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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-008-0
Eva Durham strich sich mit einer unendlich müde wirkenden Geste das Haar aus der Stirn und warf ihrem Mann einen verständnislosen Blick zu.
Er war das, was man unter einem ausgesprochen schönen Mann versteht – schlank, ohne mager zu wirken. Sein tiefschwarzes Haar kräuselte sich, seine Haut war straff und gebräunt, seine Haltung war stolz und aufrecht. Pablo Durham war ein Mann, nach dem sich die Frauen umzudrehen pflegten, weil er so phantastisch aussah. Daß sich hinter dieser makellosen Fassade ein Mensch verbarg, der an Egoismus und Herrschsucht nicht mehr zu überbieten war, wußte niemand – außer ihr natürlich. Schließlich war sie seine Frau und kannte ihn besser als irgendein anderer Mensch.
Pablo war Argentinier und gehörte zum Stab des argentinischen Konsulats. Er hoffte, bald selbst Konsul zu werden, denn seit fast einem Jahr vertrat er den argentinischen Konsul, der sehr krank war und sicher bald wegen seines lädierten Gesundheitszustandes in den Ruhestand gehen würde.
Er hatte sich auf einer offiziellen Party in die reizende blondhaarige Eva Warner verliebt. Sie war Studentin gewesen und hatte sich etwas dazuverdient, indem sie bei Anlässen wie diesem dolmetschte. Auch ihr war der gutaussehende Argentinier, der ausgezeichnet Deutsch sprach, aufgefallen. Sie war geschmeichelt, weil er ihr zeigte, daß er sich in höchstem Maße für sie interessierte. Schon ein paar Monate später waren sie verheiratet gewesen. Eva war sich wie im siebten Himmel vorgekommen, denn Pablo verwöhnte sie maßlos. Der einzige bittere Teil ihrer Ehe war Pablos Mutter gewesen. Sie lebte in Buenos Aires auf dem vornehmen Landsitz der Durhams und führte dort ein Regiment, wie es wohl vor hundert Jahren üblich gewesen sein mochte. Mercedes Durham hielt alle Fäden in der Hand und feuerte jeden, der wagte, ihr zu widersprechen. Sie war die absolute Herrscherin, vor der man sich neigte, die man aber nicht liebte oder gar verehrte.
Als Pablo und Eva ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest in Buenos Aires verbrachten, hatte sich herausgestellt, daß Eva und Mercedes einander zwar nicht gerade haßten, sich aber auch nicht besonders sympathisch waren. Mercedes ließ durch mehr oder weniger geschickte Andeutungen spüren, daß sie nicht gerade begeistert von ihrer deutschen Schwiegertochter war. Sie erzählte immer wieder, welch ungeheure Chancen Pablo gehabt hätte, in die oder jene bekannte argentinische Familie einzuheiraten. Ja, man hätte ihn sogar mit Kußhand als Schwiegersohn akzeptiert. Und nun stieß er alle seine Landsleute vor den Kopf und hatte sich für eine kleine, unbekannte deutsche Studentin entschieden, die allein auf der Welt stand und nicht einmal den Nachweis erbringen konnte, daß sie einer angesehenen Familie entstammte. Zuerst hatte Eva das amüsiert, aber dann fühlte sie sich zurückgesetzt und minderwertig gemacht. Als sie sich deswegen einmal schüchtern bei Pablo beschwert hatte, hatte er sie nur lächelnd in die Arme gezogen und erklärt: »Wozu regst du dich auf, mi amor? Ich bin ihr einziges Kind, und nichts und niemand wäre ihr gut genug für mich gewesen. Laß dich nicht beirren, mein Liebes. Schließlich und endlich bist du ja nicht mit ihr verheiratet, sondern mit mir. Sie bleibt in Argentinien, wenn wir wieder nach Deutschland zurückkehren. Drück also Augen und Ohren zu, ich bitte dich.«
Das hatte Eva dann auch getan. Sie hatte Augen und Ohren ganz fest zugedrückt und nicht ein einziges Mal dem Wunsch nachgegeben, ihrer stolzen und hartherzigen Schwiegermutter die Meinung zu sagen. Heute war sie überzeugt davon, es sei besser gewesen, ihr von Anfang an klarzumachen, daß sie keinerlei Einmischung in ihre persönlichen Belange dulden werde. Aber das heute nachzuholen, dazu war es viel zu spät. Außerdem hatte Pablos Benehmen sich ihr gegenüber auch sehr verändert. Er konnte ihr immer noch nicht verzeihen, daß sie ihm keinen Sohn, sondern »nur« eine Tochter geschenkt hatte. Daß er die kleine, jetzt vierjährige Jasmina abgöttisch liebte, spielte dabei keine Rolle. Sie war und blieb ein Mädchen. Ein echter Mann aber mußte einen Sohn haben, der seinem Besitz einmal vorstand und seinen Namen weitergeben würde, damit das stolze Geschlecht der Durham weiterbestehen konnte.
Im Augenblick jedoch sah es keineswegs so aus, als wenn sich noch ein Sohn einstellen würde, denn Pablo und Eva hatten sich so entfremdet, daß sie nur noch nebeneinanderher lebten. Eva wußte, daß Pablo sie nach Strich und Faden betrog – aber das störte sie nicht. Sie war zufrieden, daß er sie in Ruhe ließ. Einmal hatte sie ihm die Scheidung angeboten. Er hatte nichts darauf erwidert, sondern sie nur auf eine Weise angesehen, die deutlicher war als alle Worte. Er brauchte gar nicht mehr zu betonen, daß eine Scheidung für ihn nicht in Frage kam.
Und jetzt das!
Aber diesmal hatte Pablo sich getäuscht, wenn er sich einbildete, sie würde zustimmen. Das würde sie ganz bestimmt nicht tun. Sie würde kämpfen.
Eva wappnete sich mit allem Stolz, der ihr zur Verfügung stand, und richtete sich hoch auf. Dann sagte sie schneidend und ironisch: »Ich nehme an, das sollte ein schlechter Scherz sein, Pablo.«
»Wie kommst du denn darauf?« Er warf ihr einen beinahe mitleidig zu nennenden Blick zu. »Dinge, die mit Jasmina zusammenhängen, meine ich nie scherzhaft. Ich habe es nun einmal so beschlossen.«
»Meinst du nicht, daß ich da auch noch ein Wörtchen mitzureden habe? Schließlich bin ich Jasminas Mutter. Hast du das vergessen?«
»Warum dramatisierst du das alles? Das ist in unserer Familie so üblich. Ich denke nicht daran, mich dagegenzustellen.«
»Das kannst du halten, wie du willst, Pablo. Du darfst nur nicht erwarten, daß ich mich von Jasmina trennen werde, damit deine Mutter sie erzieht. Ich bin ihre Mutter, ich, ich! Und ich werde dir beweisen, wozu ich fähig bin, wenn du versuchen solltest, mich von meinem Kinde zu trennen. Ich werde sie erziehen, wie es hier üblich ist. Und dazu brauche ich deine Mutter nicht. Jasmina braucht Liebe und Nestwärme, um zu einem lebenstüchtigen und lebensbejahenden Menschen heranwachsen zu können. Das alles bekommt sie von mir – und nicht von ihrer Großmutter, die sie kaum kennt, und vor der sie Angst hat, weil sie nicht daran gewöhnt ist, mit so herrschsüchtigen Menschen zusammen zu sein.«
Pablo schob die Hände in das helle Jackett und ging durch das große Wohnzimmer auf Eva zu, blieb dicht vor ihr stehen und betrachtete sie mit ausgesprochen lüsternen Blicken.
»Fast hatte ich schon vergessen, wie schön meine Frau ist«, murmelte er und beugte sich zu ihr. Geschickt wich sie ihm aus und hob abwehrend die Hände.
»O nein, Pablo, so haben wir nicht gewettet. Versuche es also nicht auf diese Tour. Das funktioniert nicht mehr, seit ich weiß, daß du keine Gelegenheit ausläßt, dich mit anderen Frauen zu – amüsieren.«
Das ernüchterte ihn augenblicklich. Sein hübsches Gesicht verfinsterte sich.
»Ich weiß nicht, was du willst. Es liegt schließlich in der Natur eines Mannes, jede Chance, die sich ihm bietet, wahrzunehmen.«
»Mag sein, daß man in Argentinien so darüber denkt. Hier aber nicht. Und ich denke schon gar nicht so darüber. Aber darüber brauchen wir uns nicht mehr zu unterhalten, das führt zu nichts. Nimm zur Kenntnis, daß ich nicht dulden werde, daß deine Mutter Jasmina erzieht. Auf gar keinen Fall.«
»Wir werden sehen, meine Liebe. In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«
Damit streifte Pablo sie mit einem vernichtenden Blick und verließ den hohen Raum. Eva stand mit hängenden Armen da und schaute auf die Tür, die er unbeherrscht hinter sich zugeschlagen hatte.
Er wird mir immer unerträglicher, dachte sie. Bisher habe ich mich nicht sonderlich gewehrt, aber wenn er wirklich versuchen sollte, mir Jasmina zu nehmen, werde ich ihn mit dem Kind verlassen.
Es war, als verleihe dieser Entschluß ihr neue Kraft. Eva atmete tief durch und warf den Kopf nach hinten.
Pablo würde sich wundern, welche Kraft sie entwickeln konnte, wenn es um Jasmina ging…
*
Pablo Durham liebte es sehr, wenn man ihn mit »Herr Konsul« anredete. Zwar war er nur Vize, aber er versah das Amt des Konsuls nun schon seit vielen Monaten und hatte sich so gut eingearbeitet, daß es für seine Begriffe eigentlich nicht mehr als recht und billig war, wenn man ihn weiterhin so anredete.
Heute bedeutete es regelrecht Balsam für seine Seele. Er war immer regelrecht geschockt, wenn Eva ihm deutlich zeigte, daß sie ihn ablehnte. Ihn, Pablo Durham, nach dem alle Frauen wild waren, ihn lehnte die eigene Frau ab. Das verzieh er nicht. Wie konnte man etwas verzeihen, das man nicht begreifen konnte? Und daß ihn eine Frau ablehnte, begriff Pablo nicht. Das ging einfach über sein Fassungsvermögen. Es verunsicherte ihn und machte ihn zugleich auch schrecklich wütend.
Es wurde Zeit, daß Mama herkam und Jasmina abholte. Nichts ging mehr nach seinen Wünschen innerhalb der Familie. Er mußte Eva endlich deutlich zeigen, wer der Herr im Hause war. Sie sollte daheim bleiben, nicht mehr ihre Damenkaffees besuchen und auch keine Einkäufe mehr tätigen. Sie sollte nur noch daheim sein und ihn erwarten. Dann würde sie schon begreifen, daß er die Hauptrolle in ihrem Leben spielen wollte. Er würde sich ihre Liebe eben erzwingen, wenn sie sie ihm nicht freiwillig geben wollte.
Er sah auf die Uhr, rechnete sich die Zeitverschiebung aus und beschloß, gleich nach dem Abendessen in Buenos Aires anzurufen und mit seiner Mutter zu sprechen. Er würde es nicht mehr länger hinausschieben.
Eva hatte sich, als sie Pablo heiratete, von allen früheren Bekannten zurückgezogen, weil er eifersüchtig darauf bedacht war, daß sie ihre Zeit nur mit ihm verbrachte. Und so stand sie jetzt ziemlich einsam da. Sie hatte niemanden, mit dem sie ein vertrauliches Gespräch hätte führen, dem sie sich hätte anvertrauen können. Sie mußte alles mit sich allein ausmachen. Manchmal fühlte sie sich trotz der vielen Leute, die ständig um sie waren, sehr einsam und allein. Der Mensch braucht dann und wann einen anderen, dem er sich anvertrauen, mit dem er über Dinge reden kann, die einen tief innerlich berühren, mit denen man ohne den Rat und den Beistand eines guten Freundes kaum allein fertigzuwerden weiß.
All das hatte Eva nicht. Sie hatte es noch niemals so heftig vermißt wie eben jetzt. Aber da sie nicht der Mensch war, der sofort die Flinte ins Korn warf und beim ersten Widerstand aufgab, würde sie auch jetzt nicht die Flügel hängenlassen wie ein krankes Vögelchen, das keine Kraft hat, zu entfliehen. Sie würde kämpfen und sich und allen anderen beweisen, wie stark sie sein konnte!
Sie spielte, nachdem sie Jasmina aus dem Kindergarten abgeholt hatte, den ganzen Nachmittag mit dem Kind. Es war ein herziges Bild, Mutter und Tochter miteinander zu beobachten. Eva war blond und hellhäutig, während Jasmina das tiefschwarze Haar und den dunklen Teint ihres Vaters geerbt hatte. Aber sonst war sie Eva wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die gleichen grünblauen Augen wie ihre schöne Mutter, die gleichen schmalen Glieder und den gleichen Gesichtsausdruck. Alles, was an Eva hell war, erschien an ihrer kleinen Tochter dunkel. Und doch sah jeder auf den ersten Blick, daß es sich um Mutter und Tochter handelte. Und sie verstanden einander, hingen aneinander wie die Kletten und waren nur voneinander getrennt, wenn Jasmina morgens in den Kindergarten ging, zu dem Eva sie brachte und von wo sie sie auch wieder abholte. Dann lachten sie miteinander, und Jasmina erzählte in ihrer lebhaften Art, was sie alles gespielt und gesungen hatten.
Und das alles wollte Pablo ihr nehmen! Niemals! Niemals würde sie das dulden oder zugeben. Sie würde ihm und seiner herrschsüchtigen Mutter schon zeigen, zu was eine Mutter fähig sein konnte.
Pablo kam erst zum Abendessen in die Privatwohnung herüber. Er küßte Eva, weil sich das so eingebürgert hatte, auf die Stirn und lächelte ihr zu.
»Was macht Jasmina?« wollte er gewohnheitsmäßig wissen. Und Eva erwiderte in dem gleichen Ton: »Sie schläft bereits.«
Dann saßen sie einander gegenüber, durch den langen, schmalen Tisch getrennt. Pablo legte sich die Damastserviette auf die Knie und sagte wie beiläufig: »Kann ich damit rechnen, daß du deinen Standpunkt noch einmal überdacht hast, Eva?«
»Nein.« Nur das eine Wort sagte sie. Aber sie sprach es so bestimmt aus, daß Pablo fragend die linke Braue emporzog und sie ansah. Als sie sich nicht weiter äußerte, fragte er: »Wie soll ich das verstehen, meine Liebe?«
»Ist das nicht eindeutig?« erwiderte sie ruhig. Sie sah ihn aus großen Augen an. »Eine Mutter trennt sich nicht von ihrem Kind. Freiwillig schon gar nicht. Ich werde nicht meine Zustimmung dazu geben, daß man mir Jasmina fortnimmt, um sie in Südamerika nach völlig veralteten Traditionen zu erziehen.«
»Veraltete Traditionen? Sie haben etwas für sich, Eva. Meine Mutter ist ebenso erzogen worden. Und niemand kann behaupten, daß es schlecht gewesen ist.«
»Seit der Erziehung deiner Mutter sind schon einige Jahrzehnte ins Land gegangen, Pablo. Die Zeiten haben sich geändert, das kann selbst dir nicht verborgen geblieben sein.«
»Gleichgültig, wie du darüber denken magst – ich habe entschieden, daß Jasmina von Mutter erzogen wird und mit nach Buenos Aires geht.«
»Ich akzeptiere deine Entscheidung nicht!«
»Was würdest du dagegen unternehmen?« erkundigte er sich mit der Sicherheit eines Mannes, der gewohnt ist, daß alle seine Anordnungen sofort befolgt werden.
Eva spürte, daß er sie provozieren wollte, aber sie beherrschte sich, nahm sich eisern zusammen, wie sie es im Verlaufe der letzten fünf Jahre gelernt hatte. Sie brachte sogar ein freundliches Lächeln zustande, auf dessen Grund aber eine geradezu wilde Entschlossenheit zu lesen war.
»Das wirst du sicher zu gegebener Zeit feststellen können, mein lieber Pablo. Und jetzt entschuldige mich. Ich möchte gern den Film sehen, der nachher im Fernsehen kommt. Du hast sicher noch zu arbeiten, oder?«
Sie erhob sich. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als das gleiche zu tun und ihr die Tür zu öffnen, als sie hinausging. Aber am Ausdruck seiner Augen konnte Eva deutlich sehen, daß er zornig war.
Fast hätte sie gelacht, so fröhlich war sie plötzlich. Ja, sie gestand sich selbst ein, daß es sie freute, ihm getrotzt zu haben. Das wirst du jetzt öfter erleben, mein Lieber, nahm sie sich vor und ging hinüber in den kleinen Raum, den sie das Kabinett nannten. Hier stand ein großer Fernsehapparat, hier waren bequeme Sessel gruppiert um einen Tisch mit einer Marmorplatte. Sonst enthielt das Zimmer nichts, außer einem Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte, weil es Sommer war.
Es war noch zu früh, den Apparat einzuschalten. Eva saß ganz still in ihrem Sessel. Dann hörte sie, wie Pablo sein Arbeitszimmer aufsuchte. Und gleich darauf hörte sie, wie er sich an den Schreibtisch setzte. Nachdenklich schaute sie auf den weißen Fernsprechapparat, der auf dem Tisch stand. In jedem Raum befand sich ein Apparat. Eva beugte sich ein wenig nach vorn und nahm den Hörer ab, als sie merkte, daß die kleine rote Lampe aufglühte, die anzeigte, daß jemand telefonierte. Hoffentlich merkt er nicht, daß ich mithören will, dachte sie angespannt und schaltete mit der freien Hand den Fernseher ein, überlegte es sich aber wieder anders, weil sie fürchtete, man könne das hören, und schaltete ihn wieder aus.
Zuerst hörte sie nur das Knacken, als Pablo eine Nummer anwählte. Es war eine ziemlich lange Telefonnummer. Also rief er wahrscheinlich in Buenos Aires an. Jetzt war Eva nichts als gespannte Aufmerksamkeit. Wie gut, daß sie so gut Spanisch konnte. Es war für sie kein Problem, alles zu verstehen.
Jemand meldete sich am anderen Ende. Pablo, der Majordomo, wußte sie. Sekunden später hörte sie die energische Stimme ihrer Schwiegermutter, die sofort zärtlich wurde, als sie erkannte, wer sie da zu sprechen wünschte.
»Querido, du bist es!« sagte sie schmeichelnd. »Hast du mit deiner Frau gesprochen?«
»Das habe ich, Mutter. Du kannst dir vorstellen, daß Eva nicht einverstanden ist.«
»Ja – und? Hat eine Frau auch etwas zu sagen, wenn der Mann etwas bestimmt hat? Wann also kann ich kommen und Jasmina mit mir nach Buenos Aires nehmen?«
»Wann immer du willst, Mutter. Je eher, desto besser. Desto schneller wird auch das Kind sich an dich und die veränderte Umgebung gewöhnen.«
»Das soll das kleinste Übel sein. Man kann den Willen eines vierjährigen kleinen Mädchens brechen. Ich kenne da verschiedene Mittel.« Mercedes Durham lachte.
Eva mußte an sich halten, um nicht laut aufzuschreien vor Entsetzen. Vorsichtig legte sie den Hörer auf und schaltete den Fernseher ein. Sie mußte nachdenken. Viel Zeit zum Handeln blieb ihr ohnehin nicht mehr. Wie sie ihre Schwiegermutter kannte, würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis sie plötzlich vor der Tür stand…
Als Pablo sich wenig später zu seiner Frau gesellte, beachtete sie ihn gar nicht. Es sah so aus, als sei sie von dem Film völlig gefesselt. In Wirklichkeit hatte sie keine Ahnung, was sich da auf dem Bildschirm abspielte. Sie dachte angestrengt darüber nach, ob das, was sie vorhatte, sich auch ausführen lassen würde. Morgen schon? Oder sollte sie noch einen oder zwei Tage warten? Sie entschied sich, nicht mehr länger zu warten. Je eher sie und Jasmina in Sicherheit waren, desto besser. Sie würden eh vorher nicht zur Ruhe kommen, denn Eva war sich völlig klar darüber, daß Pablo alle Hebel in Bewegung setzen würde, sie ausfindig zu machen und sich Jasminas, wenn es sein müßte, mit Gewalt zu bemächtigen.
Pablo schlief schon längst, als Eva sich erhob und ein Schlafmittel nahm, um wenigstens ein paar Stunden Ruhe zu haben, ehe sie sich an die Ausführung ihres Planes machen konnte.
Am nächsten Morgen war alles wie immer. Jasmina saß mit am Frühstückstisch, verhielt sich ruhig und gesittet und küßte ihren Papa, als er bedauernd erklärte, er müsse nun in sein Büro hinübergehen, um zu arbeiten.
»Wir nehmen Teddy und Marielou mit, Jasmina, wenn ich dich gleich in den Kindergarten bringe«, schlug Eva vor und fuhr lachend fort, als das Kind sie fragend ansah: »Findest du nicht auch, daß sie ruhig mal wieder eine kleine Autofahrt verdient haben?«
»Stimmt!« entschied Jasmina. Und schon wenige Augenblicke später saß sie mit dem Teddy und der Puppe Marielou in Evas Golf und küßte Puppe und Teddy zärtlich, als sie aussteigen mußte.
»Ich hole dich heute ein kleines bißchen früher ab, Liebling. Ich muß nur noch ein paar Besorgungen machen.«
»Ist gut, Mami«, rief Jasmina und lief mit den anderen Kindern davon. Eva sah ihr nach und dachte bei sich: Ja, es ist richtig, wie ich mich entschieden habe. Niemand hat das Recht, mir mein Kind fortzunehmen, am allerwenigsten, um es irgendwo in Südamerika nach längst veralteten und völlig unpraktischen Regeln zu erziehen, so daß es kein selbständiger Mensch werden kann, weil es immer nur unterdrückt wird. Niemand wird mich je von Jasmina trennen, auch Pablo nicht, ganz besonders er nicht!
Eva spürte, wie eine große Ruhe sie überkam. Sie hatte sich alles genau überlegt und wußte, wie sie vorgehen mußte, damit Pablo sie nicht allzu schnell auffinden konnte. Sie fuhr mit ihrem Golf zu mehreren Geschäften und kaufte dort für sich und Jasmina ein. Zuletzt fuhr sie zur Bank und löste ihr Konto auf. Hob alles, was sich darauf befand, ab und atmete tief ein, als sie sich klarmachte, daß es sich nicht um Pablos Geld handelte, sondern um ihr eigenes, das sie vor einigen Jahren von einer entfernten Verwandten geerbt hatte. Sie nahm nur eine größere Summe mit sich und bat die Bankangestellte, den Rest des Geldes für sie bereitzuhalten, bis sie sich meldete, damit man es ihr auf ein anderes Geldinstitut überweisen könne.
Als sie endlich alles erledigt hatte, fuhr sie zum Kindergarten zurück und wartete noch eine Viertelstunde, bis die Kinder kamen. Jasmina stieg fröhlich bei ihr ein und sagte aufgeregt: »Fein, daß du Teddy und Marielou ein wenig herumgefahren hast, Mami. Was tun wir jetzt?«
»Jetzt? Oh, ich dachte, jetzt könnten wir ein wenig verreisen. Wie wäre es mit der Lüneburger Heide? Nur du und ich?« lockte sie lächelnd, obwohl ihr das Herz plötzlich doch schwer werden wollte. Eine endgültige Trennung ist doch nicht so leicht herbeizuführen, wie man sich das vorher vorstellen mag…
»Und Papa? Wird er mit uns kommen?« fragte Jasmina mißtrauisch. Eva lachte, obwohl ihr eher nach Weinen zumute gewesen wäre.
»Papa? O nein, Liebling, er hat keine Zeit. Ich wollte nur mit dir allein fahren. Und mit Teddy und Marielou natürlich«, setzte sie hinzu. Jasmina nickte ernsthaft.
»Fein, Mami. Mit dir fahre ich sehr gern.«
»Wir lassen unser Auto auf dem großen Parkplatz einfach stehen. Dann nehmen wir uns ein Taxi zum Bahnhof und fahren mit dem Zug in die Lüneburger Heide. Und wo es uns gefällt, da bleiben wir.«
Jasmina war mit allem einverstanden. Für sie war das alles nur ein großes Abenteuer. Und es war um so schöner, weil sie es mit Mami gemeinsam erleben durfte.
*
Dr. Hanna Martens atmete tief die würzige Luft ein. Sie hatte einen langen Spaziergang gemacht und fühlte sich frisch und wie erneuert. Für sie gab es nirgendwo bessere und gesundere Luft als hier, mitten in der Heide. Andere zogen sich zurück, wenn sie einen besonders anstrengenden Tag hinter sich hatten, legten die Beine hoch und bildeten sich ein, ihren Feierabend auf diese Weise besonders genießen zu können.
Nicht so die junge Ärztin. Wenn Hanna einen besonders anstrengenden Tag hinter sich gebracht hatte, an dem vielleicht besonders viele Operationen vorgenommen werden mußten, konnte sie sich am besten in der Lüneburger Heide erholen, dort, wo die Heide schon ans Moor grenzte und man noch Tiere sah, die anderswo längst ausgestorben waren, weil der Mensch keine Rücksicht auf die Natur nahm und nur an seinen eigenen Profit dachte.
Sie hatte die Klinik noch nicht ganz erreicht, als ein Taxi neben ihr anhielt. Drinnen saßen eine junge, schöne blondhaarige Frau mit einem kleinen, liebreizenden Mädchen, das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, aber schwarze Locken hatte.
»Ach bitte – Sie sehen so aus, als wenn Sie sich hier auskennen. Ich suche einen Gasthof oder ein Hotel. Wir sind mit dem Taxi hergekommen und…«
»Fahren Sie noch zwei oder drei Kilometer bis Ögela, bis in den Ort. Dort finden Sie nette, gemütliche Gasthäuser. Dies hier ist kein Hotel, wie Sie sicher angenommen haben. Dies ist die Kinderklinik Birkenhain.«
Eva lächelte verlegen und erwiderte ehrlich: »Ich habe wirklich geglaubt, daß das hier ein Hotel ist. Unser Fahrer wußte wohl auch nicht Bescheid, denn wir sind mit dem Taxi von Soltau aus hergekommen.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Sie können hier wundervolle Spaziergänge unternehmen. Das ist wohltuender, als man annehmen sollte.«
Eva bedankte sich noch einmal. Das Taxi fuhr an. Hanna Martens sah dem sich entfernenden Wagen nach. Eine schöne Frau, offensichtlich in sehr guten Verhältnissen lebend. Aber traurig, sehr, sehr traurig, folgerte sie, als sie das Innere der Klinik betrat. Ich habe selten einen Menschen mit so traurigen Augen gesehen.
*
Zwei Tage später begegnete Hanna Martens der schönen, jungen blonden Frau mit dem kleinen schwarzhaarigen Mädchen wieder. Sie gingen Hand in Hand durch die Heide. Hanna blieb unwillkürlich stehen. Und Eva ebenfalls. Sie lachte Hanna an.
»Haben Sie einen Gasthof gefunden?« erkundigte sich Hanna freundlich. Eva nickte.
»Ja, einen sehr guten sogar. Wir haben ein sehr schönes, freundliches Zimmer in der ›Post‹ bekommen. Es gefällt uns hier so gut, daß wir beschlossen haben, hierzubleiben. Jetzt suche ich nach einem Haus, das wir mieten oder kaufen können. Jasmina und ich möchten nicht mehr fort von hier.«
»Das kann ich sehr gut verstehen. Und wenn Sie ungebunden sind, steht dem Hierbleiben ja auch nichts im Wege.« Hanna ging langsam neben Eva her, während Jasmina vor ihnen herlief und Blumen und Beeren pflückte und nicht auf ihre Unterhaltung achtete.
Hanna erschrak, als sie sah, wie Evas Gesicht sich verändert hatte. Es war plötzlich blaß und verhärmt, als sie hervorstieß: »So ungebunden, wie Sie glauben, bin ich nicht. Noch nicht. Aber ich bin auf dem besten Wege, es zu werden.«
»Verzeihen Sie!« Hanna war ehrlich zerknirscht. »Ich wollte Ihnen mit dieser Bemerkung nicht zu nahe treten. Ich habe nur…«
»Schon gut, ich weiß, daß Sie mir nicht wehtun wollten. Es tut auch nicht mehr weh, an meinen Mann zu denken. Ich – die Liebe zu ihm war schon gestorben, als er versuchte, mir Jasmina zu nehmen.«
Hanna schwieg. Sie spürte, daß diese junge Frau nur darauf wartete, sich aussprechen zu können. Und dann kam es auch schon, beinahe wie ein Sturzbach. Eva erzählte, wie sie Pablo, diesen bestechend aussehenden, charmanten Herzensbrecher Pablo, kennen- und liebengelernt hatte, wie schnell sie mit ihm verheiratet war.
»Ich sah in ihm nur den gutaussehenden, geistreichen Mann, den höflichen, wohlerzogenen Kavalier, wie man ihn heutzutage kaum noch findet. Pablo war einfach unbeschreiblich, himmlisch, zärtlich, einfühlsam. Aber ich mußte auch erkennen, daß er ein typischer Südländer ist. Er verlangt von seiner Frau absoluten Gehorsam, fast bis zur Selbstaufgabe. Sein despotisches Verhalten besserte sich ein wenig, als ich Jasmina erwartete. Es war für Pablo ein schwerer Schlag, daß ich ein Mädchen und keinen Jungen geboren hatte. Aber er hing und hängt mit abgöttischer Liebe an Jasmina.«
»Das ist auch nur zu verständlich, denn sie ist ein reizendes kleines Ding. Aber Sie sagten, Ihr Mann wolle Ihnen Ihre Tochter nehmen?« erinnerte Hanna sie an ihre vorherige Bemerkung.
»Ja«, griff Eva das Thema erregt wieder auf. »Ja, stellen Sie sich nur vor – er bildet sich tatsächlich ein, daß nur seine Mutter in Buenos Aires Jasmina erziehen kann. Ich weiß, wie diese Erziehung aussieht. Jasmina darf niemals einen eigenen Willen haben, darf niemals ihre wahre Meinung äußern. Sie hat einfach nur schön zu sein, muß ein wenig singen und Klavier spielen können, eine gute Figur zu Pferde machen und kleine, nutzlose Brokatdeckchen sticken können. Mit einem Wort – sie soll zu einer seelenlosen Puppe gemacht werden. Sie soll erzogen werden wie zur Jahrhundertwende, weil das in den reichen und prominenten Familien Argentiniens heute noch so Sitte ist. Und dagegen wehre ich mich natürlich. Ich habe Pablo schon mehrmals die Scheidung angeboten. Das Resultat war, daß meine Freiheit noch mehr beschränkt wurde. Als ich dann ein Telefongespräch belauschte, in dem Pablo seine Mutter bat, nach Deutschland zu kommen und Jasmina abzuholen, bin ich mit Jasmina geflohen. Ich bin in meinem eigenen Wagen fortgefahren, habe ihn aber dann auf einem öffentlichen Parkplatz stehenlassen, damit man ihn findet. Die Papiere und Schlüssel habe ich Pablo durch einen Taxifahrer bringen lassen.«
»Wird er Sie nicht suchen?« gab Hanna erschüttert zu bedenken. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann so grausam sein konnte zu der Frau, die er doch zu lieben vorgab.
»Ganz bestimmt wird er das. Er wird mich zwingen wollen, ihm Jasmina zu geben. Und das werde ich niemals tun, niemals, solange ich lebe.«
»Wir leben in einem Rechtsstaat, Frau Durham«, gab Hanna ruhig zu bedenken. »Hier kann kein Mensch zu etwas gezwungen werden, was ihm nicht zuzumuten ist, weil es widersinnig ist. Und es ist absolut widersinnig, einer Mutter ihr Kind fortzunehmen, um es von der Großmutter nach alten Sitten aufziehen zu lassen.«
»Da kennen Sie Pablo schlecht. Ich weiß, daß er irgendwie herausbekommen wird, wo wir uns aufhalten. Und dann wird er alle Hebel in Bewegung setzen, Jasmina zurückzubekommen. Ob mit mir oder ohne mich, spielt dann keine Rolle mehr für ihn. Er will sich nicht scheiden lassen – aber was eheliche Treue ist, davon hat er auch keine Ahnung.«
»Schlimmstenfalls könnten Sie immer noch zur Polizei gehen und…«
»Eben nicht. Es ist ja noch keine Straftat vorgefallen. Erst, wenn etwas geschehen ist, kann ich die Polizei einschalten. Vorher nicht.«
»Aber – es gibt doch so etwas wie Personenschutz und…«
»Ja, mein Mann hat seine Leibwächter. Aber ich nicht. Ich bin für seinen Staat nicht wichtig, weil ich nur eine Zivilperson bin, die noch nicht einmal die argentinische Staatsbürgerschaft hat. Jasmina ist eine halbe Argentinierin. Aber das genügt auch noch nicht. Nur, wenn Pablo Schutz beantragen würde für Jasmina, meine ich, dann würde es funktionieren. Aber gerade das will ich ja nicht. Das will ich ja vermeiden.«
»Ja, das verstehe ich. Ich wollte, ich könnte Sie beruhigen und Ihnen helfen. Aber ich sehe da leider auch keine Möglichkeit.«
»Es hat mir schon sehr geholfen, Frau Dr. Martens, daß Sie mir zugehört haben. Sie glauben nicht, wie sehr. Ich würde mich freuen, wenn wir uns öfter auf unseren Spaziergängen treffen könnten.«
»Nicht nur auf unseren Spaziergängen, Frau Durham. Wenn Ihnen danach ist, rufen Sie mich einfach in der Klinik Birkenhain an. Dann können wir uns miteinander verabreden. Wir haben übrigens einen Kindergarten in der Klinik. Überlegen Sie, ob Sie Jasmina nicht dorthin schicken wollen.«
»Das will ich gern tun. Es ist eine ausgezeichnete Idee. In der Zeit, die Jasmina im Kindergarten verbringt, kann ich mich um eine endgültige Bleibe für uns bemühen.«
»Rufen Sie mich einfach an. Dann gehe ich mit Ihnen zum Kindergarten hinab und sorge dafür, daß Jasmina noch einen Platz bekommt. Ständige Zöglinge sind eigentlich nicht üblich bei uns. Aber wir machen schon mal Ausnahmen. Und in Ihrem Fall ganz bestimmt.«
»Danke. Sie wissen ja nicht, wie unendlich dankbar ich Ihnen bin!« Eva sah Hanna erleichtert an. Und Hanna spürte wieder einmal diese tiefe, warme Freude in sich, wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, jemandem entscheidend geholfen zu haben.
Sie gingen noch ein Stück miteinander, ehe Hanna sich verabschiedete, weil sie in eine andere Richtung mußte als Eva. Aber sie wußten beide, daß zwischen ihnen eine Freundschaft entstanden war. Einfach nur so, und weil sie einander so sympathisch fanden…
*
Als sich sein kleiner Sohn plötzlich krümmte und schmerzlich aufschrie, blieb Manfred Dankwart erschreckt stehen und legte die Hand auf Peters Schulter.
»Was ist los? Hast du Schmerzen?« wollte er wissen. Peter sah seinen Vater aus veilchenblauen Augen, in denen noch Angst stand, an.
»Ich dachte, es zerreißt mich, Vati. Jetzt ist es wieder vorbei. Aber es waren schreckliche Schmerzen.«
Manfred Dankwart und sein siebenjähriger Sohn Peter befanden sich im Park, der zur Villa gehörte. Manfred Dankwart besaß eine große Wollspinnerei, und viele Leute aus Ögela waren bei ihm beschäftigt. Da er sehr viel für den Ort tat, nahm ihm niemand seinen Wohlstand übel. Ja, man wußte, daß es jedermann gut ging, solange es Manfred Dankwart gut ging. So einfach war das.
»Komm!« Mehr sagte Manfred nicht und nahm seinen Sohn einfach auf die Arme. »Das werden wir sofort untersuchen lassen. Mit so was darf man nicht leichtsinnig sein.«
Zwanzig Minuten später standen sie vor Hanna, die ihnen freundlich entgegensah.
Und genau in diesem Augenblick, da er ihr die Hand geben wollte, erfaßte Peter der Schmerz wieder so sehr, daß er nach Luft schnappen mußte und keinen Ton hervorbringen konnte.
»Aha!« sagte Hanna nur und deutete auf die Untersuchungsliege, sah Manfred Dankwart an und sagte ruhig: »Am besten, Sie legen ihn erst einmal dorthin, Herr Dankwart. Da kann ich ihn besser untersuchen.«
Geschickt öffnete Hanna ihm den Hosenbund, zog die Hose vorn auseinander, schob sie nach unten und sah auf die Bauchdecke. Dann begann sie vorsichtig zu tasten. Die Bauchdecke war hart und gespannt. Es dauerte nur etwa zwei Minuten, bis sie sagte: »Genau das habe ich vermutet. Blinddarmentzündung. Am besten, du bleibst gleich hier, Peter, damit wir den Störenfried morgen gleich herausnehmen können.«
»Sie – Sie – sind Sie sicher, daß Sie operieren müssen, Frau Dr. Martens?« fragte Manfred erschreckt. Es ist für jeden Menschen erschreckend, sich vorzustellen, daß da jemand den Bauch aufschneidet, etwas herausnimmt und den Bauch dann einfach wieder zunäht. Beinahe wie im Märchen vom bösen Wolf, dachte Manfred flüchtig. Hanna lächelte beruhigend zu ihm auf und sagte freundlich: »Ja, Herr Dankwart, ich bin meiner Sache ganz sicher. Es ist gut, daß Sie gleich hergekommen sind. So können wir Peter gleich hierbehalten und ihn schon auf die morgige Operation vorbereiten.«
Peter interessierte sich nur für eines: »Kriege ich dann auch so eine schöne Narbe wie Daniel?« wollte er wissen und sah Hanna gespannt an. Sie lachte und nickte ihm zu, als sie erwiderte: »Darauf kannst du dich aber verlassen. Daniel wird vor Neid erblassen, wenn du ihm deine schöne Blinddarmnarbe zeigst.«
Peter war beruhigt. Und Manfred mußte schmunzeln, ob er wollte oder nicht.
»Da kann ich ja froh sein, einen so tapferen Sohn zu haben«, bemerkte er und sah Peter voller Liebe an. Peter warf sich in die Brust. Nun, da der Bauch nicht mehr schmerzte, fühlte er sich unendlich stark.
»Daniel hat mir ganz genau gesagt, wie das geht. Man bekommt einen Pieks in den Arm und merkt dann gar nichts mehr. Und wenn man aufwacht, ist schon alles vorbei. Stimmt doch, oder?« wandte er sich an Hanna, die ihm zunickte und über den Blondschopf fuhr.
»Du hast völlig recht. Daniel hat dir die reine Wahrheit gesagt. Na, morgen kannst du das alles ja selbst feststellen, Peter. Und nun wird die Schwester mit dir und deinem Vater gehen und dir zeigen, wo du in den nächsten Tagen bleiben wirst, ja? Ich komme dann später noch einmal zu dir und sehe nach dir.«
»Ist gut«, sagte Peter und sah, wie Hanna nach dem Telefonhörer griff und ein paar Worte hineinsprach. Und schon ein paar Minuten später kam eine freundliche Schwester, deren Gesicht man ansehen konnte, daß sie gern und oft lachte. Sie ging auf Peter zu und reichte ihm die Hand.
»Ich bin Schwester Dorte. Und du bist Peter Dankwart, nicht wahr? Ich kenne dich noch von deinen Besuchen, als dein Freund Daniel hier gelegen hat.«
Lebhaft nickte Peter. Er erinnerte sich daran, daß Daniel ihm damals versichert hatte, man könne Schwester Dorte so lassen, wie sie war. Sie sei ganz prima und gar nicht zickig.
Hanna machte Schwester Dorte auch mit Manfred Dankwart bekannt und sagte dann freundlich: »Wenn Sie mögen, gehen Sie nur ruhig mit, Herr Dankwart. Dann wissen Sie auch gleich, wie Ihr kleiner Sohn untergebracht worden ist. Er wird sich ganz bestimmt wohl bei uns fühlen.«
Manfred bedankte sich bei Hanna und folgte Schwester Dorte und Peter. Der Junge machte nicht den Eindruck, als sei er ängstlich oder fürchte sich vor dem, was ihm bevorstand.
Manfred fühlte sich unsicher. Jetzt, da er Peter in die Klinik gebracht hatte, vermißte er schmerzlich seine Frau, die vor einigen Jahren ganz plötzlich an Leberzirrhose gestorben war, obwohl sie in ihrem Leben kaum einen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Er hatte sie ehrlich betrauert, aber mit der Zeit war der Schmerz ein wenig abgeklungen und nicht mehr so quälend. Aber er vermißte sie immer noch. Und jetzt ganz besonders…
*
Mercedes Durhams Maschine landete in Hamburg. Schon von weitem sah sie ihren Sohn. Und wieder war sie stolz und zärtlich zugleich, als sie sich sagte: Wie gut er aussieht. Und wie stolz und stark er wirkt.
Aber als sie näherkam, entdeckte sie noch einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie sich nicht erklären konnte. Endlich stand sie vor ihm und küßte ihn temperamentvoll auf beide Wangen.
»Da bin ich!« sagte sie einfach und strahlte ihn an. Pablo betrachtete seine Mutter. Mercedes Durham war immer noch eine schöne Frau, obwohl sich schon breite silbrige Strähnen durch ihr ehemals ebenholzschwarzes Haar zogen. Ihre Gesichtshaut war straff und beinahe faltenlos, wenn man davon absah, daß sie tiefe, strengwirkende Kerben um die Mundwinkel hatte.
Eine Stunde später hatte Mercedes Durham sich in ihrem Zimmer eingerichtet, ihre Sachen eingeräumt, was sie stets selbst tat, wenn sie sich auf Reisen befand und umkleidete. Zwar fand sie es äußerst lästig, all diese Dinge ohne Hilfe tun zu müssen aber sie mochte niemanden, den sie nicht kannte, an ihre Sachen lassen.
Pablo sah seine Mutter bewundernd an, als sie sich ihm gegenüber niederließ. Sie hatte immer noch eine perfekte Figur. Pablo wußte, daß sie darauf keine Rücksicht nahm. Es war eben ihre Rasse, dachte er stolz.
»Wo sind Eva und Jasmina?« wollte Mercedes wissen und schenkte den starken Kaffee ein, den der Butler serviert hatte. Er war Engländer und schrecklich vornehm, so daß jedermann ihn Lord nannte. Seinen richtigen Namen hatte man schon fast vergessen.
»Sie sind verschwunden, Mama.« Pablo sah seine Mutter scharf an. Aber sie schrie nicht auf, sondern beherrschte sich wieder so fabelhaft, wie nur sie es fertigbrachte. Sie zog nur eine Augenbraue empor und sagte nichts. Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»Ja, sie sind verschwunden, alle beide. Ich hatte mit Eva eine Auseinandersetzung. Sie weigert sich natürlich, Jasmina herzugeben, damit du sie erziehen kannst, im Sinne unserer Familie.«
»Spielt es denn eine Rolle, ob sie sich weigert oder nicht?« fragte Mercedes endlich erstaunt. »Hast du dich ihr gegenüber denn immer noch nicht völlig durchsetzen können?«
»Das glaubte ich zumindest, Mama. Sie hat mir bewiesen, daß das ein großer Irrtum von mir war. Sie hat Jasmina mit sich genommen und ist mit ihr verschwunden.«
»Man wird sie finden.« Mercedes sagte es voller Überzeugung.
»Natürlich wird man sie finden, Mama. Es fragt sich nur, wann das sein wird. Es ist eine Frage der Zeit. Eva ist eine sehr selbständige Frau, mußt du wissen. Sie weiß genau, was sie will und – was sie nicht will.«
»Es war falsch, sie zu heiraten, mein lieber Pablo, das siehst du hoffentlich endlich ein.«
»Und ob ich das einsehe, Mama! Ich habe es mir in den letzten Monaten selbst häufig eingestehen müssen. Aber sie ist nun einmal meine Frau, und das kann ich nicht ungeschehen machen.«
»Ich hatte dich vor ihr gewarnt, mein Sohn. Hoffentlich erinnerst du dich daran.«
»Natürlich erinnere ich mich daran, Mama.« Pablo wurde ungeduldig und ärgerlich. »Aber es nutzt doch nichts, wenn du mir das jetzt vorwirfst. Ich will zumindest Jasmina zurückhaben, damit ich sie von dir erziehen lassen kann. Außerdem ist Jasmina meine Tochter, und ich liebe sie über alles.«
»Und deine Frau? Was ist mit Eva? Liebst du sie auch über alles?« wollte Mercedes ohne Umschweife wissen. Pablo sah seine Mutter an und sagte aufrichtig: »Das weiß ich nicht, Mama. Ich begehre sie, aber ob ich sie auch liebe, kann ich nicht sagen.«
»Nun, das ist doch schon ein großer Vorteil!« Mercedes Durham sah sehr zufrieden aus. Sie gab es natürlich nicht einmal vor sich selbst zu – aber sie war ständig und stets eifersüchtig auf ihre schöne blonde Schwiegertochter gewesen. Wahrscheinlich mochte sie Eva aus diesem Grunde nicht. Gleichgültig, wie es war – sie würden Eva finden und ihr schon zeigen, daß sie zu gehorchen hatte.
»Erzähl mir alles, Pablo«, forderte sie ihn auf. »Ich möchte gern genau wissen, was und wie es sich ereignet hat.«
»Nun, da gibt es nicht sehr viel zu erzählen. Eva ist, wie immer, mit Jasmina losgefahren, um sie zum Kindergarten zu bringen. Daß sie mittags noch nicht zurück war, hat niemanden sonderlich aufgeregt, denn Eva blieb öfter in der Stadt und traf sich mit irgendwelchen Freunden, ging mit ihnen essen oder einkaufen. Und meistens war Jasmina dabei. Die beiden hängen sehr aneinander, wie du weißt.«
Da war es wieder, dieses rasende Gefühl der Eifersucht, gegen das Mercedes nicht ankommen konnte. Sie holte tief Atem und nickte. Pablo fuhr fort: »Aber am Abend waren sie immer noch nicht da. Und da spürte ich, daß Eva mich verlassen hatte, daß sie mich mit Jasmina verlassen hatte. Es war schrecklich. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und bin nur umhergerannt, habe mir die schlimmsten Sachen ausgemalt. Ich kann dir nicht sagen, wie ich in dieser schrecklichen Nacht gelitten habe, Mama.«
»Ich versuche gerade eben, es mir vorzustellen. Mein armer Junge! Du mußt wirklich schrecklich gelitten haben. Das ist etwas, was ich ihr nie verzeihen werde, daß sie dich so gequält hat. Das werde ich sie spüren lassen, Pablo, warte es nur ab!«