Herr Wohllieb wartet auf ein Zeichen
Als Herr Wohllieb am Dienstagmorgen erwachte, hatte sich ein großes Loch aufgetan. Unten rauschten die Lastwagen. Gegenüber schüttelte eine Frau ihren Teppich über den Köpfen der Fußgänger aus. Der Himmel war mittelgrau und die Leuchtreklame des Tabakladens blinkte unverdrossen. Es war Dezember. Alles war wie immer, nur dass plötzlich diese Frage vor ihm stand: »Was mache ich mit dem Rest meines Lebens?«
Sie war aufgetaucht, als Herr Wohllieb gründlich seine Zähne putzte und sich dabei routinemäßig im Spiegel betrachtete. Sein Haar hatte sich für einen angenehmen Silberton entschieden, der mit dem Eisblau des Pyjamas harmonierte, den er in allen geraden Wochen trug. (Für die ungeraden hatte er einen mintgrünen, eine, wie er fand, etwas gewagte Farbe. Aber nachts sah ihn ja niemand.)
Die Frage verschwand auch beim Frühstück nicht. Gegen Mittag machte er sich daran, die Badezimmerfugen zu reinigen, um sich zu zerstreuen, aber die Frage blieb. Groß und unüberhörbar stand sie im Raum und ließ sich nicht ignorieren. Herr Wohllieb wunderte sich, denn normalerweise neigte er keinesfalls zu Grübeleien. Im Gegenteil, er schätzte sich als ausgesprochen nüchternen und unkomplizierten Zeitgenossen, dessen einzige Exzentrik darin bestand, sonntags ein weiches Frühstücksei mit Orangenmarmelade zu essen. Über das Leben im Allgemeinen hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
Nach reiflicher Überlegung beschloss er, sich an Gott den Allmächtigen zu wenden. Auch wenn sie bisher noch nicht viel Kontakt miteinander hatten, nahm er an, dass er der richtige Ansprechpartner für derlei Dinge wäre. »Herr Gott«, begann er, strich über sein Haar und straffte den Rücken, denn dies war ein ernster Moment. Er räusperte sich und sprach in Richtung Zimmerdecke: »Was soll ich tun mit meinem Leben? Bitte sei so gut und gib mir ein Zeichen. Danke.« Er zögerte kurz und fügte noch hinzu: »Dein Bernd.« Dann wartete er. Nach einer halben Stunde ging er hinaus, um eine Packung Milch zu holen und ein halbes Pfund Gouda. Nachmittags erwog er, einen Mittagsschlaf zu halten, entschied sich dann aber dagegen, weil es ihm unhöflich erschien, zu schlafen, während man auf eine Antwort wartet. Aber Gott schwieg. »Merkwürdig«, murmelte Herr Wohllieb, denn er hatte mit einer raschen Reaktion gerechnet. Sein Fall lag ja nicht so kompliziert. »Ob er meine Nachricht nicht erhalten hat? Vielleicht ist er überlastet …« Er verwarf den Gedanken schnell. »Wie albern«, schalt er sich, »überlastet. Der Allmächtige!«
Nach eingehender Betrachtung entschied er, dass es nur einen einzigen Grund für Gottes Schweigen geben konnte: Der Herr dachte nach. Er, Gott der Allmächtige, wollte für ihn, Bernd Wohllieb, eine perfekte, eine wahrhaft vollkommene Antwort finden. Der Gedanke ließ ihn erröten. Sein Herz pochte schneller. Sollte er, Bernd Wohllieb, denn so wichtig sein? Das war doch nicht möglich! Er fuhr sich ein weiteres Mal durchs Haar und beschloss, eine Krawatte umzubinden. Dann machte er einen Spaziergang, bei dem er jedem Passanten freundlich zulächelte, denn auf keinen Fall wollte er, der offenkundig ein so bedeutender Mensch war, für hochnäsig gehalten werden. Ein Mütterchen und zwei Verliebte lächelten zurück und Herr Wohlliebs Laune hob sich.
Auch die folgenden Tage blieben Tage des Schweigens. Gott dachte nach, und Herr Wohllieb wollte ihn nicht stören. Sorgsam ging er mit sich um, hielt sich höflich die Tür auf und achtete darauf, nicht mit sich selbst zu schimpfen, wie er es häufig tat, wenn er »Ich Dussel« murmelte oder »Jetzt reiß dich aber zusammen!«. Wenn Gott der Herr ihn für so wichtig hielt, dass er bereits drei volle Tage über ihn nachdachte, dann sollte er es ihm nachtun und sich nicht für weniger wichtig halten. Am vierten Tag kaufte sich Herr Wohllieb einen neuen Hut und polierte das Messingschild an seiner Haustür. Am fünften Tag hielt er einen Schwatz mit dem Zeitungshändler, mit dem er tatsächlich noch nie ein Wort gewechselt hatte außer »Bitte«, »Danke« und »Auf Wiedersehen«. Doch nun hatte er einen Ruf zu verlieren. Er wollte sich mit jedem gut stellen.
Gott überlegte noch immer, und auch Herr Wohllieb begann, sich Zeit zu nehmen. Bisher war sein Leben von Effizienz geprägt. Den Frühstücksteller benutzte er ein zweites Mal und auf dem Tisch lag eine Plastikdecke, die man feucht abwischen konnte. Meistens jedoch aß er ohnehin im Stehen und bevorzugte Klappstullen. Wenn man mittelaltes Brot nahm, krümelten sie so gut wie gar nicht. Nun aber deckte er den Tisch und legte eine Serviette neben seinen Teller. Es waren Tannenzweige darauf gedruckt und er fragte sich, wann sie in seine Wohnung gelangt waren. Aufmerksam hörte er am Telefon den langatmigen Ausführungen seiner Schwester zu und selbst dem Tagesschausprecher lauschte er, bis er seine Nachrichten zu Ende verlesen hatte. Herr Wohllieb fand auf einmal, das war er ihnen schuldig. Gott den Herrn trieb er ja auch nicht an.
Je länger Gottes Schweigen dauerte, desto mehr Ehrfurcht empfand Herr Wohllieb. Er bemerkte kaum, wie die Jahre vergingen. Seine Haare wurden weiß und er verlor drei Zähne, die Lastwagen auf der Straße wurden größer und eines Morgens war die alte Leuchtreklame gegen eine moderne Schrift ausgetauscht. Manchmal fiel ihm seine Frage dieses fernen Dienstagmorgens wieder ein. Dann sagte sich Herr Wohllieb: »Gott denkt über mich nach.« Und das beruhigte ihn ungemein und es erfüllte ihn mit einer großen Wärme, weil er wusste, zwischen Gott und ihm, dem alten Herrn Wohllieb, gab es so etwas wie ein stilles Einvernehmen. Und das war Antwort genug.