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Andrea Schacht

Der dunkle Spiegel


Roman

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
(David M. Schrader; Photo_SS; Mark Carrel; faestock; Mateusz Pohl)
und Archives Charmet/Bridgeman Images

ISBN 978-3-894-80875-4
V005

www.blanvalet.de

Inhaltsverzeichnis

Dramatis Personae
Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Über das Buch
Über die Autorin
Copyright

Meinem Vater

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;

dann aber von Angesicht zu Angesicht.

Jetzt erkenne ich stückweise,

dann aber werde ich erkennen,

wie ich erkannt wurde.

(Kor. 13.12)

Dramatis Personae

Almut Bossart– Begine, Baumeisterstochter, jung verheiratet, früh verwitwet, lebt seit vier Jahren im Konvent am Eigelstein. Mit dem Gehorsam und ihrer eigensinnigen Zunge hat sie allerdings einige Schwierigkeiten.

Die Klerikalen:

Ivo vom Spiegel– ein Benediktiner mit einer bewegten Vergangenheit, Beichtvater des jungen Jean de Champol. Er möchte in vielerlei Hinsicht Licht ins Dunkel bringen.

Johannes Deubelbeiß– ein Inquisitor, der ebenfalls Licht ins Dunkel bringen möchte, aber mit anderen Methoden.

Die Weltlichen:

Jean de Champol– ein junger Franke, der zur Ausbildung bei dem Kölner Weinhändler de Lipa weilt und leider sehr früh und unerwartet verstirbt.

Hermann de Lipa– ein Weinhändler mit großen gesellschaftlichen Ambitionen.

Dietke– seine Ehefrau, die gern den Spiegel konsultiert.

Rudger– das Faktotum, ein Krüppel ohne Zunge, vernarbt und hinkend.

Aziza– die maurische Hure mit den guten Beziehungen und dem kleinen Familiengeheimnis.

Tilmann– ein geschäftstüchtiger junger Mann mit nicht nur modischen Ambitionen, der ebenfalls ein kleines, bitteres Familiengeheimnis hütet.

Heinrich Krudener– ein Apotheker und Alchemist, der das Dunkle auf dem Spiegel erklären kann.

Pitter– ein Päckelchesträger, ein Junge mit einem ewig knurrenden Magen.

Conrad Bertholf– der Vater der Heldin Almut, ein fleißiger, ehrgeiziger Baumeister.

Barbara– die Stiefmutter Almuts, die ihren Gatten Conrad und ihre Stieftochter immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Die Beginen:

Magda von Stave– die Meisterin, eine kluge Diplomatin mit Kaufmannsblut in den Adern.

Rigmundis– die Mystikerin, deren Visionen hin und wieder ausgesprochen lustvoll sind und sich auf seltsame Weise bewahrheiten.

Clara– die Gelehrte, die großes Wissen und einen ebenso großen Hang zur Faulheit auf das Köstlichste miteinander zu verbinden weiß.

Elsa– die Apothekerin, die mit neuen Arzneien experimentiert und von bösen Erinnerungen gequält wird.

Trine– die taubstumme Dreizehnjährige, die der Apothekerin zur Hand geht. Sie sieht und riecht mehr als andere und kann sich durchaus verständlich machen.

Thea– das Klageweib, das sich wundervoll aufs Heulen und Zähneklappern versteht.

Gertrud– die Köchin, eine sauertöpfische Person, die aber ihr Handwerk versteht.

Bela und Mettel– die Pförtnerin und die Schweinehirtin.

Judith, Agnes und Irma– drei Schwestern, die das Seidweben beherrschen.

Historische Persönlichkeiten:

Friedrich III. von Saarwerden– ein 28-jähriger, schlecht beratener Erzbischof, der sich schmollend aus Köln zurückgezogen und dummerweise die Schöffen – und damit die Gerichtsbarkeit – mit sich genommen hat.

Meister Michael– der Dombaumeister, der unter anderem den begnadeten Steinmetz Peter Parler beschäftigt.

Vorwort

Köln ist eine wunderbare Stadt, das vorab. Köln war auch im angeblich so finsteren Mittelalter eine wunderbare Stadt, in der natürlich große Geschichte gemacht wurde, aber in der vor allem die kleinen Leute durch ihren fröhlichen Pragmatismus Geschichte gemacht haben.

Und das zeichnete das Heilige Köln aus: seine Kirchen, Klöster und Reliquien, in denen sich der mächtige Einfluss der Geistlichkeit zeigte; und die Patrizier, Kaufleute und Handwerker, die die Macht des Geldes darstellten. Nicht immer verfolgten diese beiden Gruppen die gleichen Ziele, und im Jahr 1376 tobte – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – zwischen dem Erzbischof und der Stadt Köln ein Streit. Dieser ging als der »Schöffenkrieg« in die Annalen ein und zeigt sehr hübsch, wie man mit derartigen Konflikten umging.

Geschäftstüchtig und fromm waren auch die Kölnerinnen, sie hatten regen Anteil am Wirtschaftsleben, und das in fast allen Bereichen. Eine besondere Gruppe stellten die Beginen dar – Frauen, die es vorzogen, in Konventen zu leben, sich jedoch den Regeln eines Ordens nicht unterordnen wollten. Sie lehnten die Prunksucht und die geistliche Bevormundung der Kirche ab, führten deshalb ein Leben in relativer Armut und arbeiteten für ihren Unterhalt. Sie leisteten soziale Dienste, lehrten und übten verschiedene, vor allem textile Berufe aus, machten sich aber auch Gedanken über Gott und die Welt. Dem Klerus waren sie damit ein Dorn im Auge, und andernorts sahen sich die Beginen unnachgiebiger Verfolgung ausgesetzt. Nicht so in Köln – hier hielt der Rat der Stadt schützend die Hand über sie, und der im Text zitierte Verweis an den Inquisitor ist aktenkundig.

Natürlich sind alle handelnden Personen frei erfunden, und ich hoffe, nicht allzu heftig auf die Zehen derjenigen getreten zu haben, die noch heute die Namen der alten Geschlechter tragen, indem ich ihnen einige eigenwillige Vorfahren andichtete.

Friedrich III. von Saarwerden jedoch hat wirklich gelebt. Sie finden ihn lebensgroß im Kölner Dom, gleich rechts beim Eingang. Er hatte in jungen Jahren seine Schwierigkeiten mit der Stadt Köln, doch letztlich regierte er vierundvierzig Jahre lang in stiller Resignation. Und selbstverständlich gab es auch den Dombaumeister Michael.

Im Heiligen Köln des Jahres 1376 der Menschwerdung des Herrn

1. Kapitel

Die Aprilnacht war ungewöhnlich kühl, und feuchter Dunst zog vom Fluss herauf durch die Gassen. Der Mann trug einen langen, schwarzen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht völlig überschattete. Er ging mit eiligen Schritten, doch bemühte er sich, keinerlei Geräusch zu verursachen, um nicht etwa einen rechtschaffenen Bürger aus seinem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Auch auf eine Laterne hatte er verzichtet, und dann und wann musste er innehalten, um in den finsteren Gassen seinen Weg zu finden. Endlich erreichte er das Haus, welches das Ziel seines nächtlichen Ausflugs war. Die Wolke, die bisher den Mond verhüllt hatte, war weitergezogen, und das kalte Licht, das nun die graue, steinerne Hauswand erhellte, erleichterte es dem Vermummten, mit dem Schlüssel das Tor zum Hof zu öffnen. Nur ein leises Knarren verriet sein Eindringen. Vorsichtig lehnte er das Tor wieder an, verschloss es aber nicht.

In dem Geviert war es kalt, denn die hohen Mauern legten auch am Tag dunkle Schatten über die Eingänge der Gewölbekeller. Ein Frachtkarren stand an der Wand, Fässer stapelten sich daneben, bereit für die Auslieferung an wohlhabende Kunden. Der Ast eines blühenden Apfelbaums hatte es gewagt, sich vom Nachbargrundstück über die Mauer in den Hof des nüchternen Handelshauses zu neigen, doch konnte selbst sein süßer Duft nicht den säuerlichen Geruch übertrumpfen, mit dem der verschüttete Wein seit Jahrzehnten den Boden des Hofes tränkte. Über diesen Ast balancierte, vorsichtig Pfote vor Pfote setzend, ein schwarzer Kater und sah sich prüfend um. Obwohl seine Sehkraft in der Nacht um vieles besser war als die der Menschen, konnte er den Mann im Umhang kaum ausmachen. Dieser verschwand beinahe in einer der dunklen Mauernischen, nur hin und wieder hörte der Kater seinen aufgeregten Atem.

Die Zeit verstrich, weitere Wolkenschiffe zogen vor den Mond und verschluckten sein Licht, ließen dann aber wieder zu, dass es sich silbern über die Stadt und den Strom ergoss. Die Nacht erschien dem Wartenden nervenzerreißend still.

Endlich knarrte kaum hörbar die Tür, und eine weitere Gestalt schlüpfte lautlos in den Hof. Auch diese trug einen dunklen Umhang, der ein kurzes, gepolstertes Wams und eng anliegende Beinkleider verhüllte. Die Schuhe des Mannes waren aus weichem Leder gefertigt, die langen Spitzen hatte er hochgebunden, um ungehindert laufen zu können. Suchend blickte er sich um, lauschte und ging dann zielstrebig auf den Winkel zu, in dem sich der andere Mann verbarg. Dieser löste sich aus dem Schatten und trat dem Ankömmling entgegen. Flüsternd unterhielten sich die beiden eine Weile, doch besonders freundschaftlich schien das Gespräch nicht zu verlaufen. Der Vermummte gestikulierte mehrfach in heftiger Abwehr, so dass sein Umhang wie Rabenschwingen flatterte. Doch nach und nach erstarb sein Protest, wie Halt suchend lehnte er sich an die Wand und hob nur noch einmal die Hand, als wolle er den anderen beschwichtigen. Schließlich aber zog er resigniert die breiten Schultern hoch und ließ den Kopf hängen. Der andere lachte leise und flüsterte vernehmlich: »Wenn du mir also diesen kleinen Gefallen tust, wird dir und deinem Herrn nichts geschehen! Und der Erzbischof wird’s dir danken.« Dann war er verschwunden, und das Tor fiel hinter ihm ins Schloss.

Der schwarze Kater, der unbeweglich unter dem Ast gesessen hatte, reckte sich und zuckte dann plötzlich zusammen, denn der Mann an der Wand strich mit einer jähen Bewegung die Kapuze vom Kopf, als ob sie ihn unerträglich drückte. Sein junges Gesicht war fahl wie das Mondlicht, und mit vor Entsetzen starrem Blick murmelte er unablässig: »Nom de Dieu, nom de Dieu, nom de Dieu…«

2. Kapitel

Die kleine Pfarrkirche, die sich an das Kloster von Groß St. Martin schmiegte, war gut besucht. Dicht an dicht drängten sich die Gläubigen, überwiegend Handwerkerfamilien und kleine Gewerbetreibende, in ihrem Sonntagsstaat. Die Frauen trugen meist schlichte Hauben, aufwändigen Putz gab es selten, auch bunte Kleider waren nur einige wenige zu sehen. Viele schienen andächtig der Messe zu lauschen, aber an einigen Stellen gab es auch Getuschel und leises Lachen. Durch das strenge Rautenmuster der schmalen, bleiverglasten Fenster drang das Licht in langen Streifen ins Innere der Kirche. Große Helligkeit erzeugte die Sonne allerdings nicht, und die beiden dicken Wachskerzen rechts und links des Altars mussten dem schwarz gewandeten Mönch helfen, die Schrift zu verlesen.

Die sommerliche Wärme, die Weihrauchschwaden, das gedämpfte Licht und die eintönig vorgetragenen Psalmen lullten Almut Bossart in einen wohligen Halbschlaf. Immer wieder sank ihr grau verhüllter Kopf auf die Brust, und ebenso oft weckte sie ein freundschaftlicher Rippenstoß ihrer Nachbarin wieder auf.

Sie hatte die Nacht weitgehend ohne Schlaf verbracht, denn Elsa, die Apothekerin, litt an einem heftig schmerzenden Zahn, und sie, Almut, hatte einen der geheimnisvollen Prozesse überwachen müssen, in denen Elsa ihre Elixiere und Heilmittel herstellte. Natürlich gab es da noch ihre Helferin Trine, eine fleißige und gelehrige Dreizehnjährige, aber aus gutem Grund konnte man ihr nicht die Aufsicht über Arbeiten anvertrauen, in denen Feuer eine Rolle spielte. Sie hatte nämlich die unausrottbare Neigung, alles auf seine Wirkung als Räuchermittel zu untersuchen, von harmlosen getrockneten Kräutern über wertvolle Gewürze bis hin zu den zipfeligen Enden ihrer eigenen Zöpfe. Kurz und gut, Almut hatte vor dem Alambic gesessen und beobachtet, wie sich Tröpfchen für Tröpfchen der klaren Lösung in dem Auffanggefäß sammelte. Hin und wieder gab sie ein Bündel Kräuter hinein – Lavendel, hatte ihr Elsa gesagt – und ließ den Vorgang sich wiederholen. Es war keine unangenehme oder gar schwere Arbeit, sie verlangte jedoch Aufmerksamkeit.

Die Nacht hatte Elsa keine Erleichterung gebracht, am Morgen war die Wange geschwollen, und sie musste sich stöhnend mit einem feuchten Tuch die Gesichtshälfte kühlen. Almut verließ sie mit dem Versprechen, nach der Messe eine Arznei-Phiole bei dem Weinhändler de Lipa am Mühlenbach abzuliefern.

»Dem scheint wirklich das Hirn in den fetten Bauch gerutscht zu sein!«, murrte ihre Nachbarin unwillig.

»Mh?«

Almut schreckte aus einem verträumten Dämmern auf, in dem blühende Felder und ein reiches Mahl unter schattigen Bäumen eine Rolle gespielt hatten, und lauschte widerstrebend der Predigt. Sie war nicht dazu angetan, erhebende Gefühle in ihr zu wecken. Flüsternd wandte sie sich an ihre Nachbarin: »Stimmt, Clara. Pater Leonhard war zwar der langweiligste Prediger unter Gottes Sonne, aber diese Schmalzkugel fängt an, auch mich zu ärgern!«

»Almut, sei still. Du bringst dich nur wieder in Schwierigkeiten!«, zischte Gertrud vernehmlich in ihre Richtung.

Insgesamt zehn grau gewandete Frauen, die zu einem kleinen Beginen-Konvent am Eigelstein gehörten, knieten in andachtsvoller Haltung in der dritten Reihe der kleinen Pfarrkirche, die nach der Heiligen Brigid hier in Köln St. Brigiden hieß. Als Priester war für sie einer der Mönche des nebenan liegenden Benediktinerklosters zu Groß St. Martin zuständig. Die Messe hätten die Beginen aber normalerweise in einer kleinen Pfarrkirche am Rhein besucht, doch da sich der Erzbischof und die Stadt mal wieder in den Haaren lagen, hatten sich einige der Kleriker, unter ihnen auch Pater Leonhard, zu ihm gesellt und warteten jetzt in Bonn ab, wie sich die Lage weiter entwickelte. Damit sie jedoch weiterhin nicht auf den Kirchgang verzichten mussten und geistlichen Rat finden konnten, hatte die Meisterin der Beginen bestimmt, dass sich der Konvent ab Mai geschlossen in die Obhut der Benediktiner begeben sollte.

Almut hielt das nicht für eine gelungene Entscheidung. Sie betrachtete den Prediger in seiner schwarzen Kutte und versuchte, ihrer aufwallenden Abneigung Herr zu werden.

Der klein gewachsene Notker, der von seinen Mitbrüdern wegen zwei anderer Mönche gleichen Namens ›Notker der Dicke‹ gerufen wurde, neigte zwar den Freuden der Tafel zu, nahm aber sein Keuschheitsgelübde überaus ernst und betrachtete das Weib als die Wurzel allen Übels. Er war schon als Kind ins Kloster gekommen und hatte den Kontakt zu diesen verwerflichen Kreaturen der Schöpfung bisher erfolgreich gemieden. So bezog er denn seine Kenntnis ihrer Natur aus den einschlägigen Bibelstellen und einigen passenden Auszügen aus den Schriften des großen Thomas von Aquin und ähnlicher, den Frauen wenig aufgeschlossen gesonnener Autoren. Er hielt die weibliche Hälfte der Menschheit daher geistig für so minderwertig, dass sie ihre offenkundigen Mängel selbst nicht erkennen konnten und man ihnen ihre Schlechtigkeit und Falschheit beständig mit bunten, drastischen Bildern klarmachen musste.

»Ein störrisches Pferd reite man nicht bei Festen, sondern halte man im Stall und brauche es als Lasttier«, tönte er gerade inbrünstig, und Almut schnaubte.

»Mach nicht solche Geräusche!«, kicherte Clara. »Sonst glaubt er noch, hier stünde eins!«

»Keiner braucht zu hoffen, die Natur des Schweines oder der Katzen zu ändern, und aus Wolle kann man nicht Seide spinnen! Auch ein Weib mit milden oder harten Worten zu ziehen ist vergebliche Mühe.«

»Warum hält er dann nicht die Luft an?«, knurrte Almut, die langsam an die Grenzen ihrer Geduld geriet.

Notker der Dicke sandte einen brennenden Blick in Richtung des Getuschels, erkannte die frommen Beginen und wetterte los: »Das Weib tritt mal schlicht und fromm wie eine Nonne auf, aber wo es ihm passt, lässt es seiner Neigung plötzlich freien Lauf. Das geile Auge des Weibes macht den Mann zu Schanden und dörrt ihn wie Heu!«

Hinter Almut und Clara begann jemand hilflos zu kichern.

»Das Weib ist ein Spiegel des Teufels, wehe auch dem frömmsten Manne, der zu oft hineinblickt. Ein Tor, wer einer Schlange traut, hat doch die Schlange Eva betrogen und ist dafür verdammt, über Steine und Dornen zu kriechen. Kein Mann sollte dem Weibe trauen, seitdem es den Adam betrogen hat. Deswegen lässt man es ja auch Haupt und Stirn bedecken, damit es sich schäme. Scham und Demut stehen dem Weibe an, denn so steht es geschrieben: ›Und Gott der Herr schuf eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm‹– ein krummes Geschöpf, entstanden aus schadhaften Samen und feuchten Winden, wie schon unser großer Lehrer Thomas von Aquin wusste!«

»Eure Bibel habt ihr aber nicht besonders gut gelesen, Bruder Notker! Es gibt da eine Stelle, in der es heißt: ›Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib!‹«

Gertrud, die auf der anderen Seite neben Almut stand, zog sie vergeblich am Ärmel.

»Und vielleicht hilft es Euch auch, wenn Ihr bei Paulus nachlest, der da sagt: ›Doch in dem Herren ist weder die Frau etwas ohne den Mann, noch der Mann etwas ohne die Frau; denn wie die Frau von dem Mann, so kommt auch der Mann durch die Frau, aber alles von Gott.‹ Lest nach, Bruder Notker, wenn Ihr des Lesens mächtig seid!«

Bleischwere Stille lag über dem Kirchenraum. Der dicke Mönch hatte einen puterroten Kopf bekommen und schnappte ein paarmal nach Luft. Dann kam ihm offensichtlich so etwas wie eine Erleuchtung, und er plusterte sich zu seiner ganzen Größe auf, um mit herrischer Stimme zu verkünden: »›In der Gemeinde der Heiligen sollen die Frauen schweigen. Es ist ihnen nicht gestattet, zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen!‹ Das ist es, was uns der Apostel Paulus sagt.«

»Tja, Grube gegraben und selbst reingefallen«, flüsterte Clara Almut zu, die jetzt bescheiden das Gesicht hinter dem Schleier verbarg. Weniger aus Demut, sondern weil es ebenfalls sehr rot geworden war.

Die Messe nahm ihren gewohnten Gang.

Bis zu einem weiteren Zwischenfall. Der ereignete sich, als Notker das Abendmahl zelebrierte. Diese heilige Handlung stellte einen der Höhepunkte für den Priester dar, nicht wegen der tiefen Symbolik oder des wundervollen Mysteriums der Wandlung, sondern weil er sich nach dem wirklich ausgezeichneten Messwein sehnte, den sein Kloster so freundlich war, aus Burgund importieren zu lassen. Er hatte darauf geachtet, dass der Kelch großzügig gefüllt wurde. Nun brach er die Hostie darüber, sprach die Worte, die zu sprechen waren, und hob das kostbare Gefäß, um einen tiefen Zug des dunklen, schweren Rotweins zu nehmen.

Saurer Geschmack, bitter und scharf, füllte seinen Mund, und in einer Fontäne versprühte er die rote Flüssigkeit über das weiße goldbestickte Altartuch. Hustend und mit Tränen in den Augen kniete er nieder und stammelte etwas von Wasser.

»›Denn wer so isst und trinkt, dass er den Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selber zum Gericht!‹«, bemerkte Almut salbungsvoll. Und fügte dann mit nüchterner Stimme hinzu: »Hat Paulus auch gesagt.«

Schadenfrohes Kichern erfüllte die Kirche, doch endlich hatten zwei barmherzige Mitbrüder begriffen, dass der dicke Notker wahrhaftig in Nöten war. Sie halfen ihm auf und führten ihn in die Sakristei. Die Gemeinde begann sich zögerlich aufzulösen. Dieser Gottesdienst bot zumindest für die nächsten Tage ein wunderbares Gesprächsthema.

Die Beginen sammelten sich zu einer geschlossenen Gruppe und verließen gesetzten Schrittes die Kirche. Auf den Stufen warteten die Bettler und Krüppel auf Almosen, und als sie ihre Spenden getan hatten, fragte Almut in die Runde: »Ich muss für Elsa eine Besorgung machen. Wer kann mich begleiten?«

»Ich gewiss nicht, ich habe genug in der Küche zu tun.«

Mürrisch drehte sich Gertrud um.

»Ich würde ja gerne mitgehen, Almut, aber du weißt ja: mein Fuß!«

»Der schmerzt dich bei jedem Weg, den du nicht für dich selbst unternimmst, Clara.«

Bittend sah Almut sich in der kleinen Gruppe um, aber ein freiwilliges Nicken fand sich bei keiner der Frauen. Das Essen wartete. Schließlich seufzte sie: »Trine geht mit mir.«

Sie machte dem schmächtigen Mädchen, das sich unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, ein Zeichen. Mit einem Lächeln trat es vor, und Almut nickte ihm freundlich zu. Gewiss, die Kleine war kein Schutz gegen unsittliche Übergriffe, und ganz den Regeln des Konvents entsprach die Lösung auch nicht. Die schrieben nämlich vor, dass junge Beginen sich immer nur in Begleitung einer älteren in der Öffentlichkeit bewegen durften. Und Almut war in der Tat noch jung, obwohl sie selbst das nicht mehr glaubte.

»Komm, dann wollen wir uns sputen, Trine, damit wir rechtzeitig zur Non zurück sind.«

Während sie sprach, machte sie kleine ausdrucksvolle Gesten mit den Händen, und Trine verfolgte diese und auch Almuts Lippenbewegungen aufmerksam. Denn Trine war taubstumm.

Almut und das Mädchen trennten sich von den anderen Beginen und verließen St. Brigiden in entgegengesetzter Richtung. Almut wusste, wo sich das Haus des Weinhändlers de Lipa befand, denn in diesem Teil der Stadt war sie aufgewachsen: Ihr Elternhaus stand ebenfalls oberhalb des Mühlenbachs. Weit war der Weg nicht, den sie zu gehen hatten, aber die ungepflasterten Straßen waren noch schlammig vom letzten Regen und aufgewühlt von den Fuhrwerken und Karren, die die Waren von den Schiffen im Hafen zu den Lagern der Kaufleute oder zu den Märkten brachten. Erst vor zwei Tagen hatte die Sonne den Regen abgelöst, und so mühten sie sich, voranzukommen und nicht ständig in schlammige Karrenspuren zu treten, wichen den in Pfützen wühlenden Schweinen aus und versuchten, nicht auf glitschigen Abfällen auszurutschen. Belästigungen waren sie jedoch nicht ausgesetzt. Derlei kam manchmal vor, denn die Beginen – als unverheiratete, geschäftstüchtige Frauen bekannt – hatten sich einige Neider geschaffen, unter den Seidwebern sogar Feinde. Und ganz übel Wollende unterstellten den nach ihren eigenen Regeln lebenden und keinen Ordensregeln gehorchenden Schwestern gewisse Freizügigkeiten, die sie nur zu gerne in Spottliedern äußerten. Doch die Straßen waren menschenleer, die Gassenjungen mochten wohl den sonnigen Tag in den kühlen Fluten des Rheins verbringen, vielleicht auch die scharfzüngigen Scholaren und die übermütigen Gecken. Die geschäftigen Handwerker und Händler ließen des Sonntags ihre Arbeiten ruhen, die Bettler und Armen hatten sich an den Kirchen versammelt, um Almosen zu erbitten, und die vornehmen Bürger pflegten in ihren Häusern die Sonntagsruhe.

Unbehelligt erreichten die beiden Frauen ihr Ziel. Den Mühlenbach bewohnten die Wohlhabenderen. Es gab nur vereinzelt Fachwerkhäuser; aus grauen Steinen gemauerte Gebäude bestimmten das Bild. Weit geöffnete hölzerne Läden an den Fenstern ließen das Sonnenlicht ein, und vereinzelt konnte man den Duft von fettem Braten riechen. Irgendwo schien sogar ein Fest gefeiert zu werden, denn leise mischten sich die perlenden Töne einer kunstfertig gespielten Laute in das Gurren der Tauben, die auf den Dächern saßen.

Almut und Trine standen nun vor dem herrschaftlichen Haus der de Lipas. Drei Stockwerke hoch war es, massiv aus Stein gebaut, und hatte sogar die ganz luxuriösen Glasfenster, die seit neuestem nicht nur in Kirchen eingebaut wurden. Zur Straßenseite zierte es ein neunstufiger Giebel, und vor dem Eingang wölbten sich vier Rundbögen.

»Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir dem armen kranken Mann helfen können«, spöttelte Almut leise, als sie an die Tür klopfte.

Sie öffnete sich ihr sogleich, doch statt der erwarteten Magd stand Almut eine der schönsten Frau gegenüber, der sie je begegnet war. Ihr Gesicht war das erlesene Oval einer Madonna, gekrönt von einer hohen Haube, von der ein zarter Schleier fiel, das feine Gewand war nach der neuesten Mode aus kostbaren Stoffen gefertigt und verriet durch das gewagte Teufelsfenster – die tiefe seitliche Ärmelöffnung des Obergewandes – eine Figur von anmutiger Zartheit. Sie mochte etwa Anfang der Zwanzig sein. Beide Frauen sahen sich verblüfft an.

»Oh, ich erwartete Pater Ivo…«

»Nun, der bin ich nicht. Aber Ihr scheint die Dame de Lipa zu sein?«

Hoheitsvoll nickte die Schöne.

»Ich bin Almut vom Konvent am Eigelstein. Unsere Apothekerin schickt Euch die Arznei für den kranken Herrn.«

»Den kranken…? Ach ja. Nun, dann tretet ein.«

Almut winkte Trine zu, die mit riesengroßen Augen die prachtvolle Hausherrin angestarrt hatte, und betrat das Haus. Es war angenehm kühl im Inneren. Durch die Butzenscheiben fiel das Sonnenlicht, das sich auf den Bodenfliesen in bunten Mustern brach. Nur ein leichter, aber unangenehm fauliger Geruch störte den gepflegten Eindruck.

»Der Junge liegt oben in seinem Zimmer!«

Bevor die Hausherrin sie die Treppe hoch führen konnte, kam ein stattlicher Mann die Stiege herab. Er mochte etliche Jahre älter als seine Frau sein, schien jedoch sehr vital.

»Ah, die Arznei, um die ich geschickt habe! Ihr seid die Apothekerin?«

»Nein, sie leidet selber. Ich bringe in ihrem Auftrag dieses Fläschchen.«

Aus dem Beutel, den sie am Gürtel trug, holte Almut den kleinen, grünen, sorgfältig verstöpselten Glaskrug hervor.

»Bringen wir es dem Kranken. Folgt mir.«

In einem breiten Bett ruhte in halb aufgerichteter Stellung ein junger Mann, der vor sich hin döste. Einige seiner dunklen Locken klebten wirr an der heißen Stirn, sein Atem ging schwer. Doch war er ein hübscher Junge mit klaren Gesichtszügen und verhältnismäßig dunklem Teint. Von den Schritten und den leisen Worten geweckt, schlug er die Augen auf und schaute ein wenig irritiert um sich.

»Oh, Maître Hermann, Ihr…«

Ein krampfhaftes Husten hinderte ihn am Weitersprechen.

»Das ist Jean de Champol aus Burgund. Er weilt in unserem Haus, um sich im Weinhandel ausbilden zu lassen. Ein schädlicher Wind hat seine Lungen getroffen, und seit beinahe zwei Wochen will sich der Husten nicht bessern, obwohl wir alles getan haben, was wir konnten. Man hat ihn zur Ader gelassen, ihm stärkende Speisen angeboten und heißen Wein zu trinken gegeben, aber nichts hat bisher geholfen. Auch das geweihte Amulett des heiligen Andreas hat keine Wirkung gezeigt, obwohl Jean darauf geschworen hat, dass es ihm in seiner Heimat immer Hilfe gebracht hat.«

De Lipa wies auf das zierlich geschnitzte Holzscheibchen, das Jean an einer dünnen Kordel um den Hals trug. Es war das Kreuz des Andreas darauf zu sehen, umgeben von einem Kranz kleiner Buchstaben.

»Meine Schwester Helgart hat sich an Eure Apothekerin erinnert und sie mir empfohlen.«

»Ein guter Rat. Elsa ist wirklich sehr geschickt und erfahren in der Zubereitung heilender Mittel. Wir sind dankbar, dass sie bei uns ist. Hier ist der Hustensaft, den sie auch uns verabreicht und der sehr wohltuend ist. Nehmt davon einen kleinen Löffel voll, und Ihr werdet merken, wie sich die Krämpfe in der Brust lösen. Nehmt Ihr zwei Löffel voll, werdet Ihr tief und ruhig schlafen. Aber die Apothekerin hat mir ausdrücklich aufgetragen, Euch davor zu warnen, mehr als zwei Löffel von der Arznei zu nehmen, damit keine üblen Folgen auftreten.«

»Ihr bringt uns ein Gift für den Kranken?«

De Lipa fuhr mit einem Ruck herum und musterte das Krüglein misstrauisch.

»Es ist kein Gift, sondern ein starkes Heilmittel. Oder besser – die Dosierung macht es aus, ob es hilft oder schadet. Lasst den Kranken nicht mehr als zwei Löffel voll auf einmal nehmen, dann wird es ihm bei der Heilung dieses bösen Hustens helfen. Gebt ihm nichts mehr davon, wenn die Besserung eingetreten ist.«

Almut stellte die Phiole auf den Tisch neben dem Bett und nickte dem Kranken mit einem aufmunternden Lächeln zu.

»Ich werde tun, wie Ihr sagt«, flüsterte der junge Mann heiser. »Ich vertraue auf die Wirksamkeit Eures Elixiers, denn morgen will ich wieder meine Aufgaben übernehmen. Dank Euch, ma soeur. Schwester«, verbesserte er sich.

»Ich bin keine Nonne, Jean de Champol, ich bin eine Begine.«

De Lipa schüttelte ungeduldig den Kopf und meinte: »Das zu erklären, führt jetzt zu weit. Ich werde Jean diese Medizin geben. Wir werden sehen, wie gut sie hilft. Mir scheint, es ist besser, wir lassen den Jungen jetzt allein. Dietke, führe unseren Besuch nach unten.«

Als Almut sich zur Hausherrin umsah, steckte diese gerade einen kleinen Silberspiegel, in dem sie ihr Gesicht studiert hatte, in die Tasche ihres Gewandes. Sie schenkte ihrem Mann einen schwer zu deutenden Blick und wies Almut mit einer unmissverständlichen Handbewegung aus dem Zimmer. Sie selbst folgte ihr nach kurzem Zögern.

»Ihr verwendet ein köstliches Parfüm, Frau Begine«, bemerkte sie, als sie unten angekommen waren.

»Ich? O nein, ich verwende keine Duftwasser.«

»Aber dieser Geruch, der Euch umgibt…?«

Almut schnupperte an dem Ärmel, und ein Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Ah, ich habe heute Nacht die Herstellung einer Tinktur aus Kräutern überwacht. Sie hilft, äußerlich angewendet, gegen Schwindel und Kopfschmerz, aber auch bei Ohnmachten, bei Gicht und Rheuma.«

»Mag schon sein, aber ihr Duft ist überaus angenehm. Bringt mir doch bei Gelegenheit ein Töpfchen davon vorbei.«

»Ich will unsere Apothekerin fragen, Frau Dietke. Wenn es unschädlich ist, wird sie Euch gerne etwas davon überlassen. Aber nun muss ich mich eilen. Lebt wohl und sendet dem Kranken meine Grüße. Ich werde für seine baldige Genesung beten.«

Trine wartete noch immer an der Tür, bei ihr war eine seltsame Gestalt. Ein Mann, groß, doch mit gebeugten Schultern und wirrem, grauem Haar. Er gab einen unartikulierten Laut von sich, als er Dietke sah, und hinkte eilig davon. Almut aber erhaschte dennoch einen Blick auf sein Gesicht. Es machte sie schaudern, denn tiefe Narben entstellten seine Züge.

»Noch einen schönen Tag wünsche ich Euch«, sagte die Hausherrin und öffnete die Haustür. Es war ihr anzumerken, dass sie ihre Besucher nur zu gerne los sein wollte.

Vor der Tür blinzelte Almut in das helle Sonnenlicht und atmete tief ein. Die Atmosphäre im Haus der de Lipas war ihr beklemmend erschienen. Das lag auch an dem unangenehmen Geruch, der sich in den unteren Räumen breit gemacht hatte.

»Wird wohl Zeit, dass die Goldgräber mal wieder die Kloake reinigen!«, sagte sie zu Trine und begleitete ihre Bemerkung mit einer passenden Handbewegung zur Nase. Trine, die einen sehr feinen Geruchssinn hatte, nickte und schüttelte sich angeekelt. Ungewöhnlich war der Gestank allerdings nicht, vor allem nicht an warmen Tagen. Es gab kein Abwassersystem in Köln. Die Häuser hatten lediglich Sickergruben in den Hinterhöfen, manchmal sogar im Keller, in denen nicht nur Fäkalien gesammelt wurden, sondern auch die Kadaver streunender Hunde, unvorsichtiger Schweine oder Ratten verwesten. Die Kloakenreiniger wurden scherzhaft »Goldgräber« genannt und hatten die Aufgabe, in regelmäßigen Abständen die Gruben zu entleeren. Den Inhalt fuhren sie hinaus auf die Äcker – oder kippten ihn in den Rhein.

»Kein Wunder, dass Frau Dietke hinter einem Duftwasser her ist«, murmelte Almut mehr für sich, was Trine allerdings nicht verstand. Aber sie hatte eine andere Mitteilung zu machen. Energisch zog sie Almut am Ärmel.

»Was ist, Trine?«

Mit einem raschen Kopfheben zur Tür rieb sie den Daumen gegen die Finger der rechten Hand – das unmissverständliche Zeichen des Geldzählens.

»Also, wenn du jetzt meinst, ich klopfe da noch mal an, um mir die paar Münzen geben zu lassen, dann hast du dich aber geirrt, Kleine. Sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen. Hoffentlich hat Gertrud noch etwas Brot und Suppe für uns aufgehoben!«

Almut rieb sich vielsagend den Magen, und Trine grinste. Dann machte sie sich daran, neben Almut herzutrotten.

»Gehen wir am Rhein entlang, Trine. Da ist es kühler.«

Almut zeigte zum Filzgrabentor, wo eine Gruppe Kinder unterhalb der Stadtmauer herumtollte. Trine schüttelte den Kopf und gab mit einer Grimasse zu verstehen, dass ihr der Umweg zu weit sei.

»Na gut, dann nicht. Aber der Weg ist so viel weiter auch nicht. Ich vermute, du willst einfach etwas Aufregenderes zu sehen bekommen. Solch schneidige Herrchen wie die dort etwa?«

Drei aufgeputzte Männer schlenderten der Begine und ihrer Begleiterin entgegen. Sie sahen nicht aus, als ob sie den Sonntag in stiller Kontemplation verbringen wollten. Stattdessen lauschten sie der deftigen Geschichte, die einer von ihnen zum Besten gab. Grölendes Gelächter belohnte seine Erzählung. Alle drei waren sie in farbenprächtige kurze Wämser gekleidet, und selbstredend trugen sie unterschiedlich gefärbte Strümpfe an den Beinen. Ihr Schuhwerk zierten beinahe zwei Handbreit lange Spitzen, die der Wortführer der Gruppe wohl auf Grund praktischer Erfahrung mit seidenen Bändchen hochgebunden hatte.

»Aber da seht mal, was uns dieser schöne Tag beschert!«

»Zwei junge Weibsleut!«

»Zwei knusprige, na ja, eine davon…«

»Tilmann, was hast du von den lustigen Nonnen erzählt? Wollen wir nicht mal prüfen, ob diese grauen Schwestern uns genauso viel Spaß bereiten?«

Almut sah sich nach Hilfe um. Außer zwei mageren Ziegen und einer aufflatternden Schar Hennen war kein Lebewesen in der Gasse zu sehen. Und ob sie durch laute Hilferufe mehr als nur eine Anzahl Gaffer herauslocken würde, war auch ungewiss. Trine an ihrer Seite ergriff ihre Hand und drückte sie fest. Dann ließ sie los und versteckte die Hand in ihrem losen Kittel. Die jungen Männer kamen näher, und der, den sie Tilmann genannt hatten, versuchte, Almut den Arm um die Hüfte zu legen und sie an sich zu ziehen. Es gelang ihm noch nicht einmal im Ansatz, denn schon hatte die Begine ausgeholt und ihm eine Ohrfeige verpasst, die davon zeugte, dass sie nicht nur zarte Stickereien anzufertigen verstand. Benommen taumelte er zurück; gleichzeitig ertönte der schrille Schmerzensschrei eines Zweiten, der Bekanntschaft mit einer langen Kupfernadel gemacht hatte, die Trine in ihrer Zeit als herumgestoßenes Gassenkind wirkungsvoll einzusetzen gelernt hatte. Dem dritten, der einen zügigen Schritt auf das Mädchen zu machen wollte, trat Almut mit ganzer Kraft auf den Fuß. Sie verfehlte zwar die Zehen, aber die Schuhspitze hatte sie getroffen. Ihr Besitzer stolperte, sie trat zur Seite, und er fiel lang ausgestreckt in den feuchten Straßenkot.

»Los, Trine, lauf!«

Sie schubste das Mädchen in den Rücken. Beide rafften sie die Röcke und liefen los. Sie konnten ziemlich sicher sein, einen guten Vorsprung herauszuholen, denn das unpraktische Schuhwerk ihrer Widersacher hinderte diese wirkungsvoller als alles andere, die Verfolgung aufzunehmen. Im Gewirr der Gassen und Gässchen um den Heumarkt hielten sie dann auch in ihrem Lauf ein und gingen wie gesittete Damen weiter.

»Gut gemacht, Trine!«, sagte Almut und klopfte ihr anerkennend auf die magere Schulter.

Trine grinste, zeigte auf Almuts Schleier und machte eine streichende Geste. Almut blieb stehen und tastete nach ihrem Gebände. Natürlich, es war verrutscht. Etwas ungeschickt versuchte sie, es wieder zu richten.

»So ein kleiner Silberspiegel, wie der, den die schöne Dietke hatte, der wäre jetzt sehr nützlich«, bemerkte sie seufzend. Trine verstand sie zwar nicht, half ihr aber, den grauen Schleier wieder ordentlich über das steifleinene Stirnband zu ziehen.

Bis zum Alter Markt kamen sie zügig voran, dann aber begann Trine, die nur selten die Gelegenheit hatte, die Abgeschlossenheit des Konventes zu verlassen, ihre Schritte zu verlangsamen und neugierig das Treiben zu beobachten. Almut hatte zwar Hunger, und ihr war auch ziemlich warm geworden, aber sie konnte das Mädchen verstehen. In ihrer stummen und lautlosen Welt war sie vor allem auf das Schauen angewiesen. Und hier auf dem Marktplatz gab es viel zu sehen. Auf dem Kax, dem Schandpfahl, stand ein Wirt, der zum wiederholten Male angeklagt worden war, verdorbenes Essen verkauft zu haben. Ein Haufen matschiger Gemüsereste, stinkender Fischköpfe und verschimmelter Brotkanten zu seinen Füßen zeugte davon, dass sich die Kundschaft ausgiebig an ihm gerächt hatte. Gerade warf eine aufgebrachte Frau mit einem verfaulten Kohlstrunk nach ihm, begleitet von ein paar passenden Schmähworten. Drei Stunden nur hatte der Wirt dort zuzubringen, aber man sah ihm an, dass es die längsten Stunden seines Lebens werden würden. Noch mehr Aufmerksamkeit aber als der arme Mann am Pranger erregte ein Wagen, der in der Mitte des Platzes stand. Almut konnte lesen und entzifferte das, was auf der großen aufgespannten Leinwand bekannt gegeben wurde. Hier zeigte ein hochberühmter Meister öffentlich die Kunst des Zahnreißens. Für diejenigen, die des Lesens nicht kundig waren, boten sprechende Bilder von blutigen Zähnen und dem vielfältigen Werkzeug einen Überblick über das Angebot der medizinischen Dienstleistungen. Das alleine hätte natürlich noch nicht gereicht, den Menschenauflauf zu erklären, der sich gebildet hatte und durch den sich Trine jetzt drängte. Ein Patient hatte sich gefunden! Ein korpulenter Herr mit einer dicken Backe saß auf einem Hocker und wurde von zwei Gehilfen festgehalten, während der Zahnbrecher seiner Arbeit nachging. Trine war ganz Augen, und Almut, die voller Mitleid an Elsa dachte, meinte fast selbst den heftigen Schlag mit dem Stoßeisen und die reißende Zange an ihrem Backenzahn zu spüren. Leise dankte sie der heiligen Apollonia, der Märtyrerin, die man bei Zahnschmerzen anrief, dass sie selbst bis jetzt ausgesprochen gesunde Zähne hatte.

Ein Schmerzensgebrüll ließ die Menge zusammenfahren, und triumphierend hielt der Zahnbrecher den gezogenen Zahn in die Höhe. Der Patient spuckte Blut und Eiter aus und musste sich den Mund unter fürchterlichen Grimassen mit einer scharfen Flüssigkeit ausspülen.

»Genug Aufregung für heute, Trine!«

Energisch nahm Almut das Mädchen am Arm und bugsierte sie aus der Menschentraube.

Die beiden erreichten den Konvent ohne weitere Zwischenfälle. Er lag zwar ein wenig außerhalb der eigentlichen Stadt, aber noch innerhalb der Stadtmauern und nicht weit von einem der wichtigsten Tore, dem Eigelstein-Tor, entfernt. Am Anfang des Jahrhunderts, vor etwa siebzig Jahren, hatte ein reicher Patrizier, einer der Vorfahren der derzeitigen Meisterin Magda von Stave, für sechs ledige Frauen ein großes Haus inmitten der Weingärten gestiftet. Ein Anbau und drei weitere kleine mit Schieferleyen bedeckte Fachwerkhäuschen waren im Laufe der Zeit hinzugekommen und bildeten jetzt auf dem fast quadratischen Grundstück einen abgeschlossenen Hof. Die Häuser verdankten ihr Dasein einer vermögenden Begine, die sie vor Jahren dort für sich und ihre Schwestern hatte errichten lassen. Im Haupthaus befand sich nun das Refektorium, der Raum, in dem sich die Beginen zu den Mahlzeiten, aber auch zu gemeinsamen Arbeiten oder Gesprächen versammelten. In seinem Anbau, vor dem sich auch der Brunnen befand, hatte die Köchin ihr Reich. Umgeben war das Ganze von einer übermannshohen Mauer, die die Bewohnerinnen vor neugierigen Blicken und ungeladenen Gästen schützte. Der Eingang lag direkt neben einem der kleinen Häuser. Eine starke Holztür verschloss ihn gewöhnlich, und wer klopfte, musste sich zunächst dem prüfenden Blick der Pförtnerin stellen, die durch eine Luke nach dem Begehr fragte.

Almut hatte nach ihrem Gang durch die Stadt zunächst ihre Kammer aufgesucht, um sich den Staub von Gesicht und Händen zu waschen und das Gebände zu richten. Kurz sah sie noch einmal aus dem Fenster und ließ den Blick über die Felder streifen. Das Häuschen, in dem sie wohnte, grenzte an das freie Land, nicht an die Straße. Sie freute sich an dem Ausblick, auch wenn ihr damit verwehrt war, das Treiben im Hof zu beobachten. Doch viel Zeit zu derartigem Müßiggang fand sie ohnehin nicht. Auch jetzt hatte sie eine Aufgabe zu erledigen.

»In der Stadt ist ein Zahnbrecher, Elsa!«

Das linke Auge der Apothekerin war wegen der dicken, geröteten Wange inzwischen beinahe zugeschwollen, was sie aber nicht daran hinderte, unwillig zu knurren.

»Aber du solltest wirklich etwas unternehmen. Du weißt doch, so etwas geht nicht von selbst weg.«

Ein bisschen amüsiert betrachtete Almut die rundliche Apothekerin, die gewöhnlich für jedes Wehwehchen ihrer Mitschwestern eine Therapie zur Hand hatte. Vieles von dem, was sie verordnete, war zwar wirkungsvoll, aber in seiner Anwendung oder im Geschmack entsetzlich. Sie selbst unterzog sich daher nur höchst unwillig irgendwelchen Behandlungen und hatte eine geradezu panische Angst vor schmerzhaften Eingriffen.

»Hast du denn nichts bei deinen Mitteln, das dir helfen könnte?«

Nochmaliges Knurren war die Antwort.

»Traust du etwa deinen eigenen Arzneien nicht?«

»Almut, du gehst mir auf die Nerven.«