Schicksalsschläge lassen sich ertragen,
sie kommen von außen, sind zufällig.
Aber durch eigene Schuld leiden,
das ist der Stachel des Lebens
Oscar Wilde
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© 2016 Harald Schmidt
Buchcover: Alexander Kopainski
www.alexanderkopainski.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-743-14594-8
Im Lichtkegel der Laternen verfolgte Vera die tanzenden Schneeflocken, die sich im Vorgarten mit der dort bereits ruhenden, weißen Masse vereinigten. Sie verdeckten allmählich die Spuren, die kurz zuvor eine streunende Katze hinterlassen hatte. Obwohl das Außen-Thermometer Minustemperaturen anzeigte, gab ihr dieses Bild der Winterlandschaft ein wärmendes Gefühl. Sie schob die Lesebrille, die sie leicht angehoben hatte, in das Haar und konzentrierte sich vollends auf das Geschehen. Das Buch, in dem sie las, hatte sie in eine Melancholie versetzt, ihr das Gefühl gegeben, vergessen geglaubten Gedanken nachhängen zu müssen. Das Lesezeichen schob sie gedankenverloren zwischen die Seiten, klappte den Roman zu und legte ihn neben die kleine Vase auf den Tisch. Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, griff sie zum Glas und nippte daran. Sie liebte es früher, an Winterabenden ein gutes Buch zu genießen, dazu ein edler Tropfen. Peter hatte damals stets einen erlesenen Wein im Keller bevorratet. Seine geschäftlichen Kontakte zu einem badischen Winzer nutzte er gerne zu einer Weinprobe. Stolz präsentierte er ihr später seine neuesten Einkäufe, die dann, von einem feinen Abendessen begleitet, genossen wurden. Sie liebte diese Abende, denn sie fanden in den meisten Fällen ein feuriges, romantisches Ende.
Gerne erinnerte sie sich an diese Zeit der Harmonie, der tiefen Zuneigung zu diesem Mann, der ihr Herz im Sturm erobert hatte. Der smarte Jurastudent verstand es, ihr das Gefühl der Einzigartigkeit zu geben. Er respektierte sie und ihre kleinen Marotten - er schien diese sogar zu mögen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie die Decke über die Schultern zog. Wie sehr vermisste sie diese Hände, die in der Lage waren, den Augenblick zu verändern. Seine Zauberhände konnten ihr nur durch bloße Berührung die Sinne rauben, sie in eine andere Traumwelt katapultieren. Wohlige Schauer zogen über ihren Körper. Sie spürte diese Finger genau in diesem Augenblick in ihrem Nacken, streckte sich ihnen entgegen. Die Erinnerung vermochte es, ihr diese Trugbilder vorzugaukeln.
Immer häufiger hing sie diesen Gedanken nach. Natürlich hatte es Männer in ihrem Leben gegeben, aber keiner von ihnen reichte auch nur annähernd an Peter heran. Es machte ihr mittlerweile Angst, dass sie sich immer stärker nach den Berührungen zurücksehnte, Berührungen, die nicht nur den Körper erreichten. Nein, sie veränderten die Sinne, schalteten alle Sorgen des Alltags aus. Peter Sobier war ein Magier, ein Mensch, der ihr Tun beeinflussen konnte. Immer, wenn er ging, verschwand diese Magie mit ihm.
Vera starrte zum gefühlt tausendsten Mal auf das Foto, das sie auf der Anrichte zwischen zwei Kerzen gebettet hatte. Es zeigte das pure Glück einer Familie, die den Sommerurlaub am Strand von Barbados genoss. Peter und sie hatten den überglücklichen Patrick in die Mitte genommen, sie tobten gemeinsam durch die türkisfarbenen Wellen. Keiner von ihnen bemerkte damals die dunklen Wolken, die am azurblauen Himmel aufzogen ...
Peter Sobier ließ den Wagen einige Meter vor der Garageneinfahrt ausrollen und betrachtete ihr neues Heim. Die Fenster und Türen waren während ihres dreiwöchigen Urlaubs in der Karibik eingebaut worden, das Außengerüst war schon teilweise abgebaut. Sogar die Klinkerarbeiten hatte die Baufirma geschafft. Nur die vielen Sandhügel und herumliegenden Materialien störten noch das Gesamtbild.
»Ist das schön geworden.«
Vera hatte das Fenster heruntergefahren und blickte verträumt auf die Riesenterrasse, auf die sie bei der Planung bestanden hatte.
»Morgen werden wir uns das einmal von innen ansehen. Jetzt geht´s nach Hause zum Auspacken und ausruhen. Ich spüre nun auch die Müdigkeit nach dem langen Flug.«
Peter startete den Motor wieder und setzte zurück. Sein Blick fiel dabei auf Patrick, der ruhig schlafend im Sicherheitsgurt hing. Zuhause angekommen weckte Peter vorsichtig seinen Sohn und drückte ihm eine leichte Reisetasche in die Hand. Vera hielt dem Kleinen, der sein Gepäck mühsam hinter sich herzog, lächelnd die Haustür auf und folgte mit ihrem Trolli. Die schweren Koffer überließ sie dem starken Geschlecht.
Das Frühstück stand duftend auf dem Küchentisch und wartete auf hungrige Mäuler.
»Patrick, du bist ja noch gar nicht gewaschen, wach auf mein Schatz.«
Vera berührte den Kleinen an der Schulter. Langsam öffnete er die Augen und blickte um sich.
»Haben wir verschlafen? Wir wollten doch zum Haus.« Er blinzelte und umarmte seine Mutter.
»Guten Morgen Mama. Wie spät ist es?«
»Es ist noch früh genug, du Schlafmütze. Wasch dich schnell, das Frühstück wartet. Papa ist schon vom Joggen zurück. Auf, auf.«
Der Möbelwagen blockierte die Auffahrt, sodass Peter den Mercedes auf der Straße parkte.
»Wer zuerst am Haus ist, dessen Zimmer wird heute noch eingerichtet, also bei Drei. Eins, Zwei ... halt, du Betrüger, erst bei Drei! Da Peter auch noch beim Loslaufen absichtlich wegrutschte, erreichte Patrick vor seinen Eltern die Haustür und blieb laut lachend stehen.
»Ihr Schlappschwänze ... Ich habe gewonnen.« Peter nahm seinen Sohn in die Arme und warf ihn spielerisch hoch. Den kleinen Blutfaden, der aus dem Nasenloch sickerte, übersah er dabei und begrüßte die Möbelpacker, die sich den herumalbernden Hausbesitzern grinsend genähert hatten. Patrick wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und erschrak heftig.
»Mama, ich blute.«
Vera drehte sich ihm zu und kramte ihr Taschentuch aus der Hosentasche.
»Du hast nur Nasenbluten. Habt ihr wohl doch etwas zu heftig getobt. Werde Papa jetzt mal ordentlich die Meinung geigen. Das geht ja gar nicht.«
»Lass Papa in Ruhe. Der kann da nichts zu. Ich habe mich bestimmt gestoßen.«
»Na, dann hat dein Vater ja noch mal Glück gehabt. Wenn du dich so für ihn einsetzt, werde ich ihn ein letztes Mal verschonen.«
Lachend liefen beide zum Möbelwagen und bestaunten die unzähligen Kartons.
»Kommst du runter, Patrick? Das Abendessen ist fertig?«
Den ganzen Tag über hatten sie den Aufbau der Möbel beaufsichtigt. Patrick hatte eifrig beim Tragen der kleinen Päckchen geholfen und lag nun geschafft auf seinem Bett. Vera fand ihn schlafend und tupfte vorsichtig den kleinen Blutfaden weg, der sich wieder unter seiner Nase gebildet hatte. Sie entschloss sich dazu, ihn ruhen zu lassen und das Essen aufzubewahren, falls er doch Hunger verspürte und runter kam.
»Der Kleine ist völlig alle. Der wird bis morgen früh durchschlafen. Ich verstehe nur nicht, warum er plötzlich Nasenbluten bekommt. Das hat er doch noch nie gehabt.«
Sie sah Peter fragend an, während sie die dampfenden Kroketten entgegennahm, die er ihr anreichte.
»Das wird wohl die Klimaumstellung sein, du wirst schon sehen. Musst du nicht übermorgen zu Doktor Klein? Nimm Patrick doch mit, der soll ihn sich mal ansehen.«
»Gute Idee, Schatz. Der kennt ihn ja schon von Geburt an.«
»Morgen will ich mit ihm noch den versprochenen Ausflug zum Sea Life nach Oberhausen machen. Nachmittags bringe ich dann wieder ein paar Kartons rüber. Die empfindlichen Gegenstände vertraue ich nicht gerne den Möbelpackern an. Hast du eigentlich darüber nachgedacht, ob wir ihm den Hund gestatten? So ein Berner Sennenhund wird ja ziemlich groß. Der macht schließlich Arbeit und schränkt uns bestimmt ein.«
Vera runzelte die Stirn und blickte zur Treppe, um sich zu vergewissern, dass Patrick nicht mithörte.
»Ich würde empfehlen, dass wir das Thema im Augenblick zurückstellen, es könnte sein, dass es nur so eine fixe Idee war und er das wieder vergisst.«
»Das glaube ich allerdings nicht. Ist dir aufgefallen, wie er reagiert, wenn er Hunde sieht? Der wird ja täglich aufs Neue daran erinnert, wenn er draußen ist. Was machst du übrigens heute, Liebling?«
Erwartungsvoll sah er Vera an.
»Du bist ein typischer Macho, du hörst mir einfach nicht zu. Ich habe dir noch zuletzt am Gepäckband in Düsseldorf gesagt, dass ich mit Mama zum Frisör nach Essen-Rüttenscheid fahre. Sie schwärmt so vom Salon Conny Giese, dass ich ihn auch mal ausprobieren möchte. Lass mir die Haare komplett kurz schneiden, ist jetzt total in.«
Lange hielt sie Peters entgeistertem Blick nicht Stand, sie prustete los.
»War doch nur ein Scherz ... Was soll das ... was willst du? ... Peter, nein.«
Mit gespieltem Entsetzen riss sie die Arme hoch, um sich vor seinem Angriff zu schützen. Die Gegenwehr erlahmte jedoch, als sie seine Lippen auf ihren spürte und seine Hände ihre Taille umfassten. Peter hob sie vom Stuhl auf den Teppich, der nicht zum ersten Mal als Unterlage für spontane Liebesspiele diente. Seine Hände begannen, ihren Körper zu verzaubern.
»Wie lange soll ich noch auf dich warten? Du musst kein Schwimmzeug einpacken, das ist ein Aquarium ausschließlich für Meeresbewohner.«
Peter trommelte ungeduldig auf den Dielenschrank und kramte nach dem Autoschlüssel.
»Das weiß ich auch, Papa. Aber ich habe die Kamera nicht gefunden, wir können aber jetzt sofort los. Wo ist Mama? Ich hab´ noch nicht Tschüss gesagt.«
Vera schaute aus dem Bad, die Haare hatte sie mit dem Handtuch zum Turm gebunden. Beide Männer wurden begutachtet. Erst das von einem Lächeln begleitete Nicken zeigte ihnen, dass sie outfitmäßig ohne Beanstandungen durch die entscheidende Kontrolle gekommen waren.
»Fahrt ihr danach direkt zum Haus, oder zieht ihr euch erst noch um? Ich komme so gegen fünfzehn Uhr mit Mama dorthin. Sie will unbedingt helfen.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und verabschiedete die beiden Männer mit einem Kuss. Mit einem hintergründigen Lächeln kniff sie Peter in den Po und verschwand wieder im Bad.
»Hab´ ich im Spiegel gesehen«, feixte Patrick und lief lachend zur Garage.
Die A42 war relativ frei und Shakira schmetterte ihren WM-Song ›Waka Waka‹ durch den Äther. Laut sangen Peter und Patrick mit.
»Papa, ich glaube, es geht schon wieder los, meine Nase blutet. Hast du ein Tempo für mich?« Peter sah kurz nach hinten und klappte das Handschuhfach auf. In der äußersten Ecke fand er ein angebrochenes Paket und reichte es nach hinten. Eine Bodenwelle ließ das Auto aufschwingen, sodass die Tücher hinter den Beifahrersitz fielen. Spontan griff Peter danach. Den ausscherenden Lastwagen rechts vor ihm bemerkte er noch aus den Augenwinkeln und riss das Steuer nach links. Mit diesem Manöver hatte der überholende Kleintransporter nicht gerechnet, er katapultierte Peters Mercedes wieder zurück auf die mittlere Spur. Sein Schrei ging unter im Lärm des sich verbiegenden Metalls und zersplitternder Scheiben. In sein Unterbewusstsein fraß sich als letzte Wahrnehmung Patricks ungläubiger Blick und der aufgerissene Mund. Eine gnädige Ohnmacht entriss ihm dieses Bild.
»Ich schaff das nicht aus meiner Position, könnt ihr das Lenkrad hochstellen? Der Arm ist eingeklemmt und scheint gebrochen zu sein, müssen wir wohl provisorisch schienen. Habt ihr den Jungen schon im Helikopter?«
Wie durch einen wabernden Nebel vernahm Peter Wortfetzen der Unterhaltung. Er versuchte, die Augen zu öffnen und seine Gedanken zu ordnen. Jeder Atemzug schmerzte höllisch. Er spürte, wie Hände an ihm zogen, ihn bewegen wollten. Schemenhaft nahm er die um ihn herumhängenden Säcke der Airbags wahr. Irgendjemand versuchte, sie zur Seite zu drücken.
»Hallo ... können Sie mich verstehen? Wir haben Sie gleich hier raus, bleiben Sie ganz ruhig, alles wird gut.«
»Patrick ... Patrick ... wo?«
Er hauchte die Worte so leise, sodass einer der Helfer sein Ohr dichter an Peters Mund hielt.
»Was haben Sie gesagt? Bitte wiederholen Sie.«
»Wo ist Patrick ... ist er gesund?«
Die gekrächzten Worte hatte der Sanitäter jetzt verstanden und sah hilfesuchend zum Notarzt.
»Mein Name ist Doktor Hoffmann. Der Junge ist bereits auf dem Weg ins Essener Klinikum. Wir hatten für ihn einen Hubschrauber bestellt, damit er schnellstens versorgt wird. Der ist in guten Händen. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um Sie. Bleiben Sie bitte ganz entspannt sitzen, damit wir Sie aus dem Sitz befreien können. Sie werden dann ebenfalls in das gleiche Krankenhaus gebracht.«
»Peter, kann ich dich kurz sprechen? In meinem Büro.«
Peter Sobier war auf dem Weg zum Archiv und sah seinen Freund und Partner erstaunt an. Eigentlich bereitete er sich auf den Fall Demontex vor, der am nächsten Tag vor dem Essener Landgericht verhandelt werden sollte, aber es schien Klaus Meinert wichtig zu sein. Sie hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis und Peter war Klaus zu Dank verpflichtet, da er ihm vor vier Jahren eine Partnerschaft in seiner Kanzlei angeboten hatte. Klaus hatte das Glück, dass er die väterliche, sehr gut eingeführte Kanzlei übernehmen konnte. Da sie schon seit dem gemeinsamen Studium befreundet waren, bot er Peter die Beteiligung an.
»Kaffee oder Wasser?«
Klaus zeigte auf einen Sessel, der Teil einer gemütlichen Sitzecke in seinem Büro war.
»Nein danke, habe gerade erst meinen Tee ausgetrunken. Was gibt es zu besprechen? Bin ein wenig im Druck, da ich die Sache Demontex noch auf dem Tisch liegen habe.«
»Ja, ich weiß, Peter. Aber das hier erscheint mir wichtiger. Ich will auch gar nicht lange herumreden und gleich auf den Punkt kommen. Du weißt, die Geschichte mit Patrick setzt auch mir zu, schließlich bin ich sein Patenonkel. Wir haben auch schon des Öfteren deine Trennung von Vera diskutiert. Darüber will ich auch heute kein Wort verlieren. Es bereitet mir allerdings Unbehagen, wie du deine Probleme angehst.«
Peter versteifte sich im Sessel und wollte etwas erwidern. Klaus hob die Hand und fuhr fort.
»Nein Peter ... lass mich erklären. Wir sind jetzt seit der Studienzeit befreundet und ich glaube, dass ich mir das Recht herausnehmen sollte, dir ins Hirn zu springen, wenn du aus dem Ruder läufst. Glaubst du wirklich, dass es niemand in der Kanzlei gemerkt hat? Wir sehen deine Schwierigkeiten und deinen Kampf, mit allem fertig zu werden, aber wir sehen auch, dass du dich mit deiner Sauferei langsam umbringst.«
»Wie kommst du darauf, dass ich trinke? Ich mache meinen Job wie alle anderen auch, es kann sich keiner beklagen ... du doch erst recht nicht. Ich habe meine Fälle alle gewonnen. Was kümmert es andere, was ich in meiner Freizeit tue?«
Peter hatte seinen ersten Schock überwunden und ging in die Offensive.
»Mach jetzt mal halblang, Peter. Keiner will dir etwas Böses, ganz im Gegenteil, die Mannschaft möchte dir helfen ... alle stehen hinter dir. Du sagst, du trinkst nicht? Dann erkläre mir, warum deine Wasserflasche in der Schrankwand nach Gin riecht. Verdammt, komm wieder zu dir, so geht das nicht weiter. Lass dir helfen, geh bitte in eine Therapie.«
Klaus hatte sich hinter Peter gestellt und beide Hände auf seine Schultern gelegt.
»Ich möchte noch viele Jahre mit dir zusammenarbeiten. Das geht aber nur, wenn du so schnell wie möglich auf die Bremse trittst. Ich habe mit einem Bekannten gesprochen, der leitet eine Gruppe bei den anonymen Alkoholikern, er würde dich kurzfristig aufnehmen, auch in Einzeltherapie.«
Peter sprang aus seinem Sessel und schnellte herum.
»Willst du mir damit sagen, dass ich für die Firma nicht mehr tragbar bin, dass ich ausgesondert werden muss? Ist es so? Beweist du mir so deine Freundschaft?«
Fassungslos, nach Worten ringend, stand ihm Klaus gegenüber. Er hatte ein schwieriges Gespräch erwartet, aber etwas mehr Einsicht. Manfred Kross hatte ihn zwar auf ähnliche Reaktionen vorbereitet ... doch Peter war schließlich sein Freund. Er sollte einsichtiger sein.
»Deine Aufregung verstehe ich zwar nicht ganz und nehme deine Unterstellungen nicht krumm, doch wir sind erwachsene Männer und sollten offen miteinander reden können. Ich habe dir gesagt, was gesagt werden musste. So kann und darf es nicht weitergehen. Du bist es dir, Vera und vor allem Patrick schuldig, dass du dich änderst. Von mir als deinem Partner will ich gar nicht reden. Schlafe eine Nacht drüber und gib mir morgen Bescheid, ob du diese Therapie mitmachen willst.«
Klaus legte den Arm um Peter und fuhr fort: »Dass Alkohol nicht die Lösung deiner Probleme sein kann, hat dir doch schon die Trennung von Vera gezeigt. Glaubst du, ich weiß nicht, wie sehr du sie noch liebst, wie du sie tagtäglich vermisst? Du hast nur die eine Chance, sie vielleicht wieder zurückzugewinnen - hör auf mit der Sauferei!«
»Sie hat bestimmt schon einen anderen Kerl. Das ist vorbei. Sie hat mir klar gesagt, dass sie mich nie wiedersehen will.«
Peter drückte die Stirn gegen die Fensterscheibe und sah mit feuchten Augen über die Häuserreihen.
»Nein, das hat sie nicht. Eigentlich sollte ich es dir ja nicht verraten, aber Tina hat sie vor wenigen Tagen im Café getroffen. Sie leidet genau wie du. Aber sie wird niemals wieder deine Alkoholexzesse erdulden. Das hat sie Tina klargemacht. Ihr zwei gehört zusammen, ihr müsst gemeinsam kämpfen ... für Patrick. Er braucht seine Eltern. Versprichst du mir, dass du über mein Angebot nachdenkst? Auch ich will dich nicht verlieren.«
Das Zimmer bestand aus einem Schreibtisch, der vollständig mit Zeitschriften und Broschüren bedeckt war, mehreren altmodischen Sesseln und einer unübersehbaren Menge an Büchern, die in den Regalen rundum einsortiert waren. Eine Qual für Peters Augen, der mehr ein Anhänger des Modernen war. Für ihn waren Bücher nur Deko, er blätterte lediglich in Fachliteratur für Juristen. Manfred Kross bot ihm einen der Sessel an und setzte sich ihm gegenüber. Er wischte sich mit einer geübten Handbewegung das schulterlange Haar aus dem Gesicht, sodass Peter das freundliche Lächeln erkennen konnte. Auf den ersten Blick strahlte dieses Gesicht Sympathie aus, was Peter etwas von seiner Beklemmung nahm.
»Entschuldigen Sie meine Unordnung, aber ich bin in dieser Beziehung ein absoluter Chaot. Und ehrlich gesagt ... irgendwie mag ich es so lieber. Ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß genau, wo ich suchen muss, wenn ich etwas finden will.«
Peter gefiel die offene Art dieses Mannes.
»Klaus, ich meine Ihr Partner, hat mir davon erzählt, dass Sie ein Problem haben, das Sie mit einem anderen kaschieren möchten. Also besser gesagt, Sie glauben, dass Sie dieses Problem ertränken können. Ich sage Ihnen direkt zu Anfang, ich habe auch einmal geglaubt, das es nur so geht. Da habe ich mich gewaltig getäuscht. Darf ich einen Vorschlag machen? Wir beide, so denke ich, werden sehr persönliche Dinge austauschen. Daher schlage ich vor, wenn Sie damit einverstanden sind, dass wir das Sie weglassen. Ist das für Sie in Ordnung?«
Peter nickte stumm und versuchte, sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Manfred Kross war ein besonderer Typ, ja wirklich ein Mensch, der Stärke und gleichzeitig etwas Vertrautes ausströmte. Die Augen zeigten Offenheit, nicht die Spur von Überheblichkeit.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Klaus das erwähnt hat ... ich bin kein Seelenklempner. Ich habe lediglich mein Diplom in Sozialpädagogik. Du siehst hier keine Couch, nur einen einsamen Sessel und einen unrasierten Typ, der dir zuhören möchte.«
Hier machte Manfred eine Pause und stellte zwei Gläser auf den Tisch, die er mit Wasser füllte.
»Bisher weiß ich, dass du vor Monaten einen Autounfall hattest und dass seitdem dein Sohn im Koma liegt. Erzähl mir davon, damit ich mir eine Vorstellung davon machen kann.«
Augenblicklich tauchten vor Peters Augen die Bilder auf, die er vergessen wollte. Er ließ sich Zeit, bevor er zögernd den Unfall schilderte.
»Das muss schrecklich für dich gewesen sein. Was passierte denn, als du eingeliefert wurdest?«
Manfred spürte den inneren Kampf, den Peter führte. Die Augen hatte der leidgeprüfte Mann geschlossen, als er fortfuhr.
»Meine Verletzungen waren unbedeutend. Einige Prellungen im Beckenbereich, ein gebrochener Arm und Schürfwunden. Das war schnell versorgt. Die Ärzte ließen mich anfangs über den Zustand von Patrick im Unklaren. Die Polizei informierte mich lediglich darüber, dass er wohl Verletzungen am Kopf davongetragen hatte, überließen jedoch den Ärzten die genaue Beschreibung. Mich haben diese Ausflüchte fast zum Wahnsinn getrieben.«
Peter nahm einen Schluck aus dem Glas.
»Am Nachmittag kam Vera ... das ist meine Frau. Sie hatte beim Shoppen mit ihrer Mutter ihr Smartphone zuhause gelassen, man hatte sie erst am frühen Nachmittag erreichen können. Erst durch sie erfuhr ich, dass Patrick durch den Unfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte und ins Koma gefallen war.«
Peter schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Manfred wartete einen Moment und fragte:
»Sollen wir hier abbrechen oder möchtest du weitermachen? Ich verstehe, wenn du eine Pause brauchst. Nur, es muss endlich raus, du musst darüber reden. Es frisst dich sonst langsam von innen auf.«
Peter wischte mit den Handflächen über das Gesicht und Manfred sah in traurige, gerötete Augen.
»Ist schon gut, wir machen weiter. Also, Vera war natürlich auch fassungslos, sie musste das Geschehene erst verarbeiten. Sie durfte auch noch nicht zu Patrick und konnte mir nur erste, vage Diagnosen weitergeben. Man sagte ihr, dass zuerst lebenswichtige Untersuchungen am Schädel durchgeführt werden mussten, um die weiteren Maßnahmen einleiten zu können. Mir hatte man mittlerweile den gebrochenen Arm und das geprellte Becken versorgt. Alles Verletzungen, die schnell wieder ausheilen würden ... aber unsere Sorgen galten dem Jungen.«
Aufmerksam folgte Manfred der Beschreibung des Krankheitsbildes, so wie es den Eltern später durch den behandelnden Arzt dargestellt wurde.
»Peter, ich könnte dir jetzt sagen, dass alles wieder gut werden wird und Patrick wieder ein gesunder Junge wird. Ich bin kein Mediziner und werde diesbezüglich keinerlei Versprechungen wagen. Das wäre verlogen und falsch. Mich interessiert viel mehr, wie ihr beide damit umgegangen seid. Entschuldige, wenn ich das so offen frage, aber hat dir Vera Vorhaltungen gemacht? Ich meine damit, hat sie dir die Schuld an dem Zustand gegeben, in dem sich euer Kind befand?«
Entsetzt blickte Peter auf.
»Um Gottes willen, nein. Mit keinem Wort hat sie mich beschuldigt. Das musste sie auch nicht. Ich selbst habe mir die Schuld daran gegeben, ich habe meinen Sohn auf dem Gewissen. Hätte ich mich nicht ablenken lassen, wäre das nicht passiert.«
Peter sprang auf und lief zum Fenster. Seinen Kopf hatte er zwischen die Hände genommen und er ließ seinen Tränen freien Lauf. Plötzlich drehte er sich um.
»Hast du irgendwas zu trinken für mich?«
Manfred reichte ihm das Wasserglas an. Peter schlug es zur Seite und schrie: »Nein, verdammt, etwas Richtiges. Ich brauche es jetzt.«
Völlig unbeeindruckt von der Reaktion blieb Manfred vor ihm stehen.
»Das wirst du bei mir nicht finden. Glaubst du wirklich, dass du deine Probleme damit löst? Das hat es doch bis jetzt auch nicht geschafft. Denke einmal daran, wie oft du nach einer Sauftour morgens aufgewacht bist und neben einem schweren Schädel etwas Entscheidendes vorgefunden hast ... dein altes Problem. Es war nicht mit den Mengen an Alkohol weggespült worden, hat sich nicht in Luft aufgelöst. Nein, es hat dich sofort wieder am Hals gefasst und dich durchgeschüttelt. Es hat dich angeschrien: Ich bin wieder da, mein Freund!
Ich kenne das zur Genüge, ich war selber davon abhängig. Die Geißel Alkohol hatte auch mich gepackt und hat mich ausgelacht, wenn es mir nach einer durchzechten Nacht wirklich Scheiße ging.«
Während er sprach, bückte er sich und suchte die Glasscherben zusammen. Über ihm stand ein weinender Mann, der die Hände zu Fäusten geballt hatte. Sein Körper bebte, da ihn die spontane Erregung mitgerissen hatte. Manfred legte die Scherben behutsam auf die Fensterbank und führte Peter zurück zum Sessel. Dessen Blick war in die Ferne gerichtet, er befand sich in einer Welt, die keinen Zutritt durch andere erlaubte. Manfred versuchte es trotzdem und erzählte weiter.
»Am Anfang war ich zweimal pro Woche richtig dicht, dann wurde es zur täglichen Gewohnheit. Immer mehr, immer öfter. Dann hat mich ein Freund in den Hintern getreten und mich einen Feigling, einen Versager genannt, der sich seiner Verantwortung nicht stellen würde. Ich hatte meine Frau mittlerweile verloren, meine Tochter wollte mich nicht mehr kennen, ich war in der Hölle. Den Teufel hörte ich lachen, wenn ich nur noch lallen konnte. Ja, er hat mich ausgelacht. Der Satan selbst hat in mir ein Feuer entfacht. Ich wollte meine Frau und mein Kind zurück, um jeden Preis. Und dann, mein lieber Freund, bin ich den Weg durch die Hölle angetreten, habe den Schnaps ins Klo geschüttet und wie ein Tier gelitten. Aber es hat sich gelohnt. Wir treffen uns wieder häufiger, und ich darf wieder meine Tochter in den Arm nehmen. Das Martyrium hat sich ausgezahlt.«
Manfred hatte erst das Gefühl, dass er sein Gegenüber nicht erreicht hätte, als er die leise gesprochenen Worte vernahm.
»Vera will mich nicht sehen. Sie hasst mich.«
Irritiert sah Manfred auf.
»Moment, ich verstehe nicht ganz. Du hast mir doch vor wenigen Augenblicken erzählt, dass Vera dir keine Schuld gegeben hat. Warum plötzlich diese Wandlung?«
Peter legte den Kopf zurück und starrte an die Decke.
»Mich ließ dieser Unfall einfach nicht los. Jede Nacht, manchmal sogar tagsüber sah ich die schrecklichen Bilder wieder vor mir. Ich sah meinen Jungen blutend auf dem Rücksitz, sah die Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht. Immer wieder hörte ich das Kreischen von Metall, als sich mein Wagen in den LKW bohrte. Die Szene wiederholte sich immer wieder.«
Die Worte hatte er ruhig, in einem monotonen Tonfall in den Raum gesprochen. Manfred hatte den Eindruck, als sähe Peter gerade in diesem Augenblick wieder das Geschehene.
»Hat Vera dir nicht geholfen, dir in diesen Augenblicken beigestanden?«
Peter reagierte erst nach einigen Augenblicken des Schweigens.