Oswald Spengler

Politische Schriften

 

 

 

Oswald Spengler: Politische Schriften

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

ISBN 978-3-8430-9054-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9003-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9004-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: München: Beck, 1932.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Oswald Spengler: Politische Schriften. München: Beck, 1933 [Volksausgabe].

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Vorwort

Die hier vorgelegten sieben Arbeiten enthalten das, was ich den Deutschen, vor allem ihren politischen und wirtschaftlichen Führern, in den Jahren 1919 bis 1926 über ihre eigene und die Lage der Welt, ihre Aufgaben und ihre mögliche oder sichere Zukunft zu sagen hatte. Es waren die Jahre, in welchen nach dem Tiefpunkt von Schmach, Unglück und ehrlosem Verhalten die nationale Besinnung begann und sich zu einer Bewegung entwickelte, die endlich eine Macht, nicht nur im Innern, sondern auch dem Ausland sehr bemerkbar, geworden ist.

Die beiden Schriften »Preußentum und Sozialismus« und »Neubau des deutschen Reiches« wie der Würzburger Vortrag drangen sofort in die weitere Öffentlichkeit. Die vier anderen Vorträge wurden durch Auszüge in der Presse bekannt, drei davon auch durch Sonderdrucke in den Kreisen, für die sie bestimmt waren, verbreitet. Sie wurden sämtlich viel gelesen, viel beschimpft und haben, soviel ich sehe, wenig praktische Wirkung erzielt.

Trotzdem oder gerade deshalb sind sie heute in keiner Weise veraltet. Sie zeichnen die großen Probleme, welche drohend vor diesem Zeitalter aufgetürmt stehen und von denen heute nicht eines erkannt, geschweige denn in seiner ganzen Schwere begriffen oder gar gelöst ist, so wie es kein anderer bisher getan, gewollt, gewagt hat: Die Tatsache des unvermindert fortschreitenden Imperialismus, die Tatsache des Klassenkampfes, den heraufsteigenden Cäsarismus, die hereinbrechende Wirtschaftskatastrophe. Ich habe mich, das darf ich ohne Umschweife sagen, in keinem wesentlichen Punkte geirrt. Es steht dem Leser heute frei, sich davon zu überzeugen. Ich gab keine allgemeine, nebelhafte Theorie, kein ideologisches Wunschbild, über das Dilettanten in Verzückung geraten könnten, kein »optimistisches« Programm, durch das Probleme vornehm ignoriert und beiseite geschoben werden, sondern[5] ein Bild der Tatsachen und weiter nichts. Es war hart, unerbittlich, grausam, aber es kommt nur darauf an, ob es richtig ist oder nicht. Weil es das war, erhob sich das Geschrei über Pessimismus: Ich stellte Tatsachen fest, wofür es den anderen an Mut, vielleicht auch an Ehrlichkeit fehlte. Daß sie sehr ernst sind, ist unser Schicksal, nicht meine Art, es zu zu sehen.

Ich hatte es längst gesehen. Im Jahre 1911, als mit der Marokkokrise und dem italienischen Angriff auf Tripolis der Weltkrieg ganz eigentlich schon begann, indem sich beide Parteien klar abzeichneten, hatte ich den Plan, meine Gedanken über Deutschland unter dem Titel »Konservativ und liberal« zusammenzustellen.1 Ich war entsetzt über die Torheit unserer Politik, welche die vollzogene Einschließung Deutschlands ruhig hinnahm, über die Blindheit aller Kreise, die nicht an einen Krieg glaubten, der in Wirklichkeit schon ausgebrochen war, über den verbrecherischen und selbstmörderischen Optimismus, der auf unsren Aufstieg seit 1870, unsre angebliche, in Wirklichkeit längst verlorene Machtstellung, unsren scheinbaren Reichtum, der nur im Schaufenster lag, pochte und jeden Gedanken daran abwies, daß das gründlich anders werden könne. Und dahinter sah ich die unvermeidliche Revolution, die Metternich2 sowohl wie Bismarck klar vorausgesehen hatten, die kommen mußte und nicht nur über Deutschland, ob wir nun als Sieger oder als Besiegte nach Hause kamen. Heute wage ich die Meinung auszusprechen, daß dieser Ausgang des Krieges mit seinen Folgen für die ganze Welt und diese Revolution für uns die mildeste Form war, das Notwendige zu erleiden, und dann auf der Bahn unseres schweren Schicksals weiterzuschreiten. Es wäre furchtbar[6] gewesen, wenn nach einem raschen Siege das zaristische Rußland, Frankreich, England, Italien, die Slawenvölker des zerfallenen Österreich zu einem zweiten Kriege gerüstet hätten und die Revolution unter ihren Augen zwischen einer siegesstolzen, unnachgiebigen konservativen Macht und der als Sieger heimgekehrten krieggeübten Masse ausgebrochen wäre.

So erlebten wir die dümmste und feigste, ehr- und ideenloseste Revolution der Weltgeschichte. Aus Ekel und Erbitterung darüber entstand im Sommer 1919 »Preußentum und Sozialismus« mit der berühmt gewordenen Schilderung dieser Revolution an der Spitze, die ein Wutgeschrei hervorrief und mir nie verziehen worden ist. Von diesem Buche hat die nationale Bewegung ihren Ausgang genommen. Ich zeichnete den tiefen ethischen Gegensatz zwischen englischer und preußischer Lebensauffassung: Dort auf der Insel kein Staat, sondern eine Gesellschaft freier Privatmenschen, die Geschäfte machten, hier an der Grenze nach Osten, nach »Asien« hin ein Staat im strengsten und anspruchsvollsten Sinne, aus der Tradition der Ritterorden erwachsen, welche Kolonisation trieben; dort statt der Autorität des Staates der Parlamentarismus privater Gruppen, hier statt des wirtschaftlichen Liberalismus die Disziplinierung der Wirtschaft durch die politische Autorität. Staat und Partei sind Gegensätze. Partei und Autorität sind es auch.

Und ich zeigte, daß Marx mit seiner Theorie nach England gehört, daß seine Auffassung des Klassenkampfes die Auffassung der Arbeit als Ware, nicht als Beruf, als Lebensinhalt voraussetzt; als Ware, die man nach den Grundsätzen der Manchesterlehre verhandelt und verteuert. Marxismus ist eine Abart des Manchestertums, Kapitalismus der Unterklasse, staatsfeindlich und englisch-materialistisch durch und durch. Daß »Sozialismus« ein Ethos ist, kein Wirtschaftsprinzip, hat man bis heute in denjenigen nationalen Kreisen nicht verstanden, welche dieses Schlagwort aufgriffen. Idioten versuchen auch jetzt noch einen »nationalen« Kommunismus zu predigen. Sozialismus, wie ich ihn verstehe, setzt[7] eine Privatwirtschaft mit ihrer altgermanischen Freude an Macht und Beute voraus.

Und ich zeigte endlich, daß der größte Sieg, den Marx über seine Gegner davongetragen hat, in der allgemeinen Annahme der Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht, in welchen die Anklage enthalten ist, daß nur der eine arbeitet, der andre nicht, und daß der letzte von der Arbeit des ersten lebt. In einem Staat, wo jeder arbeitet, gilt aber dieser ethische Gegensatz mit seiner stillen Verachtung der Arbeit nicht: Ich hatte aus dem Wesen technischer Entwicklung heraus die Ausdrücke Führerarbeit und ausführende Arbeit geprägt, und es liegt nicht an mir, wenn andre nicht klug genug waren, sie sich anzueignen. Aber die Höhe, das Dasein einer Nationalwirtschaft, das Dasein sogar der Ausführenden selbst, hängt von der Qualität der Führerarbeit ab – und in ihrer Vernichtung aus Unverstand, aus Haß, aus Neid entsteht heute die große Gefahr, welche der Wirtschaft der ganzen Welt droht.

Der Aufsatz über das Russentum stammt aus dem Jahre 1922. Zwei Monate nach dem Vortrag wurde der Vertrag von Rapallo durch Maltzahn geschlossen,3 gegen den Willen und zum Entsetzen von Reichskanzler und Außenminister, die gerade in Genua damit beschäftig waren, sich wieder einmal mit englischen und französischen Ministern zu »verständigen«. Es war seit Jahren die erste selbständige Tat deutscher Außenpolitik. Das Russentum war damals und ist heute und in Zukunft in jedem Sinne das nächste Problem für uns, aber ich sehe nicht, daß jemand anders bis heute es von innen heraus verstanden hätte. Wir sind nicht mehr der führende Staat in »Mitteleuropa«, sondern der Grenzstaat gegen »Asien«. Diese Änderung unsrer politisch-geographischen Lage birgt große Möglichkeiten in sich, sie zwingt uns aber schärfer hinzusehen, als es heute üblich ist, nicht mit der einfältigen Formel: Für oder gegen den Bolschewismus. Der Bolschewismus war 1922 mit Lenin identisch. Mit Stalin ist eine entschiedene[8] Wandlung eingetreten. Aber wird sich diese ungeheure Volksmasse durch neue Machthaber langsam aus der geistigen Beschränktheit des westeuropäischen Kommunismus befreien oder wird sie vom Bauerntum her durch eine religiöse Erweckung befreit werden? Das ist die Frage von damals und von morgen.

In dem folgenden Aufsatz über neue Formen der Weltpolitik versuchte ich den Gedanken zu entwickeln, daß die Vormachtstellung Frankreichs – es war die Zeit der Ruhrbesetzung und des Dawesplanes – nur künstlich und nicht dauernd möglich sei: Kein neuer Gedanke, kein aufbauendes Ziel, nur Ausdruck eines greisenhaften Volkstums, dem wider Verdienst und Erwartung ein ungeheurer Erfolg in den Schoß gefallen ist, der in absehbarer Zeit gründlich zu Ende sein wird. Sein Höhepunkt liegt bereits hinter uns: Der Ruhreinmarsch. Darüber hinaus zeigte ich die Verschiebung der Macht vom europäischen »Konzert der Großmächte« in die weiten Gebiete der gesamten Welt, das Schwinden des Vorrangs der weißen Völker und vor allem die grundsätzliche Änderung der Form und Tatsache des »Regierens«: Es handelt sich nicht nur um den Ersatz von Hoheitsregierungen durch Privatinteressen von Parteien, sondern vor allem um die Einwirkung dieser Tatsache und des Weltkrieges auf die Form stehender Heere, welche das System gestützt haben. Ich halte sie für überlebt, seit durch das Eindringen der Parteipolitik in sie die Autorität über diese bewaffneten Massen in Frage gestellt ist, und sehe in der Zukunft das Entstehen kleinerer Freiwilligenheere, die sich aus Überzeugung in den Dienst eines Führers stellen. Gleichzeitig hat sich meiner Meinung nach die Bedeutung der Kriegsflotten und damit der Rangstellung Englands grundsätzlich verändert und vermindert. Die großen Machtlinien über die Kontinente hin treten in den Vordergrund. Auf der anderen Seite ist die Übergangsform der Parteiherrschaft in Parlamenten als die augenblickliche Art des Regierens ohne Autorität in dem Augenblick zu Ende, wo irgendeine Partei diese Form nicht mehr respektiert, sobald sie zu ihrem Nachteil arbeitet, und andere Mittel in[9] Betracht zieht. Damit erscheint die letzte Form zivilisierter Mächte, der Cäsarismus, am Horizont. Seine Vorform wird heute als Diktatur bezeichnet.

Am 26. Februar 1924 hielt ich den Vortrag vor den Würzburger Studenten über die politischen Pflichten der deutschen Jugend. Es war der Tag, an welchem der Hochverratsprozeß gegen die Urheber des Hitlerputsches in München begann. Was ich hier gesagt habe, gilt heute noch mit unverminderter Wucht. Die »junge Generation« hat es nicht verstanden. Es ist die Frage, ob man es in diesem Alter überhaupt verstehen kann, aber ich hoffte darauf und hoffe auch heute noch. Jung in diesem Sinne ist man nicht an Jahren, sondern an Urteilskraft und Verantwortungsfreude. Wer beides nicht besitzt, ist für die Politik stets allzu jung. Aber ich sah das große Laster des jungen Deutschland wieder in voller Blüte, wie nach 1815: Den Hang, die nüchterne Wirklichkeit nicht sehen und meistern zu wollen, sondern sie durch ideale Träume, durch Romantik, durch Parteitheater mit Fahnen, Umzügen und Uniformen zu verschleiern und harte Tatsachen durch Theorien und Programme zu fälschen. Begeisterung ist eine gefährliche Mitgift auf politischen Pfaden. Der Pfadfinder muß ein Held sein, kein Heldentenor. Es steht schlimm um ein Schiff, wenn die Besatzung im Sturme berauscht ist. Politik ist das Gegenteil von Romantik, sehr prosaisch, nüchtern und hart. Die Jugend muß staatsmännische Kunst begreifen und achten lernen, ihre Objekte, Mittel und Methoden, die zähe, feine, kühle Kunst, den Gegner geistig zu überlisten nicht durch Argumente, sondern durch überlegenes Tun.

Aber ich fand eine Mißachtung der wirtschaftlichen Realitäten, die heute ein Hauptproblem großer Politik sind und die sich nicht durch Ideologie behandeln lassen. Und ich zeigte deshalb, daß die entscheidende Wandlung in der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts auf der einen Seite durch die Herrschaft der Kohle herbeigeführt wurde, die massenzüchtend wirkte und Volkstum, gesellschaftliche Schichtung und politischen Rang der führenden Nationen völlig verändert hat; andererseits durch die Entstehung des beweglichen, heimatlosen Finanzkapitals[10] infolge der Herrschaft der Aktie über die arbeitenden Werke. Diese spekulative, am Wirtschaftskörper einer Nation nicht bauende, sondern schmarotzende Form des Besitzes greift nicht nur den »Arbeiter«, also die ausführende Arbeit an, sondern die Industrie, das Bauerntum, den Staat überhaupt. Es ist kindisch, dem Unternehmer mit dem Börsenmann zugleich den Krieg zu erklären. Darin steckt die Ideologie von Leuten geringen Wertes, welche die ganze Wirtschaft nicht mögen, weil sie ihr nicht gewachsen sind. Träumen und Programme entwerfen ist bequemer, aber die Folge davon ist ein gehaltloses und problemloses Leben auf Grund von Parteibezügen. Und endlich steht hier – damals wie heute – die ethische Forderung, sich zu einer brauchbaren Gefolgschaft für künftige Führer zu erziehen. Heute sehe ich keinen. Aber das ist etwas anderes als mitreden zu wollen. Wenn die Mannschaft den General belehren will, hat das Heer aufgehört zu existieren.

Im »Neubau des Deutschen Reiches« zog ich die Summe dessen, was ich für die Aufgaben künftiger Staatsmänner halte. Staatsmänner, nicht Parteiführer und Schwärmer für ein drittes Reich. Vor allem den Staat aufzubauen, das preußische Gegenteil des englisch-parlamentarischen Ausdrucks eines inselhaften Nationalcharakters, den Staat, der auf Autorität beruht und auf dem sittlichen Typus des Staatsdieners im Sinne Friedrichs des Großen, der heute selbst als Begriff verlorengegangen ist. Dann die Erziehung, die heute im vollsten Verfall ist, die zur Erziehung für diesen Staat werden muß und nicht für einen weltfremden Humanismus. Das Recht, das ich als das Ergebnis von Pflichten gegen den Staat und die Nation definierte: Der neue Grundgedanke einer künftigen Rechtsschöpfung, der sehr tiefes Nachdenken fordert und, wie ich glaube, eines großen Volkes würdig ist. Und ich zeigte endlich, wieviel der Marxismus, der Liberalismus, die Demokratie, lauter nichtdeutsche Ideale, daran absichtlich verdorben haben.

Hierher gehört das, was ich über den Steuerbolschewismus gesagt habe, der in seiner ganzen furchtbaren Gefahr auch heute noch nicht erkannt ist, weil eine Regierung nach der[11] anderen von provisorischen Mitteln lebt und die Lösung des Problems der Zukunft zuschiebt. Hat heute schon jemand begriffen, was alles »Steuer« ist, und was die besinnungslosen Methoden bereits zerstört haben? Dazu gehört die Zerstörung der führenden Schichten nicht nur des deutschen Volkes durch den trockenen Bolschewismus in Gestalt von Steuern, welche der Neid untergeordneter Klassen diktierte; die Inflation als Konfiskationssteuer gegenüber dem ererbten, ersparten, erarbeiteten Besitz, in welchem doch auch die Voraussetzung zu künftigen Leistungen wirtschaftlicher und kultureller Natur aufgespart war; die Enteignung des Hausbesitzes, der aus Ersparnissen des Mittelstandes hervorgegangen war, durch die Niedrighaltung der Mieten, kurz der Kommunismus durch den Steuerzettel, der damals wie heute jede Regierung zur Verbrecherin macht, weil sie nicht den Mut findet, die Tatsachen zu durchdenken und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Und endlich: Das heutige Verhältnis von Weltwirtschaft und Weltpolitik. Das war vor allem zu denen gesagt, welche heute das Schicksal der Wirtschaft in der Hand haben und von Tag zu Tag leben, statt die Schwere ihrer Aufgabe zu begreifen. Es muß immer wieder gesagt werden: Politik ist im Leben der Völker unbedingt das erste und Wirtschaft das zweite. Eine gesunde Wirtschaft kann es in einem Lande ohne starke außenpolitische Führung nicht geben. Es zeugt von einer Erkrankung des Volkskörpers, wenn das Verhältnis sich umkehrt. Das ist heute in der ganzen Welt der Fall, aber die Folgen liegen offen vor unseren Augen. Die ganze Gefahr, die damals – in einem Augenblick, wo flacher Optimismus sich wie heute einbildete, daß es »wieder aufwärts gehe« – niemand sehen wollte und die heute jeder sieht, aber nicht begreift und nicht begreifen will, liegt darin, daß wir in einer Wirtschaftskatastrophe begriffen sind, welche die gesamten Formen des letzten Jahrhunderts von Grund aus verwandeln wird, und die man nicht nach Monaten, sondern nach Jahrzehnten bemessen muß. Das hier gezeichnete Bild der Zusammenhänge zwischen den neuen Formen und Lagen der[12] großen Politik und den sich rasch wandelnden Formen der Wirtschaft ist heute ebenso gültig wie damals. Die Dinge sind weiter fortgeschritten, aber das Verständnis für sie blieb auf dem alten Punkte.

Das ist es, was ich in diesen Jahren sagte und schrieb, nicht für den Augenblick, sondern für die Zukunft. Ich sehe schärfer als andere, weil ich unabhängig denke, von Parteien, Richtungen und Interessen frei. Ich habe die Dinge vorausgesehen, wie sie sich organisch, schicksalhaft entwickelten und weiter entwickeln werden. Ich sehe noch mehr voraus, aber ich fühle mich einsamer als je, nicht etwa wie unter Blinden, sondern wie unter Leuten, die ihre Augen verbunden haben, um den Einsturz des Hauses nicht zu sehen, während sie mit ihren Hämmerchen daran hantieren. Aber ich wiederhole immer und immer wieder, daß ich lediglich Tatsachen beschrieben habe, für Leute, die staatsmännisch denken und handeln können, und nicht für Romantiker. Will man nicht endlich hören und nicht nur lesen? Ich warte darauf.

München im Oktober 1932

Oswald Spengler[13]

 

Fußnoten

 

1 Unt. d. Abdl. I S. 62 f. Aus diesen Gedanken ist dann mein geschichts-philosophisches Hauptwerk entstanden.

Der »Untergang des Abendlandes« wird nach den neuen Ausgaben seit 1924 zitiert (Band I 65., Band II 43. Auflage und folg.).

 

2 Er schrieb an Kübeck (S. 138), daß Preußen, wenn es den deutschen Staatsbund auflöse, dazu den Bund mit der Demokratie brauche. »Ein Teil der deutschen Gebiete würde in Preußen aufgehen; Preußen wäre alsdann bestimmt, in einer deutschen Republik aufzugehen.«

 

3 Am 16. April.

 

Preussentum und Sozialismus

Einleitung

Diese kleine Schrift ist aus Aufzeichnungen hervorgegangen, die für den »Untergang des Abendlandes«, namentlich den zweiten Band bestimmt, die teilweise sogar der Keim waren, aus dem diese ganze Philosophie sich entwickelt hat.1

Das Wort Sozialismus bezeichnet nicht die tiefste, aber die lauteste Frage der Zeit. Jeder gebraucht es. Jeder denkt dabei etwas andres. Jeder legt in dieses Schlagwort aller Schlagworte das hinein, was er liebt oder haßt, fürchtet oder wünscht. Aber niemand übersieht die historischen Bedingungen in ihrer Enge und Weite. Ist Sozialismus ein Instinkt oder ein System? Das Endziel der Menschheit oder ein Zustand von heute und morgen? Oder ist er nur die Forderung einer einzelnen Klasse? Ist er mit dem Marxismus identisch?

Der Fehler aller Wollenden ist, daß sie das, was sein sollte, mit dem verwechseln, was sein wird. Wie selten ist der freie Blick über das Werden hin! Noch sehe ich niemand, der den Weg dieser Revolution begriffen, ihren Sinn, ihre Dauer, ihr Ende überschaut hätte. Man verwechselt Augenblicke mit Epochen, das nächste Jahr mit dem nächsten Jahrhundert, Einfälle mit Ideen, Bücher mit Menschen. Diese Marxisten sind nur im Verneinen stark, im Positiven sind sie hilflos. Sie verraten endlich, daß ihr Meister nur ein Kritiker, kein Schöpfer war. Für eine Welt von Lesern hat er Begriffe hinterlassen. Sein von Literatur gesättigtes, durch Literatur gebildetes und zusammengehaltenes Proletariat war nur so lange Wirklichkeit, als es die Wirklichkeit des Tages ablehnte, nicht darstellte. Heute ahnt man es – Marx war nur der Stiefvater des Sozialismus. Es gibt ältere, stärkere, tiefere Züge in ihm als dessen Gesellschaftskritik. Sie waren ohne ihn da und haben sich ohne ihn und gegen ihn weiter entfaltet. Sie stehen nicht auf dem Papier, sie liegen im Blut. Und nur das Blut entscheidet über die Zukunft.[3]

Wenn aber der Sozialismus nicht Marxismus ist – was ist er dann? Hier steht die Antwort. Heute schon ahnt man sie, aber den Kopf voller Pläne, Standpunkte, Ziele wagt man nicht, sie zu wissen. Man flüchtet vor Entscheidungen von der ehemaligen energischen Haltung zu mittleren, veralteten, milderen Auffassungen, selbst zu Rousseau, zu Adam Smith, zu irgend etwas. Schon ist jeder Schritt gegen Marx gerichtet, aber bei jedem ruft man ihn an. Indessen ist die Zeit der Programmpolitik vorbei. Wir späten Menschen des Abendlandes sind Skeptiker geworden. Ideologische Systeme werden uns nicht mehr den Kopf verwirren. Programme gehören in das vorige Jahrhundert. Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst.

Und damit ist die Aufgabe gestellt: es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien. Den deutschen, denn es gibt keinen andern. Auch das gehört zu den Einsichten, die nicht länger verborgen bleiben. Wir Deutsche sind Sozialisten, auch wenn niemals davon geredet worden wäre. Die andern können es gar nicht sein.

Ich zeichne hier nicht eine jener »Versöhnungen«, kein Zurück oder Beiseite, sondern ein Schicksal. Man entgeht ihm nicht, wenn man die Augen schließt, es verleugnet, bekämpft, vor ihm flüchtet. Das sind nur andere Arten es zu erfüllen. Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe. Das lehrt nicht die Literatur, sondern die unerbittliche Wirklichkeit der Geschichte, in der das Blut, die durch nie ausgesprochne Ideen gezüchtete Rasse, der zur einheitlichen Haltung von Leib und Seele gewordne Gedanke über bloße Ideale, über Sätze und Schlüsse hinwegschreitet.

Ich zähle damit auf den Teil unserer Jugend, der tief genug ist, um hinter dem gemeinen Tun, dem platten Reden, dem wertlosen Plänemachen das Starke und Unbesiegte zu fühlen, das seinen Weg vorwärts geht, trotz allem; die Jugend, in welcher der Geist der Väter sich zu lebendigen Formen gesammelt hat, die sie fähig machen, auch in Armut und Entsagung,[4] römisch im Stolz des Dienens, in der Demut des Befehlens, nicht Rechte von andern, sondern Pflichten von sich selbst fordernd, alle ohne Ausnahme, ohne Unterschied, ein Schicksal zu erfüllen, das sie in sich fühlen, das sie sind. Ein wortloses Bewußtsein, das den einzelnen in ein Ganzes fügt, unser Heiligstes und Tiefstes, ein Erbe harter Jahrhunderte, das uns vor allen andern Völkern auszeichnet, uns, das jüngste und letzte unsrer Kultur.

An diese Jugend wende ich mich. Möge sie verstehen, was damit ihrer Zukunft auferlegt wird; möge sie stolz darauf sein, daß man es darf.[5]

 

Fußnoten

 

1 Unt. d. Abdl. I, S. 62.

 

Die Revolution

1

Die Geschichte kennt kein Volk, dessen Weg tragischer gestaltet wäre. In den großen Krisen kämpften alle andern um Sieg oder Verlust; wir haben immer um Sieg oder Vernichtung gekämpft: von Kolin und Hochkirch über Jena und die Freiheitskriege, wo noch auf französischem Boden versucht wurde, durch eine Aufteilung Preußens die Verständigung zwischen dessen Verbündeten und Napoleon zu erreichen, über jene verzweifelte Stunde von Nikolsburg, in der Bismarck an Selbstmord dachte, und Sedan, das die Kriegserklärung Italiens und damit eine allgemeine Offensive der Grenzmächte eben noch abwandte, bis zu dem Gewitter furchtbarer Kriege über den ganzen Planeten hin, dessen erste Schläge eben verhallt sind. Nur der Staat Friedrichs des Großen und Bismarcks durfte es wagen, an Widerstand überhaupt zu denken.

In all diesen Katastrophen haben Deutsche gegen Deutsche gestanden. Es gehört nur der Oberfläche der Geschichte an, daß es oft Stamm gegen Stamm oder Fürst gegen Fürst war; in der Tiefe ruhte jener Zwiespalt, den jede deutsche Seele birgt und der schon in gotischer Zeit, in den Gestalten Barbarossas und Heinrichs des Löwen zur Zeit von Legnano groß[5] und düster hervortrat. Wer hat das verstanden? Und wer durchschaut jene Wiederkehr des Herzogs Widukind in Luther? Welcher dunkle Drang ließ all jene Deutschen für Napoleon kämpfen und fühlen, als er mit französischem Blute die englische Idee über den Kontinent trug? Was verbindet in der tiefsten Tiefe das Rätsel von Legnano mit dem von Leipzig? Weshalb empfand Napoleon die Vernichtung der kleinen friderizianischen Welt als seine ernsteste Aufgabe – und im Grunde seines Geistes als eine unlösbare?

Der Weltkrieg ist, am Abend der westlichen Kultur, die große Auseinandersetzung zwischen den beiden germanischen Ideen, Ideen, die wie alle echten nicht gesprochen, sondern gelebt wurden. Er trug seit seinem wirklichen Ausbruch, dem Vorpostengefecht auf dem Balkan 1912, zunächst die äußere Form des Kampfes zweier Großmächte, von denen die eine beinahe niemand, die andre alle auf ihrer Seite hatte. Er endete zunächst im Stadium der Schützengräben und verrottenden Millionenheere. Aber schon in diesem wurde eine neue Formel des ungemilderten Gegensatzes gefunden, die augenblicklich mit den Schlagworten Sozialismus und Kapitalismus in einem sehr flachen Sinne und mit der vom vorigen Jahrhundert ererbten Überschätzung rein wirtschaftlicher Einzelheiten bezeichnet wird. Hinter ihnen tritt die letzte große Seelenfrage des faustischen Menschen zutage.

In diesem Augenblick tauchte, den Deutschen selbst nicht bewußt, das napoleonische Rätsel wieder auf. Gegen dieses Meisterstück von Staat, unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte, daß man es haßte wie alles Dämonisch-Unergründliche, rannte das englische Heer Deutschland an.[6]

 

2

Denn das gibt es. Was hier zum tödlichen Streich ausholte, war nicht notwendig ein Verrat aus weltbürgerlichem Hange oder schlimmeren Gründen; es war ein beinahe metaphysisches[6] Wollen, zäh und selbstlos, oft einfältig genug, oft begeistert und ehrlich patriotisch, aber in seinem bloßen Dasein eine stets bereite Waffe für jeden äußeren Feind von der praktischen Tiefe des Engländers; ein verhängnisvoller Inbegriff von politischen Wünschen, Gedanken, Formen, die in Wirklichkeit nur ein Engländer ausfüllen, meistern, nutzen kann, für Deutsche trotz aller schweren Leidenschaft und ernsten Opferwilligkeit nur ein Anlaß dilettantischer Betätigung, in seiner staatsfeindlichen Wirkung vernichtend, vergiftend, selbstmörderisch. Es war die unsichtbare englische Armee, die Napoleon seit Jena auf deutschem Boden zurückgelassen hatte.

Das, der bis zur Wucht eines Schicksals herausgebildete Mangel an Tatsachensinn ist es, was von der Höhe der Stauferzeit an, wo diese prachtvollen Menschen sich über die Forderung des Tages erhaben fühlten, bis herab zur provinzialen Biedermännerei des 19. Jahrhunderts, die man auf den Namen des deutschen Michel getauft hat, jenem andern Instinkt entgegenarbeitete und ihm eine Entfaltung aufzwang, die seine äußere Geschichte zu einer dichten Folge verzweifelter Katastrophen gestaltet hat. Das Micheltum ist die Summe unserer Unfähigkeiten, das grundsätzliche Mißvergnügen an überlegnen Wirklichkeiten, die Dienst und Achtung fordern, Kritik zur unrechten Zeit, Ruhebedürfnis zur unrechten Zeit, Jagd nach Idealen statt rascher Taten, rasche Taten statt vorsichtigen Abwägens, das »Volk« als Haufe von Nörglern, die Volksvertretung als Biertisch höherer Ordnung. Alles das ist englisches Wesen, aber in deutscher Karikatur. Und vor allem das Stückchen privater Freiheit und verbriefter Unabhängigkeit, das man genau dann aus der Tasche zieht, wenn John Bull es mit sicherm Instinkt beiseitelegen würde.

Der 19. Juli 1917 ist der erste Akt der deutschen Revolution. Das war kein bloßer Wechsel der Führung, sondern, wie die brutale Form namentlich dem Gegner verriet, der Staatsstreich des englischen Elements, das seine Gelegenheit wahrnahm. Es war die Auflehnung nicht gegen die Macht eines[7] Unfähigen, sondern gegen die Macht überhaupt. Unfähigkeit der Staatsleitung? Hatten diese Gruppen, in denen nicht ein Staatsmann saß, nur den Splitter im Auge der Verantwortlichen gesehen? Hatten sie statt der Fähigkeiten, die sie nicht bieten konnten, in dieser Stunde etwas andres einzusetzen als ein Prinzip? Es war kein Aufstand des Volkes, das zusah, ängstlich, zweifelnd, obwohl nicht ohne jene michelhafte Sympathie mit allem, was gegen die da oben ging, es war eine Revolution in den Fraktionszimmern. Mehrheitspartei ist bei uns ein Name für einen Verein von zweihundert Mitgliedern, nicht für den größeren Teil des Volkes. Erzberger als der taktisch begabteste Demagog unter ihnen, groß in Hinterhalten, Überfällen, Skandalen, ein Virtuose im Kinderspiel des Ministerstürzens, ohne die geringste staatsmännische Begabung englischer Parlamentarier, deren Kniffe er nur beherrschte, zog den Schwarm der Namenlosen nach sich, die auf eine öffentliche Rolle, gleichviel welche, erpicht waren. Es waren die Epigonen der Biedermeierrevolution von 1848, die Opposition als Weltanschauung betrachteten, und die Epigonen der Sozialdemokratie, denen die eiserne Hand Bebels fehlte, der mit seinem starken Wirklichkeitssinn dies schamlose Schauspiel nicht geduldet, der eine Diktatur, von rechts oder links, gefordert und erreicht hätte. Er hätte dies Parlament zum Teufel gejagt und die Pazifisten und Völkerbundsschwärmer erschießen lassen.

Das also war der Bastillesturm der deutschen Revolution.

Souveränität der Parteiführer ist ein englischer Gedanke. Um ihn zu verwirklichen, müßte man Engländer von Instinkt sein und den gesamten Stil des englischen öffentlichen Lebens hinter sich und in sich haben. Mirabeau dachte daran. »Die Zeit, in der wir leben, ist sehr groß; die Menschen aber sind sehr klein und noch sehe ich niemand, mit dem ich mich einschiffen möchte« – ihm dies stolze und resignierte Wort nachzusprechen, hatte 1917 niemand das Recht. Die Härte der Staatsgewalt brechen, nichts Entscheidendes mehr über sich dulden, ohne selbst Entscheidungen gewachsen zu sein, das war der rein negative Sinn dieses Staatsstreiches: Absetzung[8] des Staates, Ersatz durch eine Oligarchie subalterner Parteihäupter, die nach wie vor Opposition als Beruf und Regieren als Anmaßung empfanden, vor dem lachenden Gegner, vor verzweifelnden Zuschauern im Innern Stück für Stück abtragen, anbohren, verrücken, die neue Allmacht an den wichtigsten Beamten erproben wie ein Negerkönig ein Gewehr an seinen Sklaven, das war der neue Geist, bis in der schwarzen Stunde des letzten Widerstandes dieser Staat verschwand.[9]

 

3

Dem Handstreich der englischen Staatsgegner folgte mit Notwendigkeit im November 1918 der Aufstand des marxistischen Proletariats. Der Schauplatz wurde aus dem Sitzungssaal auf die Straße verlegt. Gedeckt durch die Meuterei der »Heimatarmee« brachen die Leser der radikalen Presse los, von den klügeren Führern verlassen, die nur noch halb von ihrer Sache überzeugt waren. Auf die Revolution der Dummheit folgte die der Gemeinheit. Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze, das in Aktion trat. Der echte Sozialismus stand im letzten Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet.

Es war die sinnloseste Tat der deutschen Geschichte. Es wird schwer sein, in der Geschichte andrer Völker Ähnliches zu finden. Ein Franzose würde den Vergleich mit 1789 als eine Beleidigung seiner Nation mit Recht ablehnen.

War das die große deutsche Revolution?

Wie flach, wie flau, wie wenig überzeugt war das alles! Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten. Man sagt, diese Gestalten[9] beschmutzen jede Revolution. Gewiß. Nur daß in den andern das gesamte Volk mit solcher Urgewalt hervorbrach, daß die Hefe verschwand. Hier handelte sie allein. Die ungeheure Masse, die ein Gedanke zur Einheit schmiedete, blieb aus.

In der Bebelpartei war etwas Soldatisches gewesen, das sie vor dem Sozialismus aller andern Länder auszeichnete, klirrender Schritt der Arbeiterbataillone, ruhige Entschlossenheit, Disziplin, der Mut, für etwas Jenseitiges zu sterben. Seit die intelligenteren Führer von gestern sich dem Feinde von gestern, der vormärzlichen Spießbürgerlichkeit in die Arme geworfen hatten, aus Angst vor dem Erfolg einer Sache, die sie seit 40 Jahren vertraten, aus Angst vor der Verantwortung, vor dem Augenblick, wo sie Wirklichkeiten nicht mehr angreifen, sondern schaffen sollten, erlosch die Seele der Partei. Hier trennten sich – zum ersten Male! – Marxismus und Sozialismus, die Klassentheorie und der Gesamtinstinkt. Beschränkte Ehrlichkeit war nur bei den Spartakisten. Die Klügeren hatten den Glauben an das Dogma verloren, den Mut zum Bruche mit ihm noch nicht gefunden. Und so hatten wir das Schauspiel einer Arbeiterschaft, die durch einige dem Gehirn eingehämmerte Sätze und Begriffe in ihrem Bewußtsein vom Volke abgespalten war, von Führern, die ihre Fahne verließen, Geführten, die nun führerlos vorwärts stolperten – am Horizont ein Buch, das sie nie gelesen und das jene in seiner Beschränktheit nie verstanden hatten. Sieger in einer Revolution ist nie eine einzelne Klasse – da hat man 1789 falsch verstanden; Bourgeoisie ist nur ein Wort –, sondern, es sei immer wieder gesagt, das Blut, die zum Leib, zum Geist gewordne Idee, die alle vorwärts treibt. Sie nannten sich 1789 die Bourgeoisie, aber jeder echte Franzose war und ist heute noch Bürger. Jeder echte Deutsche ist Arbeiter. Das gehört zum Stil seines Lebens. Die Marxisten hatten die Gewalt in Händen. Aber sie dankten freiwillig ab; der Aufstand kam für ihre Überzeugung zu spät. Er war eine Lüge.[10]

 

4

Verstehen wir überhaupt etwas von Revolution? Als Bakunin 1848 den Aufruhr in Dresden mit einer Niederbrennung aller öffentlichen Gebäude krönen wollte und auf Widerstand stieß, erklärte er »Die Deutschen sind zu dumm dazu« und ging seiner Wege. Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten. Nein, wir sind keine Revolutionäre. Keine Not, keine Presse, keine Partei kann einen ordnungswidrigen Sturm mit der Gewalt von 1813, 1870, 1914 hervorrufen. Von ein paar Narren und Strebern abgesehen, wirkte die Revolution auf jeden wie ein einstürzendes Haus, am tiefsten vielleicht auf die Sozialistenführer selbst. Es ist ohne Beispiel: sie hatten plötzlich, was sie seit 40 Jahren erstrebten, die volle Gewalt, und empfanden sie als Unglück. Dieselben Soldaten, die unter der schwarz-weiß-roten Fahne vier Jahre lang als Helden gefochten hatten, haben unter der roten nichts gewollt, nichts gewagt, nichts geleistet. Diese Revolution hat ihren Anhängern den echten Mut nicht gegeben, sondern genommen.

Das klassische Land westeuropäischer Revolutionen ist Frankreich. Der Schall tönender Worte, die Blutströme auf dem Straßenpflaster, la sainte guillotine, die wüsten Brandnächte, der Paradetod auf der Barrikade, die Orgien rasender Massen – das alles entspricht dem sadistischen Geist dieser Rasse. Was an symbolischen Worten und Akten zu einer vollständigen Revolution gehört, kommt aus Paris und ist von uns nur schlecht nachgeahmt worden. Wie ein proletarischer Aufstand unter feindlichen Kanonen aussieht, haben sie uns schon 1871 vorgeführt. Es wird nicht das einzige Mal gewesen sein.

Der Engländer sucht den inneren Feind von der Schwäche seiner Position zu überzeugen. Gelingt es nicht, so greift er ruhig zu Schwert und Revolver und zwingt ihn, ohne revolutionäre Melodramatik. Er schlägt seinem König den Kopf[11] ab, weil er dies Symbol instinktiv für notwendig hält; es ist für ihn eine Predigt ohne Worte. Der Franzose tut es – aus revanche, aus Freude an blutigen Szenen und mit dem geistreichen Kitzel, daß er gerade einen Königskopf daran wenden kann. Denn ohne Menschenköpfe auf Piken, Aristokraten an der Laterne, von Weibern geschlachtete Priester wäre er nicht zufrieden. Das Ergebnis der großen Tage kümmert ihn weniger. Der Engländer will den Zweck, der Franzose die Mittel.

Was wollten wir? Wir bringen es nur zu Karikaturen von beiderlei Art. Prinzipienreiter, Schulfüchse, Schwätzer in der Paulskirche und in Weimar, ein kleiner Spektakel auf der Gasse, ein Volk im Hintergrunde, das wenig beteiligt zusieht. Aber eine echte Revolution ist nur die eines ganzen Volkes, ein Aufschrei, ein eherner Griff, ein Zorn, ein Ziel.

Und das, diese deutsche sozialistische Revolution, fand 1914 statt. Sie vollzog sich in legitimen und militärischen Formen. Sie wird, in ihrer dem Durchschnitt kaum verständlichen Bedeutung, die Widerlichkeiten von 1918 langsam überwinden und als Faktor ihrer fortschreitenden Entwicklung einordnen.

Aber immerhin, im volkstümlichen Bilde der Geschichte wird nicht sie, sondern der Novemberaufstand künftig voranstehen. Man kann sich wohl ausmalen, wie im idealen Fall eine proletarische Revolution an dieser Stelle einzusetzen gehabt hätte. Und da enthüllt sich die überwältigende Feigheit und Minderwertigkeit des Elements, das der proletarische Gedanke zu seiner Verteidigung bereit fand. Auch die großen Revolutionen werden durch Blut und Eisen entschieden. Was hätten bedeutende Massenführer, was hätten die Independenten und Jakobiner in dieser Lage getan! Und die Marxisten? Sie hatten die Macht, sie hätten alles wagen dürfen. Ein großer Mann aus der Tiefe, und das ganze Volk wäre ihm gefolgt. Aber nie ist eine Massenbewegung durch die Erbärmlichkeit der Führer und Gefolgsleute elender in den Schmutz gezogen worden. Die Jakobiner waren bereit, alles andere zu opfern, weil sie sich selbst opferten: marcher volontiers,[12] les pieds dans le sang et dans les larmes, wie es St. Just formulierte. Sie kämpften gegen die Mehrheit im Innern und gegen halb Europa an der Front. Sie rissen alles mit. Sie schufen Heere aus dem Nichts, sie siegten ohne Offiziere, ohne Waffen. Hätten ihre Nachäffer von 1918 die rote Fahne an der Front entfaltet, den Kampf auf Leben und Tod gegen das Kapital erklärt; wären sie vorangegangen, um als die ersten zu fallen, sie hätten nicht nur das zu Tode erschöpfte Heer, die Offiziere vom ersten bis zum letzten, sie hätten auch den Westen mitgerissen. In solchen Augenblicken siegt man durch den eigenen Tod. Aber sie verkrochen sich; statt an die Spitze roter Heere stellten sie sich an die Spitze gutbezahlter Arbeiterräte. Statt der Schlachten gegen den Kapitalismus gewannen sie die gegen Proviantlager, Fensterscheiben und Staatskassen. Statt ihr Leben verkauften sie ihre Uniformen. An der Feigheit ist diese Revolution gescheitert. Jetzt ist es zu spät. Was in den Tagen des Waffenstillstandes und der Friedensunterzeichnung versäumt wurde, ist niemals nachzuholen. So sank das Ideal der Masse zu einer Reihe schmutziger Lohnerpressungen ohne Gegenleistung herab; auf Kosten des übrigen Volkes, der Bauern, der Beamten, der Geistigen zu schmarotzen, die Worte Rätesystem, Diktatur, Republik so oft an Stelle mangelnder Taten hinauszuschreien, daß sie in zwei Jahren lächerlich geworden sein werden, so weit reichte ihr Mut. Als einzige »Tat« erscheint der Fürstensturz, obwohl gerade die republikanische Regierungsform mit dem Sozialismus nicht das geringste zu tun hat.

Dies alles beweist, daß der »vierte Stand« – im tiefsten Sinne eine Negation1 – im Gegensatz und als Gegensatz zum übrigen Volke nicht aufbauend wirken kann. Es beweist, wenn dies die sozialistische Revolution war, daß das Proletariat nicht ihr vornehmster Träger ist. Mag kommen, was da will, diese Frage ist unwiderruflich entschieden. Die Klasse, welche Bebel für die Entscheidung herangezüchtet hatte, hat als Einheit versagt. Für immer, denn die verlorene Schwungkraft[13] läßt sich nicht wiedererwecken. Eine große Leidenschaft ist durch Erbitterung nicht zu ersetzen. Und die Verfechter des gestrigen Programms mögen sich nicht täuschen: sie werden den wertvollen Teil der Arbeiterschaft unwiderruflich verlieren und aus Führern einer großen Bewegung werden sie eines Tages zu wortreichen Helden von Vorstadtkrawallen gesunken sein. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.[14]

 

Fußnoten

 

1 Unt. d. Abdl. II, S. 438 ff.

 

5

Das also war die große, seit Generationen verkündete, besungene, angedichtete deutsche Revolution – ein Schauspiel von einer so fürchterlichen Ironie, daß es des Abstandes von Jahrzehnten bedarf, bevor sie dem Deutschen fühlbar wird, eine Revolution, die das umwarf, was sie wollte und nun will, ohne zu wissen was.

Betrachtet man von dieser künftigen Höhe aus die drei Revolutionen, die ehrwürdige, die großartige, die lächerliche, so läßt sich sagen: Die drei spätesten Völker des Abendlandes haben hier drei ideale Formen des Daseins angestrebt. Berühmte Schlagworte kennzeichnen sie: Freiheit, Gleichheit, Gemeinsamkeit. Sie erscheinen in den politischen Fassungen des liberalen Parlamentarismus, der gesellschaftlichen Demokratie, des autoritativen Sozialismus: scheinbar ein neuer Besitz, in Wahrheit nur die äußerste reine Gestaltung des unveränderlichen Lebensstils dieser Völker, jedem ganz und allein eigen und keinem andern mitteilbar.

Antike Revolutionen stellen lediglich den Versuch dar, eine Lebenslage zu erreichen, in der ein in sich ruhendes Dasein überhaupt möglich und erträglich ist. Trotz der Leidenschaftlichkeit des äußeren Bildes sind sie sämtlich defensiver Natur. Von Kleon bis herab zu Spartacus hat niemand daran gedacht, über die eigne Not des Augenblicks hinaus sich für eine allgemeine Neuordnung der antiken Daseinsbedingungen einzusetzen. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen eine Machtfrage: Ist der Wille des einzelnen[14] dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigne Entscheidung der ganzen Welt aufzuzwingen.

Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt es in letzter Linie allen zugute.

Der französische Instinkt: die Macht gehört niemand. Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit aller, idealer Anarchismus, in der Praxis immer wieder (1799, 1851, 1871, 1918) durch den Despotismus von Generalen oder Präsidenten lebensfähig erhalten.

Beides heißt Demokratie, aber in sehr verschiedener Bedeutung. Von einem Klassenkampf im marxistischen Sinne ist nicht die Rede. Die englische Revolution, die den Typus des unabhängigen, nur sich selbst verantwortlichen Privatmannes hervorbrachte, bezog sich überhaupt nicht auf Stände, sondern auf den Staat. Der Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt. Die Stände bestehen noch heute, allgemein geachtet, instinktiv auch Von der Arbeiterschaft anerkannt. Die französische Revolution allein ist ein »Klassenkampf«, aber von Rang-, nicht von Wirtschaftsklassen. Die wenig zahlreichen Privilegierten werden der gleichförmigen Volksmasse, der Bourgeoisie, einverleibt.

Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt. Es ist aber auch klar, daß der preußische Instinkt antirevolutionär ist. Den Organismus aus dem Geiste des[15] 18. Jahrhunderts in den des 20. zu überführen – was man in einem ganz andern, spezifisch preußischen Sinne liberal und demokratisch nennen kann – war eine Aufgabe für Organisatoren. Die radikale Theorie aber machte aus einem Teil des Volkes einen vierten Stand zurecht – sinnlos in einem Lande der Bauern und Beamten. Sie gab dem überwiegenden, in zahllose Berufsstände gegliederten Teil den Namen »dritter Stand« und bezeichnete ihn damit als Objekt eines Klassenkampfes. Sie machte den sozialistischen Gedanken endlich zum Privilegium des vierten Standes. Im Banne dieser Konstruktionen zog man denn im November aus, um das zu erreichen, was im Grunde längst da war. Und da man es im Nebel der Schlagworte nicht erkannte, zerschlug man es. Nicht nur der Staat, auch die Partei Bebels, das Meisterwerk eines echt sozialistischen Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ und eben damit die unvergleichliche Waffe der Arbeiterschaft, wenn sie dem Staat den Geist des neuen Jahrhunderts einimpfen wollte, ging in Trümmer. Das macht diese Revolution so verzweifelt lächerlich: sie brach auf, um ihr eignes Haus anzuzünden. Was 1914 das deutsche Volk sich selbst versprochen, was es bereits langsam, ohne Pathos zu verwirklichen begonnen hatte, wofür zwei Millionen Männer gefallen waren, wurde verleugnet und vernichtet. Und dann stand man ratlos, ohne zu wissen, was nun veranstaltet werden sollte, um sich selbst das Vorhandensein einer fortschreitenden Revolution zu beweisen. Es war sehr nötig, denn der Arbeiter, der etwas ganz andres erwartet hatte, schaute mißtrauisch auf, aber mit dem täglichen Ausrufen der Schlagworte in die leere Luft hinein war es nicht getan.[16]

 

6

Und so richtete der unentwegt liberale Michel den gestürzten Thron wieder auf und setzte sich darauf. Er war der gutmütige Erbe des Narrenstreiches, von ganzem Herzen antisozialistisch und deshalb den Konservativen wie den[16] Spartakisten gleichmäßig abgeneigt, voller Angst, daß beide eines Tages ihr Gemeinsames entdecken möchten. Karl Moor im Klubsessel, der alle Interessenjäger, auch die fragwürdigsten, freisinnig duldete, vorausgesetzt, daß das republikanisch-parlamentarisch-demokratische Prinzip gewahrt blieb, daß man reich an Worten, maßvoll im Tun war, und daß Kühnheit, Entschlossenheit, disziplinierte Unterordnung und andre Zeichen von Autoritätsbewußtsein sorgfältig aus seiner Nähe entfernt blieben. Zu seinem Schütze berief er die einzige Entdeckung der Novembertage, bezeichnenderweise einen Soldaten von echtem Holze, und hegte nun wieder tiefes Mißtrauen gegen den militärischen Geist, ohne den die Farce von Weimar ein schnelles Ende erreicht haben würde.

Was aber hier geleistet wurde an Denken, Können, Haltung, Würde, genügt, um den Parlamentarismus in Deutschland für immer zu richten. Unter dem Symbol der schwarz-rot-gelben Fahne, die damit endgültig lächerlich geworden ist, wurden alle Torheiten der Paulskirche erneuert, wo die Politik ebenfalls keine Tat, sondern ein Geschwätz, ein Prinzip gewesen war. Der Mann von 1917 war auf dem Gipfel: sein Waffenstillstand, sein Völkerbund, sein Friede, seine Regierung. Michel lüftete lächelnd die Mütze in der Erwartung, daß John Bull großartig sein würde und unterschrieb, eine Träne im Augenwinkel, als er es wirklich war und das rasend gewordne Frankreich als seinen Geschäftsführer vorschickte.

Im Herzen des Volkes ist Weimar gerichtet. Man lacht nicht einmal. Der Abschluß der Verfassung stieß auf absolute Gleichgültigkeit. Sie hatten gemeint, der Parlamentarismus stehe am Anfang, während er selbst in England im raschen Niedergang begriffen ist. Da ihnen Opposition als das Zeichen parlamentarischer Hoheit erschien – obwohl allerdings das englische System starke Individualitäten voraussetzt, die sich auf zwei uralte, einander bedingende Gruppen verteilen, von starken Individualitäten bei uns aber keine Rede war –, so trieben sie unentwegt Opposition gegen eine Regierung, die gar nicht mehr vorhanden war: das Bild einer Schulklasse, wenn der Lehrer fehlt.[17]

ungeschriebenen[18]