte Holmes in den Speicher, der durch zwei Dachluken um diese Zeit nur spärlich erhellt wurde.

Eine Luke stand offen.

Als Watson losstürmen wollte, bremste ihn Holmes ein. „Lassen Sie ihn! Es handelt sich bloß um einen bezahlten Handlanger des Täters. Er ist nicht mehr einzuholen. Ein junger Mensch, vermutlich Artist. Ich denke, wir müssen uns um etwas völlig anderes kümmern. Und zwar rasch.“

Jetzt erst bemerkte Watson den ätzenden Geruch, der vom hinteren Teil des Speichers ausging, der seltsam hell erleuchtet war.

Feuer.

Der Schornsteinfeger hatte die alten Zeitungen und Kleidungsstücke, die hier gelagert waren, vermutlich mit einer Flasche Fleckbenzin in Brand gesetzt.

Aber wie sollte man …? Ganz eindeutig. Noch ließ sich das Feuer ersticken, und Watson suchte nach einem großen Tuch, während Holmes schon einen staubigen Schrank öffnete und diesem einen voluminösen Pelzmantel entnahm, den er über den Brandherd warf und ihn fest auf die Flammen presste.

„Wenn Sie das übernehmen, Watson“, bat der Detektiv, „suche ich nach einer geeigneteren Branddecke.“

Watson legte sich auf den Pelzmantel, der nach Mottenkugeln roch, und wälzte sich darauf wie ein Hund, der das Leben genoss.

Holmes musste beim Anblick seines Freundes lächeln, wandte aber rasch sein Gesicht ab, um ihn nicht zu beleidigen. Watson, der das bemerkt hatte, errötete, weil er sich selbst wie ein übereifriger Bernhardiner vorkam. Ja, er musste etwas gegen sein stetig zunehmendes Gewicht unternehmen. Holmes war trotz seiner fünfunddreißig Jahre schlank geblieben. Er war auch nicht verheiratet. Mary und das Dienstmädchen Nana waren ausgezeichnete Köchinnen, und besonders gut gelang ihnen alles Gebratene, nach dem es im Augenblick zu riechen begann. Der Mantel aus braunem Schafspelz hatte offenbar Feuer gefangen und …

Holmes bat Watson eiligst, sich zu erheben, und breitete eine graue Decke über Mantel und Brandherd. Süffisant erkundigte er sich, ob sich Watson erneut darauf wälzen wolle.

„Es ist notwendig“, fügte er versöhnlicher hinzu, aber der Doktor weigerte sich, worauf Holmes mit den Füßen fest auf der Decke herumtrat. Watson leistete ihm Folge, begann aber zu niesen, weil ihm Rauch in die Nase gestiegen war.

„Ein Zeichen, dass die Atemluft rar wird“, stellte der Detektiv fest und bat Watson, zur Sicherheit die Feuerwehr zu rufen. „Das Ärgste haben wir verhindert, jetzt sollen sich andere darum kümmern.“

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Als die beiden Männer wieder in Holmes‘ Wohnzimmer saßen und erneut Tee tranken, hörten sie sowohl das Rumoren der Brandwache auf dem Dachboden als auch Mrs Hudsons besorgte Stimme. Ihr hoher Besuch hatte offenbar das Haus verlassen.

„Ich verstehe das alles nicht“, gestand Watson. „Sie meinen, ein Artist habe das Feuer im Auftrag einer anderen Person gelegt?“

„Nachdem er oder sie nach etwas gesucht hat, wie schon beim Einbruch im Keller dieses Hauses. Weil er nicht gefunden hat, wonach er suchen sollte, hat er Feuer gelegt, um den Gegenstand auf diese Weise aus der Welt zu schaffen.“

„Aber wenn Sie all das wissen, Holmes, warum haben Sie den Schornsteinfeger nicht daran gehindert, den Dachboden zu betreten? Sie haben ihn ja kommen gehört.“

„An dieser Stelle, mein lieber Watson, muss ich ein Geständnis ablegen.“

„Ja?“, fragte Watson interessiert.

„Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich die Situation nicht richtig eingeschätzt habe. Ich dachte an Einbruch, Diebstahl, aber nicht an Brand. Meine Lehre daraus: Ich werde mir endgültig ein anderes Quartier suchen.“

„Aber die arme Misses Hudson!“

„Die muss entweder Farbe bekennen oder leiden.“

„Sie ist in Lebensgefahr.“

„So scheint es.“

„Sie sind ein harter Mann, Holmes.“

„Wenn Sie es sagen. Aber kennen Sie das nicht von Ihrem Beruf? Jemand ist schwer erkrankt, weil er zu viel raucht, zu viel isst. Sie raten ihm, den Alkohol- und Tabakkonsum einzuschränken, können aber den Patienten nicht dazu zwingen. Sie sehen, dass er sterben wird, und bitten ihn, den Arzt zu wechseln.“

„Das würde ich niemals.“

„Auch nicht, wenn Sie dem Patienten damit eine letzte Chance geben, den Ernst der Situation zu begreifen und sich zu retten?“

„Ich habe es zumindest bisher nicht getan“, räumte Watson ein.

Ein sanftes Klopfen an der Tür zum Flur zeigte an, dass jemand Einlass begehrte.

Holmes öffnete und bat Mrs Hudson in den Raum. „Leisten Sie uns einen Moment Gesellschaft, Misses Hudson! Auf den Schrecken haben Sie sich zumindest eine Tasse Tee, wenn nicht gar Wirksameres verdient“, wandte sich Holmes an die Hauswirtin, deren Gesicht vor Aufregung gerötet war.

„Ich würde das Teekochen ja gerne übernehmen“, bedauerte die Frau, „kenne mich aber leider mit Ihren Geräten nicht aus.“

„Nun, die Whiskyflasche und die Gläser sind nicht besonders kompliziert zu bedienen“, entgegnete Holmes. „Aber Sie haben sich etwas Erholung verdient nach all den Aufregungen, denen Sie in letzter Zeit ausgesetzt waren.“

„Sie wissen … genau das habe ich befürchtet. Sie wissen alles, Mister Holmes und … und durchschauen mich in all meiner Kläglichkeit. Oh mein Gott, alle Bemühungen, alles, alles vergeblich.“

„Ich verweise so nebenbei auf das, was Sie erreicht haben, Misses Hudson. Sie besitzen dieses stattliche Haus in guter Lage, haben erkannt, dass Sie es mit einem Mieter teilen können, um genügend Geld zu haben, es zu bewirtschaften. Das ist Ihnen bisher auf das Vortrefflichste gelungen. Garten, Haus und Mieter wurden mustergültig versorgt, bis … ja, bis etwas geschah, das beinahe das Herz der tapferen Witwe brach und sie so sehr mit dem Grund ihrer Traurigkeit, ihrer Sorge beschäftigt war, dass sie kurzzeitig aus dem Gleichgewicht geriet.“

„Ja, so ist es“, bestätigte Mrs Hudson und leerte das gereichte Glas auf einen Zug, worauf Holmes nachschenkte. Doch sie schob es von sich, indem sie sagte: „Der Alkohol. Eine Hilfe, zugegeben, die letzten furchtbaren Tage lang. Aber keine Lösung.“

„Und wie sieht die Lösung aus?“, erkundigte sich Holmes.

„Der Wahrheit ins Antlitz zu schauen“, sagte sie und begann zu weinen.

Dr. Watson reichte ihr ein von Haushilfe Nana perfekt gebügeltes weißes Taschentuch, von dem leichter Lavendelduft ausging.

„Sie können das allein, für sich machen“, meinte Holmes.

„Was meinen Sie, Mister Holmes?“, fragte sie verwirrt und reichte dem Doktor das Tuch, mit dem sie ihre Augen betupft hatte.

„Der Wahrheit ins Antlitz zu sehen. Sie können das aber auch in unserer Gegenwart, wobei ich mich entfernen kann, wenn sich der Doktor als besserer Gesprächspartner als ich erweisen sollte.“

„Bleiben Sie! Bleiben Sie, Mister Holmes! Und fragen Sie! Das macht es mir leichter.“

„Gut. Ich werde fragen. Und Sie entscheiden, ob Sie antworten oder nicht. Ich werde Sie zu nichts drängen.“

Mrs Hudson nickte stumm und schwieg, ebenso wie Holmes und der Doktor.

Die Uhr auf dem Kaminsims tickte, sonst war nichts zu hören, bis Holmes seine erste Frage stellte. „Die negativen Geschehnisse haben also mit dem Besuch von Lady Balfour ihren Höhepunkt erreicht“, begann er. „Was hat sie Ihnen angetan?“

„Nichts, nichts. Natürlich nichts“, antwortete Mrs Hudson, von der Dr. Watson wusste, dass sie knapp vor ihrem sechzigsten Geburtstag stand, der … er musste das Datum irgendwo notiert haben, im Herbst bevorstand.

Mrs Hudson hatte, zumindest so lange der Doktor im Haus gewohnt hatte, eine robuste Gesundheit gehabt, von den üblichen Erkältungen und einer hartnäckigen Bronchitis abgesehen, die sie meist im Herbst und im Winter ereilten, sobald sich dichter Nebel über London legte. Merkwürdig und etwas enttäuschend fand es Watson, dass Holmes‘ Hauswirtin nicht zu seinen Patientinnen zählte, seitdem er eine Praxis an der Paddington Station hatte. Zu weit konnte der Weg für sie nicht sein. Von der Baker Street gelangte man zu Fuß in einer halben Stunde dorthin.

Nun, auch Holmes konsultierte ihn nicht mehr, seit er ausgezogen war und mit Mary einen eigenen Hausstand gegründet hatte.

Ja, so war es im Leben. Man verlor alte Freunde und gewann die … die große Liebe des Lebens. Falls dies nicht ebenso eine Illusion war. Watsons Gefühle zu seiner Mary waren in den letzten Monaten deutlich abgekühlt. Oder war es umgekehrt? Der Alltag hatte sich in ihrer Beziehung breitgemacht. Mit ein Grund, warum er Holmes aufgesucht hatte.

Oh, jetzt hatte er überhört, was Mrs Hudson gesagt hatte. Es musste etwas Wichtiges gewesen sein, wenn man den Umstand in Betracht zog, dass sie erneut sein Taschentuch benötigte und Holmes – gelinde gesagt – überrascht wirkte.

So überrascht, dass er den Mund leicht geöffnet hatte.

„Ihre Schwester ist also gestorben. Ein Umstand, der traurig, sehr traurig macht“, sagte der Detektiv. „Das kann ich verstehen.“

„Wir hatten als Erwachsene den Kontakt verloren. Auch durch meine Schuld. Aber sie, sie hat … sie hat immer an mich gedacht. Und das tut mir so leid. So furchtbar leid. Ich hätte mich um sie kümmern müssen. Wie damals, in der Kindheit. Vielleicht bin ich daran schuld. Ich hätte sie nicht so verzärteln dürfen. Sie war immer so …“

„Hübsch?“, fragte Holmes.

„Ja. Im Gegensatz zu mir.“

Watson schaute den Detektiv erstaunt an, als er nicht auf diese Bemerkung der Hauswirtin reagierte. Das gehörte sich nicht! Man musste ihr in ihrer Not beistehen, ihr zumindest versichern, dass auch sie eine attraktive Frau war … gewesen war.

Denn nun saß vor den beiden eine Frau, der man das Alter ansah, die man sich nicht mehr als junges Mädchen vorstellen konnte.

Also schwieg er. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte.

„Sie hat ihr eigenes Leben geführt, ich meines“, setzte Mrs Hudson zu ihrer Selbstverteidigung an.

„Wie das bei erwachsenen Menschen so üblich ist“, bestärkte sie Holmes.

„Und doch … mein Gott, ich kann das nicht. Ich schaffe es nicht, Mister Holmes!“

„Wäre es Ihnen recht, wenn ich den Verlauf der Dinge schildere und Sie mich unterbrechen, wenn ich irre?“

„Oh ja, das würde helfen. Glaube ich.“

„Gut. Machen wir einen Versuch, den Sie jederzeit unterbrechen können, wenn es zu schmerzhaft wird.“

„Ja. Bitte. Aber dazu brauche ich …“

„Bedienen Sie sich, geschätzte Misses Hudson!“, forderte Holmes die Hauswirtin auf und wollte ihr die Whisky-Flasche reichen.

„Nein, nein“, lehnte sie entrüstet ab und bat Watson wieder um sein Taschentuch.

Holmes lächelte, wurde dann aber ernst, als er mit seiner Erzählung begann. „Hermione Turner starb im Alter von vierundfünfzig Jahren in ihrem Gasthaus an der Themse, einem Lokal zweifelhaften Rufes, das ihr überraschenderweise in den letzten Jahren zu großem Vermögen verholfen hatte. Sie hatte, so hieß es, in den frühen Morgenstunden des fünfzehnten März einen Herzinfarkt erlitten, nachdem sie im Gastraum für Ordnung gesorgt hatte.“

„Es war kein Herzinfarkt“, widersprach Mrs Hudson mit kräftiger Stimme.

Als Watson sie überrascht anschaute, setzte sie zu einer Erklärung an. „Von den Umständen her, die mit … mit ihrem Tod einhergingen … kann es nur Mord gewesen sein.“

„Wer erbt denn das nicht unerhebliche Vermögen, von dem Holmes …?“, setzte Watson zu einer Frage an.

„Ich sprach von großem Vermögen, mein lieber Watson“, korrigierte ihn der Detektiv. „Und ja, das Datum ihres Todes – die Iden des März – ist von Bedeutung. Jemand wollte damit ein Zeichen setzen.“

„Sie glauben also auch nicht, dass Hermy, dass Hermione, eines natürlichen Todes gestorben ist, Mister Holmes?“

„Nein“, bestätigte dieser. „Obwohl wir das erst eindeutig feststellen müssen.“

„Wie denn?“

„Indem wir die Leiche exhumieren, sie begutachten und …“

„Und meine Frage von vorhin?“, protestierte Watson und schenkte sich von dem Whisky nach. Er brauchte das jetzt, da ihn die beiden ignorierten, als wäre er nicht anwesend.

„Das Vermögen Hermiones“, erklärte ihm Mrs Hudson, „ist mir zugesprochen worden. Ich bin ihre letzte enge Verwandte. Ein Testament ist nicht vorhanden. Aber ich werde … ich werde damit Gutes tun. Im Namen meiner armen Schwester.“

Watson schob das Glas mit der goldgelben Flüssigkeit von sich weg. Das ansonsten so ausgezeichnete Getränk schmeckte mit einem Mal bitter, hatte einen herben Nachgeschmack.

Sein misstrauischer Blick streifte Holmes, der sein linkes Auge schloss und wieder öffnete, als wolle er damit bestätigen, was Watson ahnte.

Oder bildete er sich das nur ein? Holmes konnte nicht so … so charakterlos hintertrieben sein, den wertvollen Whisky mit einer Substanz zu versetzen, die Menschen so weit entspannte, dass sie zu reden begannen, dass sie Dinge ausplauderten, die sie gar nicht sagen wollten!

Und, überlegte Watson bei sich, gab es überhaupt eine solche Substanz? Er musste Holmes danach fragen, sobald sie allein waren.

Und er musste sich hüten, all das zu sagen und zu fragen, was ihm auf der Zunge lag. Obwohl es schwer war. Furchtbar schwer.

Watson erhob sich und verließ den Raum, um nicht der armen Mrs Hudson mit Verdächtigungen zuzusetzen. Denn natürlich stellte sich die Frage, ob Mrs Hudson etwas mit dem Tod ihrer Schwester zu tun hatte. Aber lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als so etwas laut auszusprechen.

Durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür hörte er seinen Freund fragen: „Und was genau haben Sie von Ihrer Schwester geerbt, Misses Hudson?“

„Deshalb habe ich Lady Balfour hergebeten.“

„Ah ja?“

„Sie hilft armen Frauen wie Hermione.“

Armen Frauen, dachte Watson und legte die rechte Hand so fest über seinen Mund, dass es schmerzte. Hermione Thurner war nicht arm gewesen. Das hatte Mrs Hudson gerade selbst gesagt. Am liebsten wäre er in das Zimmer zurückgekehrt, um klare Worte zu sprechen.

„Sie hat“, fuhr Mrs Hudson fort, „eine Stiftung für … für arme Kinder ins Leben gerufen, und dieser Stiftung vermache ich Hermys Vermögen.“

„Ich erinnere Sie daran, Misses Hudson“, sagte Holmes, „dass Sie mich anfangs gebeten haben, Fragen zu stellen. Nehmen Sie bitte nicht Anstoß daran, wenn ich das tatsächlich mache.“

„Aber nein, Mister Holmes, ich bin Ihnen dankbar. Ich bin so froh, endlich, endlich diese furchtbare Last mit anderen Menschen teilen zu können.“

„Also mit Lady Balfour und uns.“

„Und Ihnen. Ja.“

Watson hielt es nicht mehr auf dem Gang vor der ehemaligen gemeinsamen Wohnung, in der er mit Holmes so gute, so wunderbare Jahre verbracht hatte. „Und ich“, sagte er, „warum wollen Sie sich mir nicht anvertrauen, Misses Hudson? Warum sind Sie nicht meine Patientin geworden? Warum? Warum?“ In dem Moment, in dem diese Sätze aus seinem Mund gequollen waren, bedauerte der Doktor, was er gesagt hatte und er ließ sich in einen Sessel fallen, beide Hände über seinem Mund.

„Das kann ich Ihnen sagen, Doktor … Doktor Watson“, erhob Mrs Hudson ihre Stimme und legte los.

Kapitel 3
GEHEIMES LEBEN

Sherlock Holmes legte begütigend seine rechte Hand auf die Linke der Hauswirtin und bat sie, beim Thema zu bleiben. Alles andere habe Zeit.

„Ich frage Sie, geschätzte Misses Hudson, was konkret Sie von Ihrer Schwester geerbt haben.“

„Da wäre“, begann sie nach einem scheuen Blick auf den Doktor, „das Gasthaus.“

„Das Gasthaus an der Themse.“

„Das Red Rooster Inn. Ja. Lady Balfour will daraus eine Betreuungsstätte für gefallene Mädchen und Kinder machen.“

„Sehr lobenswert.“ Holmes nickte der Hauswirtin zu, als Aufforderung, in ihrer Erzählung fortzufahren.

„Hermys Garderobe und ihre Wohnungseinrichtung gehen ebenfalls an Lady Balfours Stiftung. Ich bin so froh …“

„Und Sie, Misses Hudson“, unterbrach Watson das Gespräch, „warum geben Sie alles weg? Sie arbeiten ein Leben lang und könnten nun, da Sie … da Sie nicht mehr so jung sind …“

„Sie meinen, ich wäre eine alte, schwache Frau.“ Mrs Hudson seufzte und führte wieder Watsons Taschentuch an ihre Augen.

„Nichts von alledem“, betonte dieser.

„Und der Rest der Erbschaft?“, fragte Holmes.

„Ein Bankkonto von … geradezu unvorstellbarem Umfang.“

„Nennen Sie die Zahl, Misses Hudson!“

„Fünfzigtausend, fünfzigtausend Pfund.“

„Oh“, rief Watson überrascht. „Und das als Wirtin eines Gasthauses.“

„An der Themse“, ergänzte Holmes und legte den Zeigefinger der rechten Hand an seine Lippen. „Eine Tasse Tee, Watson?“

„Das wäre prima … äh fein … wunderbar, meine ich.“

„Darum würde ich mich gerne kümmern“, beeilte sich Mrs Hudson zu sagen, die froh zu sein schien, vom Tisch aufstehen zu können.

„Das Wasser erhitze ich“, beschloss Holmes. „Den Rest erledigt Misses Hudson in gewohnter Manier. Aber vergessen Sie nicht, uns zu berichten, was Sie sonst noch geerbt haben.“

„Sonst noch?“, wiederholte sie verwundert. „Ja, Schmuck, den Lady Balfour zunächst schätzen lässt und dann …“

„Etwas, das Sie der Gräfin nicht anvertraut haben“, insistierte Holmes.

„Briefe, Dokumente.“

„Und?“

„Was meinen Sie damit, Mister Holmes?“

„Oh, das kann ich Ihnen gerne erklären, Misses Hudson.“ Holmes blickte die Hauswirtin durchdringend an. „Sie verschweigen etwas, das Sie so sehr in Ihrer ansonsten gefestigten Persönlichkeit erschüttert hat, dass Sie sich, das Haus, den Garten in den letzten Tagen vernachlässigt haben, das der Grund für die Einbrüche in das Haus und die versuchte Brandstiftung ist. Durch Ihr Schweigen gefährden Sie nicht nur sich, sondern auch mich, der ich einstweilen noch unter einem Dach mit Ihnen wohne.“

„Sie wollen doch nicht … Sie denken doch nicht daran … Oh, Mister Holmes. Es tut mir ja so leid.“

„Hören Sie damit auf, die arme Misses Hudson zu quälen“, mischte sich Watson in das Gespräch ein. „Das bringt doch nichts.“

„Misses Hudson“, fuhr Holmes unerbittlich fort, „wird jetzt reinen Tisch machen und wieder die werden, als die wir sie schätzen gelernt haben.“

„Ja, das werde ich, Mister Holmes“, versicherte die Hauswirtin mit kräftiger Stimme. „Sobald der Tee serviert ist und ich ein Stück Kuchen aus meiner Wohnung geholt habe.“

„Sie wird nicht wiederkommen“, flüsterte Watson, nachdem die Hauswirtin den Raum verlassen hatte.

„Oh doch“, widersprach Holmes. „Und sie wird nicht nur den Kuchen bringen.“

„Damit irren Sie, Holmes. Ich kenne mich bei den Frauen besser aus als Sie.“

„Wir warten ab, mein lieber Watson. Wobei ich Ihnen die Kenntnis der weiblichen Psyche natürlich nicht absprechen möchte. Immerhin können Sie diese bei Ihrer Roxy studieren.“

Watson, der ahnte, dass Holmes ihn herausfordern wollte, verzichtete deshalb, darauf hinzuweisen, dass seine Frau Mary hieß, und der Detektiv senkte enttäuscht den Blick, wie Watson bemerkte.

Man musste nicht auf jede Provokation reagieren. Roxy. Kein Mensch hieß Roxy! Zumindest keine anständige Frau.

Was Mrs Hudson betraf …

Nun, sie war tatsächlich wiedergekehrt, mit einem verschnürten Paket, das in braunes Packpapier gewickelt war.

Mein geheimes Leben stand in einer kräftigen Handschrift darauf geschrieben.