STAR TREK

NEWFRONTIER

Menschsein

PETER DAVID

Based on
Star Trek
created by Gene Roddenberry

Ins Deutsche übertragen von
Helga Parmiter

Die deutsche Ausgabe von STAR TREK – NEW FRONTIER: MENSCHSEIN wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Martin Frei; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe: STAR TREK – NEW FRONTIER: BEING HUMAN

German translation copyright © 2014 by Amigo Grafik GbR.

Original English language edition copyright © 2001 by CBS Studios Inc. All rights reserved.

™ & © 2014 CBS Studios Inc. © 2014 Paramount Pictures Corporation. STAR TREK and related marks and logos are trademarks of CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

This book is published by arrangement with Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., pursuant to an exclusive license from CBS Studios Inc.

Print ISBN 978-3-86425-441-3 (November 2014) · E-Book ISBN 978-3-86425-474-1 (November 2014)

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Inhalt

DAMALS …

JETZT … EXCALIBUR

I

II

III

TRIDENT

I

II

III

EXCALIBUR

I

II

DANTER

EXCALIBUR

I

II

TRIDENT

I

II

EXCALIBUR

I

II

TRIDENT

I

II

III

EXCALIBUR

I

II

III

DANTER

I

II

III

EXCALIBUR

I

II

III

IV

V

VI

DANTER

ROMANE BEI CROSS CULT

DAMALS …

Es gab vier Worte, vier harmlose Worte, die – für sich genommen – nicht weiter beunruhigend waren. Doch für George waren sie zu seinem ganz persönlichen Albtraum geworden, besonders, wenn sie zusammen und nacheinander ausgesprochen wurden. Als er an diesem Nachmittag Sheila auf sich zukommen sah, wusste er schon bevor sie den Mund öffnete, dass sie wieder ungebeten zwischen ihren Lippen hervorspringen würden.

Er saß in seinem Lieblingssessel in ihrem ziemlich unscheinbaren Wohnzimmer und las einen Text über seine neue Lieblingsbesessenheit: alte Mythologien. Dieser Text war von einem Gelehrten des zwanzigsten Jahrhunderts, Joseph Campbell, verfasst worden. Für einen Mann, der vor einigen Hundert Jahren gelebt hatte, schien dieser Campbell recht genau zu wissen, wovon er sprach. George fand diesen Text wesentlich mitreißender und interessanter als zum Beispiel Bullfinchs Mythologie.

George war ebenso gewöhnlich wie sein Wohnzimmer. An ihm gab es nichts, an das man sich erinnern würde, und darauf war er stolz. Er hatte ein nichtssagendes Durchschnittsgesicht und nicht unbedingt aufregendes rotblondes Haar. All das war ihm gerade recht. Morgens ging er zu seiner Arbeit am Forschungsprojekt, verbrachte den Tag damit, nicht bemerkt zu werden, und kehrte dann wieder nach Hause zurück. Hin und wieder widmete seine Frau ihm ein wenig Aufmerksamkeit, und ihr gemeinsamer Sprössling schien ohnehin in seiner eigenen Welt zu leben. In gewisser Weise lief Georges Leben an ihm vorbei. Und das gefiel ihm.

Seine Frau Sheila hatte das früher als Ärgernis empfunden. Sie hatte gewusst, dass sie einen Mann ohne Ehrgeiz geheiratet hatte, und war dem Irrglauben verfallen, ihn ändern zu können. Sie wurde schnell eines Besseren belehrt und verschloss in den folgenden Jahren ihrer Ehe weitestgehend die Augen vor ihrem Versagen. »Er hat Potenzial«, sagte sie zu ihrer Mutter, wenn das Thema aufkam. Ob dieses Potenzial jemals zum Tragen kommen oder freigesetzt werden würde, war eine ganz andere Frage. Jeden Tag schaute Sheila morgens in den Spiegel und entdeckte ein weiteres graues Haar, einen weiteren Krähenfuß oder eine andere Falte, die am vorigen Morgen mit Sicherheit noch nicht da gewesen waren. Sie war nicht sicher, ob George der Grund dafür war oder einfach nur die Zeit. Sollte Ersteres der Grund sein, würde sie sich darüber ärgern. War es Letzteres, wurde sie Zeugin eines stillen Fluchs der Zeit, die sie verschwendete, während ihr Leben an ihr vorüberzog.

Es war nicht so, dass sie keine eigene Arbeit gehabt hätte. Sie war Anthropologin an der Sternenflottenakademie hier in San Francisco. Doch sie spürte, wie ihre Frustration über ihre Verbindung mit George wuchs, und fragte sich jeden Tag aufs Neue, ob sie nicht Zeit in ein Projekt investierte, das niemals Früchte tragen würde.

Sheila war sehr zielstrebig und hatte das Gefühl, dass sie Georges Ziel mehr und mehr aus den Augen verlor. Sie hüllte sich in diese Frustration wie in einen Schleier und wusste, dass er es spürte. Außerdem wusste sie, dass sie ihrer Ehe mit diesen Gefühlen nicht half, aber wie konnte sie unehrlich zu ihm sein? Was hätte das bewirken sollen?

Trotz allem blieb sie bei ihm, weil sie es sich versprochen hatten. Außerdem gab es da noch Sandy.

»Sandy« war nicht sein Geburtsname. Er hatte ihn irgendwann im Alter von drei bekommen, als seine Großeltern angemerkt hatten, er befinde sich tagsüber scheinbar in einem traumähnlichen Dämmerzustand. Er starrte lange ins Nichts und fixierte mit seinem Blick Stellen an der Wand. »Das Kind«, meinte seine Großmutter, »lebt sein Leben, als ob es sich in einem Traum befindet.« Das nahm sein Großvater zum Anlass, ihn »Sandmann« zu nennen, was schließlich zu »Sandy« abgekürzt wurde. Der Name blieb hängen, und sei es nur, weil er darauf genauso reagierte wie auf alles andere.

Sein Name änderte sich, aber sein Verhalten blieb gleich. Er saß immer herum und war sich seiner Umwelt scheinbar nicht bewusst. Seine dunklen Augen schienen alles und nichts gleichzeitig anzusehen. Er zog seine Knie an, legte sein Kinn darauf und schaute seine Mutter mit unbestimmtem Desinteresse an, wenn sie ihm sagte, er solle nach draußen gehen. Manchmal tat er es – offenbar, um sie zufriedenzustellen … und saß dann draußen herum. Sein Vater beobachtete fasziniert, wie sich Fliegen auf seiner Nase niederließen.

»Du brauchst Freunde, Sandy!«, sagte Sheila, die zunehmend verzweifelte und davon überzeugt war, dass ihr Sohn merkwürdige und beängstigend unsoziale Tendenzen entwickelte.

Irgendwann, als er fünf war, legte er sich eine Freundin zu. Das machte alles noch schlimmer.

Sandy hatte das reife Alter von acht erreicht, als George erkennen musste, dass seine gemütliche Nachmittagslektüre von seiner offensichtlich aufgebrachten Frau ruiniert werden würde. Am vorherigen Tag hatte es geregnet und die Schwüle in San Francisco heruntergekühlt. George hatte kurz überlegt, ob er an die frische Luft gehen sollte. Als er sah, wie Sheila auf ihn zukam und offensichtlich etwas auf dem Herzen hatte, bedauerte er, es nicht getan zu haben, als er noch die Chance dazu hatte.

Dann kamen die vier Worte, die er gefürchtet hatte.

»Sprich mit deinem Sohn«, sagte Sheila und zeigte auf das obere Stockwerk. Roter Flauschteppich lag auf den Stufen, die zu den oberen Schlafzimmern führten, wie auch im restlichen Haus. George hasste ihn. Es war, als lebte man auf der Marsoberfläche, nur weicher.

George seufzte und legte seinen Reader beiseite. Dann faltete er seine Hände auf eine, wie er hoffte, onkelhafte Weise im Schoß. »Er ist auch dein Sohn«, betonte George. Das verstand sich von selbst. Er wollte nur Zeit gewinnen in der Hoffnung, dass Sheila sich über ihn ärgerte und losging, um sich selbst mit dem Missstand auseinanderzusetzen. Sollte Sandy sich schlecht benommen haben, wollte George nicht der Zuchtmeister sein. Dafür legte er viel zu großen Wert darauf, gemocht zu werden. Außerdem ließ er sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Sandy tat einige Dinge, über die Sheila sich furchtbar aufregte, die George selbst aber kaum registrierte.

»Worum geht es denn?«, fragte er zögernd.

»Er tut es schon wieder«, sagte Sheila und warf erboste Blicke die Treppe hinauf.

»Es?« Er hatte das Gefühl, zu wissen, was »es« war. Wenn er aber lange genug zögerte, würde vielleicht etwas geschehen, das ihn davonkommen ließ … Die Sonne könnte sich zum Beispiel in eine Nova verwandeln.

Die Sonne schien allerdings nicht die Absicht zu haben, in nächster Zeit zu explodieren, und Sheila ließ sich nicht ablenken. »Es«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Er spricht wieder mit ihr.«

George stöhnte leise und rieb sich mit beiden Daumen den Nasenrücken. Dabei sah er aus, als mache er sich Sorgen, dass seine Nase abfallen würde, wenn er sich nicht sofort um sie kümmerte. »Bist du sicher?«

»Natürlich bin ich sicher«, erwiderte Sheila und stemmte die Hände in die Hüften. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er diese Hüften aus tiefstem Herzen bewundert. Jetzt gingen sie in die Breite. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie sie in einigen Jahren aussehen würden. »Ich bin an seinem Zimmer vorbeigegangen und hörte, wie er mit ihr sprach. In einem fort …« Als George nicht angemessen reagierte, fuchtelte sie mit den Händen herum. Es sah aus, als würden sie ihr gleich von den Handgelenken fallen. Dann sagte sie: »Er ist acht Jahre alt, George! Allmählich wird es lächerlich!«

George schlug seine Beine vorsichtig unter und tat sein Bestes, seiner Frau gegenüber einen vernünftigen, manierlichen Ton an den Tag zu legen. »Wie du selbst schon sagtest, Sheila, er ist acht. Eingebildete Freunde sind nichts Ungewöhnliches in diesem …«

»Sie sind ungewöhnlich für jemanden mit Sandys Intelligenz«, beharrte sie. »Du hast seine Testergebnisse gesehen.«

Das hatte er allerdings. Die Ergebnisse von Sandys Begabungstests waren unfassbar gut. Das Beeindruckendste an der Sache war jedoch, dass der Aufsichtsführende sie nach den einführenden Tests traurig darüber informiert hatte, dass er den Jungen beobachtet hätte. Anscheinend widmete er den Fragen kaum Aufmerksamkeit. Er wählte die Antworten scheinbar vollkommen willkürlich aus. Als sie das hörten, verzweifelten sie – bis die Ergebnisse der Begabungstests kamen und zeigten, dass Sandy intelligent genug war und das Potenzial gezeigt hatte, um … nun, eigentlich alles zu tun.

George hatte versucht, aus diesem Ergebnis Kapital zu schlagen, damit seine Mutter dem Jungen mehr Freiraum ließ. Erfolglos. Stattdessen wollte sie ihn noch mehr unter Druck setzen, damit er lernte. Sie hatte das Gefühl, er müsse »bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten« gehen. George fand an diesem Leitsatz nur wenig Gefallen. Allerdings hatte Sandy sich im Hinblick auf ihre Optimierungsphilosophie auch nicht besonders kooperativ gezeigt. Dieser Widerstand hatte dazu geführt, dass alles noch schlimmer wurde.

»Es ist vollkommen egal, wie intelligent Sandy ist«, sagte George. Als sie versuchte, ihn mit entsetzter Empörung zu unterbrechen, fuhr er einfach fort: »Er ist immer noch erst acht, zum Donnerwetter. Lass den Jungen doch einfach Kind sein, ist das nicht möglich?«

»Rede mit ihm«, forderte sie nachdrücklich. George sah keinen Ausweg mehr. Mit einem abgrundtiefen Seufzer erhob er sich aus seinem Lieblingssessel und ging mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Eigentlich verschluckte der nervige Flauschteppich alle Geräusche, aber dieses Mal stampfte George betont laut hinauf, damit Sheila wusste, wie verärgert er war. Es schien sie nicht weiter zu kümmern, was George nur noch wütender machte.

Die Tür zu Sandys Zimmer stand offen. George blieb kurz davor stehen und rief sich ins Gedächtnis, dass er einfach nur zum Wohle des Jungen handeln wollte. Vorstellungskraft war etwas Feines, aber … genug war genug. Oder war das Sheilas Stimme in seinem Kopf? George fragte sich allmählich, wie viel von ihm selbst eigentlich noch übrig war und zu welchem Anteil Sheilas Persönlichkeit sich schon in seine eigene eingeschlichen hatte.

Drinnen hörte er die Stimme seines Sohnes. Es klang, als spräche er mit jemandem. Nun, das war kein Geheimnis. Er wusste sehr gut, mit wem Sandy sich unterhielt, schließlich tat er das seit zwei Jahren. Schön, es gab viele Gründe, warum das Sheila so furchtbar auf die Nerven ging. Er musste zugeben, dass es irgendwie auch peinlich war. Wenn sie Freunde zu Besuch hatten, kam Sandy ständig herein, unterhielt sich mit der Luft und bemerkte kaum die Besucher, die herumstanden und ihn anstarrten. Einige von ihnen fanden es putzig. Aber es gab auch diejenigen, die ihn misstrauisch oder mitleidig betrachteten. Diese Einstellung spiegelte sich auch in den Blicken wider, die sie George und Sheila zuwarfen. George zwang sich dann zu einem Lächeln, und Sheila fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. Es war, als wäre er kein guter Vater.

Vielleicht war genug wirklich genug.

Er räusperte sich als Warnung für Sandy, dass er das Zimmer betreten würde, und ging hinein. Sandy saß im Schneidersitz auf seinem Bett. Das Bett war ordentlich gemacht, die Decke glatt gezogen und die Ecken eingeschlagen. Sheila bestand darauf und achtete auf Disziplin. Auch das übrige Zimmer war tadellos – Sheila duldete nichts anderes. Seine Stofftiere saßen ordentlich aufgereiht auf den Regalen unter den Sternkarten, die er an seiner Wand aufgehängt hatte. Er war mit denen, die er am Computer aufrufen konnte, nicht zufrieden. Der Teppich hier war ebenfalls rot und flauschig. Am Fenster stand ein Teleskop, das er benutzte, um stundenlang die Sterne zu beobachten. Das war das Einzige, was er außer ins Nichts zu starren sonst noch tat.

Er trug einen einfachen weißen Pullover mit Rundhalsausschnitt und blaue Shorts. Sein Gesicht mit den Sommersprossen auf den Wangen und fragend geweiteten Augen war seinem Vater zugewandt und brachte unbeteiligte Neugier zum Ausdruck. Er sagte nichts, da er seine Unterhaltung in dem Moment eingestellt hatte, als er die Anwesenheit seines Vaters bemerkt hatte.

George zauste das Haar seines Sohnes. Sandy bewegte sich nicht, und die Strähnen legten sich wieder auf seine Kopfhaut. »Wie geht’s dir, Sandy?«, fragte George.

Sandy legte seinen Kopf auf eine Art schief, die wirkte, als würde er mit den Schultern zucken. Die Frage schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

George fühlte sich in seinem eigenen Körper unwohl und setzte sich auf die Bettkante. Sandy wartete geduldig. Seine Hände lagen gefaltet in seinem Schoß.

»Wir müssen uns unterhalten, Sandy«, sagte George schließlich.

»’kay.«

Unsicher, wie er anfangen sollte, erklärte George: »Wenn ein Junge ein gewisses Alter erreicht … dann gibt es Dinge, die einfach … nun … unangebracht sind.«

»Geht es darum, dass ich bei Mom hereingeplatzt bin, als sie duschen war? Sie hat mich deswegen schon angeschrien.«

George verbiss sich ein Lachen. »Nein. Nein, damit hat es nichts zu tun.«

»Gut.« Sandy wirkte sichtlich erleichtert.

»Nein, es …« Er rutschte auf dem Bett herum, das ihm in diesem Moment extrem klein erschien. »Es geht um Dinge, die du als kleiner Junge getan hast, die einfach nicht mehr, nun … angebracht sind, wenn du älter wirst. Verstehst du, was ich sagen will?«

»Ja. Du sagst dasselbe wie vorher.«

Es lag keinerlei Überheblichkeit oder Boshaftigkeit in der Art, wie Sandy ihn über die Tatsache informierte, dass er sich wiederholte. Es war einfach nur eine Feststellung. Er wollte seinen Vater wissen lassen, dass die Unterhaltung keine Fortschritte machte. George musste ihm recht geben.

»Also schön …« Er klatschte sich ein paar Mal auf die Oberschenkel und schaukelte leicht, als bereite er sich auf einen Sprung aus großer Höhe vor. »Also, die Sache ist die: Es geht um Missy.«

Sandy drehte seinen Kopf und richtete seine Antwort an die Leere zu seiner Linken. »Du hattest recht«, sagte er und wandte sich dann wieder seinem Vater zu. »Missy hat gesagt, sie glaubt, dass es um sie geht. Ich war mir nicht sicher, weil sie immer denkt, dass sich alles um sie dreht. Deshalb ist das schwer zu sagen.«

»Tja, so ist Missy nun mal«, entgegnete George. Dann wurde ihm klar, dass es möglicherweise nicht die beste Idee war, merkwürdige Verhaltensweisen der imaginären Freundin anzuerkennen. »Schau, Sandy, die Sache ist die … also, es ist so … nun, ich glaube, du solltest dich nicht länger mit Missy unterhalten.«

Das Kind blinzelte einmal langsam. »Warum nicht?«, fragte Sandy.

»Weil es nicht … nun … angemessen ist.«

»Wieso nicht?«

»Nun, es gibt gewisse Dinge, die bei kleinen Kindern in Ordnung sind, aber nicht mehr bei größeren. Und du bist gerade dabei, ein richtig großer Junge zu werden. Das weißt du doch, oder?«

Sandy nickte geistesabwesend. »Aber … ich rede gerne mit Missy.«

»Das weiß ich, aber …«

»Ich tue doch niemandem weh.«

George stieß einen weiteren, noch tieferen Seufzer aus und fühlte sich noch wesentlich älter als zu dem Zeitpunkt, als er das Zimmer betreten hatte. Er zog seinen Sohn zu sich heran und legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. »Ich weiß, dass du niemandem wehtust, Sandy, aber …«

»Missy sagt, du bist ein Idiot.«

Die Worte, die so nüchtern aus dem Mund seines Sohnes kamen, brachten George aus der Fassung. »W… wie bitte …?«

»Mh-hmm«, machte Sandy, und sein Kopf nickte, als säße er auf einer Sprungfeder. »Sie sagt, du bist ein Idiot, ein Narr und verstehst gar nichts.«

»Also jetzt mal halblang, junger Mann«, warnte George hitzig und nahm seinen Arm von den Schultern des Jungen. Plötzlich hatte er mit seinem Sohn keinerlei Mitgefühl mehr. Stattdessen begann er sich zu fragen, ob Sheila möglicherweise recht hatte. Vielleicht war das, was sie sahen, ein Hinweis auf ein tiefer liegendes Problem, und diese ganze Angelegenheit mit der imaginären Freundin war nur eine äußere Erscheinung davon. »So darfst du nicht mit mir reden.«

»Das habe ich nicht«, widersprach Sandy. »Das war Missy.«

»Nein, das war nicht Missy!«

»Du kannst sie doch gar nicht hören, Dad«, sagte Sandy und klang unter den Umständen bemerkenswert vernünftig. »Woher willst du das wissen?«

George sprang auf die Füße und strotzte nur so vor elterlicher Empörung. »Hör auf, Widerworte zu geben, junger Mann!«

Sandy hatte in seinem ganzen Leben noch nie verblüffter ausgesehen. »Das heißt … ich darf weder mit dir noch mit Missy reden? Kann ich noch mit Mom reden?«

Plötzlich richtete er seinen Blick wieder auf die Leere neben sich und echte Besorgnis lag auf seinem Gesicht. »Missy, das kann ich nicht zu ihm sagen!«

»Was? Was kannst du nicht sagen?«

»Nichts, Dad.«

»Was kannst du nicht sagen?«

Sandy war vom Bett gerutscht, ging rückwärts und hielt seinen Blick auf seinen Vater gerichtet. »Ich … ich sollte dir das lieber nicht sagen. Ich meine, du bist böse geworden, als Missy dich einen … du weißt schon … genannt hat, und das hier ist viel schlimmer.«

»Du kannst dich nicht ständig hinter deiner imaginären Freundin verstecken, Sandy.«

George hatte das Gefühl, sein Ärger drohe, ihn zu überwältigen und zu ersticken. Plötzlich glaubte er, viel größer zu sein und dass der Junge viel kleiner war. »Rede mit mir.«

Sandys Hände bewegten sich in vagen Mustern durch die Luft, als versuche er, mit seinen Fingerspitzen Staubflocken zu fangen. »Du hast gesagt, ich soll keine Widerworte geben … wenn …«

»Rede mit mir!«

Sein Vater hatte so plötzlich und mit solchem Nachdruck gesprochen, dass Sandy leicht zusammenzuckte. Er war weiterhin rückwärtsgegangen. Sein Rücken stieß gegen das Regal mit den Spielzeugen. Er packte eins, ein Kaninchen, und hielt es vor sich. Seine kleinen Arme umschlangen es, als ob es ihn beschützen könnte. Die Worte sprudelten aus ihm heraus: »Sie … sie hat gesagt, du wärst dumm und wüsstest gar nichts und dass du eifersüchtig auf sie bist. Und wenn du irgendwas unternimmst oder versuchst, sie wegzuschicken, dann wird sie dir schlimme Dinge antun. Ganz schlimme Dinge.«

George versuchte, ruhig zu bleiben, merkte aber, dass das zunehmend schwieriger wurde. »Jetzt drohst du mir auch noch? Ist es das, Sandy?«

»Nein, Dad!«

Mit zwei schnellen Schritten war George bei seinem Sohn und packte ihn an beiden Schultern. Obwohl er dem Kind nicht wehtat, jagte er ihm gewaltige Angst ein. »Jetzt hör mir mal zu!«, donnerte er. »Es reicht! Hast du gehört? Genug! Du bist ein großer Junge und zu alt, um mit eingebildeten Freunden zu spielen! Verstehst du das?«

»Sie ist nicht eingebildet«, jammerte Sandy. »Wirklich nicht. Mach sie nicht wütend, Daddy! Bitte! Das wird böse ausgehen!«

George ergriff ihn noch fester, als könne er den Gedanken eines unsichtbaren Spielgefährten aus Sandy herausschütteln, wenn er nur ausreichend Kraft aufwendete. »Es gibt keine Missy!«, brüllte er. »Da ist keine unsichtbare Freundin! Es gibt keine …!«

In dem Moment richteten sich die Haare an Georges Hinterkopf auf. Die Ursache war nicht Angst oder eine Vorahnung. Stattdessen baute sich Energie auf – etwas wie statische Elektrizität, nur … schlimmer.

Im Geiste versuchte er, eine Erklärung dafür zu finden, und dachte zunächst, seine Füße hätten auf dem Teppich Reibung erzeugt oder etwas ähnlich Lächerliches. Doch die Energie baute sich immer weiter auf und wurde mit jedem Moment intensiver. Sandy schluchzte bitterlich und sah verängstigt aus. Dabei wiederholte er immer wieder: »Ich habe dich gewarnt! Ich habe dich gewarnt, Daddy!«

Die Energie kam von überall im Zimmer. George sah blauweiße Energie, die an den Spielzeugen knisterte und sie wie plüschige Kanonenkugeln von den Regalen warf. Die Fasern des Flauschteppichs standen kerzengerade. Drüben am Schreibtisch zitterte der Computer, erst leicht, dann immer stärker. Der Bildschirm kippte rücklings vom Tisch und krachte auf den Boden. Der Lärm veranlasste Sheila, von unten zu brüllen: »Was zum Teufel geht da oben vor?«

»Bleib unten! Bleib bloß unten!«, schrie George zurück. Er war vor Sandy zurückgewichen, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte zur Tür. Sie schlug ihm vor der Nase zu. Er war so schnell gewesen, dass er dagegenkrachte, abprallte und taumelte.

»Missy! Lass das! Tu ihm nicht weh! Er ist mein Daddy!«, bettelte Sandy, doch sein Flehen half nichts. Die Energie baute sich weiter auf. George stieß einen vollkommen entsetzten Schrei aus. Dann brach die Energie überall um ihn herum aus. Er sprang nach rechts, nach links und hatte Mühe, ihr auszuweichen … oder spielte, was immer es war, Spielchen mit ihm? Er duckte sich, und ein Energiestoß fuhr genau über seinem Kopf durch die Luft. George schlug hart auf dem Boden auf, roch Verbranntes und dachte, der Geruch stamme von ihm selbst. Dann erkannte er, dass er vom Teppich ausging, der zwar nicht in Flammen stand, aber schwelte. In der Luft hing schwerer Ozongeruch. Durch die Kakophonie der entfesselten Energie um sich herum hörte er Sandys weinerliche Stimme, die Missy anflehte, aufzuhören. Spielzeuge flogen überall herum, als würde ein unsichtbarer Baseballschläger sie durch die Luft schlagen.

Der Computerbildschirm zerbarst, und Splitter flogen wie Granaten durch die Luft. George lag flach auf dem Boden und vergrub seinen Kopf unter seinen Armen. Dabei schrie er, es möge aufhören, endlich aufhören …

»Daddy!«, rief Sandy, und plötzlich schüttelte George seine Lähmung ab. Auf allen vieren versuchte er, die Tür zu erreichen. Er schnitt sich an Splittern des Computers, aber das kümmerte ihn nicht. Sein Knie traf den Bauch eines Teddybären, der protestierend quiekte. Dieses Mal öffnete sich die Tür, als er sie erreichte. Er hinterfragte sein Glück nicht. Sandy rief immer wieder nach ihm, aber er blickte nicht zurück. Er wollte gerade durch die Tür gehen, da wurde er plötzlich hochgehoben und wie von einer riesigen Hand hindurchgeworfen, als wiege er nichts.

George flog durch die Tür, schlug draußen im Flur auf und rollte weiter. Beinahe wäre er kopfüber die Treppe hinuntergestürzt. Im letzten Moment bekam er das Geländer zu fassen und verhinderte so einen Sturz, der auf jeden Fall schmerzhaft, wenn nicht sogar tödlich gewesen wäre, falls er sich das Genick gebrochen hätte. Es gelang ihm mit Müh und Not, sich im allerletzten Moment zu fangen.

Tief saugte er Luft in seine Lungen. Sie schmerzten, und der Geruch des Ozons brannte noch immer darin. Dann rüttelte das Chaos, das im Zimmer seines Sohnes entfesselt worden war, ihn wach. Er erkannte, wo er sich befand, und schoss die Treppe hinunter.

Sheila wartete zu Tode verängstigt am Fuß der Treppe auf ihn, rief ihm etwas zu und wollte wissen, was vor sich ging. Er machte sich nicht die Mühe, es ihr zu erzählen. Er fand ohnehin keine Worte, weil er das Entsetzen, das in ihm tobte, nicht überwinden konnte.

Stattdessen sprintete er zur Haustür und war dann endlich draußen an der frischen Luft. Einige Pfützen waren vom Regen des vergangenen Abends noch übrig. Es platschte, als er so schnell er konnte hindurchrannte.

Erst später, als er wieder zu Atem gekommen war und die Panik, die ihn ergriffen hatte, beherrschen konnte, wurde ihm klar, dass er seinen Sohn zurückgelassen hatte. Ein mutigerer Mann und besserer Vater hätte sein Kind auch gegen seinen Willen aufgehoben und es aus dem Zimmer getragen – weg von dem … Ding, von der Kreatur, die offensichtlich in dem Zimmer hauste und alles gegeben hatte, ihn umzubringen. Doch kaum war dieser Gedanke aufgekommen, verwarf er ihn wieder. Egal, was dieses Ding war, das seinen Zorn gegen ihn entladen hatte, es gab keinen Grund, anzunehmen, dass es in Sandys Zimmer bleiben würde. Er hätte das Kind aufheben und mitnehmen können, was immer es auch war, wäre ihnen vermutlich auf dem Fuße gefolgt.

Seine Flucht war eine feige Handlung gewesen. Auch daran hatte er keinerlei Zweifel. Er hätte bleiben müssen, etwas tun müssen … doch er hatte dem Entsetzen nachgegeben und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, seiner Frau und seinem Kind jemals wieder unter die Augen zu treten. Natürlich wäre ihm die Entscheidung schwerer gefallen, wenn er das wirklich gewollt hätte.

Doch er wollte es gar nicht.

Missy hatte ihm möglicherweise einen Gefallen getan. Sie hatte ihm, wenn man es recht bedachte, einen handfesten Grund geliefert, das zu tun, was er schon immer hatte tun wollen, sich aber nie getraut hatte. Er fühlte sich frei und lebendig, und dafür hätte er Missy eigentlich dankbar sein müssen – wenn er nur in der Lage gewesen wäre, über das Geschehene nachzudenken, ohne kalte Schweißausbrüche zu erleiden.

An diesem Abend ging er an Bord eines Frachters, der die Erde verließ. Sheila dämmerte erst zu spät, dass er diesen Weg einschlagen könnte, denn er hatte immer panische Angst vor Weltraumflügen gehabt. Er hatte den relativ zerbrechlichen Hüllen der Schiffe niemals zugetraut, die Strapazen eines Weltraumflugs aushalten zu können, und war deshalb mit seinem Erdendasein vollkommen glücklich und zufrieden gewesen. Als sie endlich versuchte, ihn zu finden, war er bereits spurlos verschwunden und hatte Sheila, Sandy und … »sie« hinter sich gelassen.

Als ihr Mann aus der Tür schoss, wusste Sheila nicht, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Sie schaute die Treppe hoch zur Quelle des Tumults. Ihr mütterlicher Instinkt meldete sich, und sie rief äußerst besorgt: »Sandy?«

Es kam keine Antwort. Sie hörte nur, wie das Knistern der Energie allmählich leiser wurde. Langsam und zögernd ging sie die Treppe hinauf. Sie hatte nur äußerst vage Vorstellungen von dem, was gerade geschehen war. Doch eines wusste sie ohne jeden Zweifel: Sie hatte entsetzliche Angst vor dem, was als Nächstes passieren mochte.

Sie erreichte den obersten Treppenabsatz und spähte durch die Tür. Sandy saß mitten in seinem Zimmer auf dem Boden. Überall lag Spielzeug herum, und er blutete aus kleinen Schnitten an der Stirn, die von Splittern des explodierten Computers stammten. Seine Haare standen senkrecht nach oben, als wäre er vom Blitz getroffen worden, und die rötliche Farbe seiner Augenbrauen war noch heller als sonst. Seine Augen hatten einen benommenen Ausdruck, und wie üblich hatte er die Knie bis zum Kinn angezogen. Er schaukelte sanft hin und her. Sie musste ihn mehrere Male rufen, bevor er seine Mutter ansah. Er schien sie aus einem anderen Quadranten des Weltraums her anzustarren. Auch als er seinen Blick auf sie richtete, sah er scheinbar durch sie hindurch.

»Das hätte Missy nicht tun dürfen«, sagte Sandy. »Sie hätte das nicht tun dürfen. Und jetzt werden wieder alle sauer auf mich sein.«

Sheila stand wie angewurzelt da. Ihr Körper zitterte, als hätte ihr jemand einen Speer durch die Brust gestoßen. Sie leckte sich über die Lippen und versuchte, etwas zu sagen. Nichts kam heraus. Sandy sah zu ihr auf und schien sie zum ersten Mal wahrzunehmen. »Bist du böse auf mich, Mommy?«

Sie versuchte, zu antworten. Nichts kam heraus.

Leicht vorwurfsvoll fügte er hinzu: »Missy möchte das wissen.«

»Nein«, sagte Sheila wie aus der Pistole geschossen. Sie packte den Türrahmen und stützte sich ab. »Nein. Ich bin nicht böse. Weder auf dich, noch auf sonst irgendetwas. Überhaupt nicht.«

Sandy stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Das ist gut. Ich liebe dich, Mommy. Und Missy liebt dich auch.«

»Ich liebe euch beide auch«, antwortete Sheila. Sie musste das sagen. Alles andere, was sie sagen wollte, konnte warten. Bis Sandy erwachsen war … und Missy fort war … falls sie das jemals sein würde.

Während sie in das freundliche, offene Gesicht ihres Sohnes schaute, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie ihre Zukunft erblickt hatte.

Es machte ihr entsetzliche Angst.

JETZT …
EXCALIBUR

I

Burgoyne 172 saß im Kommandosessel auf der Brücke und beobachtete fasziniert die Trident. Das Raumschiff schwebte in Reichweite der Excalibur. Obwohl er/sie nichts mit dem Schiff zu tun hatte, verspürte Burgoyne doch immer einen gewissen Stolz, wenn er/sie sich in der Nähe eines anderen Raumschiffs befand. Seiner/Ihrer Meinung nach lag das wahrscheinlich daran, dass sein/ihr eigenes Volk, die Hermats, ihm/ihr das Gefühl gegeben hatten, vom Rest seiner/ihrer Spezies unerwünscht und ausgeschlossen zu sein, weil er/sie nicht so schwerfällig war wie alle …

»Ist er hier?«

Die unerwartete Unterbrechung riss Burgoyne aus seinen/ihren Gedanken. Er/Sie drehte sich um und sah, dass seine/ihre Gefährtin – sie lebten zusammen, aber es hatte nie eine formelle Zeremonie stattgefunden – Dr. Selar direkt hinter ihm/ihr stand. Selars Gesicht war unbeteiligt wie immer. Trotzdem hatte Burgoyne das unbestimmte Gefühl, dass in ihrem Tonfall ein ungewöhnlicher Hauch von Dringlichkeit lag. Burgoyne war überrascht, dass Selar scheinbar einfach mitten auf der Brücke materialisiert war. Er/Sie hatte nicht einmal das Zischen des Turbolifts gehört. Vielleicht war Selar über die Notfallleiter heraufgekommen. Aber … warum sollte sie sich die Zeit nehmen, das zu tun?

»Er? Du meinst den Captain?«, fragte Burgoyne. »Er befindet sich momentan mit Captain Shelby in einer Konferenz.«

»Nein. Nicht der Captain. Er.«

»Er?«

»Er«, sagte Selar noch nachdrücklicher. Ihr Blick schweifte über die anderen auf der Brücke, die sich nacheinander umdrehten und sie mit offener Neugier anstarrten.

»Wer er? Wer ist …« Plötzlich begriff Burgoyne.

»Oh! Er!«

»Ja«, sagte Selar mit offensichtlicher Erleichterung. Gleichzeitig schien sie verärgert zu sein, dass Burgoyne so lange gebraucht hatte, um zu verstehen, worüber sie redeten … oder eben nicht redeten. »Hast du ihn gesehen? Ich dachte, er wäre vielleicht hier oben.«

»Nein. Nein, ist er nicht. Wie lange ist er …?«

»Dreyfuss weiß es nicht genau.« Er leitete die Kinderbetreuung auf der Excalibur.

Burgoyne schüttelte den Kopf und trommelte mit den Fingern auf der Lehne seines/ihres Sessels. »Soll ich …?«

»Nein«, sagte Selar sofort.

»Aber ich habe dir doch noch gar nicht gesagt, was ich tun wollte.«

»Da ich nicht möchte, dass du überhaupt etwas tust, ist die Antwort ›nein‹ universell zutreffend«, antwortete Selar. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin immer sicher«, antwortete Selar, drehte sich auf dem Absatz herum, straffte ihre Schultern und schritt zum Turbolift. Im letzten Moment schien sie es sich anders zu überlegen und kletterte stattdessen die Notfallleiter hinunter. Sie war also tatsächlich auf diesem Weg auf die Brücke gekommen, erkannte Burgoyne. Außerdem verstand er auch, weshalb: Das Objekt ihrer Suche hatte Freude am Klettern, und daher würde man es wohl eher auf den Notfallleitern der Excalibur finden als im Turbolift.

Sie hatte gesagt, sie wolle sich darum kümmern. Dennoch hatte auch Burgoyne in dieser Angelegenheit Mitspracherecht, und er/sie beschloss, dass er/sie sich nicht so einfach abspeisen lassen würde. Er/Sie dachte kurz nach und sagte dann: »Mr. Kebron.«

Zak Kebron, der riesige, unerschütterliche Brikar, war Sicherheitschef auf dem Schiff. Er erhob sich von seinem Posten an der taktischen Station und ging auf Burgoyne zu. Eigentlich wirkte Kebron nie, als würde er gehen, – es war eher, als würde eine uralte, empfindungsfähige Lawine zielstrebig heranrollen. Wenn Zak Kebron mit großer Geschwindigkeit unterwegs war, sollte man ihm besser nicht im Weg stehen. Er blieb einige Meter von Burgoyne entfernt stehen und wartete ab.

»Lieutenant«, sagte Burgoyne und gestikulierte mit seinem Finger, um deutlich zu machen, dass Kebron sich zu ihm/ihr vorbeugen sollte, damit er/sie einen vertraulicheren Ton anschlagen konnte. Wie für ihn typisch blieb Kebron kerzengerade genau dort stehen, wo er war. Er hatte nicht die Absicht, Burgoyne die Sache einfacher zu machen. Burgoyne seufzte verärgert. Also schön. Dann eben nicht, dachte er/sie. »Lieutenant«, begann Burgoyne von Neuem, »wir … das heißt, ich … habe ein kleines Problem.«

Kebron sagte nichts. Er stand einfach da, wartete ab und legte die emotionale Vielfalt einer Statue an den Tag.

»Das Problem hat mit … ihm zu tun«, erklärte Burgoyne.

»Ihrem Sohn.«

Burgoyne blinzelte überrascht. »Woher wussten Sie das?«

Kebron hätte mit den Schultern zucken können, aber falls er das tat, dann nur innerlich. »Mit wem sonst?«

Darauf hätte Burgoyne viele Antworten geben können, doch er/sie erkannte, dass das wenig Sinn hatte. Stattdessen erhob er/sie sich aus seinem/ihrem Sessel, um mit Kebron auf Augenhöhe zu sein. Er/Sie war allerdings mindestens einen Kopf kleiner. »Offenbar ist er irgendwo auf dem Schiff unterwegs. Seine Mutter sucht ihn. Könnten Sie Ihre Sicherheitsleute bitten, ein Auge nach ihm offen zu halten? Ihn vielleicht aufzuspüren?«

»Das ist keine Angelegenheit für den Sicherheitsdienst.«

»Das mag sein, aber … wenn Sie das täten … würden Sie mir einen persönlichen Gefallen erweisen.«

»Warum sollte ich das tun?«

Burgoyne verspürte ein entferntes Hämmern im Hinterkopf und fragte sich, ob Elizabeth Shelby sich als Erster Offizier hin und wieder auch so gefühlt hatte. »Sie wissen, dass ich Ihnen einen entsprechenden Befehl erteilen könnte?«

»Ja.«

Kebron wartete und schließlich riss Burgoyne die Arme verärgert hoch. »Vergessen Sie’s. Ich kümmere mich selbst darum. Machen Sie sich nur keine Sorgen um einen …«

»Meine Leute sind bereits dabei.«

Burgoyne starrte Kebron verständnislos an. »W… was?«

Kebron machte eine angedeutete Geste mit seiner Schulter in die Richtung, in der Selar verschwunden war – mit seinem Kopf zu nicken, war ihm unmöglich – und sagte: »Ich habe gehört, was Selar sagte. Zu dem Zeitpunkt, als sie ging, hatte ich bereits den Sicherheitsdienst alarmiert.«

»Oh. Also dann … danke.«

Kebron brummte, wandte sich um und ging zurück auf seinen Posten. Dann sagte Burgoyne leicht gereizt: »Das hätten Sie auch gleich sagen können, wissen Sie?«

»Ja.«

Das war seine ganze Antwort. Einfach »ja«. Er kehrte zu seiner Station zurück. Hinter ihm sank Burgoyne in seinen/ihren Sessel und fühlte sich Elizabeth Shelby mehr verbunden, als er/sie je für möglich gehalten hatte.

II

»Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Shelby lag im Bett neben Calhoun und strich mit ihren Fingern gemächlich über seine Brust. Die Beleuchtung seiner Kabine war gedämpft. Sie hatte sich neben ihm zusammengerollt und genoss die Nachwirkungen ihrer Aktivitäten. Ein Schweißfilm bedeckte noch immer ihre Haut, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er es schaffte, dabei so kühl und trocken zu bleiben.

Vielleicht, grübelte sie, hatte es etwas mit seiner xene-xianischen Physiologie zu tun. Shelbys rotblondes Haar umrahmte jedenfalls nass und verschwitzt ihr Gesicht, während sie sich neben ihm entspannte.

Sie drehte ihren Körper in seine Richtung und schob ihr nacktes, linkes Bein über seinen linken Oberschenkel. »Wenn du versuchst, mir klarzumachen, dass ich als Ehefrau und Liebhaberin nichts tauge, Calhoun, dann hast du auf jeden Fall das Richtige gesagt.«

Seine tief liegenden, violetten Augen schauten sie kurz verständnislos an. Er brachte das, was er gerade gesagt hatte, offensichtlich nicht in Zusammenhang mit ihrer gegenwärtigen Situation. Dann lachte er leise. Ihr Arm, den sie über seine Brust gelegt hatte, bewegte sich dabei auf und ab. »Ich meinte nicht das. Das war gut.«

»Nur gut?«

»Besser als gut. Großartig. Fantastisch.«

»Spektakulär?«

Er dachte kurz darüber nach. »Ich glaube, das wäre etwas übertrieben.«

Sie schnappte scherzhaft empört nach Luft und schlug ihn auf den Bauch. In den Schlag legte sie gerade genug Kraft, damit er sich aufsetzen musste. Im Gegenzug zerrte er an den Laken. Sie versuchte, dagegenzuhalten, doch er war zu stark für sie. Kurz darauf hatte er sich komplett in die Laken eingerollt, sodass sie vollkommen unbedeckt auf dem Bett lag.

»Bitte, wie du willst«, neckte sie, ließ sich vom Bett rollen, tappte durchs Zimmer und warf sich Calhouns Bademantel über. Sie versank vollkommen darin, sogar als sie den Gürtel zuknotete und ihre Hände und Arme unsichtbar in den Ärmeln verschränkte.

»Im Ernst, Eppy«, sagte er. »Es geht um diesen Auftrag. Dass du nach Danter gehst …«

Sie ging auf ihn zu und setzte sich auf die Bettkante. Dann schob sie das Laken hoch, bis seine Füße zu sehen waren, und begann, seine Fußsohlen zu massieren. Sofort gab Calhoun ein zufriedenes Geräusch von sich. Shelby war sich ziemlich sicher, dass sie das einzige lebendige Wesen war, das diesen Ton jemals gehört hatte. »Ich denke, die Flitterwochen sind offiziell vorüber, Mac, wenn unser einziges Bettgeflüster nach dem Liebesakt sich um unsere Aufträge dreht.«

»Das ist kein … mmmm …« Erneut gab Calhoun das zufriedene Geräusch von sich und brachte seine Füße dann entschlossen außer Reichweite ihrer Fürsorge. Er rollte sie wieder in das Laken, stütze seinen Kopf auf eine Hand und sah sie an, da er offensichtlich beschlossen hatte, die Dinge geschäftsmäßig zu halten. »Es geht nicht nur um einen x-beliebigen Auftrag, Eppy. Ich kenne die Danteri. Du nicht.«

»Du kennst sie, Mac, weil sie deine Heimat Xenex versklavt haben und du gekämpft hast, um sie zu vertreiben. Und das hast du geschafft. Aber das ist lange her.«

»Soll das heißen, ich soll es einfach so vergessen? Meinst du das?« Jetzt saß er aufrecht im Bett und hatte nichts mehr mit dem Liebhaber von vor ein paar Minuten gemeinsam. »Ich würde es ja vergessen, Eppy, wenn ich die Einstellung der Sternenflotte verstehen könnte. Aber lassen wir doch mal alles Revue passieren.« Er zählte die Punkte an seinen Fingern ab. »Die Danteri setzen die Sternenflotte davon in Kenntnis, dass diese ein Raumschiff nach Danter schicken soll. Sie verlangen, dass sich Si Cwan auf diesem Schiff befindet, da er derjenige ist, mit dem sie reden wollen. Sie geben für keine dieser Forderungen eine Begründung an. Stattdessen erklären sie, es handle sich um eine ›höchst dringliche‹ Angelegenheit, und lassen es dabei bewenden. Das Ganze stinkt nach einer Falle … und die Sternenflotte beschließt, dein Schiff zu schicken und nicht meins.«

»Leidet dein männliches Ego unter der Wahl, Mac?«, fragte sie nur halb scherzend.

»Das hat nichts mit männlichem Ego zu tun, Eppy. Das hat etwas damit zu tun, wer dafür qualifizierter ist.«

»Darin könnte möglicherweise das Problem liegen, Mac. Vielleicht ist die Sternenflotte der Meinung, dass es an der Zeit ist für eine neue Sichtweise auf das Problem. Zwischen dir und den Danteri gibt es viel böses Blut. Vielleicht glauben sie, dass du nicht neutral mit der Situation umgehen kannst.« Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht genau vor seinem war. »Gib’s zu: Wäre es nicht möglich, dass sie recht haben?«

Er starrte sie lange an.

»Nein«, sagte er.

Sie knurrte und ließ sich vornüber aufs Bett fallen. Ihr Gesicht in die Laken gedrückt murmelte sie: »Du bist der schwierigste Mann, der mir je untergekommen ist.«

»Natürlich. Deshalb hast du mich ja geheiratet.«

»Mach dich nicht lächerlich. Ich habe dich wegen des Sexes geheiratet.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Aber wir sehen uns doch nur hin und wieder. So oft haben wir doch gar nicht die Chance, Sex zu haben.«

»Stimmt. Ich habe dich wegen der Unregelmäßigkeit geheiratet, damit ich es nicht so oft erdulden muss.«

Calhoun stieß ein Stöhnen aus und warf sich rücklings auf das Bett. »Dein Kommando hat dich bitter und zynisch gemacht, weißt du das, Captain?«

»Ich habe vom Besten gelernt.« Sie rollte sich wieder an seiner Seite zusammen und küsste ihn auf den Hals. Dann sagte sie, ohne jeglichen Spott in der Stimme: »Mac, ich weiß, dass es dir nicht recht ist. Aber wir können nicht nur Befehle ausführen, mit denen wir einverstanden sind. Tatsache ist, dass unsere Schiffe beide im Sektor ihre Gebiete haben, für die sie verantwortlich sind – und Danter gehört zu meinem Bereich.«

»Das ist grenzwertig. Je nach seiner Position im Orbit könnte er zu beiden gehören.«

»Nun, jetzt gerade befindet er sich in meinem. Willst du damit sagen, dass ich deiner Meinung nach damit nicht fertigwerde?«

»Natürlich nicht, Eppy«, beschwichtigte er. »Ich weiß, dass du damit fertigwirst. Da draußen gibt es nichts, mit dem ich fertigwerden würde, aber du nicht. Du solltest dich nur nicht damit befassen müssen. Es geht um die Danteri. Man kann ihnen nicht trauen.«

»Ich kenne ihre Vergangenheit, Mac, und weiß, was mich erwartet. Und Si Cwan wird das ebenfalls wissen. Außerdem solltest du dankbar sein.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommst du denn darauf?«

»Nun, ohne dieses außerplanmäßige Treffen unserer Schiffe, um Si Cwan umsteigen zu lassen, hätten wir auch dieses kleine Rendezvous nicht gehabt.«

»Meine Güte, Eppy, du hast vollkommen recht. Ich werde den Danteri auf jeden Fall einen hübschen Obstkorb als Zeichen meiner Wertschätzung schicken.«

Plötzlich läutete es an der Tür. Calhoun und Shelby sahen sich verblüfft an. »Erwartest du jemanden?«, fragte sie.

»Ich habe Burgoyne gesagt, wir wären in einer Konferenz.«

»Ah, richtig«, schnaubte Shelby. »Ich bin sicher, das hat er/sie nicht durchschaut. Denn selbstverständlich gibt es eine neue Anordnung, nach der Konferenzen im Privatquartier des Captains abgehalten werden und nicht mehr im Konferenzraum.«