Baseball und Frauen: Das sind die Dinge, die Jake Braker liebt und versteht.
Kinder gehören definitiv nicht zu seinem Feld der Expertise. Als er gerichtlich zu Sozialstunden im Kindergarten verurteilt wird, rechnet er mit einem katastrophalen Ausgang der Situation. Wie sich herausstellt, sind die Bazillenschleudern jedoch gar nicht das Problem. Die Erzieherin, die sich weder von seinem Aussehen noch von seinem Geld beeindrucken lässt, geht ihm viel mehr auf die Nerven. Sie hat nichts in seinem Leben und erst recht nichts in seinen Träumen zu suchen!
Geld und Zeit: Das sind die Dinge, die Olivia Green in ihrem Leben fehlen.
Der arrogante Baseballer, auf den sie plötzlich aufpassen muss, gehört definitiv nicht auf diese Liste. Beschäftigt mit Geld- und Familienproblemen hat sie wenig Geduld für den selbstgerechten Egomanen, der ihr Vertrauen mit seinem schmierigen Lächeln und blöden Muskeln erkaufen will. Doch je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto mehr muss sie einsehen, dass sie ihn möglicherweise unterschätzt hat …
Jeder Band der Reihe ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.
Erstausgabe Februar 2019
Copyright © 2021 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96087-643-4
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-709-7
Hörbuch-ISBN: 978-8-72616-258-5
Covergestaltung: Miss Ly Design
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © Jacob Lund und © Eugene Onischenko
Lektorat: Astrid Rahlfs
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Jake Braker war ein glücklicher Mistkerl.
Das wussten alle.
„Jake, Jake! Inwiefern wird das Gerichtsurteil Ihr Spiel beeinträchtigen?“
Er arbeitete in seinem Traumjob, war stinkreich und hübscher als eine Blumenwiese im Sonnenschein.
„Mr. Braker, einen Kommentar bitte! Ihr Management streitet ab, dass Sie Drogen konsumieren – stimmt das?“
Jede Frau wollte in seinem Bett liegen. Und jede zweite Frau tat es auch.
„Jake! Warum gerade ein Kinderspielplatz? Wieso haben Sie nicht gleich die Liberty Bell zerstört?“
Zurzeit war er aber nicht glücklich. Zurzeit war er einfach nur ein Mistkerl. Und verdammt noch mal, er füllte die Rolle beschissen gut!
„Jake! Viele Experten behaupten, dass Sie mit Ihren Eskapaden den Einzug der Delphies in die World Series gefährden. Was ist Ihre Meinung zu diesem Thema?“
Jake biss die Zähne aufeinander, schirmte sich mit der Hand vor dem Blitzlichtgewitter ab und drängte sich weiter durch die Menge. Ihm juckte es in den Fingern, deswegen ballte er sie zu Fäusten und stopfte sie in die Hosentaschen. Die Reporter hatten doch keine Ahnung. Er gefährdete rein gar nichts. Die Delphies würden diese verdammte Saison gewinnen und wenn er dafür noch hundert weitere Spielplätze auseinandernehmen musste! Er würde das Team nicht ohne Sieg verlassen.
„Mr. Braker, haben Sie ein Alkoholproblem?“
Nein, aber wenn der Reporter weiterredete, hatte der bald ein Zahnproblem.
„Sag einfach nichts, Jake“, zischte Sam, der PR-Manager der Delphies, der vor ihm her, auf das schwarze Auto mit den getönten Scheiben zulief. „Egal, was du gerade loswerden willst: Behalte es für dich. Du würdest es nur schlimmer machen.“
Dass es noch schlimmer werden konnte, bezweifelte Jake. Aber er wollte sich keinen Muskel dabei zerren, einen schleimigen Reporter niederzuschlagen, deswegen schwieg er und zog sich die Kappe tiefer ins Gesicht.
Das hier war lächerlich! Sozialstunden. Was für ein Schwachsinn. Warum hatte er nicht einfach die fünfundzwanzigtausend Euro Geldbuße zahlen und die Sache vergessen können?
Aber die Richterin hatte es auf ihn abgesehen gehabt. Sie hatte in ihm einen reichen, arroganten Schnösel gesehen, der sich mit seinem Geld die Freiheit erkaufen wollte – und Jake war egal, dass das eine akkurate Beschreibung seiner Person war. Bis jetzt hatte sein Leben wunderbar auf diese Weise funktioniert.
Dass er sich daneben benahm, war doch ohnehin, was alle von ihm erwarteten. Und es war die einzige Erwartung, die er je hatte erfüllen können. Während er in allen anderen Bereichen grandios versagte.
„Jake, ein Statement, bitte! Wird Coach Thompson Sie für Spiele sperren?“
Sie hatten das Auto erreicht und ohne einen Blick zurückzuwerfen, duckte Jake sich hinter Sam in die Sicherheit des Wageninneren. Seufzend lockerte er die Krawatte und ließ die Schultern kreisen. Er hasste Anzüge. Genau genommen hasste er alles, was ihn in seiner Bewegungsfreiheit eingrenzte. Sei es eine zu enge Hose, eine Frau, die sich zu sehr an ihn klammerte, seine Familie, die ihn seit Jahren in eine Schublade pressen wollte oder das gerade beendete gerichtliche Verfahren, das weder sein Management, noch seine Mannschaft sonderlich lustig fanden.
Jake war es egal. Tatsache war nun einmal: Er konnte es sich leisten.
Sobald sich das Auto in Bewegung setzte, atmete Sam neben ihm tief durch. „Na, das lief doch besser als gedacht“, murmelte er und klopfte Jake auf die Schulter.
Ungläubig weitete er die Augen. „Besser als gedacht? Ich soll 140 Sozialstunden abarbeiten! In einem Kindergarten!“
Kinder! Jake sollte auf Kinder aufpassen. Gott, das einzige, was schlimmer war als Kinder, war ein gerissenes Kondom – denn das konnte zu eigenen führen!
„Na ja, die Richterin ist dem Thema eben treu geblieben“, meinte Sam achselzuckend. „Du hast nun einmal auf einem Kinderspielplatz randaliert. Mir erscheint es da nur fair, dass du zurückgibst, was du genommen hast.“
Jake schnaubte verächtlich. „Es sind drei Monate, in denen ich jede Woche einen Tag des Trainings verpasse, weil ich kleinen Hosenscheißern die Windel wechseln muss!“
Sam runzelte die Stirn. „Du hast keine Ahnung, was ein Kindergarten ist, oder? Du redest von einer Nursery School. Im Kindergarten sind die Kleinen so fünf oder sechs.“
Ihm doch egal! Kinder waren nervige, kleine Bazillenschleudern, die andauernd irgendeine Flüssigkeit aus irgendeiner Körperöffnung verloren. Mehr musste er nicht wissen.
„Es sind drei Monate, Sam“, knurrte er. „Wir haben Ende Juli. In drei Monaten werden wir in den verdammten World Series stehen. Ich habe keine Zeit dafür, Sozialstunden abzuarbeiten.“
„Das hättest du dir früher überlegen müssen, Jake“, sagte Sam unbekümmert. „Du hast die Scheiße gebaut, du musst sie auch auslöffeln.“
Genervt zog Jake sich die Kappe vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. In diesem Punkt schienen sich alle einig zu sein.
„Jake, ist dir eigentlich klar, wer deine Fans sind?“, fuhr Sam mit gesenkter Stimme fort, den Blick eisern auf sein Gesicht gerichtet. Als wollte er ihm die Schuldgefühle in den Rachen spucken. „Kinder! Lauter Jungen und Mädchen, die dich als ihr Vorbild auserkoren haben und zu dir aufsehen. Und was gibst du ihnen? Ein betrunkenes Arschloch, das ihnen die Rutsche und die Schaukel wegnimmt.“
„Ist es meine Schuld, dass Kinder so ein verdammt schlechtes Urteilsvermögen haben?“, fragte er schnaubend. „Das sieht man doch auf dem ersten Blick, dass ich nicht als Vorbild geeignet bin. Ich fahre Quad und schlafe jeden Tag mit einer anderen Frau. Man sollte den kleinen Furzgesichtern doch zutrauen können, zu erkennen, dass das keine guten Voraussetzungen sind, um mir nacheifern zu wollen.“
„Es sind Kinder! Sie sind nun einmal leicht zu beeinflussen.“
„Na, dafür gibt es dann ja noch ihre Eltern, oder?“, sagte Jake ungeduldig und tippte mit den Fingern nervös auf sein Bein. „Die sollten sie doch vor ihrem Unglück bewahren. Die Verantwortung kannst du wirklich nicht auf mich abwälzen.“
Ja, schön. Er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, dann wäre er nicht betrunken auf den Spielplatz gegangen, um seine Wut an unschuldigen Plastikfiguren, Rutschen und Schaukeln auszulassen. Aber er hatte einen verdammt schlechten Tag gehabt und sich nicht anders zu helfen gewusst.
Ach, was sollte es. Passiert war passiert. Und jetzt würde er eben mit den Konsequenzen leben müssen. Liebe Güte, er hasste alles an diesem Satz. Am meisten das Wort Konsequenzen.
„Gott möge der armen Erzieherin beistehen, die sich mir dir herumschlagen muss“, murmelte Sam kopfschüttelnd. „Ich hoffe, sie hat eine Streitaxt und einen Elektroschocker in ihrer Handtasche.“
„Natürlich wird sie das. Sie arbeitet schließlich mit Kindern zu-“ Mitten im Satz brach Jake ab.
Moment. Erzieherin?
Er würde mit einem weiblichen Geschöpft zusammenarbeiten? Einer Frau, die den blöden Papierwisch unterschreiben musste, auf dem er seine Sozialstunden eintrug?
Seine Laune verbesserte sich schlagartig.
Baseball und Frauen. Das waren die zwei Dinge, die er verstand. Mit einer süßen, kleinen Erzieherin, die ihn in Ruhe ließ und möglicherweise hier und dort eine Stunde zu viel eintrug … ja, mit der konnte er arbeiten.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und erleichtert ließ er sich in den Ledersitz zurücksinken. Möglicherweise würde die Sache mit den Sozialstunden doch kein allzu großes Problem werden.
„Warum lächelst du, Jake?“, fragte Sam alarmiert.
„Verbietest du mir jetzt auch schon, mich zu freuen?“
„Ja!“, rief Sam ohne zu zögern. „Denn dieses schäbige Lächeln ist abartig und ich will, dass du es sofort von deiner Visage wischst.“
Jakes Grinsen wurde nur noch breiter. „Du bist viel zu nervös, Sam. Ich habe mich nur gerade mit meinem Schicksal abgefunden. Ich meine, ein Haufen fünfjähriger Kinder – wie anstrengend können die schon sein?“ … wenn man sie nie zu Gesicht bekam.
Der PR-Manager schnaubte laut, die Augen skeptisch zu Schlitzen verengt. „Du hörst dich untypisch optimistisch an.“
Jake zuckte mit den Achseln. „Was soll ich sagen? Gott ist mir soeben erschienen und hat mir erzählt, dass alles gut werden wird.“
Sam verdrehte die Augen. „Einen Kerl, der dir zu fest mit einer Bibel auf den Kopf schlägt, hätte ich mitbekommen. Aber egal. Solange du keinen Blödsinn machst und dich ausnahmsweise mal zusammenreißt, werden wir kein Problem bekommen. Die Presse wartet nur auf einen weiteren Fehltritt, Jake. Also halt dich die nächsten Wochen einfach mal mit deinen Eskapaden zurück, okay?“
Jake hob spöttisch einen Mundwinkel. Für Sam war alles eine Eskapade.
Ein Dreier mit zwei Playmates? Eskapade.
Höschenweitwurf mit vier Cheerleadern im Stadion? Eskapade.
Sich betrinken und einen Spielplatz demolieren? Eskapade.
Wenn Sam ihn weiter so einschränkte, konnte er bald überhaupt nichts mehr tun, was Spaß machte.
„Weißt du, Sam“, sagte Jake im Plauderton und verschränkte die Hände in seinem Schoß. „Es ist ganz schön engstirnig von dir, mich so für meinen alternativen Lebensstil zu verurteilen. Mir wurde versichert, dass die Delphies ein Baseballteam aus Individualisten sind, die Raum für ihre kreative Entfaltung bekommen.“
„Entfalte dich, wie du willst“, sagte Sam trocken. „Werde von mir aus zum verdammten Origamischwan. Aber bleib unter dem Radar! Sonst muss Coach Thompson wirklich überlegen, dich für ein paar Spiele zu sperren.“
Jake presste die Lippen aufeinander und sah Sam düster an. Er war nicht dämlich. Er verstand eine Drohung, wenn er sie hörte. „Sam, ich will den Titel genauso gewinnen wie jeder andere Spieler“, sagte er gepresst. „Wenn nicht sogar mehr. Und mit Jimmy Rodriguez im Team haben wir die besten Chancen seit Jahren. Das ist mir klar. Ich werde nichts tun, was unseren Weg in die Playoffs und die World Series gefährdet.“
„Außer in den Sandkasten eines Spielplatzes zu pinkeln, meinst du?“
Jake machte eine wegwerfende Handbewegung. „Reitest du immer noch darauf rum? Das ist doch schon fast ein alter Hase.“
Eine neue Welle von Blitzlichtgewitter drang durch die Fenster und Jake verzog das Gesicht – sie hatten sein Haus also gleich erreicht. Gott sei Dank hatte er vor ein paar Monaten einen Zaun und ein Tor bauen lassen, die ihn vor unerwünschten Besuchern und Blicken schützten.
Er zog seinen Schlüssel aus der Tasche, öffnete das elektrische Tor, damit ihr Fahrer es passieren konnte, und lehnte sich dann mit geschlossenen Augen wieder zurück. An manchen Tagen genoss er es, im Rampenlicht zu stehen, eine Horde Paparazzi auf seinen Fersen zu haben, die ihm unmoralische Angebote hinterherschrien. Doch seit ein paar Monaten waren diese Tage immer seltener geworden. Wenn er ehrlich war, ging ihm der Medienrummel mittlerweile fast nur noch auf den Sack. Jeder wollte irgendetwas von ihm und er war es leid, zu springen, wenn jemand pfiff. Er wollte … Ruhe? Ja, vielleicht war es das. Vielleicht war es auch etwas anderes. Irgendetwas, das die Leere füllte, die sich abends klammheimlich in seine Brust stahl. Jake hatte versucht, es als Sodbrennen abzutun, doch so erfolgreich darin, sich selbst zu belügen, war er dann auch nicht.
Der Kies knirschte unter den Reifen, während sie die Auffahrt hochfuhren und schließlich vor seinem Haus hielten.
„Alles klar, für heute würde ich einfach drinnen bleiben“, schlug Sam vor. „Und morgen um acht hol‘ ich dich dann wieder hier ab.“
Belustigt hob Jake eine Augenbraue. „Abholen? Ich brauche keinen Aufpasser, Sam.“
„Das sieht Cole Panther anders. Ich werde dich zu deinem ersten Tag im Kindergarten begleiten.“ Sam grinste unschuldig. „Zumindest für die ersten zehn Minuten. Bis ich sehe, dass du dich eingewöhnt hast und dich mit den anderen Kindern verstehst.“
Jakes Kiefer knackte. Cole Panther war der Besitzer der Delphies, ein Freund, den Jake schon fast sein ganzes Leben lang kannte, und nicht zu vergessen eine riesige Nervensäge. Cole hasste es, wenn er Dinge nicht kontrollieren konnte – und Jake war eines dieser Dinge.
„Nimm’s nicht persönlich, aber fick dich, Sam“, sagte Jake leichthin und öffnete die Tür.
„Ich freu mich auch auf morgen“, rief der PR-Manager fröhlich, bevor Jake ihm die Tür ins Gesicht knallte.
Sie behandelten ihn wie ein verdammtes Kind! Als könne man ihn nicht allzu lange aus den Augen lassen, weil er sonst Chaos im Supermarkt veranstalten oder seiner Barbiepuppe die Haare abschneiden würde.
Er war sechsundzwanzig – und es reichte. Ja, die letzten Monate waren scheiße gewesen. Er wusste selbst, dass er … kompliziert gewesen war. Aber es war diese verdammte Stadt! Er hatte immer aus Philadelphia raus gewollt. So weit weg von seiner Familie wie nur möglich. Doch nachdem er zwei himmlische Jahre lang in Texas zum College gegangen war, hatten die Delphies ihn gedraftet – und was hätte er tun sollen? Seinen Traum, Profi-Baseballer zu werden, vergessen, weil er die Nähe seiner Mutter und seines Vaters nicht ertrug?
Sein Handy vibrierte und er zog es aus der Tasche, während er die drei Stufen zu dem weißen, viktorianischen Haus hochschritt, das mit dem weißen Balkon entfernt an eine Miniaturversion des Buckingham Palace‘ erinnerte.
Die Nachricht, die er bekommen hatte, bestand aus einem Satz:
Ihr Vater erwartet Sie heute Abend um sieben Uhr zum Dinner.
Jake schnaubte laut und steckte das Telefon zurück in die Tasche. Ja, das würde nicht passieren. Seine Laune hing ohnehin schon unter seinen Füßen. Da brauchte er nicht noch seinen alten Herrn, der genüsslich darauf herumtrampelte.
Genervt stieß er die Haustür auf und schälte sich aus seiner Anzugjacke, um sie an die Garderobe zu hängen. Er hatte Letztere für zehn Dollar bei Ikea erstanden und zusammen mit seinem Bett war sie das einzige Möbelstück, das Jake wirklich mochte.
Das Haus hatte er kurz nach seinem ersten Spiel bei den Delphies gekauft. Natürlich war es zu groß. Natürlich waren allein schon die Instandhaltungskosten absurd hoch. Natürlich war es komplett bescheuert, dass ein einzelner Mann dieses Haus bewohnte. Der Garten war größer als ein Baseballfeld und hatte einen verdammten See! Jake wusste das alles und wenn er ehrlich war, überlegte er schon seit Jahren umzuziehen. Es war zu leer. Zu einsam. Es fühlte sich an, als würde er in einem Museum leben.
Aber die Welt hatte von ihm erwartet, dass er genau so ein Haus kaufte. Und wenn man der Meinung der Welt widersprach, zog das unangenehme Fragen mit sich, die Jake sich einfach nicht hatte aufbürden wollen.
Außerdem hatte er sein Leben lang damit verbracht, die an ihn gestellten Erwartungen zu enttäuschen – war es da nicht mal eine nette Ausnahme, genau das zu tun, was die Leute von einem jungen, millionenschweren Baseballspieler dachten?
Nicht, dass ihm wichtig wäre, was die Leute von ihm hielten. Aber ihm war wichtig, dass die Leute ihm nicht auf den Sack gingen. Was im Moment viel zu viele taten.
Als wolle das Universum seinen letzten Gedanken unterstreichen, spazierte in diesem Moment Dexter O’Connor, Second Basemann der Delphies, aus seiner Küche. Einen Joghurtbecher in der Hand, barfuß.
„Hey, Jake“, grüßte er ihn mit vollem Mund. „Wusstest du, dass eine nackte Frau in deiner Küche steht?“
Mit leicht geöffneten Lippen sah Jake seinen Teamkollegen an. „Was?“, fragte er verwirrt.
„In deiner Küche steht eine Blondine und backt Muffins. Nackt“, stellte Dex klar. „Deine Haushaltshilfe?“
„Nein, die kommt immer montags, ich …“ Er blinzelte und schüttelte den Kopf. „Was zum Teufel tust du hier, Dex?“
„Du findest mich interessanter als die vollbusige Stripperbäckerin?“, hakte Dex mit verengten Augen nach. „Du solltest deine Prioritäten noch einmal überdenken.“
Stöhnend zog sich Jake die Schuhe aus und hängte seine Kappe zu seiner Jacke.
Während der letzten Monate hatte er einigen Leuten einen Schlüssel zu seinem Haus gegeben. Er konnte sich nur leider nicht ganz daran erinnern, wem.
Kaylie, seiner beste Freundin und Dexters Verlobten, auf jeden Fall. Dann George, dem Mann, den er zweimal die Woche fürs Putzen bezahlte. Harriet, einer Stewardess aus Boston, die ab und zu mal bei ihm vorbeischneite. Celine, einer Kellnerin aus der Sportsbar, die direkt gegenüber des Stadions lag … aber sonst? Sonst waren da nur verschwommene Gesichter.
Mhm. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, weniger zu trinken. Und sein Türschloss auswechseln zu lassen.
„Keine Ahnung, wer das ist“, gab er schließlich zu und wollte schon selbst nachsehen, als eine Brünette aus seinem Wohnzimmer spazierte.
„Dachte ich mir doch, dass wir dich gehört haben“, sagte Kaylie lächelnd und blieb neben Dex stehen. „Sag mal, wusstest du, dass eine …“
„… nackte Frau in meiner Küche steht?“, ergänzte Jake seufzend. „Ja. Dein nerviges Anhängsel hat mich schon eingeweiht. Aber lieber eine nackte Frau in der Küche als im Schrank, oder?“
„Du hattest schon einmal eine nackte Frau im Schrank?“, wollte Dex interessiert wissen, während er weiter in Seelenruhe Jakes Joghurt auslöffelte.
„Du nicht?“, fragte Jake verwirrt. „Gott, ich habe mich zu Tode erschreckt, als sie zwischen meiner Kleidung rausgesprungen ist.“ Kopfschüttelnd lief er an seinen Freunden vorbei in Richtung Küche.
Kaylie schnaubte laut hörbar und folgte ihm. „Mich wundert es fast, dass du in deiner Wohnung noch keine Leuchtstreifen angebracht hast, die zum Ausgang führen. Damit deine Eroberungen nachts auch allein den Weg zur Tür finden.“
„Bitte, Kaylie. Ich bin ein Gentleman. Mein Chauffeur geleitet sie von meinem Schlafzimmer zum Auto.“
Richtig! Craig, seinem privaten Chauffeur, hatte er auch einen Schlüssel gegeben.
Kaylie schnipste ihm hart mit dem Finger gegen das Ohr. „Du bist ekelig, Jake!“
„Was denn?“, fragte er verärgert. „Die Frauen fühlen sich geehrt. Und was zum Teufel tut ihr überhaupt hier?“
Kaylie hob die Schultern und sah ihn ernst an. „Ich wollte nicht, dass du nach dem Gerichtstermin allein bist. Ich dachte, du freust dich vielleicht über Gesellschaft. Konnte ich ja nicht ahnen, dass du schon eine nackte Frau eingeladen hast.“
„Ich habe überhaupt niemanden eingeladen“, stellte Jake klar. „Und das ist sehr lieb, Kaylie, aber ich habe gerade absolut keine Lust darauf, zu reden.“ Sie würde ihn ja ohnehin nur danach fragen, was in letzter Zeit mit ihm los war. Und Jake war nicht bereit, ihr Antworten zu geben.
Er stieß die Küchentür auf und wurde von einem prallen, nackten Hintern begrüßt.
Ah, Silvana. Silvana stand in seiner Küche.
Von dem Geräusch überrascht, wandte sich sein Gast um. Mit strahlendem Lächeln sah sie Jake an, während sie Kaylie und Dex, die sie mit unverhohlener Neugier anstarrten, vollkommen ignorierte. „Da bist du ja“, sagte sie etwas außer Atem. Sie trug eine Schürze, die phänomenal darin versagte, ihre Brüste zu verpacken und so kurz war, dass sie wohl eher als Accessoire, nicht etwa als Kleidungsstück bezeichnet werden konnte. Abgesehen davon, dass sie hinten natürlich vollkommen offen war.
„Waren wir verabredet?“, fragte Jake stirnrunzelnd. Die Chance, dass er es einfach vergessen hatte, war relativ hoch.
„Oh, nein, nein“, meinte Silvana mit geröteten Wangen und wischte sich die Hände an der Schürze ab. „Aber du hast mir einen Schlüssel gegeben und gemeint, ich könne deine Küche nutzen, wann immer ich will, weil mein Herd doch kaputt ist. Und ich dachte, du freust dich vielleicht darüber, dass ich nackt bin, wenn du zurückkommst.“
Nun, auch wenn Jake die Geste zu schätzen wusste, er hatte da gerade absolut keinen Nerv zu. „Sorry Silvi, es ist gerade schlecht“, sagte er entschuldigend. „Wie du siehst, habe ich Freunde hier … könnest du ein andermal backen?“
Die Röte in ihren Wangen vertiefte sich und sie nickte hektisch. „Natürlich. Mir war nicht klar, dass du nicht allein sein würdest.“ Hastig machte sie ein paar Schritte nach vorne. „Die Muffins brauchen noch fünf Minuten, dann kannst du sie ja einfach aus dem Ofen holen.“
Im nächsten Moment flitzte sie an ihm vorbei und verschwand im Flur.
Das mochte Jake an seinen Freundinnen. Sie waren simpel gestrickt. Wenn er sagte, er wolle allein sein, verschwanden sie. Ohne zu meckern, ohne nachzufragen.
Von Kaylie konnte man das leider nicht behaupten.
Die Arme vor dem Körper verschränkt, sah sie zu ihm hoch. „Wir haben im Fernsehen gesehen, dass sie dich zu 140 Sozialstunden verdonnert haben“, bemerkte sie leise.
Jake hob eine Schulter. „Ja, passiert. Ich soll im Kindergarten arbeiten.“
Dexter schnaubte. „Passiert? Jake, so etwas passiert nicht einfach.“
Doch, in seinem Leben passierte so etwas einfach. „Meine Güte, wollt ihr mir jetzt auch noch eine Standpauke halten?“, fragte er angriffslustig. „Ich habe Mist gebaut. Geschenkt. Aber ich bin es langsam echt leid, dass mir deswegen alle auf den Geist gehen.“
„Ich mache mir nur Sorgen, Jake“, sagte Kaylie leise und berührte ihn sacht am Arm.
„Ach, ich mach mir keine allzu großen Gedanken“, meinte er unbekümmert. „Ein Kindergarten ist kein so schlechter Ort. Ich denke, ich kriege den Scheiß schon hin.“
„Das meinte ich nicht – auch wenn ich das bezweifle. Ich mache mir um dich Sorgen.“ Sie drückte seine Hand. „Du bist unglaublich rastlos und wütend in letzter Zeit. Und ich habe keine Ahnung, warum das so ist.“
Oh, Jake hatte da eine Vermutung. Vor vier Monaten war er das erste Mal seit Jahren wieder bei seinen Eltern zum Essen gewesen. Jahrelang hatte er nichts von seinem Vater gehört – und dann rief er an, um Jake zu erzählen, wie sehr sein kindisches Benehmen seinem Ruf schade. Sechsunddreißig beschissene Monate kein Wort – und dann das! Ja, das war so ziemlich der Anfang vom Ende gewesen. Jake hatte noch am selben Tag den Vertrag mit den Delphies gekündigt und seinem Agenten gesagt, dass er Ende der Saison wechseln wolle. Also: Natürlich war er rastlos. Denn er wollte verdammt noch mal nicht hier sein! Nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Haus, nicht an diesem Punkt in seinem Leben, an dem nichts mehr von Wert zu sein schien.
„Mir geht es gut, Kaylie“, sagte er mit Nachdruck. „Ich bin im Moment einfach etwas … genervt von allem. Das ist alles. Es wird vorübergehen.“
Nicht überzeugt sah seine beste Freundin ihn an. „Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, oder? Mit Dex übrigens auch. Und mit Ryan und Grace und Ty und …“
„Ich weiß“, unterbrach er sie unruhig. Er fühlte sich nur nicht danach, seine lächerlichen Probleme auf fremden Schultern abzuladen. Der reiche, sorglose, gutaussehende Frauenheld mit der guten Bildung und dem perfekten Haus und dem riesigen Talent war unzufrieden mit seinem Leben. Buhu.
Kein Gespräch, das ihm sonderlich erstrebenswert erschien. Er hatte es nicht einmal verdient, unglücklich zu sein. Meine Güte, er hatte so viel mehr als neunzig Prozent der Bewohner dieses Landes. Er hatte nicht das Recht zu jammern. Also würde er sich zusammenreißen, die nächsten drei Monate überstehen und dann für immer verschwinden. Irgendwo neu anfangen. Neue Stadt, neues Leben, neue Wohnung … neue Freunde. Ja, das war vielleicht der einzige Wermutstropfen an der Sache. Aber ein Opfer, das er bereit war zu bringen.
„Kay, ich werde mich die nächsten Monate zurückhalten, okay? Weniger Mist bauen. Mich aufs Spiel konzentrieren. Ich will den beschissenen Pokal gewinnen und nichts wird mich davon abhalten, also …“ Er atmete tief durch und lächelte matt. „Wünsch mir einfach Glück mit dem Kindergarten morgen und geh mit deinem Lover hier nach Hause. Damit ihr Barbie und der Nussknacker gucken könnt – oder was immer Dex noch gerne so tut.“
Kaylie seufzte. „Schön. Und du bist sicher, dass du aus der Kindergartensache nicht rauskommst? Können sie dich nicht Müll am Straßenrand aufsammeln lassen?“
„Wieso sollten sie?“, fragte er verblüfft.
„Weil ein Kindergarten der verdammt falsche Ort für dich ist, Jake!“, stellte Kaylie lachend fest.
„Warum?“
„Nun, erstens: Du fluchst. Oft. Sehr oft. Andauernd. Das Wort Scheiße ist seit drei Jahren in Folge Gewinner deines Wortschatzes.“
„Na und? Die Kinder lernen die beschissenen Worte doch ohnehin irgendwann.“
„Ja, aber die Eltern wollen, dass sie sie nicht aus dem Kindergarten mitbringen! Also: Nicht vor den Kindern fluchen.“
„Jaja“, sagte er und winkte ab. So schwer konnte das wirklich nicht sein. „Ich komm klar.“
Er hatte ohnehin nicht vor, mehr als einmal hinzugehen. Danach würde er die Erzieherin sicher soweit haben, dass sie ihm einfach wöchentlich den Wisch unterschrieb und ihn seines Weges gehen ließ.
Er packte Kaylie an den Schultern, drehte sie um und schob sie aus der Küchentür den Flur hinab. Dexter folgte ihnen, diesmal ohne Joghurt. Den hatte er gerade aufgegessen.
„Lass dir von Kay nichts einreden“, sagte er kopfschüttelnd. „Du wirst einen guten Job machen.“ Er grinste knapp. „Und solange du weiter deine Homeruns schlägst, werden wir Jungs dir nicht allzu sehr damit auf die Nerven gehen, dass du überall Kinderrotz haben wirst.“ Gönnerisch schlug er Jake auf die Schulter, bevor er sich seine Schuhe anzog.
Jake verdrehte nur die Augen. „Mach dir darüber mal keine Sorgen. Bisher ist das die beste Saison meines Lebens und das wird sich in nächster Zeit nicht ändern.“
„Gute Einstellung.“ Dex nickte zufrieden und öffnete Kaylie die Tür. „Siehst du, Kay? Ich hab dir doch gesagt, er weiß noch, was wichtig ist.“
„Baseball ist nicht das Wichtigste“, sagte sie gereizt.
Doch, war es. Aber Jake wusste es besser, als die Worte laut auszusprechen. „Bis Sonntag beim Spiel, Kay“, verabschiedete er sie und drückte sie kurz an sich.
„Schön“, murrte sie. „Und wenn du doch noch reden willst …“
„Rufe ich dich an“, versprach er.
„Gut.“ Sie hob die Hand und im nächsten Moment verschwand sie mit Dexter aus der Tür.
Jake blieb in der riesigen Leere des anmaßend großen Hauses zurück. Schwer seufzend legte er den Kopf in den Nacken und starrte an die stuckverzierte Decke. Er wollte etwas ändern. Jetzt.
Aber er wusste nicht, was.
Alles war zu … gigantisch. Zu weit weg, um es genauer betrachten zu können. Und war das nicht seit jeher sein Problem gewesen?
Sein Leben war schon immer zu groß gewesen. Viel zu unhandlich. Die Fußstapfen vor ihm zu riesig. Die Messlatte zu hoch. Der einzige Bereich seines Lebens, in dem er die Anforderungen auch noch übertroffen hatte, war Baseball.
Das Stadion war seit jeher sein Zufluchtsort gewesen. Das Spiel das einzige, was ihn beruhigen konnte. Baseball war nun einmal sein Leben. Und Jake wollte es so. Hatte es immer so gewollt. Und er sollte verdammt sein, wenn er sich seine letzte Saison bei den Delphies von einem Haufen Kindergartenkindern kaputtmachen ließ!
„Sind Sie sich sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher.“
Die Kassiererin schürzte missbilligend die Lippen. „Sie sehen nicht sicher aus.“
Olivia Green zwang sich zu einem Lächeln und versuchte sich daran zu erinnern, dass sie ein guter Mensch war. „Soll ich mir vielleicht ein Ausrufezeichen auf die Stirn malen und ein Fahrradschloss um meinen Hals hängen, damit ich sicherer aussehe?“, fragte sie betont freundlich. „Es sind vier Packungen Spaghetti für zwei Dollar. Es ist Ihr Aktionspreis, sollten Sie da nicht besser informiert sein?“
„Mhm, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, Sie wollen mich übers Ohr hauen.“
Oh, Liv wollte sie hauen. Aber nicht übers Ohr. „Dann schauen Sie von mir aus selbst nach!“, fuhr sie gereizt auf und warf einen kurzen Blick auf ihre Handyuhr. Sie war spät dran. Ihrem Zeitplan nach sollte sie seit zwei Minuten in ihrem Auto auf dem Rückweg zur Wohnung sitzen, damit sie um sieben Uhr vierunddreißig ein Brot hinunterschlingen konnte, um sieben Uhr zweiundvierzig mit ihrer Nichte im Wagen sitzen und auf dem Weg zu Arbeit sein konnte.
„Janie!“, rief die Kassiererin laut über ihre Schulter zu einer Kollegin, die Preisschilder auf Dosenbohnen klebte. „Janie, sag mal, sind die Spaghetti gerade billiger? Die Kundin meint, vier Packungen würden nur zwei Dollar kosten?“
Ungeduldig tippe Liv mit dem Fuß auf den Boden, während die Menschen in der Schlange ihr genervte Blicke zuwarfen.
„Es sind fünfzig Cents, die Sie sparen“, zischte der Anzugträger hinter ihr ungehalten. „Können Sie nicht einfach darauf verzichten und gehen?“
Liv ließ ihren Blick flüchtig über seine Erscheinung wandern und schnaubte laut. Natürlich hielt der Mann, der Schuhe im Wert von zwei ihrer Monatsmieten trug, fünfzig Pence für eine lächerliche Summe. Aber Liv war sich sicher, dass er sich auch noch nie in seinem Leben zwei Wochen lang von Spaghetti ernährt hatte, damit er seiner Nichte ein neues Paar Schuhe kaufen konnte. Und bestimmt war er noch nie drei Meilen zur Arbeit und wieder zurückgelaufen, weil die Benzinkosten sein monatliches Budget überschritten hatten. Nein, er ließ sich für zweihundert Dollar die Haare schneiden, trug einen Anzug mit eingenähten Diamanten und eine Krawatte aus Seide. Kurzum: Er wusste einen Dreck darüber, was fünfzig Pence für einen Unterschied machten.
„Kümmern Sie sich um Ihr Geld, ich kümmere mich um meins, in Ordnung?“, sagte sie süßlich und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu.
„Sind vier für zwei Dollar, Maddy!“, rief die zweite Verkäuferin zurück. „Ist ‘ne Wochenaktion.“
„Mhm, schön“, murrte die Kassiererin unzufrieden und tippte etwas in ihren Computer. „Das macht dann fünfundsechzig Dollar und fünfunddreißig Pence.“
Liv schluckte bei der Summe und zog ihre Kreditkarte durch das Gerät hinter dem Kassenband. Damit hatte sie noch … zweiundvierzig Dollar und vierzig Pence auf ihrem Konto. Für die nächsten fünf Tage. Sie bezweifelte, dass ihre Schwester Kristen mehr vorzuweisen hatte. Und sie musste noch tanken. Außerdem war am zweiten August die Miete fällig. Sie konnten nicht schon wieder zu spät zahlen, sonst würde ihr Vermieter platzen und Liv hatte nicht das Geld, um eine professionelle Reinigung zu zahlen und das Blut entfernen zu lassen.
Tief atmete sie durch, bedankte sich bei der Kassiererin für ihre Geduld – denn Höflichkeit kostete nichts – und packte ihre Einkäufe. Es war egal. Laney hatte neue Schuhe, die nicht auseinanderfielen, sobald man sie zu intensiv ansah, und für die nächste Woche hatten sie Essen im Haus. Das war doch auch schon einmal etwas wert. Liv hätte zwar lieber ein fliegendes Einhorn und eine Matratze im Bett, die nicht bis zum Boden hing, aber hey, man konnte nicht alles haben.
Vierzehn Minuten später parkte sie vor dem Plattenbau, in dem sie zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Nichte wohnte, klemmte sich die Tüten unter die Arme und hastete zur Tür, die Gott sei Dank nur angelehnt war. Sie war sieben Minuten zu spät und würde wohl auf ihr Brot verzichten müssen, aber das war in Ordnung, im Kindergarten würde es Essen geben.
Sie sprintete die Treppen hoch und als hätte ihre Schwester die polternden Schritte gehört, öffnete sie die Wohnungstür, noch bevor Liv den letzten Absatz erreicht hatte.
„Du bist spät dran“, stellte sie fest und nahm ihr eine der Tüten ab. „Hast du dich wieder mit der Kassiererin angelegt?“
Liv zog eine Grimasse, streifte ihre Schuhe an der Fußmatte ab und trat in die Wohnung. „Ich genieße die genervten Blicke der anderen einfach zu sehr“, sagte sie und seufzte melancholisch. „Worauf sollte ich mich denn sonst beim allwöchentlichen Einkauf freuen?“
Kristen grinste und strich sich die hellblonden Haare in den Nacken. „Auf den süßen Kassierer von Kasse fünf natürlich.“
Stirnrunzelnd schloss Liv die Tür hinter sich. „Wer?“
„Na, der blonde Typ mit der grünen Schürze, der hinter der Kasse sitzt und dich immer anlächelt.“
„Mhm, keine Ahnung, wovon du redest“, meinte sie achselzuckend. „Ich habe keine Zeit, mir irgendwelche Kassierer anzusehen.“
Kristen verdrehte schmunzelnd die Augen. „Weißt du, dich könnte ein heißer, nackter Mann anspringen und Ich will dich rufen. Du würdest einfach ausweichen und weitergehen.“
„Natürlich würde ich das. Er hört sich nach einem ziemlichen Perversling an“, gab Liv zu bedenken. „Ich meine, wir befinden uns auf einer öffentlichen Straße. Ich würde die Polizei rufen.“
Sie schob die Tüte höher ihren Arm hinauf und ging in die Küche.
„Oli, Oli, guck mal!“, begrüßte ihre am Tisch sitzende Nichte sie aufgeregt und hielt etwas hoch, das sehr nach einem angeranzten Stück Salami aussah. Stolz schwang sie es durch die Luft. „Ich hab‘ einen Schmetterling aus Fleisch gebastelt.“
Livs Mundwinkel zuckten und fachmännisch betrachtete sie das Kunstwerk. „Sehr schick“, sagte sie, bevor sie Laney einen Kuss auf den Kopf gab.
„Laney, was habe ich dir dazu gesagt, mit deinem Essen zu spielen?“, tadelte Kristen ihre Tochter. „Ich hoffe, der Schmetterling fliegt auf direktem Wege in deinen Mund.“
Laney grinste breit, stopfte sich die Salami in die Backen und sprang vom Stuhl auf. „Fertig, ich zieh‘ mich an. Oli ist spät dran, aber ich nicht!“ Kopfschüttelnd hob sie den Zeigefinger in Livs Gesicht, bevor sie durch die Küche in Richtung des Zimmers rannte, das sie sich mit ihrer Mutter teilte.
Kristen lachte leise und fing an, die Tüten auszuräumen. „Du hast es gehört, Oli. Du beeilst dich besser.“
Liv verdrehte die Augen. Laney hatte irgendwann beschlossen, dass ihr Liv als Spitzname zu langweilig war. Und da sie eigentlich Olivia hieß, war die naheliegende Wahl Oli gewesen. „Ich gebe mein Bestes“, meinte Liv lächelnd. „Und sieh du lieber nach Laney, bevor sie wieder versucht, in ihrem Lieblingspyjama in den Kindergarten zu gehen. Ich weiß, Winnie Pooh ist zeitlos … aber die anderen Kinder werden neidisch.“
„Du hast recht. Außerdem kommt doch heute der heiße Baseballer das erste Mal, oder?“ Sie wackelte mit den Augenbrauen. „Da soll Laney gut aussehen.“
Liv verdrehte die Augen. „Er ist nicht heiß.“
Bestimmt richtete Kristen einen Zeigefinger auf sie. „Nimm das zurück. Jake Braker ist das Schönste, was die MLB zurzeit zu bieten hat.“ Verträumt legte sie eine Hand auf die Brust. „Gott, ich wette, seine Haare sind ultraweich. Kannst du das für mich mal testen?“
„Jake Braker ist ein Verbrecher und ein arrogantes Arschloch.“ Zumindest sagte Chloe, Livs beste Freundin, das immer. Und die wusste, wovon sie sprach. Sie umgab sich andauernd mit Baseballern. Außerdem: Wie nett konnte ein Typ, der mutwillig einen Kinderspielplatz zerstörte, schon sein? „Ich werde ihn nicht fragen, ob ich seine Haare mal berühren darf.“
„Nein, natürlich nicht. Das wäre auch komisch. Du tust einfach so, als hätte er eine Fluse im Haar und dann –“
Liv schnaubte laut und nickte zur Küchentür. „Geh Laney helfen!“
Wenn sie ehrlich war, war Jake Braker das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte. Für egomanische Männer hatte Liv nicht viel übrig. Doch ihr Chef war der Meinung gewesen, dass sie am besten dafür geeignet war, mit einem arroganten Sportler umzugehen. Außerdem bekam sie einen höheren Stundenlohn und irgendwie … ja, irgendwie war sie ja auch schuld daran, dass Mr. Braker Sozialstunden abarbeiten musste. Es erschien ihr also fast fair, dass sie sich mit ihm herumschlagen musste.
„Schön, schön“, sagte Kristen unschuldig und hob die Hände in die Höhe. „Ich sag‘ nichts mehr – wenn du zugibst, dass er heiß ist.“
„Er ist nicht hässlich. Zufrieden?“ Ein genaueres Urteil konnte Liv beim besten Willen nicht fällen, da sie ihn ehrlich gesagt nie allzu genau betrachtet hatte. Klar, sie war öfter mal im Fernsehen oder in der Zeitung über sein Bild gestolpert. Aber Baseball interessierte sie einfach nicht genug, als dass sie Jake Braker mehr Aufmerksamkeit schenken würde.
„Es ist ein Anfang“, sagte Kristen seufzend. „Übrigens …“ Unwohl kratzte sie sich an der Schläfe. „Ich hasse es, darüber zu reden, aber … ich muss mir für die Uni ein paar Medizinbücher kaufen und die sind scheiße teuer. Ich werde sie gebraucht nehmen, aber …“ Sie seufzte und Sorge trat in ihre Züge. „Es ist viel, Liv. Verdammt viel. Vielleicht sollte ich mit dem Studium pausieren. Nur für ein Jahr oder so. Geld sparen, und –“
„Nein, kommt überhaupt nicht in Frage“, unterbrach Liv ihre Schwester sofort. „Du wolltest schon immer Tierärztin werden! Seit du mit drei Jahren einen Regenwurm mit Klopapier umwickelt hast, weil er offensichtlich beide Beine verloren hatte. Es ist dein Traum – und den solltest du nicht auf Eis legen.“
Kristen lächelte schwach und tätschelte ihr die Schulter. „Aber du musst es ausbaden, Liv. Ich liebe dich dafür, dass du für mich da bist und mir mit Laney und der Uni hilfst – ohne dich wären wir aufgeschmissen. Aber ich möchte nicht der Grund dafür sein, warum du dein Leben auf Sparflamme lebst. Du arbeitest dich zu Tode. Du hast doch bestimmt auch Träume. Wünsche. Lust, mal wieder auf ein Date zu gehen.“
Wenn sie ehrlich war, fehlte Liv einfach die Zeit, um über triviale Dinge wie Wünsche, Träume und Dating nachzudenken, deswegen schüttelte sie den Kopf. Kristen war dreiundzwanzig. Sie hatte ihr Leben noch vor sich. Sie war unfassbar klug, schrecklich fleißig, studierte Tiermedizin, arbeitete und zog gleichzeitig noch eine Fünfjährige auf. Ihr eigener Vater hatte sie sitzen lassen, der One-Night-Stand, aus dem Laney stammte, hatte sie sitzen lassen – und Liv würde nicht dasselbe tun. Solange sie einander hatten, würden sie es schon irgendwie hinbekommen. Sobald Kristen mit dem Studium fertig war und ihr eigenes, gutes Leben finanzieren konnte, würde Liv sich auf sich selbst konzentrieren.
„Mach dir keine Gedanken, Krissy, wirklich“, murmelte sie und drückte sie an sich. „Wir kriegen das schon hin. Wir sind die drei Musketiere. Ich … ich werde das Ganze durchrechnen und dann noch mal mit dir reden. Leg mir dir Rechnung einfach aufs Bett.“
Kristen nickte und löste sich von ihr, bevor sie unwohl an ihrer Unterlippe zupfte. „Ich hab‘ dich lieb, Liv. Und da du ohnehin schon mies drauf bist … Mom hat angerufen.“
Augenblicklich presste Liv die Lippen zusammen. „Was will sie?“
„Dasselbe wie immer: Mit dir reden und um Verzeihung bitten.“
Liv schnaubte verächtlich. „Hast du ihr gesagt, dass das nicht passieren wird?“
„Nein … sie hat sich traurig angehört. Ich wollte ihr nicht das Herz brechen.“
Schwer seufzend wandte Liv sich ab und zog die Milch aus der Einkaufstüte.
Kristen war einfach zu weich. Sie hatte das größte Herz, das man sich vorstellen konnte, machte dort aber leider auch einer Menge Menschen Platz, die ihre Liebe überhaupt nicht verdient hatten.
Es war schon immer Livs Aufgabe gewesen, die harte, toughe und rational durchgreifende Schwester zu sein, während Kristen jedes halbtote Vögelchen vom Straßenrand aufgehoben hatte und den größten Arschlöchern nach nur einem Lächeln verzieh.
Sie glaubte daran, dass Menschen sich ändern konnten. Dass man ihnen nur eine zweite Chance geben musste. Aber Liv wusste es besser. Menschen waren selbstsüchtige, eigennützige Wesen, die ihre eigenen Kinder im Stich ließen, wenn es sich gerade anbot. Und ihre Mutter … ihre Mutter war vielleicht die Schlimmste von allen.
„Geh zu Laney, Kristen. Ich kümmere mich um den Rest, okay?“, sagte Liv bemüht fröhlich.
„In Ordnung … aber ich werde nur weiter studieren, wenn du demnächst mal wieder ausgehst! Dir einen Abend für dich nimmst.“
„Jaja, werde ich machen“, log sie und wedelte mit der Hand in Richtung ihrer Schwester. „Jetzt geh zu deiner Tochter, bevor sie sich mit ihrer Strumpfhose stranguliert.“
„Aye, Aye, Sir!“ Im nächsten Moment war Kristen verschwunden.
Liv räumte die Einkäufe aus und ließ sich schließlich auf den Stuhl am Küchentisch sinken. Sie war erschöpft, dabei war es nicht einmal acht Uhr. Seufzend vergrub sie das Gesicht in den Händen, sog tief Luft zwischen den Fingern ein, stieß sie wieder aus, sog sie wieder ein … so wie sie es täglich ungefähr dreimal machte, um sich selbst zu beruhigen. In ihrem Kopf tanzten die Zahlen durcheinander und egal, wie sie sie hin- und herschob – es reichte nicht.
Sie hatte ihren eigenen Studienkredit zu bezahlen. Sie hatten die Miete. Die Versicherung des Autos. Das Benzin. Das Essen. Die Kleidung. Die Kosten für Laney.
Der Berg an Dingen in ihrem Kopf, die sie zu erledigen hatte, die sie zu zahlen hatte, wurde immer größer, immer wackeliger … Schluss jetzt.
Abrupt richtete sie sich auf und biss die Zähne aufeinander. Sie hatte bisher noch immer eine Lösung gefunden! Das Geld, das sie zusätzlich bekommen würde, weil sie drei Monate lang Jake Braker babysittete, würde helfen. Und sie würde heute Nachmittag bei der Eventfirma anrufen, für die sie nebenbei kellnerte, und um mehr Jobs bitten. Sie würden eben noch etwas sparsamer leben müssen. Öfter zu Fuß laufen anstatt mit dem Auto zu fahren.
Gott, sie hätte die Schrottkarre ja schon längst verkauft, wenn ihr jemand mehr als zwei Dollar dafür gezahlt hätte.
Es war egal. Unterm Strich würden sie es schaffen – schlicht und ergreifend aus dem Grund, weil sie es schaffen mussten.
Sie richtete sich in dem Stuhl auf, atmete ein letztes Mal durch und sprang wieder auf die Füße. Sie war ohnehin schon spät dran, da konnte sie nicht noch Zeit damit verschwenden, sich selbst zu bemitleiden.
Meine Güte, sie war gerne der Fels in der Brandung. Sie war gerne diejenige, die die Lösung für alles fand. Aber manchmal … manchmal wünschte sie sich, in den Arm genommen zu werden, während ihr jemand erklärte, dass alles gut werden würde. Denn egal, wie oft sie sich das erzählte – es fiel ihr immer schwerer, sich selbst zu glauben.