Die Autorin
Susanne Niemeyer, geb. 1972, ist freie Autorin, Kolumnistin und Bloggerin (www.freudenwort.de). Vorher war sie viele Jahre Redakteurin bei »Andere Zeiten«. Auf ihren kreativen Schreibreisen nach Schweden, Sizilien oder in die Alpen sammelt sie neue Ideen und inspiriert dazu, eigene Geschichten zu schreiben. Sie lebt und schreibt in Hamburg.
 
Im Verlag Herder sind von u.a. ihr erschienen: »Was machen Tagträumer nachts?«, »100 Experimente mit Gott«, »Das Weihnachtsschaf«, »Mut ist … Kaffeetrinken mit der Angst«, »Soviel du brauchst«, »Herr Wohllieb sucht das Paradies«, »Sieben Tage Mut«, »Sieben Tage Leichtsinn«, »Siehst du mich? Das andere Jugendgebetbuch«




Susanne Niemeyer
Jesus klingelt
Neue Weihnachtsgeschichten
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Neuausgabe
 
Titel der Originalausgabe:
Frohe Weihnachten. Jesus klingelt
© Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
 
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
 
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim
Umschlagmotiv: © Nadezda_Grapes / iStock / GettyImages
 
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
 
ISBN E-Book 978-3-451-81889-9
ISBN Print 978-3-451-03215-8
Inhaltsverzeichnis
 1. Als Gott eine Frau fand
 2. Herr Wohllieb wartet auf ein Zeichen
 3. Die Weihnachtskrippe
 4. Die Welt sieht schwarz
 5. Das Licht im Fenster
 6. Eine Rose vom Nikolaus
 7. Jesus klingelt
 8. Marianne empfängt
 9. Der Wunschbaum
10. Gott und der Brausefabrikant
11. Frauke sucht das Glück
12. Der Schneemann
13. Die Weihnachtsdiebe
14. Die Gaben
15. Franz wird neu geboren
16. Als Lia den Himmel fand
17. Der Traum
18. Jakob lächelt
19. Tagebuch eines Weihnachtsengels
20. Die auferstandene Weihnachtsgans
21. Anfänger sein
22. Gott steigt ab
23. Zweiundvierzig Weihnachten
24. Die Weihnachtsgeschichte
Die Autorin

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Als Gott eine Frau fand
»Ich brauche eine Frau«, sagte Gott der Herr und alle Engel erschraken. Damit hatte niemand gerechnet.
»Aber«, hob der Erste aller Engel an, »du bist Gott. Du hast für dich keine Frau vorgesehen.«
Gott blitzte ihn ärgerlich an. Wenn ihm etwas missfiel, dann waren es besserwisserische Himmelsbewohner. »Ich habe beschlossen, auf die Erde zu gehen.«
Einen Moment lang herrschte Totenstille (wenn man denn von Totenstille im Himmel sprechen kann). Dann begannen alle gleichzeitig zu reden: »Aber Herr, warum nur?« »Das gab es noch nie!« »Hier oben ist es doch so schön!« »Die Menschen sind roh!« »Unberechenbar!« »Hier sind wir in Sicherheit!« Doch der Herrscher aller Heerscharen ließ sich nicht beirren: »Ich will meinen Geschöpfen nah sein. Ich will fühlen, was sie fühlen. Ich will lieben, wie sie lieben. Ich will sterben, wie sie sterben.«
Voller Entsetzen sogen die Engel die Luft ein. Was der Herr immer mit seinen Geschöpfen hatte. Das war ihnen schon lange ein Dorn im Auge. Sie hatten es doch gut miteinander. Außerdem war es absolut unüblich, dass ein Gott sich unter das Volk mischt. Für Gott gab es den Himmel und für die Menschen die Erde. Das hatte Jahrtausende gut funktioniert. Warum alles durcheinanderbringen?
Aber Gott blieb stur. »Gabriel«, rief er, »such mir eine Frau!« Gabriel trollte sich grummelnd. Dass der Allmächtige immer so dickköpfig sein musste … Aber natürlich tat er dennoch wie geheißen und brachte ihm drei geeignete Kandidatinnen.
»Diese«, begann er und zeigte auf eine zierliche Blon­de, »ist eine Heilige. Männer interessieren sie nicht. Sie trinkt nicht, flucht nicht und liest erbauliche Gedichte.« »Langweilig!«, stöhnte Gott.
»Also gut, dann diese«, beeilte sich Gabriel fortzufahren und lenkte Gottes Blick zu einer ernsten Hochgewachsenen. »Sehr intelligent. Sie hat promoviert in Psychologie, Astrophysik und vergleichender Religionswissenschaft. In den aktuellen theologischen Diskussionen kennt sie sich hervorragend aus. Abends besucht sie gelegentlich philosophische Salons.« »Anstrengend«, winkte Gott der Herr ab. »Hast du nicht jemand weniger Weltfremdes?«
»Wie wäre es mit dieser?«, fragte Gabriel und zeigte auf eine milde Mütterliche. »Sie ist eine wahre Madonna. Opfert sich für andere auf, pflegt Kranke, hat immer ein Ohr für Betrübte und erhebt keinen Anspruch auf ein Privatleben. Man nennt sie auch den Engel des Viertels.« »Engel habe ich hier schon genug«, brummte Gott der Herr. »Ich will eine normale Frau. Verstehst du? Eine, die wie alle ist. Die da! Was ist mit der?«
»Die? Also, mit der ist nichts. Sie heißt Maria. Nicht mal Marie-Louise oder Nele-Marie. Sie ist mittelmäßig. Durch und durch mittelmäßig. Ihre Haare sind mausbraun. Weder glänzen sie wie Kastanien, noch erinnern sie an Schokolade. Wenn sie versucht, Locken hineinzudrehen, hängen sie nach einer halben Stunde wie Linguini auf ihren Schultern. Sie färbt sie nicht mal!« Der Engel schnaubte. »In der Schule war sie mittelgut. Soweit ich weiß, liest sie ganz gern, aber sie spielt kein Klavier und auch kein Cello. Wenn sie wenigstens singen könnte! Stattdessen schaut sie diese schrecklichen Castingshows und träumt davon, auch einmal entdeckt zu werden. Worin, das weiß sie selber nicht. Sie strengt sich nicht an, hat noch nicht mal Auslandserfahrung. Auch kein Ehrenamt, gar nichts! Ihr größter Traum ist es, auf einem Esel zu reiten. Weil sie eine Reportage über Wanderurlaub in den Cevennen gesehen hat und die Esel so niedlich fand. Dabei könnte sie nicht mal sagen, wo die Cevennen liegen! Und sie hat einen Freund. Du wirst dir ja wohl keine Frau aussuchen, die bereits vergeben ist? Das hast du doch nicht nötig!« Plötzlich hatte Gabriel eine Idee: »Warum erschaffst du dir nicht eine nach deinem Geschmack?«
Aber Gott ließ sich nicht ablenken. »Erzähl weiter!«
»Sie sind seit einem halben Jahr zusammen«, fuhr Gabriel resigniert fort. »Er arbeitet als Tischler. Einmal schnitzte er ihr eine Blume aus Holz. ›Die welkt nie‹, hat er gesagt. Ihre Mutter fand das romantisch. Es müssen nicht alle studieren, meinte sie und Maria strahlte. Sie ist so gewöhnlich! Ich weiß nicht mal, ob sie gläubig ist. Ihr Freund, ja, der betet manchmal. Aber sie? Hat man noch nichts von gehört. Ich bitte dich. Die willst du doch wohl nicht?« Unsicher blickte Gabriel zu Gott dem Herrn. Ein Lächeln umspielte dessen Mund und Gabriel schwante nichts Gutes.
»Perfekt«, murmelte Gott. »Sie ist perfekt.« Fast könnte man meinen, er sei verliebt.
Er sollte aufpassen, dachte Gabriel. Er sollte wirklich aufpassen. Am Ende gerät das ganze schöne Bild von ihm ins Wanken.

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Herr Wohllieb wartet auf ein Zeichen
Als Herr Wohllieb am Dienstagmorgen erwachte, hatte sich ein großes Loch aufgetan. Unten rauschten die Lastwagen. Gegenüber schüttelte eine Frau ihren Teppich über den Köpfen der Fußgänger aus. Der Himmel war mittelgrau und die Leuchtreklame des Tabakladens blinkte unverdrossen. Es war Dezember. Alles war wie immer, nur dass plötzlich diese Frage vor ihm stand: »Was mache ich mit dem Rest meines Lebens?«
Sie war aufgetaucht, als Herr Wohllieb gründlich seine Zähne putzte und sich dabei routinemäßig im Spiegel betrachtete. Sein Haar hatte sich für einen angenehmen Silberton entschieden, der mit dem Eisblau des Pyjamas harmonierte, den er in allen geraden Wochen trug. (Für die ungeraden hatte er einen mintgrünen, eine, wie er fand, etwas gewagte Farbe. Aber nachts sah ihn ja niemand.)
Die Frage verschwand auch beim Frühstück nicht. Gegen Mittag machte er sich daran, die Badezimmerfugen zu reinigen, um sich zu zerstreuen, aber die Frage blieb. Groß und unüberhörbar stand sie im Raum und ließ sich nicht ignorieren. Herr Wohllieb wunderte sich, denn normaler­weise neigte er keinesfalls zu Grübeleien. Im Gegenteil, er schätzte sich als ausgesprochen nüchternen und unkomplizierten Zeitgenossen, dessen einzige Exzentrik darin bestand, sonntags ein weiches Frühstücksei mit Orangenmarmelade zu essen. Über das Leben im Allgemeinen hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
Nach reiflicher Überlegung beschloss er, sich an Gott den Allmächtigen zu wenden. Auch wenn sie bisher noch nicht viel Kontakt miteinander hatten, nahm er an, dass er der richtige Ansprechpartner für derlei Dinge wäre. »Herr Gott«, begann er, strich über sein Haar und straffte den Rücken, denn dies war ein ernster Moment. Er räusperte sich und sprach in Richtung Zimmerdecke: »Was soll ich tun mit meinem Leben? Bitte sei so gut und gib mir ein Zeichen. Danke.« Er zögerte kurz und fügte noch hinzu: »Dein Bernd.« Dann wartete er. Nach einer halben Stunde ging er hinaus, um eine Packung Milch zu holen und ein halbes Pfund Gouda. Nachmittags erwog er, einen Mittagsschlaf zu halten, entschied sich dann aber dagegen, weil es ihm unhöflich erschien, zu schlafen, während man auf eine Antwort wartet. Aber Gott schwieg. »Merkwürdig«, murmelte Herr Wohllieb, denn er hatte mit einer raschen Reaktion gerechnet. Sein Fall lag ja nicht so kompliziert. »Ob er meine Nachricht nicht erhalten hat? Vielleicht ist er überlastet …« Er verwarf den Gedanken schnell. »Wie albern«, schalt er sich, »überlastet. Der Allmächtige!«
Nach eingehender Betrachtung entschied er, dass es nur einen einzigen Grund für Gottes Schweigen geben konnte: Der Herr dachte nach. Er, Gott der Allmächtige, wollte für ihn, Bernd Wohllieb, eine perfekte, eine wahrhaft vollkommene Antwort finden. Der Gedanke ließ ihn erröten. Sein Herz pochte schneller. Sollte er, Bernd Wohllieb, denn so wichtig sein? Das war doch nicht möglich! Er fuhr sich ein weiteres Mal durchs Haar und beschloss, eine Krawatte umzubinden. Dann machte er einen Spaziergang, bei dem er jedem Passanten freundlich zulächelte, denn auf keinen Fall wollte er, der offenkundig ein so bedeutender Mensch war, für hochnäsig gehalten werden. Ein Mütterchen und zwei Verliebte lächelten zurück und Herr Wohlliebs Laune hob sich.
Auch die folgenden Tage blieben Tage des Schweigens. Gott dachte nach, und Herr Wohllieb wollte ihn nicht stören. Sorgsam ging er mit sich um, hielt sich höflich die Tür auf und achtete darauf, nicht mit sich selbst zu schimpfen, wie er es häufig tat, wenn er »Ich Dussel« murmelte oder »Jetzt reiß dich aber zusammen!«. Wenn Gott der Herr ihn für so wichtig hielt, dass er bereits drei volle Tage über ihn nachdachte, dann sollte er es ihm nachtun und sich nicht für weniger wichtig halten. Am vierten Tag kaufte sich Herr Wohllieb einen neuen Hut und polierte das Messing­schild an seiner Haustür. Am fünften Tag hielt er einen Schwatz mit dem Zeitungshändler, mit dem er tatsächlich noch nie ein Wort gewechselt hatte außer »Bitte«, »Danke« und »Auf Wiedersehen«. Doch nun hatte er einen Ruf zu verlieren. Er wollte sich mit jedem gut stellen.
Gott überlegte noch immer, und auch Herr Wohllieb begann, sich Zeit zu nehmen. Bisher war sein Leben von Effizienz geprägt. Den Frühstücksteller benutzte er ein zweites Mal und auf dem Tisch lag eine Plastikdecke, die man feucht abwischen konnte. Meistens jedoch aß er ohnehin im Stehen und bevorzugte Klappstullen. Wenn man mittelaltes Brot nahm, krümelten sie so gut wie gar nicht. Nun aber deckte er den Tisch und legte eine Serviette neben seinen Teller. Es waren Tannenzweige darauf gedruckt und er fragte sich, wann sie in seine Wohnung gelangt waren. Aufmerksam hörte er am Telefon den langatmigen Ausführungen seiner Schwester zu und selbst dem Tagesschausprecher lauschte er, bis er seine Nachrichten zu Ende verlesen hatte. Herr Wohllieb fand auf einmal, das war er ihnen schuldig. Gott den Herrn trieb er ja auch nicht an.
Je länger Gottes Schweigen dauerte, desto mehr Ehrfurcht empfand Herr Wohllieb. Er bemerkte kaum, wie die Jahre vergingen. Seine Haare wurden weiß und er verlor drei Zähne, die Lastwagen auf der Straße wurden größer und eines Morgens war die alte Leuchtreklame gegen eine moderne Schrift ausgetauscht. Manchmal fiel ihm seine Frage dieses fernen Dienstagmorgens wieder ein. Dann sagte sich Herr Wohllieb: »Gott denkt über mich nach.« Und das beruhigte ihn ungemein und es erfüllte ihn mit einer großen Wärme, weil er wusste, zwischen Gott und ihm, dem alten Herrn Wohllieb, gab es so etwas wie ein stilles Einvernehmen. Und das war Antwort genug.

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