Was hat Edda da bloß angerichtet? Onkel Carl ist völlig aus dem Häuschen, seit sie ihm diese vergilbten Papiere überlassen hat, die unerwartet im Nachlass ihres Vaters aufgetaucht sind. Ist die nebulöse Formel, die Edo vor fast dreißig Jahren entwickelt hat, wirklich wieder aufgetaucht?

Diese Frage wirbelt mehr Gemüter auf als nur das von Eddas Onkel. Auf ihrer abenteuerlichen Suche nach dem verschollenen Rest der geheimnisvollen Formel trifft Edda auf alte Feinde und neue Gefahren, deren Zuspitzung sie schließlich auf einem mysteriösen Landsitz in Lebensgefahr bringen. Am Ende muss sich Edda einer unangenehmen Wahrheit stellen …

Alexandra Schmidt wurde 1990 geboren und studierte an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie lebt mit ihrem Partner im Sauerland.

Ihr Debütroman Ira – Zorn des Taaffeits erschien im September 2018 bei »Books on Demand«. Mit Gula – Gierige Flammen setzt sich die spannende Geschichte um das Leben der stürmischen Fotografin Edda Betony nun fort.

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Alexandra Schmidt

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

www.as-literatur.de

ISBN: 978-3-7481-5395-5

Für Christoph -

weil Du mich zu einer Fortsetzung

ermuntert hast.

Inhaltsverzeichnis

Prolog
1987

Klanglose Stille liegt über dem Opernhaus. Es ist Abend. Für gewöhnlich herrscht zu dieser Stunde noch reges Treiben von Besuchern, die sich an den Garderoben und in den Korridoren tummeln, Türen offenhalten, in Mäntel helfen oder Fallengelassenes aufheben, bevor sie die Räumlichkeiten verlassen.

Doch das Opernhaus ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Keine Stimmen hallen von den Wänden wider, die Bühne liegt verlassen und einsam unter der Glaskuppel dar und hinter den Kulissen ist kein organisatorisches hektisches Treiben zu beobachten.

Bloß die Absätze eines einzigen Stiefelpaares klappern über den Fußboden, deren Widerhall hin und wieder von abgenutzten Läufern geschluckt wird.

Die junge Frau, zu der die Stiefel gehören, wirft immer wieder prüfende Blicke über die Schulter, als sei sie sich nicht ganz sicher, wirklich allein zu sein.

Das kleine Gewicht in ihrer Handtasche wirkt bleischwer, obwohl es ihre zarte Schulter nicht sonderlich belastet. Ihre Schritte beschleunigend, schiebt sich die kleine, schlanke Gestalt durch die Schatten der Sitzreihen, an der Bühne vorbei und durch eine Tür, die ausschließlich internem Personal zugänglich ist. Dahinter eilt sie, ohne Licht zu machen, durch einen schmalen Korridor und eine Treppe hinunter. Schließlich gelangt sie in den Raum, den sie angestrebt hat: den Requisitenraum.

Leise schließt die junge Frau die Tür hinter sich und huscht in eine der hintersten Ecken des Raumes, wo sie in die Knie geht und ihre makellose Hose dem Staub der Nachlässigkeit eines schlecht gewischten Bodens preisgibt. Wie geschaffen, für Dinge, die man dem Schutze einer solchen Nachlässigkeit anvertraut.

Etwas fahrig schiebt die Dame ihre Finger zwischen das Holz der letzten Bodendiele und des letzten Backsteins der Wand, deren Putz schon lange an vielen Stellen hier im Raum abgebröckelt ist. Sie zieht und wackelt mit den Fingerspitzen in einem Spalt, nimmt eine Nagelfeile aus ihrer Handtasche zur Hilfe, rutscht ab und verletzt sich am Finger; schiebt ihn in den Mund und saugt den Eisengeschmack ein. Schließlich gelingt es ihr, den Stein aus der Wand zu lösen, sodass ein kleiner Hohlraum zutage tritt.

Mit nervösen Fingern greift die Frau in ihre Handtasche und zieht ein schmales, rotes Notizbuch hervor, das sie in eine Brotpapiertüte schiebt, um es anschließend dem Schutze jenes Hohlraumes anzuvertrauen und den Stein zurück an seinen Platz zu schieben. Mit einem Seufzen richtet sie sich auf und schiebt ein paar Requisiten vor jene Stelle, damit die Spur im Staub nicht sogleich auffällt.

Endlich! Sie ist es los und hat ihr Versprechen erfolgreich gehalten.

Mit klopfendem Herzen eilt sie aus dem Raum, entflieht der drückenden Dunkelheit und zuckt bei jedem Geräusch zusammen. Draußen angelangt, steigt sie in ihr Auto. Langsam beruhigt sich ihr Puls und sie kommt nach einer Stunde Fahrt zu Hause an.

Als sie die gemeinsame Wohnung betritt, sieht sie noch Licht durch den Türspalt seines kleinen Büros dringen. Also tritt sie leise ein und findet ihn vor, wie sie es erwartet hat: eingenickt an seinem Schreibtisch, den Kopf auf dem Arm liegend.

Sanft legt sie ihm eine Hand auf das üppige dunkle Kraushaar und er schreckt hoch, blickt sie blinzelnd an und lächelt schief; schiebt sich die Brille auf die Nase und fragt: »Hast du alles so gemacht, wie wir es besprochen haben?«

Müde lächelnd nickt sie.

Er steht auf, nimmt sanft ihr Kinn in die Hand und küsst sie lange auf den Mund.

»Schläft die Kleine?«, fragt sie und reibt sich die Augen, denn dahinter nistet die schmerzende Tristesse, die sie besonders abends überfällt.

Er nickt und sieht sie skeptisch an. »Hast du deine Tabletten genommen?«

»Noch nicht.«

»Du vergisst sie zu oft in letzter Zeit.« Mit einem Blick auf ihre verletzte Hand, nimmt er ihren Finger in den Mund.

»Was für ein Glück, dass du mich immer daran erinnerst«, gibt sie mit einem entschuldigenden Lächeln zurück.

Weich sieht er sie an und zieht ihren von dunklen Wolken umgebenen Kopf an seine Brust.

»Wir zwei halten immer zusammen«, sagt er und reibt ihr mit der Hand über den Rücken. »Und bald beginnt für uns ein gutes Leben.«

25 Jahre später

Donnerstagnachmittag
Zimis

Erstmals in ihrem Leben ist Edda froh, mit einer Körpergröße von nicht einmal eins sechzig gesegnet zu sein. Andernfalls wäre es hier noch ungemütlicher und beengter geworden als es schon ist. Es ist dunkel, aber durch einige Ritzen dringt ein wenig Licht. Das Motorengeräusch hat eine anregende Wirkung auf ihren ohnehin heftig trommelnden Herzschlag und sie muss sich zusammenreißen, um nicht wieder auszuflippen. Edda kann sie gedämpft reden hören, versteht aber kein Wort. Oh, sie ist stinkwütend!

Das wird ihnen noch leidtun, so viel steht fest!

Sie sollen büßen, wenn sie erst hier herauskommt!

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt der Wagen zum Stehen und Edda hört die Autotüren zuschlagen. Die Wucht lässt das ganze Auto ein wenig beben. Schwere Schritte und das Klappern eines Stocks.

Jäh fällt das Tageslicht in den Kofferraum, als sie ihn öffnen. Edda muss einmal die Augen zusammenkneifen, um nicht von dem grauen hellen Himmel geblendet zu werden. Dann funkelt sie Vater und Sohn vernichtend aus ihren Kristallaugen entgegen.

Leonard Audorn sagt süßlich: »Meine Liebe, ich hoffe, Sie haben sich endlich ein wenig beruhigt und sind im besten Falle auch noch zur Vernunft gekommen. Wir haben jetzt viel zu tun und sollten keine Zeit verlieren. In wenigen Stunden wird es dunkel.«

René beugt sich über sie, um sie unter den Armen zu fassen und auf ihre Füße zu ziehen, die nach ihm treten. »Jetzt brauchen wir deine Hilfe, Süße.«

Drei Wochen zuvor

Samstagnachmittag
Selve

Das niedliche rothaarige Mädchen mit den Apfelbäckchen und den Smaragdaugen zieht ein fürchterliches Gesicht. Es hat die Unterlippe weit nach vorn geschoben, nur, um die Oberlippe fest zwischen die Schneidezähne zu ziehen und mit dieser Grimasse sein eigentlich nettes Gesicht zu entstellen.

Unbarmherzig schaut Edda hinter der Kamera hervor und knarzt: »Sag mal, willst du mit aller Gewalt blöde aussehen, Orla? Ist es so unerträglich für dich, deinem Vater eine Freude zu machen?«

Orla zieht ein noch schlimmeres Gesicht als vorher und jammert: »I’m bored!« Sie kann eigentlich ganz gut Deutsch sprechen; wenn sie will. Jetzt will sie nicht.

Edda bläst sich eine lilafarbene Haarsträhne aus der Stirn. Es ist viel zu warm hier drin im Fotostudio, das Kind nervt und sie muss noch mindestens eine Stunde totschlagen, bevor sie es heimbringen und loswerden darf.

»Du bist ganz wie dein Onkel«, schnaubt Edda und stemmt eine Hand in den Rücken. Von dem vielen Beugen und Hinknien tut ihr schon alles weh. »Warum kannst du nicht so unkompliziert sein wie dein Vater, hm?«

»I like uncle Tew«, mault Orla, wobei sie den Namen wie Tiu klingen lässt. Das macht sie allerdings aus Gewohnheit, denn den Namen Tewes hat sie noch nie richtig ausgesprochen und mittlerweile haben sich alle Beteiligten daran gewöhnt.

»Ich habe ja auch nichts Gegenteiliges gesagt«, seufzt Edda. »Aber mein Willkommensgeschenk bekommt nicht etwa Onkel Tiu, sondern dein Papa. Und wenn du endlich einmal aufhören würdest, herumzuhampeln und hässliche Fratzen zu ziehen, könnten wir schon längst auf dem Weg nach Steinlind sein und dir ein Eis holen. Also?« Griesgrämig zupft Orla an dem alten Plüschteddy, den Edda von zu Hause mitgebracht hat. Sie zieht an seinem Ohr und knibbelt Flusen aus dem Pelz.

»Würdest du den bitte anständig behandeln?«, blafft Edda und schiebt sich wieder hinter die Kamera. »Der bedeutet mir viel. Und jetzt lach endlich einmal, das kann doch nicht so schwer sein!«

Statt eines Lachens, schenkt Orla ihr eine herausgestreckte Zunge. Edda drückt auf den Auslöser und verewigt die Grimasse. Kühl lächelnd lässt sie die Kamera sinken und sagt: »Prima, Orla. Von mir aus kann dein Papa dich in deiner ganzen Garstigkeit zu sehen bekommen.«

Mit dem Wort Garstigkeit kann Orla nichts anfangen und sie rupft weiter an dem unschuldigen Bären herum; bis dieser auf einmal den Kopf schräg zur Seite legt und jener am letzten Faden baumelt. Erschrocken hebt Orla die pummlige Hand mit den unzähligen Sommersprossen vor den Mund und sieht Edda schuldbewusst an.

»I’m sorry«, jammert sie und verzieht nun das Gesicht zum Weinen.

»Heule jetzt bloß nicht; das war ja abzusehen«, grunzt Edda, schimpft aber nicht. Sie geht zu ihr und nimmt ihr den Bären ab, schaut ihn mit gemischten Gefühlen an und beschließt, ihn Astrid zum Nähen zu geben.

»Nun zieh dich an, es hat ja doch keinen Zweck. Bekommt dein Vater also eine Zunge zu eurem Einzug.«

Orla hopst von dem Hocker, auf dem sie gesessen hat, und läuft davon, um ihre Sachen zu holen.

Grummelnd betrachtet Edda den Plüschteddy; ein letztes Geschenk ihrer Eltern. Sie fummelt sentimental an der eingerissenen Stelle am Hals herum. Da ertasten ihre Finger einen Fremdkörper, etwas Nachgiebiges. Sie greift in das Innenleben des Bären und zieht aus seinem Futter eine Rolle hervor, die aus mehreren Seiten zusammengedrehten Papiers besteht.

»Na nu?«, murmelt Edda überrascht und rollt die vergilbten Blätter auseinander. Stirnrunzelnd betrachtet sie die sonderbaren Zahlen, Buchstaben und Kritzeleien, die in einer entsetzlichen Handschrift auf dem Papier verewigt wurden. »Was soll denn das sein?«

»Edda!«, kreischt Orla im Nebenraum. »I want to go home! You promised me some ice cream!«

Edda schiebt die Rolle in ihre Handtasche und klemmt sich die Leiche des Bären unter den Arm. Sie rafft ihre Kamera und Jeansjacke zusammen und bedeutet Orla mit einem Kopfnicken, dass sie nach der Fotoentwicklung aufbrechen werden.

*

Im Radio läuft dröhnende Neunzigerjahremusik. Diese beschleunigt Eddas ohnehin rasanten Fahrstil zusätzlich. Auf dem Rücksitz schmollt Orla, denn Edda hat ihr die entwickelte Aufnahme ihres Willkommensgeschenks gezeigt.

Grinsend sieht Edda sie über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg an und frotzelt: »Sieh es positiv, Orla, denn für deinen Vater wirst du immer die schönste Frau der Welt sein.«

»I hate you!«, schnaubt Orla und schlabbert missmutig an ihrem Erdbeereis.

»Das zählt zu deinen Grundrechten«, kontert Edda und wirft einen versonnenen Blick auf den Steinlinder Stausee und dessen Hafen, den sie gerade passieren.

Die aktuellen Temperaturen gefallen ihr sehr. Dreiundzwanzig Grad, stahlblauer Himmel mit Schäfchenwolken und eine kühle Brise. Ideales Spätsommerwetter.

Glitzernd liegt der See da, seine sanften Wellen umschmeicheln die angelegten Boote, Segler und Schiffe, die im Hafen ruhen. Unwillkürlich stößt Edda mit der Zungenspitze gegen einen überkronten Backenzahn in ihrem Gebiss und beginnt, an ihrer Halskette zu kauen. Dann reißt sie sich vom Anblick des Sees los und beschleunigt.

Edda lenkt ihr altes grünes Auto die letzten Kurven und Straßen entlang, bis sie das altvertraute Wohnviertel erreichen und endlich vor dem gelbgetünchten Haus zum Stehen kommen, das ihrer beider Laune direkt anhebt. Sie parkt hinter Tewes‘ Sportwagen, der bereits am Straßenrand steht.

»Sieh nur, Onkel Tiu ist schon da«, sagt Edda, als sie Orla aus dem Kindersitz befreit. »Wenn Claudia auch da ist, haben sie Renée mit dabei. Lauf schnell vor!«

Das lässt sich Orla nicht zweimal sagen, poltert aus der Autotür und rennt auf ihren kurzen dicken Beinen zur Haustür, dass die roten Locken nur so wippen. Sie hämmert mit der kleinen Faust gegen das Holz und wird eingelassen.

Edda sieht, wie Tewes seiner Nichte ungnädig mit dem Knie in den Hintern stupst, damit sie hineinläuft. Ein amüsiertes Zucken geht um Eddas weiche Mundwinkel und sie atmet einmal tief ein, um den fruchtigen Duft zarter Brombeeren aufzusaugen, der über dem Vorgarten schwebt. Dann lehnt sie sich noch einen Moment lang gegen das Auto und schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Tewes lässt die Haustür offenstehen und kommt auf sie zu.

»Gib mir bitte auch eine. Ich bin fix und fertig.«

Spöttisch blinzelnd reicht Edda ihm die gerade angesteckte Zigarette und nimmt sich eine neue, während sie fragt: »Wovon denn? Ich hatte den kleinen Teufel den ganzen Tag für mich, nicht etwa du.«

»Du bist wirklich zu bedauern«, versetzt Tewes ungerührt, küsst sie und lehnt sich neben Edda ans Auto; atmet hörbar gierig den Rauch ein und lässt ihn durch die Nase entweichen. »Unsere Kleine war dafür den ganzen Tag quengelig, der Umzug zieht sich endlos in die Länge und Gunnar weiß wie immer alles besser.« Grinsend zieht Edda das Foto von Orlas Grimasse aus der Tasche und hält es Tewes mit den Worten hin: »Das war mein Tag.«

Mit einem flüchtigen Blick auf das Bild gluckst Tewes und antwortet: »Entzückend. Ganz wie du, will ich meinen.«

»Wohl eher ganz wie du!«, schnaubt Edda gespielt empört. »Ich war ein niedliches und nettes Mädchen.«

»Niedlich warst du tatsächlich; aber nett?«

Lachend wehrt Tewes Eddas Boxhieb ab und setzt sich in Bewegung, um hineinzugehen. Edda folgt ihm. So selten sie und Tewes auch einer Meinung sind, aber was Orla angeht, sind sie sich einig: sie ist ihnen viel zu ähnlich! In der altmodischen Wohnküche sitzt Claudia am Tisch und stillt ihre Tochter Renée, während Orla fasziniert dabei zusieht und sich die vom Eis klebrigen Finger leckt. Eddas Tante Astrid lächelt, als sie ihre Nichte eintreten sieht, nimmt ihr Gesicht in die Hände und küsst sie auf die Wange.

»Ist Gunnar noch nicht zurück?«, erkundigt Edda sich enttäuscht.

»Gunnar und Carl sind noch in der Wohnung geblieben, um eine Wand ein zweites Mal zu streichen«, erklärt Claudia und streicht sich mit ihren dunklen schlanken Fingern das lockige Haar aus der Stirn. »Tewes hat die Küche aufgebaut und Diana hat Kisten ausgepackt. Nur ich habe nutzlos und einsam mit Renée und Astrid den Tag hier verbracht.«

»Zumindest musstet ihr Gunnars ständiges Klugscheißern nicht ertragen«, brummt Tewes, wobei er einmal zärtlich über den dunklen Flaum auf Renées Köpfchen streicht.

»Vielleicht hast du auch bloß alles verkehrt gemacht«, stichelt Edda, die sich für Gunnar in Stücke würde reißen lassen.

Tewes zieht ein Gesicht und lehnt sich lässig gegen die Anrichte, setzt zum Antworten an, doch da öffnet sich die Haustür erneut und Carl und Gunnar kehren ihrerseits heim. Sie sind voller Farbkleckse und erhitzt. Ihnen folgt Diana.

Astrid hat bereits für Kaffee und Brötchen gesorgt, von denen Orla sich schon eines in den Mund gestopft hat und direkt nach dem nächsten greift.

»Sie neigt zum Dickwerden, Großer«, begrüßt Edda Gunnar, als dieser sie küsst.

Seufzend schaut Gunnar seine Tochter an, die, zufrieden kauend, Renée beim Gähnen zusieht.

»Ja, ich weiß«, stimmt er zu und zuckt die Achseln. »Vielleicht verliert sich das beim nächsten Wachstumsschub.«

»Sie wächst aber nicht«, macht Tewes mit seinem arroganten Tonfall diese Hoffnung zunichte. »Ein kleiner, dicker Knubbel ist das, trotz des großen Vaters.«

»Der kleine, dicke Knubbel bin ja auch ich«, schiebt sich Diana grinsend neben Gunnar.

Sie ist eine kleine, kräftige Frau mit blonden Locken und einem großen Mund unter einer Stupsnase, auf der eine moderne Brille sitzt. Liebevoll greift Gunnar in ihren Nacken. »Sie hat meine kurzen Beine und meinen großen Appetit.«

»Und Tewes‘ Dickschädel«, ergänzt Edda und flitzt los, als Tewes auf sie zustürmt.

Nach einer kurzen Jagd die Treppe hinauf und wieder hinunter, kriegt er seine Cousine zu packen und hält sie kopfüber fest, denn Edda ist mit ihren eins achtundfünfzig leider immer noch viel zu handlich für ihren großen Cousin. »Ich habe gewonnen und du hast verloren, Edda Betony!«, triezt Tewes. »Du kennst die Regeln: Los, sag es! Tewes, du hast …«

»Niemals!«, schnaubt Edda strampelnd. »Nur über meine … Lass das! Kitzeln ist unfair!«

Schadenfroh kichert Orla durch ihr Brötchen hindurch und klatscht sich dabei auf den feisten Oberschenkel. Kopfschüttelnd erbarmt sich Gunnar und befreit Edda aus Tewes‘ Umklammerung mit den Worten: »Ich würde einiges in Kauf nehmen, wenn ihr zwei endlich einmal erwachsen werden könntet. Du wirst langsam grau, kleiner Bruder. Benimm dich doch zur Abwechslung einmal dementsprechend weise.«

Die beiden Täter grinsen verschmitzt und Edda denkt nicht ohne Wohlwollen an die Jahre zurück, in denen jene Zweikämpfe zu ihrem Alltag gehörten.

Eddas Onkel Carl schiebt sich an ihnen vorbei und will gerade ins Bad gehen, um sich von den Farbresten zu säubern, da hält Edda ihn kurz zurück und zieht die vergilbte Papierrolle aus ihrer Handtasche.

»Warte kurz, Onkel. Kannst du hiermit etwas anfangen? Für mich ist das nur Fachchinesisch.« Ihr Onkel ist sichtlich müde und öffnet die Rolle mit einem gelangweilten Stirnrunzeln. Ein paar Sekunden lang schaut er ausdruckslos darauf. Jäh entgleisen ihm plötzlich die Gesichtszüge und seine Augen wandern hektisch hin und her. »Woher hast du das, Edda?«, stößt er ungläubig hervor.

Edda sieht seine Hände zittern. »Das steckte in einem meiner alten Plüschtiere. Orla hat es kaputt gemacht und dann fand ich …«

»I didn’t mean it!«, kreischt Orla, aber Carl bringt sie mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen.

»Wie alt?«, will er wissen.

Seine Aufregung macht Edda nervös, sie tauscht einen hilfesuchenden Blick mit Gunnar, der nur verständnislos die Achseln zuckt. »Es ist noch von meinen Eltern«, erklärt Edda und hat noch gar nicht zu Ende gesprochen, da verschwindet sie in Carls Armen, die sie hochheben und wüst an sich pressen.

»Das ist nicht wahr!«, stößt Carl hervor und schnappt dabei wie ein Fisch nach Luft. »Ein Mirakel! Ein Wunder! Edda Betony, du Goldstück!« Er drückt sie so fest, dass Edda sich zappelnd aus seiner Umklammerung löst und ihn unverständig ansieht.

»Offenkundig kannst du mehr damit anfangen als ich«, stellt sie trocken fest.

Carl hämmert mit dem Finger auf das Papier, als müsse doch jedem sofort klar sein, was das ist. »Edda, das ist nicht nur irgendein alter Wisch. Das ist Edos Werk. Von deinem Vater, Edda! Es ist … der fehlende Teil unserer Formel.«

*

Etwa eine Stunde später bedauert Edda bereits, was sie da angerichtet hat. So sehr sie ihren Onkel auch liebt, nichtsdestotrotz ist ihr diese neu errungene Aufmerksamkeit, die er ihr schenkt, eher befremdlich und unangenehm. Nachdem sich Carl von seinem ersten Freudenanfall erholt hat, ist er zunächst für einige Minuten in seinem Arbeitszimmer untergetaucht. Fragend hat Edda zwischen Gunnar und Tewes hin- und hergeblickt.

»Ich glaube,«, hat Tewes nüchtern konstatiert. »damit wird er eine Weile beschäftigt sein.«

Sie haben sich daraufhin zurückgezogen und über Kaffee und Brötchen hergemacht. Gerade will Claudia Renée in Eddas Arme legen, da poltert Carl auch schon aus dem Arbeitszimmer und steckt den Kopf zur Tür herein, sucht mit den Augen den Tisch ab und bleibt auf Edda haften. Dann gibt er ihr einen Wink mit den Fingern.

»Edda, komm mal schnell! Ich muss dir etwas zeigen.«

»Willst du nicht erst einmal etwas essen?«, hält Astrid ihn zurück, als er schon wieder in seinem Bunker verschwinden will.

Carl stopft sich abwesend ein Käsebrötchen in den Mund und zupft dabei schon ungeduldig an Eddas Zopf. Diese erhebt sich, drückt Tewes seine Tochter in den Arm und seufzt: »Was habe ich nur angestellt?«

Mit einem boshaften Grinsen sagt Tewes: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.«

Edda lässt sich von Carl eilig durch den Korridor schieben, hinein in das immer dunkle Arbeitszimmer, das Edda noch niemals ordentlich vorgefunden hat. Bergeweise Papierstapel, Zeitungen, Bücher und handgefertigte Skizzen türmen sich auf dem Fußboden, auf Schreibtisch und Stühlen. Darüber hinaus auch merkwürdige Figuren und Apparaturen, deren Bedeutung Edda nicht einmal erraten könnte, wenn ihr Leben davon abhinge. Carl dirigiert seine Nichte zum Schreibtisch, auf dem sich unzählige Notizbücher stapeln, von denen einige geöffnet vor ihnen ausgebreitet liegen.

»Siehst du, Edda?«, deutet Carl auf das ganze Gekritzel. »Es ist so wie ich es vermutet habe. Sie gehören zusammen. Ich kann es immer noch nicht glauben. Ein Wunder! Dass ich das erleben darf!«

»Würdest du mich bitte ein bisschen aufklären?«, fordert Edda ihn genervt auf, denn seine Hektik ist ansteckend und das kann sie nach einem ganzen Tag mit Orla eigentlich gar nicht gebrauchen. »Ich habe keine Ahnung, was du mir da zeigen möchtest.«

»Wie kannst du das nicht sehen?«, ruft Carl und lacht jubelnd, trommelt Edda dabei auf ihre zarten Schultern, dass diese fast in die Knie geht. Endlich fängt er sich soweit, um ein wenig konkreter zu werden: »Dies, mein Kind, ist die Formel, mit der es möglich ist, Taaffeite künstlich herzustellen. Na! Ist das etwa nichts, worüber man sich aufregen sollte?« Jetzt versteht Edda schon mehr, denn ihre Alarmglocken schrillen im Kopf. Ihre Augen verengen sich zu misstrauischen Schlitzen. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass …?«

»Doch, genau das!«, strahlt Carl.

»Es ist die Formel, die du und mein Vater vor mehr als zwanzig Jahren habt veröffentlichen wollen?«

»Die und keine andere!«

In jungen Jahren hatten Eddas Onkel Dr. Carl Hederich und ihr Vater Edo Betony eine solche Formel durch gemeinsames Forschen entwickelt.

Durch tragische Umstände ist Edo dabei ums Leben gekommen und nahm wesentliche Bestandteile der Formel mit in sein Grab, weshalb Carl sie nicht allein hat veröffentlichen können.

Nicht sonderlich begeistert schaut Edda auf die unzähligen Seiten, die von Carls gestochener Handschrift überquellen. Nun wedelt dieser mit den vergilbten Seiten aus Eddas Teddybären vor ihrer Nase herum.

»Du, Edda, hast mir gerade den wesentlichsten Bestandteil einer seit fünfundzwanzig Jahren schlummernden wissenschaftlichen Pionierleistung in den Schoß gelegt. Ich bin völlig außer mir!«

»Zweifellos«, murmelt Edda und bewegt in ihrem Inneren unterschiedliche Gedanken und Gefühle. Ihr mangelnder Enthusiasmus scheint Carl zu beleidigen. Mürrisch zieht er die Nase kraus und sagt: »Dich lässt dieses einmalige Ereignis ganz schön kalt.«

»Entschuldige, Onkel«, sagt Edda leise und zupft dabei an einer Papierkante herum. »Ich verstehe von alledem nun einmal nicht sehr viel und …«

»Aber es ist von deinem Vater, Edda! «, beginnt Carl da schon wieder und greift sie bei den Oberarmen, um sie zu schütteln. »Sein letztes und größtes Werk! Ich kann es vollenden. Nur durch dich, mein Kind.«

Edda muss daran denken, dass dieses große Werk ihren Vater das Leben gekostet hat; und dadurch auch das Leben ihrer Mutter. Sie kann Carls Begeisterung nicht teilen und will es auch nicht. Betreten sieht sie ihn an und seine fröhliche Miene verwelkt.

»Carl, es freut mich natürlich sehr, dass ich dir ein solches…Geschenk machen konnte. Aber ich sehe hier nur den Preis, den mein Vater teuer bezahlen musste. Ich kann mich nicht mit dir freuen.«

Kurz schweigen sie.

Dann murmelt Carl leise: »Ja, natürlich. Wie könnte ich auch von dir erwarten, dass du… Nach allem, was hinter dir liegt. Hinter euch!« Carl wirft einen Blick zur Tür als müsse Tewes bei diesen Worten automatisch eintreten. Das tut er nicht.

Edda lächelt versöhnlich, wenn auch dünn.

»Lass dich von mir nicht entmutigen. Wenn du hier einen neuen Ansatz für deine Forschung siehst, dann überlasse ich dir das Geschreibsel gern. Ich bin dafür gar nicht … gebildet genug.«