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1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-029246-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029247-5
epub: ISBN 978-3-17-029248-2
mobi: ISBN 978-3-17-029249-9
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»Wirtschaftskriminalität – eine wirtschaftsethische Herausforderung.« Dieser Titel mag beim flüchtigen Lesen erst einmal Irritation hervorrufen. Er ist zumindest erklärungsbedürftig, assoziiert man doch mit Kriminalität und damit auch Wirtschaftskriminalität eher die Sanktionierung von Übeltätern nach den Regeln des Strafrechts. Doch die Bewältigung der Wirtschaftskriminalität mit Hilfe des Strafrechts steht nicht im Fokus der Darstellung. Die Intention des Buches ist eine andere. Sie speist sich aus der Erfahrung, dass das Strafrecht ein relativ stumpfes Schwert bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität ist. Das hat verschiedene Ursachen, die noch genauer zur Sprache kommen werden. Unabhängig davon ist es aber auch gar nicht wünschenswert, dass das Strafrecht bei Missständen, Machenschaften und Skandalen in und um Unternehmen eine besonders prominente Rolle spielen sollte. Auch dazu an späterer Stelle mehr.
Bevor auf diese Positionen genauer eingegangen werden kann, ist es notwendig, sich vorab mit den Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Formen der Kriminalität auseinanderzusetzen. Das setzt ein interdisziplinäres Vorgehen voraus. Theoretische Erklärungen, empirische Untersuchungen zur Stützung von Hypothesen und die Suche nach Abhilfemaßnahmen müssen mithilfe der Disziplinen Kriminologie, Strafrecht, Psychologie, Soziologie, Sozialpsychologie, Ökonomik und Wirtschaftsethik zusammengetragen werden.
Gerade die angesprochene Beziehung des Zusammenhangs von Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsethik ist aus Sicht des Verfassers besonders interessant und aufschlussreich. Sie fußt auf der Prämisse, dass Unternehmen und Gesellschaft zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität nicht primär auf die präventive Wirkung oder nachträgliche Sanktionierung des Strafrechts vertrauen sollten. Sie wird vielmehr als eine wirtschaftsethische Aufgabe verstanden, in denen primär Unternehmen und ergänzend der Staat als ordnungsschaffende Instanz gefordert sind. Insofern erfüllt das hier vorgelegte Werk eine komplementäre Funktion zu meinem Buch »Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Marktwirtschaft.« Letzteres ist dem Anliegen gewidmet, ob und wie moralische Ansprüche in einem marktwirtschaftlichen System implementiert werden können, so dass Individuen, Unternehmen und Staat moralischen Anliegen gerecht werden können. Dies ist in einer durch Wertevielfalt geprägten Wettbewerbswirtschaft eine schwierige Aufgabe. Hier wechselt nun die Perspektive: Es geht darum zu erfassen und zu klären, warum Individuen und Unternehmen als Akteure im Wirtschaftsgeschehen moralischen und v.a. rechtlichen Anforderungen gerade nicht genügen und wirtschaftskriminelle Handlungen begehen. Ein solches Verständnis ist Voraussetzung dafür, um im zweiten Schritt dann genauer fragen zu können, wie die in der wirtschaftsethischen Debatte entwickelten Instrumente präventiv zur Verhinderung doloser (also schädigender oder arglistiger) Praktiken beitragen können.
Im Mittelpunkt steht das komplexe Zusammenspiel der beiden wichtigsten Regelsysteme moderner Gesellschaften, Recht und Moral, um im Wirtschaftsleben normkonformes Verhalten durchzusetzen und zu stabilisieren. Die Zusammenhänge von Wirtschaftsdelinquenz und moralischen Normen und Werten sind vielfältig. Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftsethik wirken auf verschiedenen Ebenen zusammen. Daher ist die Darstellung an manchen Stellen sehr facettenreich und vielschichtig, was dem Leser an manchen Stellen einige Konzentration abverlangt. Aus diesem Grund sollen die folgenden Hinweise dabei helfen, den » roten Faden« der Argumentation sichtbar zu machen:
• Im ersten Schritt soll das Verhältnis von Recht und Moral beleuchtet werden, um Aufgaben und Wechselspiel im Wirtschaftsgeschehen zu klären. Beiden Regelungssystemen kommt gleichermaßen die Aufgabe zu, normabweichendes Verhalten zu verhindern, doch stehen hinter ihrer Inanspruchnahme unterschiedliche Intentionen; zudem vertrauen sie auf verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Wirkmustern.
• Wirtschaftskriminalität bezeichnet kein klar umgrenztes Deliktspektrum, sondern ein historisch gewachsenes und im Wandel befindliches Terrain. Schätzungen sprechen allein für die Bundesrepublik von rd. 200 Gesetzen mit ordnungs- und strafrechtlichen Bezügen. Der wenig konturierte Begriff muss daher vermessen werden. Insbesondere ist die Unterscheidung Occupational Crime und Corporate Crime grundlegend: Geht es bei Occupational Crimes um dolose Verhaltensweisen, die Mitarbeiter in ihrem eigenen Interesse zum Schaden des Unternehmens – z. B. Betrug, Diebstahl oder Untreue – vornehmen, so versteht man unter Corporate Crime-Delikte, die Mitarbeiter im Interesse des Unternehmens begehen. Dazu gehören u. a. Korruptionszahlungen, Kartellbildung oder Subventionsbetrug, um die Kosten-Erlös-Situation des Unternehmens zu verbessern.
• Um einen theoretischen Bezugsrahmen delinquenten Verhaltens in Unternehmen und durch Unternehmen aufzeigen zu können, wird das Zusammenspiel personeller und situativer Risikofaktoren erörtert. Hier geht es um die vieldiskutierte Frage, ob und in welchem Umfange die beiden folgenden Statements Relevanz besitzen: »Menschen mit krimineller Energie suchen nach günstigen Gelegenheiten!« oder »Gelegenheiten und situativer Kontext machen Mitarbeiter zu Tätern!« Es soll aufgezeigt werden, dass das Zusammenwirken beider Faktoren zwar eine zentrale Rolle spielt, für alle Wirtschaftsdelikte eindeutige Wirkungszusammenhänge aber nicht existieren. Das Thema bleibt kontrovers. Daher kann es nur darum gehen, die wichtigsten theoretischen Einsichten und empirischen Untersuchungen zu normabweichendem Verhalten vorzustellen, um mögliche Entstehungszusammenhänge besser zu verstehen. Wirtschaftskriminalität ist von Organisierter Kriminalität abzugrenzen: Erstere bezeichnet deviantes Verhalten auf legalen Märkten, bei Organisierte Kriminalität handelt es sich um Aktivitäten, bei denen – wie beim Drogen-, Organ- oder Menschenhandel – bereits das Produkt oder der Markt als illegal normiert ist. Gleichwohl gibt es Schnittmengen.
• Wirtschaftsstraftäter weichen von »normalen« Kriminellen ab, denen man bei strafbaren Handlungen ansonsten »typischerweise« begegnet: Sie sind älter als andere Straftäter, gut sozialisiert, gut ausgebildet, meist wohlsituiert und haben eine klare Vorstellung von moralisch angemessenen und inakzeptablen Verhaltensweisen. Gerade das macht diese Täter zu einer besonders rätselhaften Gruppe, da ihr Verhalten keiner eingängigen Erklärung folgt. Daher stellen sich zahlreiche Fragen: Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die charakteristisch für Wirtschaftsstraftäter sind? Lassen sich gewisse Tätertypen unterscheiden? Welche Motive treiben sie zu ihrem Handeln? Und vor allem: Wie rechtfertigen sie ihr Handeln, wenn sie doch »in der Mitte der Gesellschaft« mit einem intakten Wertegerüst leben? Es gilt also, das Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, Motiven, Werthaltungen und Rechtfertigungsstrategien aufzuhellen.
• Wirtschaftsstraftaten werden zumeist bei Ausübung der beruflichen Tätigkeit begangen. Die Täter agieren also meist in einem spezifischen von der Unternehmensorganisation geprägten Umfeld. Welche Strukturen, Prozesse und Kulturen erleichtern oder begünstigen kriminelle Verhaltensmuster? Gibt es identifizierbare Defizite von Organisationen, die Manager und Mitarbeiter in ihrem Verhalten so beeinflussen, dass sie Dinge tun, die sie in anderen Kontexten nicht tun würden?
• Täter verursachen mit Wirtschaftsdelikten Schäden und hinterlassen Opfer. Diesen Zusammenhang gilt es im nächsten Schritt zu erhellen. Die Palette der Wirtschaftsdelikte gestaltet sich mit der Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems und zunehmender staatlicher Interventionen immer heterogener. Dies wird augenfällig an den vielfältigen Formen von Cyber-Kriminalität, die mit der Ausbildung einer digitalen Infrastruktur und dem Bedeutungszuwachs des Internets einhergehen. Subventionsbetrug oder Verstöße gegen Mindestlohnregelungen wurden erst dadurch zu relevanten Delikten, weil Subventionen häufiger gewährt werden und ein gesetzlich verbindlicher Mindestlohn eingeführt wurde. Wirtschaftsstraftaten sind also häufig ordnungsabhängig.
• Unternehmen befinden sich in einer zwiespältigen Rolle: Sie sind bei Corporate Crime- Delikten Täter und Profiteure, soweit ihnen kriminelles Handeln zugerechnet werden muss, zugleich sind sie aber in der Regel auch Opfer, weil sie neben Vermögensschäden zumeist Reputationsschäden erleiden. Ihre Bereitschaft zur Aufklärung von Straftaten unterliegt daher einem komplexen Kosten-Nutzen-Kalkül, teilweise wird nicht aufgeklärt, teilweise nur intern, so dass viele kriminelle Handlungen nicht den staatlichen Behörden gemeldet werden. Dies wiederum beeinträchtigt die Möglichkeiten staatlicher Strafverfolgungsbehörden, wirtschaftskriminellen Delikten nachzugehen.
Im ersten Teil des Buches werden die zentralen Bausteine des Phänomens Wirtschaftskriminalität herausgearbeitet, um Anknüpfungspunkte und Bekämpfungsmöglichkeiten krimineller Handlungsweisen kennen zu lernen. Dabei steht die Perspektive des Unternehmens im Vordergrund. Diese ist auch für die nachfolgenden Kapitel erkenntnisleitend, in denen die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen im Umgang mit dolosen Verhaltensweisen aufgezeigt werden. Hier erfolgt die Analyse der Zielsetzungen, Strategien und Instrumente, die in der unternehmensethischen Debatte entwickelt und verhandelt werden. Bezugsrahmen ist das Zusammenwirken von Institutionenethik einer Unternehmensorganisation und Individualethik der einzelnen Akteure.
• Die institutionenethischen Aspekte des Themas werden primär unter der Überschrift Corporate Governance des Unternehmens verhandelt. Damit ist der rechtlich vorgegebene und selbstgesetzte Handlungsrahmen für eine gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung und Überwachung angesprochen. Es geht hier also um die institutionellen Vorkehrungen und Praktiken, die eine gute Corporate Governance ausmachen, um Anreize, Zwänge und Motivationen für kriminelles Verhalten zu reduzieren oder zu beseitigen.
• In eine gute Corporate Governance-Architektur sind Compliance-Management-Systeme (CMS) eingebunden. Sie werden seit Ende der 1990er Jahre verstärkt installiert , um Regeltreue innerhalb von Unternehmen sicher zu stellen. Compliance-Beauftragte oder ganze Abteilungen versuchen, rechtliche und moralische Risiken im Unternehmen zu identifizieren (z. B. Verstöße gegen das Kartellverbot; Korruptionspraktiken; Industriespionage) und darauf ausgerichtete Verhaltensstandards in Verhaltenskodizes zu verankern. Die Belegschaft ist entsprechend zu schulen, zu kontrollieren und bei Verstößen ggf. zu sanktionieren. Die Erfahrungen mit CMS sind ambivalent und werden kontrovers diskutiert. Bis zu einem gewissen Grade sind klare und verbindliche Regeln und Kontrollen (z. B. bei Einhaltung von Sicherheitsvorschriften) für alle Hierarchieebenen hilfreich, teilweise unabdingbar. Andererseits bewirkt eine weit getriebene Compliance-Kultur manch unerwünschte Effekte – Demotivation der Mitarbeiter, Entstehung einer Misstrauenskultur, Neigung zur Überbürokratisierung oder Instrumentierung durch das Management zu eigennützigen Zwecken.
• Daher wird zunehmend erkannt, dass ergänzend zum Compliance Management ein Wertemanagement als Ausdruck einer Integritätsphilosophie hinzutreten muss. Das Integritätsmanagement knüpft an dem Tatbestand an, dass Manager und Mitarbeiter Werte und Normen in das Unternehmen mit hineinbringen und durch Sozialisationserfahrungen innerhalb des Unternehmens erlernen. Integrity Management zielt auf die im Unternehmen gelebten Werthaltungen, um damit die Unternehmenskultur zu beeinflussen. Ziel ist es, die Belegschaft bezüglich der Wahrnehmung ethischer Dilemmata zu schulen und sie für integres Verhalten zu sensibilisieren. Neben Präventionsprogrammen auf Unternehmensebene ist hier eine Vielzahl personalethischer Maßnahmen gefordert.
Globalisierung und Digitalisierung haben neue Herausforderungen für die Bekämpfung wirtschaftskrimineller Verhaltensweisen mit sich gebracht. Sie haben zur räumlichen Ausdehnung des Aktionsradius’ für wirtschaftskriminelles Verhalten geführt und mit der Informationstechnologie effiziente, vielseitig nutzbare Tatwerkzeuge zur Verfügung gestellt. Wirtschaftskriminalität und Organisierter Kriminalität wird zugleich ein größeres Möglichkeitenspektrum eröffnet. Diese Handlungsoptionen werden exemplarisch aufgezeigt. Folge ist, dass manche Delikte in transnationalen Kontexten eine große Relevanz bekommen haben, weil der Wahrnehmung und Bekämpfung wirtschaftskrimineller Handlungen ein teilweise defizitärer und inkonsistenter internationaler Ordnungsrahmen gegenübersteht. Dadurch sehen sich Unternehmen gezwungen, unterschiedliche Wertekulturen innerhalb ihrer Organisation zu integrieren, und sie werden in die Aufgabe gedrängt, selbst als Mitgestalter auf der Ordnungsebene tätig zu werden.
Viele Menschen haben mich beim Verfassen des Buches in guter Weise begleitet. Ihnen möchte ich gerne an dieser Stelle meinen Dank abstatten. Zuvorderst gilt mein Dank Dr. Uwe Fliegauf, Lektor beim Kohlhammer-Verlag, der mich mit seiner geduldigen und freundlichen Art sehr dazu ermuntert hat, dieses Werk zu Ende zu bringen. Er hat mir zudem viele konstruktiven Hinweise gegeben. Meinen Kollegen Gabi Naderer, Jürgen Volkert und Thomas Cleff bin ich zu großen Dank verpflichtet, weil ich mit ihnen mehrere aufschlussreiche Diskussionen über Wirtschaftsstraftäter und ihre Motive führen konnte. Andreas Witt, Wirtschaftskriminalist beim Polizeipräsidium Karlsruhe, hat mir in manchen Gesprächen den Blick der staatlichen Strafverfolgung auf das Thema Wirtschaftskriminalität nähergebracht, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Auch Pascal Holzinger hat mich sehr unterstützt. Er hat mit viel Energie und Engagement aus studentischer Sicht das Projekt begleitet, mit manchen kritischen Hinweisen und der Erstellung von Grafiken. Viele wertvolle Verbesserungsvorschläge verdanke ich meinem Freund Volker Berbüsse und meinem Kollegen Helmut Wienert, der das gesamte Manuskript akribisch gelesen hat. Dafür herzlichen Dank. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Familie.
Pforzheim, im Januar 2020 |
Bernd Noll |
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
ACFE |
Association of Certified Fraud Examiners |
AG |
Aktiengesellschaft |
AktG |
Aktiengesetz |
ASA |
Attraction-Selection-Modell |
BEPS |
Base Erosion and Profit Shifting |
BIP |
Bruttoinlandsprodukt |
BKA |
Bundeskriminalamt |
BMF |
Bundesministerium für Finanzen |
BMI |
Bundesministerium des Inneren |
BMJ |
Bundesministerium der Justiz |
BMWi |
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie |
BetrVG |
Betriebsverfassungsgesetz |
BPI |
Bribe Payers Index |
CEO |
Chief Executive Officer |
CMS |
Compliance-Management-System |
CPI |
Corruption Perception Index |
CSR |
Corporate Social Responsibility |
DCGK |
Deutscher Corporate Governance Kodex |
DM |
Deutsche Mark |
EStG |
Einkommenssteuergesetz |
EU |
Europäische Union |
EuGH |
Europäischer Gerichtshof |
FATCA |
Foreign Account Tax Compliance Act |
FATF |
Financial Action Task Force on Money Laundering |
FCPA |
Foreign Corrupt Practices Act |
GATT |
General Agreement on Tariffs and Trade |
GG |
Grundgesetz |
GM |
General Motors |
GmbH |
Gesellschaft mit beschränkter Haftung |
GUS |
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten |
GVG |
Gerichtsverfassungsgesetz |
GWB |
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen |
GWG |
Geldwäschegesetz |
HDI |
Human Development-Index |
HGB |
Handelsgesetzbuch |
IAA |
Informationsaustausch auf Anfrage |
IDW |
Institut der Wirtschaftsprüfer |
ILO |
International Labour Organisation |
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Internationaler Währungsfonds |
MCI |
WorldCom |
NGO |
Non-Governmental Organization |
NSA |
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New York Stock Exchange |
OECD |
Organisation for Economic Cooperation and Development |
OK |
Organisierte Kriminalität |
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Gesetz über Ordnungswidrigkeiten |
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Polizeiliche Kriminalstatistik |
PS |
Prüfstandard |
PWC |
PriceWaterhouseCoopers |
SAI |
Social Accountability International |
SEC |
Securities and Exchange Commission |
StGB |
Strafgesetzbuch |
TI |
Transparency International |
TJN |
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TRIPS |
Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights |
UBS |
Union de Banques Suisses |
UN |
United Nations |
UNCAC |
United Nations Convention against Corruption |
UWG |
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb |
VW |
Volkswagen |
WpHG |
Wertpapierhandelsgesetz |
WpÜG |
Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz |
WTO |
World Trade Organisation |
(1) Entwickelte Gesellschaften haben mehrere Regelsysteme ausgebildet, die der zwischenmenschlichen Verhaltenssteuerung dienen. Diese stabilisieren Erwartungshaltungen innerhalb sozialer Gruppen und machen Interaktionen häufig überhaupt erst möglich, erleichtern sie zumindest wesentlich. Die wichtigsten Regelsysteme sind Recht und Moral, während Konventionen als Formen gesellschaftlicher Etikette wie Begrüßungsformeln, Kleiderordnung oder Benimmregeln beim Essen für unsere Fragestellung in modernen Gesellschaften eher vernachlässigt werden können.1 Den beiden erstgenannten Systemen ist gemeinsam, dass sie Wert- oder Unwerturteile über Handlungsweisen formulieren und damit das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder anleiten und vorhersehbar machen. Dies wird deutlich an ihrer spezifischen Konstruktion, sie besitzen eine Regelkomponente und eine Durchsetzungs- bzw. Sanktionskomponente. Während bei Gesetz und Recht klar formulierte Regeln von einem Gesetzgeber beschlossen und mit Hilfe von Verwaltung, Polizei und Gerichten durchsetz- und einklagbar sind, beruhen moralische Regeln auf individueller oder kollektiver Selbstgesetzgebung und Tradierung. Moralnormen sind daher weniger eindeutig bestimmbar, ihre Einhaltung erfolgt durch »soziale Kontrolle« der Mitmenschen und ihr Sanktionspotential reicht von Irritation, Stirnrunzeln über bissige Bemerkungen bis hin zur sozialen Ächtung, in positiver Hinsicht von einem freundlichen Blick, anerkennenden Schulterklopfen über ein Lob bis hin zu öffentlichen Auszeichnungen wie dem Bundesverdienstkreuz.2
(2) Im Sinne dieser funktionalen Betrachtungsweise benötigt man in modernen Gesellschaften beide Regelsysteme, wie folgende Überlegungen zeigen:
• Gesetz und Recht sind unverzichtbar, um grundlegende Handlungs-, Vermögens- und Schutzrechte für die Gesellschaftsmitglieder zu sichern, d. h. in einem dafür vorgesehenen Verfahren des Gesetzgebers zu kodifizieren und ihre Einhaltung mit staatlicher Gewalt durchzusetzen. In diesen Rechtsnormen dokumentiert sich das » ethische Minimum«, das für das Zusammenleben in einer Gesellschaft unabdingbar ist. Das Recht bildet gleichsam einen Rahmen, der die Fortexistenz der Gesellschaft sicherstellen soll und der die Mindestanforderungen an »sittliche Lebensbetätigung und Gesinnung« eines jeden Gesellschaftsmitglieds formuliert.3
• Das Strafrecht als Teil des Rechtssystems ist ein besonders scharfes Schwert in den Händen des Staates und soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann eingesetzt werden, »wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.«4 In diesem Sinne werden Gewalttaten gegen Körper und Leben genau wie inakzeptable Verhaltensweisen im Wirtschaftsverkehr wie Betrug, Korruption oder Wirtschaftsspionage als Delikte pönalisiert. Das Besondere ist also, dass mit dem Strafrecht eine juristische Doppelgleisigkeit installiert wird. So soll bspw. beim Betrug nicht nur ein ggf. rechtswidrig erlangter Vorteil auf dem Wege des Zivilrechts wieder rückgängig gemacht werden, sondern dem Initiator des Rechtsverstoßes soll mit der Strafe eine zusätzliche Nachteilszufügung auferlegt werden. Schadensersatz und Strafe sind also ihrem Wesen nach verschieden. Während der Schadensersatz nach den Regeln des Zivilrechts »eine Wunde heilen« will, soll die Strafe nach deutscher Strafrechtsdogmatik zudem »eine Wunde schlagen«.5 Kriminalstrafen wohnt mithin ein Vergeltungsmoment inne, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass diese sich an der Schwere der Tat orientieren.6 Insofern ist das Strafrecht in besonderer Weise für die Erwartungsstabilisierung (= Generalprävention) zum Schutz elementarer Güter und Interessen konzipiert, die das Zivilrecht allein nicht leisten könnte.7
• Innerhalb dieses durch das Recht gesetzten äußeren Rahmens stellt sich die Frage nach dem »gerechten« oder »guten« Verhalten, mit dem dieser Rahmen auszufüllen ist. Hier hat die Moral ihren Platz, die zu aktiver Sozialgestaltung beitragen soll. Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, dass nicht alles, was gesetzlich legal ist, auch moralisch legitim ist. Anders gewendet: In einem freiheitlichen Gemeinwesen wäre es weder zielführend noch erwünscht, alles Sozialverhalten rechtlichen Regeln und staatlicher Aufsicht unterwerfen und sanktionieren zu wollen.8 Konsequenz wäre dann ein omnipräsenter Überwachungsstaat. Daher muss zum Schutz der Autonomie von Individuen, Gemeinschaften und Zivilgesellschaft Raum für die Freiheit von staatlicher Intervention und Einflussnahme bleiben. Das bedeutet: In Gemeinschaften wie der Familie oder kleinen Gruppen mit gemeinsamer Wertebasis werden moralische Verhaltensnormen tradiert und spontan in Trial- and- Error-Prozessen weiterentwickelt. Analog bedarf es im gesellschaftlichen Kontext solcher Freiräume für die Gestaltung zwischenmenschlicher Kooperation und Konfliktbewältigung. Nötig sind, anders gewendet, Spielräume, die zunächst einmal privater Dispositionsmacht unterliegen und dies auch bleiben müssen. Hier gilt jeweils die Moral als Regulierungssystem. Die Vorzüge gegenüber dem Recht liegen in ihrem Differenzierungsvermögen, ihrer Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit an sich ändernde soziale Gegebenheiten.9
(1) Recht bezieht genau wie Moral sein normatives Fundament aus der Ethik (= Moralphilosophie) als Reflexionswissenschaft.10 Entstehung und Veränderung von Rechtsregeln basieren wesentlich auf moralischen Überzeugungen der Politiker und der Öffentlichkeit. Materielle Rechtsregeln können als »geronnene Moral«11 verstanden werden.12 Doch welche Merkmale machen ein Verhalten zu einem wirtschaftskriminellen Verhalten? Damit stellt sich die zentrale materielle Frage danach,
• welche fragwürdigen Verhaltensweisen in einem offenen marktwirtschaftlichen System als beanstandungsfrei hinzunehmen sind,
• welche Verhaltensmuster zwar als moralisch verwerflich anzusehen sind, jedoch erwartet werden kann, dass sie über Selbstregulierungsprozesse der Wirtschaftsakteure zurückgedrängt werden,
• welche Handlungsweisen als so gravierend und sozial abträglich einzuordnen sind, dass sie als strafrechtliche Verstöße gegen die Rechts- und Wirtschaftsordnung zu sanktionieren sind.13 Hier wäre das stärkste Instrumentarium sozialer Kontrolle einzusetzen, nämlich Geld- oder Freiheitsstrafen.
(2) Das Bundesverfassungsgericht hat, wie eingangs erwähnt, den Einsatz des Strafrechts im Fall von besonderer Sozialschädlichkeit oder der Verletzung von Rechtsgütern legitimiert. Doch sind dies offene, ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe, zumal die Strafrechtswissenschaft »keine Theorie des modernen Strafrechts« liefert.14 Es ist eine schwierige Aufgabe für Juristen, Ökonomen, Wirtschaftsethiker und Soziologen, überzeugende Kriterien für die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen im Wirtschaftsleben zu entwickeln, die im öffentlichen Diskurs Bestand haben.
(3) Dieser Stigmatisierungsprozess bestimmbarer Handlungsweisen kann nur aus einer vorgängigen normativen Gesellschaftstheorie abgeleitet werden, der auf die Funktionsweise eines offenen marktwirtschaftlichen Systems Bezug nimmt. Das Wirtschaftsstrafrecht kann mithin nur dann Konturen erhalten, wenn die aus den Interaktionen der Marktteilnehmer erwachsenden Marktprozesse und Institutionen analysiert und in Bezug auf die damit verbundenen legitimen Erwartungen und Interessen der Akteure bewertet werden. Nur aus dieser Perspektive wird der Unrechtsgehalt wirtschaftskrimineller Delikte erkennbar.
Sind bei Gewaltdelikten die Schäden an Rechtsgütern wie dem blauen Auge oder der eingedrückten Windschutzscheibe des Autos ohne weiteres erkennbar, so liegt der Fall bei Wirtschaftskriminalität anders, komplizierter und ist nicht immer unmittelbar einsichtig. Der Unrechtsgehalt ergibt sich aus Regelverstößen, also Verletzungen von Verhaltenspflichten, die dem fairen Wirtschaftsverkehr dienen.15 Damit sollen bestimmte Formen gesellschaftlicher Interaktion und ein sozial erwünschtes Wirtschaftsgeschehen gewährleistet werden. Es geht also um Institutionenschutz, nicht primär darum, dass ein Individuum eine konkrete Einbuße an seinen Vermögensgütern erlitten hat.16 Paradigmatisch wird dies am Kartellverbot des § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) deutlich. So hat der Staat in einem Marktsystem die Interessen der Verbraucher am Wettbewerb zwischen günstigen Offerten zu schützen. Verstoßen miteinander konkurrierende Anbieter gegen diese Verhaltensregel, indem sie durch Absprachen vorab ihr Verhalten gegenüber der Marktgegenseite koordinieren, so muss der Staat die Nichteinhaltung dieser Regel sanktionieren.17
(1) Das Zusammenspiel von Recht und Moral ist komplex und wird auf verschiedenen Ebenen praktisch – der Mikro- oder Individualebene, der Meso- oder Unternehmensebene und der Makro- resp. Ordnungsebene. Man kann daher von einem Drei-Ebenen-Modell sprechen. Diese Differenzierung nach Handlungs- und Verantwortungsebenen findet sich in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in der Soziologie und Sozialpsychologie wie auch in der Wirtschaftsethik und im Wirtschaftsstrafrecht.18 Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven wird in den beiden letztgenannten Disziplinen der jeweils verantwortliche Akteur bestimmt.
(2) Auf der Individualebene ist der Wirtschaftsstraftäter adressiert. Interessanterweise handelt es sich bei ihnen häufig um »sozial unauffällige« Menschen, »typische Normalbürger« mit gelungener primärer Sozialisation mit einem vermeintlich »normalen« Wertekanon.19 Wie können dann, so bspw. beim Siemens-Korruptionsfall, hunderte Mitarbeiter in wirtschaftskriminelle Delikte verwickelt werden, wenn sie doch die rechtlichen Normen (Korruption, Bilanzmanipulation, Bestechung o. Ä.) und die dahinter stehende Werteordnung kennen und das im Unternehmen praktizierte Verhalten für die private Lebenssphäre kaum akzeptieren würden? Als unbefangener Betrachter müsste man dieses verwerfliche Verhalten gar in besonderer Weise als widersprüchlich oder geradezu absurd bewerten, findet dies doch primär im Fremdinteresse des Unternehmens statt und nicht im eigenen Interesse der involvierten Manager oder Mitarbeiter. Hieraus resultiert eine der Schlüsselfragen der Wirtschaftskriminalität, auf die es keine einfache Antwort gibt: Das Handeln wird für den Einzelnen augenscheinlich als akzeptabel, erforderlich oder unabdingbar erachtet, das aus der spezifischen Wahrnehmung einer Situation seine Rechtfertigung erfährt.20 Das Recht wird also von einer über ihm stehenden Moral als Steuerungsmodus »geschlagen« – jedenfalls aus der Mikroperspektive des Individuums. Deutlich wird das dann an rechtfertigenden Aussagen wie: »Ich habe nur meine Pflicht getan!« »Ich habe mich zu dem Handeln gezwungen gesehen, es gab keine Alternative!« »Wenn ich das Schmiergeld nicht gezahlt hätte, hätte es eben ein anderer tun müssen!« Hier liegt ein zentrales personalethisches Dilemma, nämlich das streitige Verhältnis von Rechtsgehorsam und der vermeintlich höherrangigen legitimatorischen Rechtfertigung auf Basis einer (meist partikularistischen) Moral.
(3) Diese dilemmatische Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten hat nicht immer, aber häufig mit dem organisatorischen Kontext innerhalb von Unternehmen zu tun. Damit geraten Unternehmen gleichsam als »natürliche« Träger von Verantwortung mit in den Fokus.21 Dies dokumentiert eine wachsende gesellschaftliche Sensibilisierung für moralische und rechtliche Verfehlungen von Unternehmen. Dazu haben auf kriminelle Machenschaften rückführbare Unternehmenszusammenbrüche wie die von Enron, Worldcom oder Parmalat, zahlreiche Korruptionsaffären wie bei Siemens, Daimler, Deutsche Telekom oder Bilfinger, das fragwürdige Gebaren von Investmentbanken vor und während der Finanzmarktkrise oder auch die Manipulation der Abgaswerte im VW-Konzern beigetragen. Die Gesetzgeber haben weltweit auf diese Entwicklungen mit einer Regulierungswelle sowie mit der verschärften Durchsetzung regulatorischer Anforderungen reagiert.22 Unternehmen müssen sich daher stärker mit der Frage nach »ihrer« Verantwortlichkeit auseinandersetzen.23 Sie erfahren zudem, dass von ihnen nicht nur Rechtstreue eingefordert wird, sondern, wie die lebhafte Corporate Social Responsibility (CSR)-Diskussion zeigt, auch die Einhaltung in der Gesellschaft verankerten moralischen Prinzipien.
Die öffentliche Debatte um »Fehltritte« der Unternehmen differenziert zumeist nicht zwischen (rechtlicher) Legalität und (moralischer) Legitimität.24 Will ein Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich sein, muss es mit einer »Kultur der Begründbarkeit« auch den moralischen Anliegen wichtiger Stakeholder Rechnung tragen. Das ist die Lehre aus dem breit diskutierten Brent Spar-Fall Anfang der 1990er Jahre. Shell plante, die ausgediente Ölplattform Brent Spar im Meer zu versenken. Dies wäre die günstigste Form der Entsorgung gewesen und das Recht stand auf Seiten des Unternehmens, während Greenpeace massiv gegen dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit auftrat und dabei mit der These hoher giftiger und schädlicher Ölrückstände emotional mobilmachte, was sich aber als fragwürdig, wenn nicht gar falsch erwies. Dennoch nahm Shell nach kräftigen Umsatzeinbußen und heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen, die in einem Brandanschlag auf eine Shell-Tankstelle gipfelten, von der Versenkung Abstand und verkündete in ganzseitigen Anzeigen »Wir werden uns ändern«.25 Wirtschaftskriminelle Verhaltensweisen einerseits und (nur) moralische Verwerflichkeit des Handelns andererseits rücken in der öffentlichen Wahrnehmung eng zusammen bzw. werden nicht oder nicht hinreichend unterschieden. Dies hat vermutlich viel mit problematischen Weichenstellungen auf der dritten, der Ordnungsebene zu tun, auf die Unternehmen als gewichtige Akteure und ihre Lobbyisten interessenbasiert Einfluss nehmen.26
(4) Ein funktionierendes Wirtschaftssystem ist auf moralische und rechtliche Vorleistungen angewiesen.27 Die Sozialwissenschaftler haben dafür den Begriff des Sozialkapitals geprägt, um auf das Fundament für das Zustandekommen von gesellschaftlichen Interaktionen hinzuweisen. Vertrauen sich Menschen gegenseitig und vertrauen sie in die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen,28 dann kommen nicht nur mehr »riskante« Transaktionen zustande, sondern viele Transaktionen können auch mit niedrigeren Kosten abgewickelt werden.29 Solch einen Vertrauensvorschuss werden sich Akteure allerdings nur dann gewähren, wenn sie von weitgehend akzeptierten moralischen Standards im Geschäftsleben (= internen Institutionen) und einem funktionierenden Rechtsstaat (= externen Institutionen) ausgehen können. Moralisch fragwürdiges wie wirtschaftskriminelles Verhalten beeinträchtigen dieses Vertrauen. Beides führt zur Erosion des Sozialkapitals, das aus dem Vertrauensverlust direkt Betroffener, aber aufgrund der hohen Informationstransparenz in modernen Gesellschaften letztlich für alle Wirtschaftsakteure negative Auswirkungen hat. Dieser Wirkungszusammenhang ist verknüpft mit einer abnehmenden Funktionsfähigkeit eines Wirtschaftssystems. Es dokumentiert sich in verstärktem Misstrauen, zunehmender Regulierung und ansteigendem Kontrollaufwand in den verschiedenen Daseinsbereichen.
Hier knüpft die ordnungsethische, d. h. die normsetzende und durchsetzende Funktion eines Gemeinwesens an. In gesellschaftlichen Diskursen wird das Handeln der Akteure im Wirtschaftsleben vermessen und bewertet. Auf dieser Makroebene wird ausgehandelt, was als Wirtschaftsstraftat gelten soll.30 Dabei zeigt sich, dass die Fixierung, welche fragwürdigen Aktivitäten eine Kriminalisierung erfahren sollen und welche nicht, immer auch »Ausdruck besserer Durchsetzungsmacht überlegener gesellschaftlicher Gruppen« ist.31 So beschlossen die europäischen Küstenstaaten erst 1995, also nach der Auseinandersetzung zwischen Shell und Greenpeace, ein sanktionsbewehrtes Verbot der Versenkung schwimmender Ölplattformen im Meer. Dies ist kaum Zufall, sondern ein Beispiel dafür, dass die starke Einflussnahme von Sonderinteressen auf die politische Entscheidungsfindung der Legitimität des staatlichen Rechtsrahmens kaum förderlich ist.32
(1) Moral und Recht erfüllen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften komplementäre Funktionen.33 Die Moral ist das dem Menschen über seine Entwicklungsgeschichte hinweg stets unmittelbarere, präsentere Regelsystem gewesen. Moral und nicht Rechtsregeln prägten in vormoderner Zeit entscheidend den Nahbereich der Menschen, indem die durch persönliche Bindungen und Abhängigkeiten geprägten sozialen Interaktionen stattfanden. Insofern wurde das Recht als eher nachrangig und randständig wahrgenommen. Das änderte sich zwar auf dem Weg in die Moderne, in der die offene und heterogene Gesellschaft als soziale Bezugseinheit mehr und mehr neben tradierte Gemeinschaften trat und diese zunehmend, z. B. bei Arbeitsteilung, Kooperation und Tausch, verdrängte.34 Es entwickelten sich mehr und mehr unpersönliche, instrumentell geprägte Interaktionsmuster.35 Doch erfährt der Mensch nach wie vor in entscheidender Weise seine Sozialisierung im Nahbereich mit ihren tugendethischen Vorstellungen,36 und es dominieren nach wie vor gerade in moralischen Dilemmasituationen die Wertmaßstäbe der Kleingruppe gegenüber universalistischen (rechtlichen) Regeln. Das prägt auch den Umgang mit dolosen Handlungen im Wirtschaftsbereich. So werden zahlreiche Delikte wie Preisabsprachen, Zahlung von Schmiergeldern oder Bilanzmanipulationen von den Delinquenten regelmäßig damit gerechtfertigt, die Arbeitsplätze der Kollegen sichern oder die Existenz »der Firma« retten zu wollen.37 Auch Patronage oder Vetternwirtschaft sind – wertneutral gewendet – Ausdruck der Tatsache, dass man sich der Familie oder seinem näheren Umfeld in besonderer Weise verpflichtet fühlt.
Diese Einsicht hat Konsequenzen für Unternehmen; sie können sich unmittelbarer und effizienter vor abweichendem Verhalten schützen, wenn sie systematisch in die einem modernen Wirtschaftssystem adäquaten (= universalistischen) Moralvorstellungen ihrer Mitarbeiter investieren und nicht auf die disziplinierende Wirkung des Strafrechts vertrauen.38 Sie müssen das Verhalten von Führungskräften und Mitarbeitern präventiv mittels eines werteorientierten Managements zu beeinflussen suchen und können nicht primär auf die generalpräventive Wirkung und / oder nachträgliche Sanktionierung des Strafrechts vertrauen. Dies liegt im Eigeninteresse der Unternehmen, sowohl was die Binnenwirkungen innerhalb der Organisation wie die Außenwirkungen gegenüber externen Stakeholder-Gruppen anbelangt.39 Es gibt also gute Gründe, Wirtschaftskriminalität primär als eine unternehmensethische Herausforderung und nur ergänzend als Problem der Rechtsordnung bzw. des Strafrechts zu verstehen.40 Unternehmen übernehmen so eine eigenständige Rolle bei der Normsetzung und -durchsetzung.41 Das Wirtschaftsstrafrecht wäre im Übrigen schlicht überfordert, würde ihm vorrangig die Aufgabe zugedacht, sozialschädliches Verhalten zu bekämpfen.42
(2) Andererseits erzeugt die praktische Umsetzung des Strafrechts durchaus eine die (wirtschafts-)moralischen Normen festigende Wirkung.43 Daher hat einer der Pioniere der Soziologie, Émile Durkheim (1858-1917), durchaus Recht, als er meinte, ein gewisses Verbrechensaufkommen sei nicht nur normal, sondern für eine Gesellschaft nützlich und notwendig, um mittels strafrechtlicher Sanktionen das Gemeinschaftsbewusstsein zu bewahren und zu befördern.44 Allein Appelle an die Bevölkerung zu mehr Moral und Anstand würden ihre Wirkung systematisch verfehlen. Heinrich Popitz (1925-2002) hat dieses Phänomen in seiner 1968 erschienenen Arbeit über die » Präventivwirkung des Nichtwissens « weitergeführt und auf ein wichtiges Paradoxon hingewiesen. Die faktische Normeinhaltung in einer Gesellschaft beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass jemand selbst wiederum die Norm einhält. Daraus folgert er, dass eine stabile Verhaltensorientierung nur dann gewährleistet sei, wenn die Bevölkerung nicht weiß, ob und in welchem Maße Normbrüche begangen werden. Die Stabilität der Normen wird also gerade erst dadurch gewährleistet, dass die Dunkelziffer des Missbrauchs nicht bekannt ist.45
So darf der Bürger bei seiner Steuerzahlung nicht das Gefühl bekommen, dass er mit seiner Regeltreue der Dumme ist. Bei einem solchen Zustand würden die moralischen Standards erodieren, die Sitten verfallen.46 Anders formuliert: Das Ausmaß der straffrei bleibenden Steuerhinterziehung darf eine »kritische Masse« nicht überschreiten!47 Es ist für die Normakzeptanz also durchaus ambivalent, wenn die Informations- und Kommunikationsrevolution der letzten Jahrzehnte den Umfang der Missachtung von Recht und Moral geradezu im Übermaß transparent werden lässt oder in einem überzeichneten Licht präsentiert. Festzuhalten gilt jedenfalls: Moral und Recht können ihre volle Wirkung nur erfüllen, wenn das jeweils andere Regelungssystem funktioniert. Beide sind elementar aufeinander bezogen und angewiesen.
(1) Die Besonderheiten der beiden Regelsysteme erklärt auch, dass ihre Grenzen zueinander nicht ein für alle Mal scharf gezogen werden können. Ihr Verhältnis gestaltet sich überlappend und ist in steter Veränderung begriffen. Ihr Zusammenspiel ist vielgestaltig und komplex.48 Einige Aspekte seien zur Illustration skizziert:
• Zum einen ist eine Verrechtlichung des Wirtschaftslebens mit einer zunehmenden Regulierungsdichte zu erkennen. Dies gilt z. B. für den Schutz von Arbeitnehmern und Umwelt. Das bedeutet auch eine Expansion des Wirtschaftsstrafrechts. Dies hat mit dem Wandel von vormodernen, sozialintegrativ wirkenden Kleingruppen hin zu großen, anonymen und komplexen Gesellschaften mit ausgeprägter Arbeitsteilung zu tun. Die in Kleingruppen funktionierende soziale Kontrolle mit informellen Sanktionen musste zunehmend um formelle Regeln, Kontrollen und Sanktionen ergänzt werden, wie sie nur das Recht bietet.49
• In engem Zusammenhang damit steht, dass für zunehmend mehr gesellschaftlich sensible Sachverhalte50
• Daneben erfährt das Zusammenspiel von Strafrecht und Moral auch eine dynamische Facette. Die westlichen Gesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten u. a. durch Individualisierungsprozesse, Mobilität und Migration wertepluralistischer und heterogener geworden. Im Gefolge mutierten verschiedene Straftaten wie Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit oder Versicherungsbetrug zu »Kavaliersdelikten« oder »Bagatellvergehen«. Moralische Sanktionen wie Scham, Schande oder Verlust des Ehrgefühls wirken bei Bekanntwerden von Regelverstößen in den Referenzgruppen nicht mehr zureichend – anders als dies zu Zeiten einheitlicher bürgerlicher Moralvorstellungen im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein mag, so dass nur mit einem Mehr an Repression Regeltreue eingefordert werden kann, um die weitere Ausbreitung dieser Delikte einzudämmen.