Der kleine Fürst – Jubiläumsbox 6 – 6er Jubiläumsbox

Der kleine Fürst
– Jubiläumsbox 6–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 28-33

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-948-0

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Schön, aber total durchgeknallt…

Ihr Herz will Charlotta auf keinen Fall verlieren!

Roman von Viola Maybach

»Charly, kannst du mir mal helfen, Eduard wieder einzufangen?«, rief Bernhard von Isebing einer Gestalt zu, die im Blaumann unter einem alten Auto lag, um es zu reparieren. »Er ist schon wieder abgehauen, und allein kriege ich ihn nicht.«

Ein Brummen antwortete ihm, dann schob sich eine schlanke junge Frau mit wilder blonder Lockenmähne unter dem Wagen hervor und sprang mit einem Satz auf die Füße. »Ich kriege ihn allein«, sagte sie und lief mit langen Schritten über den Hof des Familienguts. Der junge Hammel mit Namen Eduard hatte sich wieder einmal trickreich von der nahe gelegenen Weide entfernt – sie wussten noch immer nicht, warum er das so gerne tat und welches Schlupfloch er dafür benutzte. Mindestens zwei Mal pro Woche mussten sie ihn wieder einfangen. Das war ausgesprochen mühsam – nur wenn Charlotta sich einschaltete, ging es in der Regel ohne Probleme.

Bernhard folgte seiner jüngeren Schwester gemächlich. Gleich darauf schüttelte er lächelnd den Kopf: Sie hatte Eduard bereits erwischt, und es sah nun so aus, als führte sie mit ihm ein Tänzchen auf. Sie hielt ihn bei den Hörnern gepackt, er bockte, sie schob, aber schon jetzt war klar, wer gewinnen würde. Auch Eduard wusste das, und so gab er schließlich nach und ließ sich von Charlotta auf die Weide zurückbringen.

Mit einem eleganten Satz setzte sie über den Zaun und bedachte ihren Bruder mit einem breiten Lächeln. »Ich weiß wirklich nicht, warum ihr nicht mit ihm fertig werdet«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, erwiderte Bernhard nachdenklich. »Ich bin auf jeden Fall stärker als du, aber ich schwöre dir, dass er sich von mir keinen Zentimeter bewegen lässt, da kann ich machen, was ich will.«

Sie lachte hellauf. Es war ein überraschend weiblich klingendes Lachen, dachte Bernhard, das eigentlich gar nicht zu Charlotta passte. Nicht umsonst hieß sie in der Familie und bei ihren Freunden nur »Charly«. Ihre weiblichen Reize, von denen sie eine Menge besaß, versteckte sie am liebsten unter ihrer Lieblingsbekleidung: dem blauen Overall, den sie gerade trug, mit den derben Stiefeln und dem ölverschmierten T-Shirt.

Die Schule hatte sie nach der Mittleren Reife verlassen, weil es ihr dort nicht gefiel und sie ständig Ärger mit den Lehrern gehabt hatte. Danach hatte sie drei verschiedene Lehrstellen ausprobiert, aber nirgends war sie geblieben. Das war eine harte Zeit gewesen, sowohl für Charlotta als auch für die Eltern, die verlangt hatten, dass sie eine ordentliche Ausbildung machte. Die hatte sie bis heute nicht.

Aber sie arbeitete hart auf dem Gut, härter als mancher Mann, und sie selbst bezweifelte nicht, dass sie von allen sieben Geschwistern am ehesten das Zeug dazu hatte, das Gut eines Tages von den Eltern zu übernehmen. Sie konnte einen Motor ebenso reparieren wie einen Rasenmäher, sie kannte sich mit Schafen und Kühen aus, eine erstklassige Reiterin war sie sowieso, und selbst draußen auf den Feldern ließ sie sich von niemandem etwas vormachen. Doch ohne Ausbildung, das hatte ihr Vater ganz klar gesagt, würde er ihr keinerlei Verantwortung übertragen.

Bernhard war der älteste Sohn der Familie Isebing, und eigentlich war er damit der Gutserbe, aber seine Eltern wussten, dass er andere Wünsche hatte. Er half gern mit, wenn er zu Hause war, aber noch lieber kehrte er an die Universität und zu seinen Bücher zurück – er träumte von einer Laufbahn als Archäologe, was in der Familie für lebhaftes Erstaunen sorgte. Immerhin hatte er bereits eine Stelle als Dozent ergattert mit seinen knapp achtundzwanzig Jahren, und jetzt arbeitete er an seiner Promotion. »Die Hauptsache ist, dass ihr glücklich werdet«, hatte seine Mutter gesagt, und für diesen Satz liebte er sie noch mehr.

Charlotta riss ihn aus seinen Gedanken. »Es kommt doch nicht auf körperliche Kraft an«, bemerkte sie kopfschüttelnd. »Du musst ihm deinen Willen aufzwingen, Bernd. Er muss dich als Chef anerkennen, sonst macht er natürlich, was er will.«

»Aha, und wie mache ich das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du es nicht weißt, ich kann’s dir nicht erklären«, sagte sie. »Du, ich muss jetzt wieder an den Wagen gehen, sonst werde ich nicht fertig. Papa und ich wollen nachher noch auf den Viehmarkt…« Sie lief bereits zurück zu dem Auto, und gleich darauf war sie erneut darunter verschwunden, nur ihre langen Beine waren noch zu sehen.

Auch Bernhard machte sich wieder an die Arbeit – auf einem Gut gab es immer jede Menge zu tun. Er wohnte nicht mehr zu Hause, kam aber regelmäßig an den Wochenenden, weil er gern mit seinen Eltern und Geschwistern zusammen war und auch, weil ihm die körperliche Arbeit eine willkommene Abwechslung zu seinen Studien bot.

Nach einer weiteren Stunde rief Luise, die Haushälterin, die Familie zum Essen. Bernhard war sehr hungrig und beeilte sich daher, dem Ruf zu folgen. Charlotta jedoch rührte sich nicht, sie blieb unter ihrem Wagen liegen.

»Hast du Luise nicht gehört, Charly?«, fragte Bernhard.

»Zu überhören ist sie wahrhaftig nicht«, erklärte seine Schwester. »Ich komme nach, Bernd, gerade habe ich den Fehler gefunden, ich will jetzt nicht aufhören, sonst dauert es hinterher bloß länger.«

»Du weißt, dass vollzähliges Erscheinen bei den Mahlzeiten erwünscht ist.«

»Ich komme ja – nur ein paar Minuten später!« Charlottas Stimme klang jetzt gereizt, und so machte er sich ohne sie auf den Weg ins Haus.

»Wo ist Charly?«, fragte seine Mutter sofort.

»Sie liegt noch unter dem Wagen, Mama, aber sie kommt gleich, hat sie gesagt.«

Marianne von Isebing stieß resigniert die Luft aus. »Immer das Gleiche mit Charly!«, murmelte sie.

Bernd ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Nimm es locker, Mama. Die paar Minuten, die sie später kommt…«

Sie befreite sich unwillig aus der Umarmung. »Darum geht es doch gar nicht, Bernd! Und du musst sie nicht ständig in Schutz nehmen – Charly ist zwanzig, allmählich könnte sie erwachsen werden.«

»Aber das ist sie doch! Sie arbeitet hier auf dem Gut sehr verantwortungsbewusst…«

»Ja, und so sieht sie auch aus! Wie ein Gutsarbeiter! Man muss ja zweimal hinsehen, bis man erkennt, dass sie weiblichen Geschlechts ist. Wo soll denn das hinführen? Ich will nicht, dass meine hübsche Tochter als verbitterte, einsame alte Frau endet, nur weil sie jetzt denkt, dass sie niemanden braucht…«

»Du übertreibst, Mama. Wie du selbst gesagt hast: Sie ist zwanzig. Da hat sie wirklich noch viel Zeit.«

»Mag sein«, gab Marianne zu, und damit war das Gespräch erst einmal beendet, denn nun kamen aus allen Richtungen Mitglieder der großen Familie, um sich im Esszimmer um den langen Holztisch zu versammeln. Der Erste war Bernhards Vater Ludwig, der seine Frau im Vorbeigehen kurz umarmte und ihr einen Kuss auf die Nase drückte. Dann erschienen die Zwillinge Jan und Anja, wie immer in ein intensives Gespräch vertieft, so dass sie kaum Augen für ihre Umgebung hatten. Es folgte Thomas, mit seinen sechsundzwanzig Jahren der Zweitälteste – von seinen Geschwistern wurde er nur »das Großmaul« genannt, was durchaus passend war, von Thomas aber begreiflicherweise nicht gern gehört wurde. Die Nächste war Sara, ein zierliches Püppchen, das ganze Gegenteil ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Charlotta, denn Sara verbrachte sehr viel Zeit vor dem Spiegel und sorgte sich ständig darum, ob sie auch wohl gut aussah. Zum Schluss trudelte die tüchtige Stephanie ein, die gerade für ihre Prüfung zur medizinisch-technischen Assistentin büffelte.

»Wo ist Charly?«, fragte Ludwig Isebing seine Frau, als alle Platz genommen hatten.

»Unter einem Auto«, erklärte Marianne seufzend.

»Sie hat gesagt, sie kommt gleich«, setzte Bernhard hastig hinzu. »Sie hatte den Fehler gerade erst gefunden und meinte, wenn sie jetzt aufhört, kostet es hinterher nur mehr Zeit.«

Ludwig machte ein unzufriedenes Gesicht, ließ die Sache aber auf sich beruhen.

Es dauerte dann aber doch noch fast zwanzig Minuten, bis Charlotta erschien und sich mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihren Platz setzte.

»Wir sind schon beinahe fertig«, bemerkte Sara spitz. »Und wie du wieder aussiehst! Das ist ja eklig. Hast du dir überhaupt die Hände gewaschen?«

»Ja, habe ich, stell dir vor«, erwiderte Charlotta. »Es können ja nicht alle so geschniegelt und gebügelt herumlaufen wie du, dafür haben wir nämlich nicht genug Badezimmer. Wenn ich so lange Zeit brauchen würde wie du…«

»Kein Streit, bitte«, sagte Marianne. »Guten Appetit, Charly.«

»Danke, Mama.« Charly hatte ordentlich Hunger, und das sah und hörte man.

Marianne wollte eine sanfte Mahnung aussprechen, doch Sara kam ihr zuvor. »Du frisst wie ein Schwein!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Und wie du über dem Tisch hängst, also wirklich, man muss sich schämen, Charly.«

Charlotta sah auf, direkt in die Augen ihrer Mutter, und sofort riss sie sich zusammen. Sie richtete sich auf, nahm den Arm, den sie bis zum Ellenbogen auf der Tischplatte gelagert hatte, zur Seite und zwang sich, langsamer zu essen. Aber sie hatte noch so viel zu tun! Es drängte sie, so schnell wie möglich wieder nach draußen zu kommen, und sie war schon immer der Ansicht gewesen, dass Tischmanieren maßlos überschätzt wurden.

»Was war denn nun mit dem Auto?«, erkundigte sich Bernhard, um die Spannung zu vertreiben, die plötzlich spürbar geworden war.

Charlotta lächelte ihm dankbar zu und beantwortete die Frage ausführlich. Auch ihr Vater wollte noch einiges wissen, und so war die Stimmung bald wieder locker. Nur Sara hörte nicht auf, Charlotta vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen – denn »wie eine Dame« aß sie noch längst nicht, auch wenn sie jetzt gerade saß und das Essen nicht mehr in sich hineinschaufelte wie eine Wilde.

Die Zwillinge hatten sich um die Auseinandersetzung wie üblich nicht gekümmert, sie lebten in ihrer eigenen Welt, zu der die anderen nur begrenzten Zutritt hatten. Sie liebten ihre Familie über alles und hätten sich in Stücke reißen lassen für jeden, der dazu gehörte, aber sie nahmen eine Sonderstellung ein. Einer ihrer Lehrer hatte festgestellt, dass sie hochbegabt waren, und so waren sie, dank besonderer Förderung, mit ihren dreiundzwanzig Jahren bereits mit dem Studium fertig, und ihr erklärtes Ziel war der Nobelpreis in Physik. Niemand in der Familie zweifelte daran, dass sie das Ziel erreichen würden. Trotz ihrer Hochbegabung waren sie jedoch nicht lebensfremd, und wenn Not am Mann war, packten sie auf dem Gut ordentlich mit an. Am liebsten aber diskutierten sie über Probleme, die die anderen nicht einmal verstanden.

Charlotta hatte ihren Teller geleert, schob den Stuhl zurück und machte Anstalten aufzustehen, doch ihre Mutter hielt sie zurück. »Warte bitte, Charly, wir haben euch noch etwas zu sagen, Papa und ich.«

»Aber mach schnell, Mama«, drängte Charlotta. »Ich habe noch so viel zu tun.«

»Wir bekommen einen Gast«, erklärte Marianne. »Er heißt Armin von Thaden und wird zwei Wochen bleiben.«

»Zwei Wochen?«, fragte Thomas entgeistert. »Ein fremder Mensch? Was will der denn so lange hier?«

»Wir denken über eine geschäftliche Zusammenarbeit nach«, erklärte Ludwig seinem zweitältesten Sohn. »Ich kenne Armin von Thaden schon länger und finde, dass er außerordentlich interessante Ideen hat. Darüber hinaus ist er mir sympathisch. Es gibt einige Überschneidungen in dem, was wir machen, und darüber wollen wir in Ruhe reden.«

»Und wo soll er wohnen?«, erkundigte sich die praktische Stephanie. »Wir haben doch gar kein freies Zimmer. Ich meine, während der Woche kann er gern meins haben, aber an den Wochenenden, wenn wir hier einfallen…«

Sara unterbrach ihre ältere Schwester. »Wir haben wohl ein freies Zimmer«, bemerkte sie und schoss einen weiteren giftigen Blick auf Charlotta ab. »Wenn Charly nicht das eine Zimmer oben zu einer Rumpelkammer gemacht hätte.«

»Das ist keine Rumpelkammer, sondern eine Werkstatt«, fuhr Charlotta sie an. »Bisher hatte niemand etwas dagegen, dass ich das Zimmer nutze.«

»Das kannst du auch weiterhin tun, er kann hier unten schlafen, da ist Platz genug«, erklärte Marianne.

»Aber hier kommt er doch nicht zur Ruhe, Mama!«, meinte Stephanie. »Hier unten ist dauernd Betrieb. Alle Schlafzimmer sind oben…«

»Ihn stört es nicht, ich habe ihn gefragt«, sagte Marianne.

Charlotta stand auf. »Kann ich jetzt gehen?«

Ihre Mutter nickte ergeben, und im nächsten Augenblick polterte die junge Frau bereits aus dem Zimmer.

»Sie ist unmöglich!«, klagte Sara. »Wenn wir Besuch haben und sie benimmt sich so, muss man sich ja schämen!«

»Du übertreibst, wie immer, Sara«, bemerkte Stephanie ruhig. »Ich weiß wirklich nicht, warum du ständig auf Charly rumhacken

musst. Lass sie doch einfach mal in Ruhe.«

Zum allgemeinen Erstaunen stimmte Jan Stephanie zu. Bis eben hatte er noch leise mit Anja gesprochen, doch offenbar waren die Zwillinge dem Gespräch durchaus gefolgt. »Das finde ich auch, Sara!«, sagte er nachdrücklich. »Charly arbeitet für drei hier auf dem Gut, da musst du sie nicht dauernd angiften.«

Saras hübsches Gesicht wurde rot vor Empörung. »Ich habe nur gesagt, was ihr alle denkt!«, rief sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Charly sieht unmöglich aus, und sie benimmt sich unmöglich – im Dorf reden sie ja sogar schon über sie! Und nur weil ich ihre Schwester bin, darf ich das nicht sagen?« Sie sprang schluchzend auf. »Ich sage die Wahrheit, und ihr hackt auf mir herum!«, rief sie, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.

»Na, bravo«, sagte Thomas. »Da hätten wir ja endlich wieder einmal eine hübsche kleine Familienkrise. Was musstest du dich auch einmischen, Jan? Du machst doch sonst den Mund nie auf.«

Aber Jan hörte ihn schon nicht mehr, er diskutierte bereits wieder mit Anja.

»Sara wird sich bald wieder beruhigen«, stellte Ludwig gelassen fest. »Wie immer.«

»Wann kommt dieser Armin von Thaden denn?«, erkundigte sich Stephanie.

»Nächste Woche schon, wir waren beide der Ansicht, dass wir unsere Ideen möglichst bald ausführlich besprechen sollten.«

Als die Tafel aufgehoben war, bemerkte Marianne aus dem Augenwinkel, dass Jan ohne Anja nach oben ging – und dann hörte sie ihn an Saras Zimmer klopfen. Sie lächelte in sich hinein. Wenn es darauf ankam, hielten ihre Kinder zusammen, auch wenn es manchmal gewaltig krachte.

Gleich darauf kam Jan wieder herunter und lächelte seiner Mutter zu. »Alles wieder in Ordnung, Mama«, sagte er. »Komm, Anja, erklär mir noch mal genau, was du meinst…«

Sie sah ihnen nach, wie sie über den Hof gingen, Anja eifrig redend, Jan aufmerksam zuhörend. Ja, ihre sieben Kinder waren sehr unterschiedlich, aber sie liebte jedes einzelne von ihnen.

*

Baronin Sofia von Kant und ihr Mann, Baron Friedrich, saßen gemeinsam mit Helena von Isebing in ihrem schönsten Salon und tranken Tee miteinander. Die alte Dame sah sehr zerbrechlich aus, aber ihr lebhaftes Mienenspiel ließ diesen Eindruck immer wieder in Vergessenheit geraten.

»Ich bin froh, dass ich mich von Robert habe überreden lassen, euch wieder einmal zu besuchen«, sagte sie jetzt gerade. Robert Kahrmann war ihr Butler – und zugleich ihr Chauffeur. Sie hatte ihn schon gekannt, als er noch ein Kind gewesen war, entsprechend vertrauensvoll war ihr Verhältnis zueinander. »Es ist so schön auf Sternberg – und dieser Blick in euren wundervollen Schlosspark ist einfach unbezahlbar.«

»Du solltest viel öfter kommen, Helena«, meinte die Baronin. »Wir haben dir das ja schon oft gesagt, aber bisher ohne Erfolg, was wir sehr bedauern.«

»Ich weiß, ich weiß.« Helena trank einen Schluck Tee und lehnte sich dann zurück. »Aber ich bin gesundheitlich angeschlagen, für mich ist auch eine kurze Autofahrt schon eine Anstrengung. Das könnt ihr nicht nachvollziehen, ihr seid ja noch jung…«

»So jung nun auch wieder nicht«, warf der Baron lächelnd ein. »Vierzig ist nicht mehr jung, Helena.«

»Verglichen mit mir seid ihr jung!« Helena seufzte. »Manchmal denke ich, dass ich zu viel allein bin. Könnt ihr euch das vorstellen? Sicher, Robert ist da, die Köchin ebenfalls, die Mädchen, die das Haus in Ordnung halten – aber manchmal wünsche ich mir, dass jemand einfach nur neben mir säße, meine Hand hielte und mir etwas erzählte. Das muss nichts Aufregendes sein, aber ich stelle es mir schön vor…« Sie brach ab und lächelte verlegen. »Entschuldigt, dass ich euch mit diesen Dingen langweile.«

»Du langweilst uns nicht«, widersprach die Baronin. »Hör mal, dein Sohn hat sieben Kinder – warum bittest du nicht einen deiner Enkel, für eine Weile zu dir zu ziehen? Du wärst nicht so allein, und für junge Leute ist es auch nicht schlecht, wenn sie beizeiten sehen, wie beschwerlich das Leben im Alter werden kann.«

Helena lächelte. »Da hast du wohl Recht, Sofia, aber so einfach ist das nicht. Die arbeiten oder studieren ja alle oder sie machen eine Ausbildung. Außerdem bin ich kein Mensch, mit dem es sich leicht zusammenleben lässt.«

Sofia und Friedrich lachten ungläubig. »Aber mit dir kommt doch einfach jeder gut aus!«, rief die Baronin.

»Nein, nein, ganz bestimmt nicht«, beteuerte Helena. »Meine jüngste Enkelin ist mir ähnlich. Sie will auch immer mit dem Kopf durch die Wand, schert sich nicht um Konventionen und eckt ständig an. Ich war als junge Frau wie sie.«

Friedrich beugte sich interessiert vor.

»Du und anecken?«, fragte er. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Ja, es fällt mir selbst schwer«, gab Helena zu. »Aber ich habe Fotos von damals, da sieht man recht gut, dass ich mit der Welt auf Kriegsfuß stand. Zum Glück erinnert sich heute kaum noch jemand daran, und nach meiner Eheschließung bin ich dann ja auch recht brav geworden. Wenn mein Mann noch lebte – der könnte euch Geschichten erzählen!« Sie lächelte bei der Erinnerung, dann glitt ihr Blick aus dem Fenster, sie beugte sich ein wenig vor. »Ist das Christian?«, fragte sie. »Der kleine Fürst?«

»Ja«, bestätigte Sofia. »Er war sicher auf dem Hügel.«

Helena sah sie fragend an. »Du meinst auf dem Friedhof?«

Die Baronin nickte. »Er besucht seine Eltern jeden Tag«, erklärte sie. »Wir sind froh darüber, das gibt ihm Kraft. Er erzählt ihnen in Gedanken, was ihn bewegt, und er hat den Eindruck, dass sie ihn hören können.«

»Wie schön«, sagte Helena leise. »Was für eine tröstliche Vorstellung, dass unsere Toten uns begleiten, auch wenn sie von uns gegangen sind. Bei mir und meinem Mann ist es auch so. Ich spreche mit ihm und glaube, dass er mir zuhört.« Sie blickte wieder aus dem Fenster. »Das heißt, Christian hat den Verlust seiner Eltern einigermaßen gut verkraftet?«

»Ja, das glauben wir. Wir versuchen, ihm die Familie zu ersetzen, so gut es geht – unsere Kinder und Christian sind ja auch vorher schon praktisch wie Geschwister aufgewachsen, von daher hat sich nicht viel geändert.«

»Gut, dass ihr schon vor so vielen Jahren nach Sternberg gezogen seid.«

»Ja, das war ein Glück.«

Nach diesen Worten versanken sie in Schweigen, während ihre Gedanken zu Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold von Sternberg wanderten, den Eltern von Prinz Christian, die vor etlichen Monaten bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren. Christian war fünfzehn Jahre alt, aber dieser Verlust hatte ihn reifen lassen. Er war ernster als die meisten Jungen seines Alters, und nachdenklicher.

»Wird er immer noch ›der kleine Fürst‹ genannt?«, fragte Helena nach einer Weile.

Sofia lächelte. »Ja, und das bleibt vermutlich so, bis er volljährig wird. Dann ist er der nächste Fürst von Sternberg.«

»Der ›große Fürst‹«, bemerkte Helena. »Das war ein schönes Bild, wenn Leo mit Christian an der Hand irgendwo auftauchte. Ich glaube, damals ist der Kosename aufgekommen – kann das sein?«

Der Baron nickte. »Der große und der kleine Fürst – so haben die Leute immer gesagt, und dabei ist es geblieben.«

In diesem Augenblick kam Christian zur Tür herein, seinen jungen Boxer Togo hielt er an der kurzen Leine, was dem Hund sichtlich missfiel. »Ruhig, Togo! Du kannst nicht jeden Menschen so stürmisch begrüßen, wie es dir gefällt«, mahnte er.

»Lass ihn ruhig los«, lächelte Helena. »Ich sitze ja, also kann er mich nicht umwerfen, Chris.«

Der kleine Fürst ließ den Hund also von der Leine, und Togo eilte ohne zu zögern auf die Besucherin zu. Er war neugierig und verspielt, Gäste fand er immer besonders interessant.

Christian begrüßte Helena erst nach seinem Hund, denn Togo bestand darauf, zuerst gekrault zu werden, was Helena gerne tat. Anschließend reichte sie Christian die Hand. »Wir haben uns fast ein Jahr nicht gesehen, Chris«, sagte sie.

Er nickte. »Sie kommen eben zu selten«, meinte er mit einem Lächeln.

»Das haben wir auch schon gesagt!«, erklärte die Baronin. »Möchtest du einen Tee mit uns trinken, Chris?«

Er lehnte dankend ab. »Ich muss noch Hausaufgaben machen, ziemlich viel leider.«

Höflich verabschiedete er sich wieder.

»Ein bemerkenswerter Junge«, stellte Helena fest. »Und wie sicher er auftritt! Kaum zu glauben, dass er erst fünfzehn ist.«

Sofia merkte, dass die alte Dame müde wurde, und tatsächlich beschloss Helena wenig später, sich auf den Heimweg zu machen. Robert Kahrmann wurde gerufen, der sie behutsam zum Wagen geleitete.

Der Abschied fiel herzlich aus, und Helena versprach einmal mehr, sich in Zukunft öfter blicken zu lassen. »Ihr könntet mich bei Gelegenheit ja auch mal besuchen«, sagte sie. »Zwar habe ich keinen Schlosspark zu bieten, aber bei mir ist es auch schön.« Nach diesen Worten half ihr Robert Kahrmann in die Limousine, nahm dann selbst hinter dem Steuer Platz und lenkte den großen Wagen vorsichtig die breite Auffahrt hinunter.

»Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen«, stellte Sofia fest.

Friedrich stimmte seiner Frau zu, dann gab er ihr einen Kuss und entschuldigte sich: Die Arbeit rief.

*

»Sieben Kinder?«, fragte Rosalie von Thaden entgeistert. »Diese Leute haben sieben Kinder?«

»Ja«, erklärte ihr älterer Bruder Armin gelassen. »Da geht es vermutlich etwas lebhafter zu, als wenn wir beide mal zu Hause bei unseren Eltern sind.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und wie alt sind die alle?«, fragte sie weiter.

»Der älteste Sohn ist achtundzwanzig, sagte mir Ludwig, die jüngste Tochter zwanzig.«

»Sieben Kinder in acht Jahren?« Rosalie fiel von einem Entsetzen ins nächste.

»Es sind Zwillinge dabei«, erklärte Armin, der sich über ihre Reaktion amüsierte. »Ludwigs Frau hat also nicht jedes Jahr ein Kind bekommen.«

»Aber beinahe«, stellte Rosalie fest. »Wahrscheinlich ist sie jetzt schon alt und verbraucht, ziemlich dick und völlig aus der Form nach diesen vielen Schwangerschaften.«

»Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Was Ludwig von seiner Frau erzählt – also, das klingt eher so, als wäre sie noch ziemlich beweglich und sehr unternehmungslustig.«

»Du musst mir unbedingt alles ganz genau erzählen, wenn du zurückkommst«, verlangte Rosalie. »Wieso bleibst du da eigentlich so lange?«

»Wir wollen zusammenarbeiten, Ludwig und ich«, antwortete Armin. »Es gibt noch keine konkreten Pläne, bisher haben wir nur alle möglichen unausgegorenen Ideen. Er möchte zum Beispiel Pferde züchten, würde sich um das gesamte geschäftliche Umfeld aber nicht gern kümmern. Das könnte ich machen, ich habe ja Erfahrungen auf diesem Gebiet. Um solche Dinge geht es. Er ist ja viel älter als ich, deshalb hat er mir eine Menge Erfahrung voraus, das finde ich angenehm. Außerdem ist er ein ruhiger und sympathischer Mann, es macht Spaß, mit ihm Ideen zu entwickeln und darüber zu diskutieren. Alles, was er sagt, hat Hand und Fuß.«

»Sei vorsichtig«, warnte Rosalie.

»Wieso vorsichtig?«, fragte Armin verwundert.

»Wegen der Kinder. Der älteste Sohn erbt das Gut eines Tages – was sagt der denn, wenn sein Vater jetzt plötzlich Pläne mit einem fremden jungen Mann macht und nicht mit seinem Erben?«

»Der älteste Sohn ist Archäologe«, erklärte Armin ruhig. »Der übernimmt das Gut nicht.«

»Dann eben der Zweitälteste«, sagte Rosalie ungeduldig.

»Auch nicht, der hat andere Pläne. Er träumt vom großen Geld, und das ist mit dem Gut sicher nicht zu machen.«

»Herrje!«, rief Rosalie. »Ich sage doch nur, du sollst vorsichtig sein, denn irgendjemand wird das Gut eines Tages erben – und das wirst in keinem Falle du sein.«

»Das weiß ich doch, aber diese Erbgeschichte betrifft unsere Pläne überhaupt nicht.«

»Jetzt vielleicht noch nicht, aber falls eure Geschäfte erfolgreich sind…«

Armin ließ seine Schwester nicht ausreden. »Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein, Rosalie, aber Ludwig und seine Frau sind gerade mal Anfang Fünfzig. Er denkt noch längst nicht ans Aufhören.«

»Andere in dem Alter aber schon«, bemerkte Rosalie. Als sie sein Gesicht sah, umarmte sie ihn. »Schon gut«, sagte sie versöhnlich. »Ich höre ja schon auf mit meinen Einwänden. Auf alle Fälle wünsche ich euch beiden viel Erfolg mit euren Geschäften.«

Armin nickte. »Den wünsche ich uns auch«, meinte er nachdenklich. »Und ich bin ziemlich gespannt auf Ludwigs Familie, das muss ich schon sagen.«

»Schade, dass ich dich nicht begleiten kann«, seufzte Rosalie. »Da hätte ich zu gerne Mäuschen gespielt.«

»Du warst schon als kleines Mädchen neugierig«, lächelte Armin. »Sag mal, hattest du mich nicht zum Essen eingeladen?« Er schnupperte. »Da kommt ja überhaupt noch kein Duft aus der Küche.«

»Weil wir ausgehen«, erklärte Rosalie. »Komm, das Lokal ist gleich hier um die Ecke – es hat neu eröffnet, du wirst begeistert sein.«

In den nächsten beiden Stunden stellte sich heraus, dass sie zumindest mit dieser Vorhersage hundertprozentig Recht gehabt hatte.

*

Es war wieder Ruhe auf Gut Isebing eingekehrt. Charlottas Geschwister waren nach dem Wochenende abgereist, was sie einerseits angenehm fand, denn sie hatte beim Arbeiten gern ihre Ruhe – andererseits bedauerte sie es, denn der Trubel, den die anderen jedes Mal mitbrachten, gefiel ihr auch.

Beim Abendessen räusperte sich Ludwig und sagte nach einem kurzen Blick zu seiner Frau hinüber: »Armin von Thaden ist ein sehr netter junger Mann, Charly.«

»Sonst würdest du ja wohl kaum über Geschäfte mit ihm nachdenken«, bemerkte Charlotta.

»Sehr richtig. Wir, deine Mutter und ich, finden aber außerdem, dass du in der Zeit, wo er hier ist, auch einmal deine weibliche Seite herausstreichen könntest.«

Ganz langsam ließ Charlotta die Gabel, die sie eben zum Mund hatte führen wollen, wieder sinken. Misstrauisch und ungläubig sah sie ihren Vater an. »Was soll das denn jetzt heißen? Wollt ihr mich verkuppeln oder was?«

»Natürlich nicht!«, beteuerte ihr Vater. »Wir wissen ja, dass das von vornherein aussichtslos ist, aber…«

»Hoffentlich wisst ihr das!« Charlotta kniff beide Augen zusammen. »Aber dann kann es euch doch völlig gleichgültig sein, wie ich herumlaufe, wenn er kommt. Er interessiert mich nicht, ich interessiere ihn nicht – damit ist der Fall erledigt. Er will mit dir Geschäfte machen, Papa. Soll er. Aber mich haltet da bitte heraus, ich will damit nichts zu tun haben. Am liebsten wäre es mir, ich müsste den Mann überhaupt nicht sehen. Du weißt, ich habe nicht gern mit fremden Leuten zu tun.«

Das stimmte allerdings, und in der Regel führte es dazu, dass Charlotta sich, wenn sie sich unsicher fühlte, noch ruppiger aufführte als ohnehin schon.

Marianne schaltete sich ein. »Du bist zwanzig Jahre alt, Charly«, sagte sie sanft. »Und du läufst herum wie ein Stallknecht…«

»Ja, und?«, fragte Charlotta aufgebracht. »Was stört euch daran?«

Sie hatten es falsch angefangen: Charlotta war in dieser Stimmung keinem Argument mehr zugänglich, das wussten sie aus Erfahrung. Dennoch versuchte Marianne es noch einmal, zu ihrer jüngsten Tochter durchzudringen. »Du bist eine hübsche junge Frau, es wäre schön, wenn wir das ab und zu auch einmal zu sehen bekämen«, sagte sie ruhig. »Und wir würden uns freuen, wenn auch unsere Gäste es sähen. Die Vorstellung, dass Armin von Thaden, den dein Vater sehr schätzt und von dem ich daher annehme, dass er ein sympathischer Mann ist, dich für ungepflegt und hässlich hält, gefällt mir nicht.«

Charlotta starrte erst ihre Mutter an, dann ihren Vater. Diesen fragte sie mit anklagender Stimme: »Was soll das, Papa? Ich dachte, ihr wolltet mich nicht verkuppeln!«

»Das wollen wir ja auch nicht«, erklärte Ludwig. »Wie kommst du nur darauf? Deine Mutter hat dich lediglich gebeten…«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Charlotta war aufgesprungen. Mit zornrotem Gesicht rief sie: »Mir ist es egal, was dieser Typ von mir denkt, dass ihr es nur wisst! Und wenn ihr euch meinetwegen schämt, dann kann ich während seiner Anwesenheit die Mahlzeiten ja auf meinem Zimmer einnehmen.«

»Hör auf!«, sagte Ludwig in ungewöhnlich scharfem Ton. »Du benimmst dich wie eine unreife Göre, Charly.«

Aber diese Worte entfachten Charlottas Zorn erst recht. »Ich wehre mich nur dagegen, dass ihr versucht, mir einen Mann schmackhaft zu machen, den ich noch nie gesehen habe. Ich will keinen Mann, das habe ich euch oft genug gesagt!« Mit diesen Worten stapfte sie aus dem Esszimmer und knallte gleich mehrere Türen mit solchem Schwung hinter sich zu, dass es im ganzen Haus zu hören war.

»Sie hat wieder einmal alles falsch verstanden«, murmelte Ludwig resigniert. »Was sollen wir nur mit ihr anfangen, Nana? Sie kann doch nicht immer so weitermachen!«

»Ich hoffe, das wird sie auch nicht«, seufzte seine Frau. »Aber Herrn von Thaden müssen wir vermutlich vorwarnen, sonst bekommt er einen Schrecken, wenn er das erste Mal auf sie trifft. Wahrscheinlich stampft sie ihn in Grund und Boden.«

Ludwig schüttelte den Kopf. »Wir sagen nichts«, bestimmte er. »Sollen sie sehen, wie sie miteinander zurechtkommen. Wahrscheinlich werden sie sich kaum begegnen, du kennst doch Charly, sie geht ihm mit Sicherheit aus dem Weg. Und bei den Mahlzeiten sind wir ja auch noch da, um das Schlimmste zu verhindern.«

»Ich hatte es mir so nett vorgestellt, den jungen Mann endlich kennenzulernen«, sagte Marianne unglücklich. »Aber nun ist mir die Vorfreude verdorben. Ich werde die ganze Zeit Angst haben, dass Charly aus der Rolle fällt.«

»Das soll sie nicht wagen!« Ludwig machte ein grimmiges Gesicht, aber gleich darauf lachte er schon wieder. »Ach was, wir sollten uns nicht verrückt machen lassen, Nana! Ich jedenfalls freue mich auf Armins Besuch. Er sprudelt geradezu über vor Ideen, du wirst ihn bestimmt auch mögen. Wir werden uns einfach eine schöne Zeit mit ihm machen.«

Sie nickte, ganz überzeugt wirkte sie freilich nicht – schließlich kannte sie ihre Jüngste!

*

Sara von Isebing hatte an diesem Montag einen fantastischen Start in die Woche: Sie verkaufte einer Kundin gleich zwei teure Kleider, einen Hosenanzug und dazu noch ein paar Schuhe. Besser konnte es eigentlich gar nicht laufen. Ihre Chefin lobte sie, und Sara war stolz auf sich.

Sie arbeitete seit einem halben Jahr in diesem Geschäft – dem Ersten am Platze. Hier kauften nur vermögende Damen der Gesellschaft ein, und das war genau der Rahmen, in dem Sara sich wohl fühlte. Später wollte sie ein eigenes Geschäft haben, aber zuerst brauchte sie Erfahrung. Und da sie sich schon immer für Mode und alles, was damit zusammenhing, interessiert hatte, war sie tatsächlich eine erstklassige Verkäuferin geworden. Sie hatte Geschmack, kannte sich mit der Ware, die sie verkaufte, aus, und konnte gut beraten. Außerdem sah sie ausgesprochen hübsch aus, ohne das während der Arbeitszeit allzu sehr herauszustreichen.

Das war die erste Lektion, die ihre Chefin ihr erteilt hatte: »Wenn Sie hier als Schönheitskönigin auftreten, Sara, machen Sie einen Fehler. Das entmutigt unsere Kundinnen, die weniger schön sind. Nehmen Sie sich zurück.« An diesen Rat hielt sie sich. Es reichte ja, wenn sie sich in ihrer Freizeit zurechtmachte, um ihre Freundinnen auszustechen!

Zur Mittagspause schloss sie das Geschäft ab, ihre Chefin war schon vorher gegangen, weil es sehr ruhig gewesen war. Langsam bummelte Sara die elegante Geschäftsstraße entlang. Sie hatte Hunger, würde aber nicht mehr als einen Salat essen. Wenn man schlank bleiben wollte, musste man Opfer bringen. Kurz dachte sie voller Neid an ihre jüngere Schwester Charly, die in der Regel für drei aß, ohne je ein Gramm zuzunehmen. Das war aber auch das Einzige, worum man sie beneiden musste, fand Sara. Unmöglicher als Charly konnte eine Frau nicht aussehen.

Vor ihr fuhr ein Radfahrer so dicht an einer alten Dame vorbei, dass er sie streifte. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre unweigerlich gestürzt, wenn ihr nicht gleich zwei Menschen zu Hilfe geeilt wären: Sara von der einen und ein sehr gut aussehender dunkelhaariger junger Mann von der anderen Seite.

Er rief dem Radfahrer zornig eine Beschimpfung nach, dann entschuldigte er sich mit charmantem Lächeln und fragte die alte Dame: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, vielen Dank«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang ein wenig zittrig. »Es ist nur immer so ein Schreck…«

»Wollen Sie sich einen Augenblick setzen?«, fragte Sara. »Sehen Sie nur, da vorn ist eine Bank.« Sie war normalerweise nicht unbedingt der hilfsbereite Typ, aber in diesem Fall hatte sie ganz automatisch gehandelt, damit die Frau nicht stürzte. Jetzt allerdings war es eher dieser attraktive Dunkelhaarige mit den grünen Augen, der sie daran hinderte, ihren Weg fortzusetzen.

Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, das sie bereitwillig erwiderte. Gemeinsam brachten sie die Frau zu der Bank, wo sie sich noch einmal bei ihnen bedankte.

»Das war die gute Tat für heute«, sagte der Dunkelhaarige im Weggehen zu Sara. »Aber lassen Sie sich nur nicht hindern, ihr noch weitere folgen zu lassen, falls es sich anbietet.«

»Danke, gleichfalls«, erwiderte Sara. Warum fragte er sie nicht, wie sie hieß und wo sie wohnte? Wie sollten sie einander wiedertreffen, wenn er nichts von ihr wusste? Noch während sie überlegte, ob sie von sich aus die Initiative ergreifen und sich vorstellen sollte, sagte eine Stimme hinter ihr: »Guten Tag, Frau von Isebing. Ich schaue nachher mal bei Ihnen vorbei!«

Sie drehte sich um und erkannte eine gute Kundin, die sie nun ebenfalls mit Namen begrüßte. Als sie sich danach wieder dem Dunkelhaarigen zuwandte, lag auf dessen Gesicht ein amüsiertes Lächeln, das sie sich nicht erklären konnte. »Was ist so komisch?«, fragte sie.

Sofort blickte er ganz ernst. »Sie werden es erfahren, aber nicht heute«, antwortete er. »Und jetzt muss ich mich leider verabschieden, ich bin in Eile. Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch!« Er nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging.

Sie sah ihm enttäuscht nach, während sie darüber nachdachte, was er mit seinen letzten Worten hatte sagen wollen – bis ihr einfiel, dass er ja ihren Namen gehört haben musste. Also konnte er auch ihre Telefonnummer herausbekommen und sie anrufen…

Plötzlich wieder bester Laune, machte sie sich auf den Weg zur Salatbar. Diese Woche hatte wahrhaftig gut angefangen!

*

»Und wenn Sie eine Kreuzfahrt unternähmen, Frau von Isebing?«, fragte Robert Kahrmann, nachdem er Helena von einem Besuch bei einer Freundin abgeholt hatte. »Das würde Sie auf andere Gedanken bringen, meinen Sie nicht?«

Sie hatte zuvor erneut über ihre Einsamkeit geklagt, die auch durch die Gespräche mit ihrer Freundin nicht gemildert worden war.

»Ich hasse Kreuzfahrten«, erklärte sie unverblümt. »Da sitzt man auf einem Schiff und kann nicht runter, selbst wenn man möchte. Das ist nichts für mich, Robert. Ich brauche meine Freiheit, sonst werde ich verrückt.«

»Dann eben eine andere Reise«, meinte er. »Da hat man immer Gesellschaft.«

»Ich glaube, es geht nicht nur um Gesellschaft, Robert«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich brauche jemanden um mich, mit dem ich mich über alles austauschen kann, was mich bewegt. Mein Mann war so ein Mensch, er fehlt mir noch immer.«

»Mir auch«, erklärte er. »Wissen Sie noch, wie er mich einmal fürchterlich angeschnauzt hat, weil er dachte, ich hätte eine Beule in den Wagen gefahren und wäre zu feige, zu meiner Tat zu stehen?«

Helena musste lachen. »Natürlich weiß ich das noch! Es hat sich dann herausgestellt, dass es einer von unseren Gästen war, der nachts noch eine kleine Spritzfahrt unternommen hat – heimlich. Aber mein Mann hat sich bei dir entschuldigt, oder?«

»Nach allen Regeln der Kunst«, erklärte Robert. Er war froh, dass es ihm gelungen war, Helena abzulenken. In letzter Zeit machte er sich Sorgen um sie, weil sie immer öfter den Kopf hängen ließ. Das kannte er nicht von ihr, sie war eigentlich eine sehr couragierte Person, die sich nicht leicht unterkriegen ließ.

Er half ihr aus dem Wagen und geleitete sie bis zum Haus, obwohl sie versuchte, ihn daran zu hindern. »Behandele mich bitte nicht, als wäre ich krank, Robert!«

»Das tue ich nicht«, behauptete er, »ich bin nur vorsichtig.«

»Übervorsichtig!«, erklärte sie. »Nun lass mich schon los, du musst doch noch den Wagen in die Garage fahren.«

Er hatte den Wagen noch nicht erreicht, als er einen spitzen Schrei aus dem Inneren des Hauses hörte, gefolgt von lautem Gepolter. Erschrocken machte er auf dem Absatz kehrt und rannte zur Haustür, die noch offen stand.

Helena von Isebing lag am Fuß der breiten Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

»Frau von Isebing, was ist denn passiert?«, fragte Robert, als er versuchte, ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie schrie jedoch auf und sackte wieder zusammen.

Tränen standen in ihren Augen. »Ich war schon halb oben, hatte aber etwas vergessen«, flüsterte sie. »Und dann muss ich eine Stufe übersehen haben, als ich wieder nach unten gehen wollte – ich bin die halbe Treppe hinuntergefallen.«

Robert holte ihr ein Kissen und eine Decke, damit sie besser liegen konnte, dann rief er die Notrufnummer an. Eine Stunde später wussten sie, was passiert war: Helena hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen.

*

»Wie geht es ihr?«, fragte Marianne am nächsten Tag, als Ludwig nach Hause zurückkehrte. Er war sofort losgefahren, um seine Mutter im Krankenhaus zu besuchen, nachdem Robert Kahrmann ihm mitgeteilt hatte, was passiert war.

»Wie heißt die Floskel? ›Den Umständen entsprechend gut‹ – das ist jedenfalls das, was die Ärzte sagen. Jetzt liegt sie erst einmal im Krankenhaus, aber da will sie natürlich nicht bleiben, Nana. Sie hat geweint, ich erkenne sie kaum wieder. Sie wirkt so mutlos – so, als wäre nach diesem Sturz ihr Leben zu Ende. Herr Kahrmann sagte mir, dass das schon eine ganze Zeitlang so geht. Sie vermisst meinen Vater, sie ist zu viel allein…«

»Wenn wir Platz hätten, könnte sie zu uns ziehen«, sagte Marianne zögernd. »Ich weiß zwar nicht, ob das gut für uns alle wäre, aber…«

»Nein, das wäre es nicht«, erklärte Ludwig. »Du kennst doch meine Mutter, sie ist viel zu eigensinnig. Und wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht, kann sie ganz schön grantig werden. Sie sagt das ja selbst.«

»Aber wenn sie sich einsam fühlt, müssen wir uns etwas einfallen lassen, Ludwig. Das wird ja, so lange sie ans Bett gefesselt ist, noch schlimmer sein.«

»Ich weiß«, erwiderte er bedrückt.

Charlotta kam herein. »Wie geht es Omi?«, fragte sie.

Ludwig wiederholte, was er bereits Marianne erzählt hatte und schloss mit den Worten: »Vielleicht kann sie eine Zeitlang zu uns kommen, so lange sie bettlägerig ist. Ich muss darüber noch einmal nachdenken.«

»Omi hierher?«, fragte Charlotta. »Nie im Leben, Papa. Eher geht sie in den Hungerstreik. Sie liebt ihr Haus und will da nicht weg.«

»Kann sein, dass du Recht hast«, gab er zu. »Noch haben wir ja ein wenig Zeit zum Nachdenken. Sie muss mindestens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, so lange können wir ohnehin nichts tun.« Er stockte. »Was ist mit Armin?«, fragte er seine Frau. »Meinst du, ich sollte ihm absagen?«

»Warum fragst du ihn nicht? Du wirst sicher öfter mal zu deiner Mutter fahren zwischendurch, aber du und er, ihr müsst ja nicht ständig zusammenhocken, oder? Von mir aus kann er ruhig kommen – und für dich wäre es vielleicht auch nicht schlecht, wenn du ein wenig Abwechslung hättest. Du hast dich doch auf diesen Besuch gefreut.«

»Das schon, ja, aber ich rufe ihn doch lieber an und schildere ihm die Lage.«