Sven Oliver Müller, Christin Pschichholz (Hg.)
Gewaltgemeinschaften?
Studien zur Gewaltgeschichte im und nach dem Ersten Weltkrieg
Campus Verlag Frankfurt /
New York
Über das Buch
Das massenhafte Sterben und die industrielle Kriegführung während des Ersten Weltkriegs führten zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft in der Armee wie in der Zivilgesellschaft. Anhand konkreter Beispiele aus den am Krieg beteiligten Ländern beleuchtet dieser Band Konflikte zwischen Zivilisten, staatlichen Akteuren und militärischen Verbänden in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Er geht der Frage nach, inwieweit solche Konflikte mit dem Konzept der Gewaltgemeinschaften zu analysieren sind, in denen sich einander oft fremde Menschen (spontan) zu hochmotivierten Gruppen mit einem gemeinsamen Gewaltziel zusammenschlossen. Die Beiträge zeigen, wie solche Gewaltgemeinschaften entstanden, wie sie kommunizierten, wieder zerfielen und was sie bewirkten.
Vita
Sven Oliver Müller, PD Dr. phil., war bis 2020 Forschungsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung und ist Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen.
Christin Pschichholz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam.
Vorwort
Sven Oliver Müller und Christin Pschichholz: Gewaltgemeinschaften? Überlegungen zu Hypothesen, Chancen und Grenzen einer Geschichte der Gewalt im und nach dem Ersten Weltkrieg
Peter Lieb: Gewaltgemeinschaften und staatliches Ordnungsdenken: Das deutsche Militär in Osteuropa 1918/19
1.Einleitung
2.Politischer Kontext und Charakter der Kriege
3.Behandlung des gefangenen Gegners
4.Behandlung der Zivilbevölkerung
5.Einfluss des Antibolschewismus und des Antisemitismus
6.Ukraine 1918 und Baltikum 1919 als missing link für den Vernichtungskrieg in Osteuropa?
Christin Pschichholz: Deportationen als »German Way of War«? Militärgeschichte als Verflechtungsgeschichte am Beispiel des deutsch-osmanischen Bündnisses
1.Alte Wunden (francs-tireurs), bulgarische Gräuel und das Komitee für Einheit und Fortschritt
2.Die »Makedonier« in Kleinasien und das sich anbahnende deutsch-osmanische Bündnis
3.Die osmanische Politik der bewaffneten Neutralität (müsellâh bîtaraflık) und die Entlastung der deutschen Ostfront
4.Fazit
Matthew Stibbe: Gewalt gegen Zivilisten: »Arbeitsverweigerer« im besetzten Nordfrankreich und im südlichen Bayern während des Ersten Weltkrieges
1.Der Krieg gegen Arbeitsverweigerung im besetzten Nordfrankreich
2.Zivile Zwangsarbeit und Gewalt
3.»Arbeitsverweigerer« im südlichen Bayern
4.Schlussfolgerung
Sven Oliver Müller: Situative Gewaltgemeinschaften: Ausschreitungen der britischen Zivilbevölkerung nach Zeppelinangriffen des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg
1.Angst und Faszinationen vor der deutschen Wunderwaffe
2.Angst und Leid auf britischem Boden
3.Die Verwandlung der Angst in Aggression
4.Perspektiven statt Bilanzen
Jörg Nagler: Gewaltexzesse in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg
Wim Klinkert: Violent communities in a peaceful society – The Netherlands 1918-1934
1.Introduction
2.The inheritance from 1914–1918
3.Bomb attack, November 1921
4.Massive violence, July 1934
5.Organized street violence, October 1934 – March 1935
6.Concluding remarks
Florian J. Schreiner: Entstehung, Kontinuität und Transformation von durch Universitäten geprägte Gewaltgemeinschaften in Welt- und Nachkrieg
1.Der »Opfergang der Deutschen Jugend«: Teilhabe an Gewalt als integratives Moment
2.Universität und Gewalt: Strukturelle Voraussetzungen
3.Politische Unsicherheit als Gewaltmotivation
4.Genese, Einsatz und Perzeption universitär geprägter Gewaltgemeinschaften
Sebastian Elsbach: Straßenkampf oder Bürgerkrieg? Wehrverbände und Polizeigewalt in der Weimarer Republik
1.Max Weber und politische Gewalt in der Weimarer Republik
2.Wer bedroht die Ordnung?
3.Der »Machtkampf« in mikrosoziologischer Perspektive
Ulrike Jureit: Momente der Entriegelung: Pogromgewalt in der mittelfränkischen Provinz 1934
1.Zur Typologisierung kollektiver Gewaltakteure
2.Der Pogrom als Akt des Bekenntnisses
3.Gewaltgemeinschaft? Antijüdische Mobilisierung in einer mittelfränkischen Kleinstadt
4.Skripte der Gewalt: Kollektives Wissen über Gewaltmobilisierungen gegen Juden
Jörg Echternkamp: Nachwort: Konzeptionelle Anmerkungen zur Historizität von »Gewaltgemeinschaften«
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Literaturverzeichnis
Autorinnen und Autoren
Der vorliegende Sammelband basiert auf der Tagung »Gewaltgemeinschaften? Methodische Überlegungen und Fallbeispiele zum Wandel und zur Kontinuität von Gewalt im und nach dem Ersten Weltkrieg«, die vom 11. – 12. Oktober 2019 im Lepsiushaus in Potsdam stattfand und von der Universität Potsdam in Kooperation mit der Gerda Henkel Stiftung ausgerichtet wurde. Für die organisatorischen Rahmenbedingungen während der Konferenz möchten wir uns an dieser Stelle erneut bei Rolf Hosfeld und Roy Knocke bedanken.
Die Veranstaltung konnte in angenehmer und in der von uns erhofften Atmosphäre eines Workshops stattfinden. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen diskutierten über Bedingungen der Gewalt, setzten diese in Beziehungen zu Emotionen und verglichen die Herausforderungen im Ersten Weltkrieg mit vermeintlich friedlichen Perioden. Die Überlegungen bereicherten die Tagung und erleichterten es, die Vorzüge unseres Forschungsansatzes mit seinen Grenzen zu vergleichen. Nicht zuletzt der konstruktive und anregende Austausch aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer ermutigte uns, diese Beiträge zu veröffentlichen.
Wir bedanken uns bei den Herausgebern für die Aufnahme des Bandes in die Schriftenreihe »Krieg und Konflikt«. Sönke Neitzel und Oliver Janz begleiteten mit konstruktiven Hinweisen und Zuspruch die Publikation.
Unsere Lektorin Christine Marth war für uns und unsere Autorinnen und Autoren mit ihrer großen Übersicht eine äußerst zuverlässige Stütze. Jürgen Hotz vom Campus Verlag stand uns über die Planungsphase bis zur Druckvorbereitung jederzeit in umsichtiger und staunenswert geduldiger Art und Weise zur Seite.
Die entstandenen Kosten für das Lektorat und die Drucklegung wurden von der Gerda Henkel Stiftung und den vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg der Universität Potsdam bereitgestellten Sondermitteln finanziert. Ohne diese großzügige Förderung wäre dieser Band nicht entstanden.
Trotz Pandemieeinschränkungen haben wir eine große Verlässlichkeit und ermutigenden Zuspruch durch unsere Autorinnen und Autoren bekommen, die uns die recht zügige Umsetzung des Sammelbandes ermöglichten. Diese kollegiale Zusammenarbeit machte uns beiden gerade in diesen Zeiten Freude und der Text profitierte durch wichtige Hinweise. Dafür bedanken wir uns herzlich. Der Band wird seine Leserinnen und Leser hoffentlich auf einige Ansätze der Gewaltgeschichte neugierig machen, nicht nur mit dem Blick auf den Ersten Weltkrieg.
Sven Oliver Müller, Christin Pschichholz
Tübingen und Potsdam, Sommer 2021
Sven Oliver Müller und Christin Pschichholz
Das Titelbild des Sammelbandes zeigt den Tabakladen der Familie Schoenfeld. Die Schoenfelds waren deutsche Migranten und verkauften ihre Waren in der Crisp Street, im Londoner East End. Am Mittwoch, dem 12. Mai 1915 versammelte sich vor dem Laden eine aufgebrachte Menschenmenge. Erst kamen einige lärmende Teenager, gefolgt von ihren Müttern und bald auch von aggressiven Männern. Im Nu bildete sich eine Gruppe gewaltbereiter Zivilistinnen und Zivilisten. Einige dürften Nachbarn dieser Einwanderer gewesen sein. Doch das nützte den Opfern nichts. Die aufgebrachte Menge warf Steine, riss Jalousien ab und trat ein Schaufenster ein. Vier Polizisten versuchten augenscheinlich, jugendliche Randalierer von der Fassade fernzuhalten, riskierten aber keine Schlägerei mit den Männern in der Bildmitte. In einer besonderen Situation entstand im Handumdrehen eine Gewaltgemeinschaft. Wenige Tage zuvor, am 7. Mai 1915 hatte ein deutsches U-Boot den britischen Passagierdampfer Lusitania torpediert. 1.198 Männer, Frauen und Kinder ertranken. Die Presse und Teile der Politik verbreiteten furchtbare Geschichten über deutsche Gräueltaten an Unschuldigen. Im ganzen Land brachen Unruhen aus. Deutsche Geschäfte wurden geplündert, vermeintliche und tatsächliche Migrantinnen und Migranten wurden verspottet, bespuckt oder verprügelt. Mindestens 866 Menschen wurden verhaftet, 257 verletzt, darunter 107 Polizisten. Die Gewalttaten von Zivilisten gegen Zivilisten im Mai 1915 zählten zu den schwersten Ausschreitungen in Großbritannien im 20. Jahrhundert.1
Der Erste Weltkrieg eröffnete eine neue Qualität der Gewalt im 20. Jahrhundert. Mit dem Blick auf die Herausforderungen und Brüche, die mit Gewalttaten einhergingen, beginnt etwa Benjamin Ziemanns Studie zur Gewalt im Ersten Weltkrieg mit dem Satz: »Wenn etwas für die Geschichte des Ersten Weltkrieges von immenser Bedeutung ist, dann ist es sicherlich die Praxis der Gewalt«.2 Die Wirklichkeit des Weltkriegs nach einer in Europa insgesamt stabilen Friedensordnung zwischen 1871 und 1914 ließ die bereits düsteren Prognosen einiger Zeitgenossen über die Opfer, die der Krieg fordern würde, schnell hinter sich: 17 Millionen Menschen verloren in den vier Kriegsjahren ihr Leben, 20 Millionen Soldaten wurden verwundet. Jenseits der Schützengräben forderte der Krieg Menschenleben durch Hunger, Entkräftung und Seuchen. Die schwer zu schätzende Anzahl dieser nicht gelebten Menschenleben geht in die Millionen, ebenso die Zahl der geflüchteten und zwangsumgesiedelten Menschen. Das Ausmaß der gewaltsamen Handlungen an der Front und die Reichweite, in der die Zivilbevölkerung an der sogenannten Heimatfront in den Krieg involviert war, relativierten den Unterschied zwischen Militär und Zivilisten.3 Deutlicher als zuvor kennzeichneten gewaltsame Handlungen zum einen die Innenpolitik, wie etwa die Auseinandersetzungen zwischen Staat, Arbeiterbewegung und Nationalitäten. Zum anderen, und das hat die intensive Forschung zur Gewaltgeschichte des Ersten Weltkrieges gezeigt, ist die Einteilung zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit hinderlich, um das in den 1920er und 1930er Jahren sich über Europa spannende Netz neuartiger Gewaltformen zu erklären.4
Die Gewalt des Krieges hatte unzählige gesellschaftliche und individuelle, emotionale und körperliche Verletzungen hinterlassen. Diese schufen neue Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch musste eine sehr hohe Zahl an Kriegsopfern versorgt, die Volkswirtschaft umgestellt und eine kulturelle Mobilisierung veranlasst werden. Mit Kriegsbeginn wurden bestimmte Kriegsdeutungen gegen konkurrierende Interpretationen verteidigt, waren sie doch elementar für die Suche nach dem Sinn der erbrachten Opfer, der erlittenen Verluste und deren traumatischer Wirkung auf breite Schichten der Bevölkerung.5 Der Göttinger Historiker Dirk Schumann betont, dass nicht nur die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges prägend war, sondern auch »ihre Interpretation im politischen Streit der Nachkriegszeit«.6 Gewalt wurde auch nach 1918 zur dauerhaften Belastung des politischen Prozesses im Deutschen Reich, aber auch in Großbritannien und in Frankreich. Ähnliche Entwicklungen gab es in Zentral- und Osteuropa.7
Hier setzt der vorliegende Band an, dessen Ziel es ist, bestehende und neue Strukturen der Gewalt und der Gruppenbildung im Ersten Weltkrieg und der Zeit danach zu untersuchen. Die Autorinnen und Autoren analysieren anhand von Fallbeispielen aus dem Deutschen Reich, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und den USA die Verbreitung von Gewalt anhand neuer Verhaltensmuster zwischen Tätern, Helfern, Staatsvertretern und Zuschauern. Ziel ist es, die qualitative Radikalisierung und die quantitative Ausweitung von sozialen Praktiken, politischen Interessen und kulturellen Deutungen im Ersten Weltkrieg sowie der Nachkriegszeit zu erfassen und methodisch zu überprüfen. Beleuchtet werden nicht nur die Handlungen der Armeen und paramilitärischer Verbände, es soll auch genauer nach Ursachen geforscht werden, warum immer mehr Zivilisten Gewalt nutzten. Der Schwerpunkt der Aufsätze liegt auf den Beziehungen zwischen Gewalt, Kommunikation und Emotionen als Voraussetzung für die Bildung von Gewaltgemeinschaften. Gewaltbereite Gruppen erhöhen in der eigenen und in der Wahrnehmung vieler Beobachter ihren Stellenwert und festigen durch die Gewalttaten oft ihre politische Legitimation. Die Wirkung der Gewalt ist vor allem durch eine detaillierte Analyse der jeweiligen Situationen, der einzelnen Akteure, erkennbarer Handlungen und Regeln möglich.
Die interdisziplinär geprägte Gewaltforschung steht vor der Herausforderung, über unterschiedlichste Gewaltformen Erkenntnisse zu erlangen, die über die Aussagen, etwa zum politischen Nutzen oder den sozialen Kosten von Gewalt, deutlich hinausgehen. Auch definieren die verschiedenen Disziplinen Gewalt unterschiedlich.8 In der Geschichtswissenschaft wird Gewalt oft nur vage und intuitiv definiert. Untersucht man Gewalt aber als einen Bestandteil eng definierter historischer Prozesse und bestimmter Situationen, können sich Entstehung und Wirkung von Gewalt in der Gesellschaft genauer erkennen und erkunden lassen.
Dieser Band arbeitet mit dem Konzept der Gewaltgemeinschaft. Unter Gewaltgemeinschaften verstehen wir Gruppen, deren Akteure (oft ganz unterschiedlicher Herkunft) sich erst durch gemeinsam ausgeübte oder angedrohte körperliche Gewalt (mitunter spontan) zusammenschlossen. Ziel ist es, zu prüfen, ob und wie sich solche Gewaltgemeinschaften herausbildeten, wie diese sich von anderen Gruppen unterschieden und ob ihre Entwicklung eher als Fortsetzung bestehender Entwicklungen oder durch die neuartigen Herausforderungen des Ersten Weltkriegs zu verstehen ist. Durch den Vergleich ähnlicher und verschiedener Gewaltformen und ihrer Verläufe lassen sich trennscharfe Charakteristika von Gewalt erfassen. So könnte es gelingen, Veränderungen etwa der sozialen Handlungsmuster und der politischen Strategien im und nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Staaten zu untersuchen. Und es ist möglich, überraschende Entwicklungen genauer zu analysieren genauso wie nach neuen (Tat-)Orten, neuen Praktiken und neuen Tätern zu suchen.9
Das Konzept der Gewaltgemeinschaft diente insbesondere in der soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Forschung als analytische Kategorie. Die Soziologen Axel Paul und Benjamin Schwalb beschrieben etwa in ihrem Interpretationsansatz zu Gewaltmassen, dass die »lose Koppelung« ihrer Mitglieder und das Fehlen von eingeübten Gewalt(präventions)programmen diese von »formalen Gewaltorganisationen wie dem Militär und der Polizei, deren eigentliche Aufgabe jenseits der Abschreckung von Feinden und Kriminellen die kontrollierte und das heißt koordinierte und zielgerichtete Anwendung von Gewalt«, unterscheidet.10 Mit einem breiten zeitlichen Spektrum untersuchte die DFG-Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« in Gießen unter der Leitung des Historikers Winfried Speitkamp Gewalt als Moment des Selbstverständnisses und die Entstehung sozialer Gruppen jenseits staatlicher Kontrolle. »Als Gewaltgemeinschaften«, so Speitkamp, »werden soziale Gruppen oder Netzwerke bezeichnet, für die physische Gewalt einen wesentlichen Teil ihrer Existenz ausmacht«. Trotz aller Strukturen friedlicher Verbände gelte: »Die Regel waren und sind vielmehr Gesellschaften, in denen verschiedene Akteure beständig um Macht, Ressourcen und Anerkennung ringen«. Dabei fallen solche Gruppen ins Gewicht, »die durch permanente Gewaltausübung oder Gewaltdrohung und bei aller historischen und kulturellen Vielfalt doch durch gemeinsame Merkmale charakterisiert sind. Der Begriff der Gewaltgemeinschaften bezieht sich also auf Konstellationen unvollständiger Staatlichkeit; er wird hier nicht für Träger von obrigkeitlicher Gewalt, an erster Stelle Polizei und Militär, angewendet«.11
Mit der Konzentration auf den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach soll in diesem Sammelband allerdings keine Abgrenzung zwischen Trägern von obrigkeitlicher Gewalt und Zivilisten getroffen werden. Es geht gerade darum, auch Wechselwirkungen zu entschlüsseln. Die kategoriale Gegenüberstellung von Zivilpersonen und Staat läuft Gefahr, den wichtigen Faktor der sich überlagernden Gewaltformen aus dem Fokus zu verlieren. Feindschaft ist ein Bezugspunkt der jeweiligen Gruppen und nicht notwendigerweise die Ursache der Gewalt. Sowohl staatliche als auch zivile Verbände können vergleichbaren Interessen, Deutungen, Zwängen oder Handlungsmöglichkeiten unterliegen. Die soziale Dynamik und die politischen Umbrüche speziell im und nach dem Ersten Weltkrieg lassen sich allerdings präziser untersuchen, wenn man seltener mit prinzipiellen Grenzziehungen, sondern eher mit Überschneidungen und Transfers arbeitet. Im Kontext der Bedrohung oder dem Verlust staatlicher Legitimation sind die Gewalttaten von aus Zivilpersonen gebildeten Gemeinschaften oft nur schwer von denen militärischer und polizeilicher Verbände zu unterscheiden. Erkennbar sind öffentliche Einschüchterung und die Versuche, bei der Auswahl der Opfer und deren Bestrafung professionell zu handeln. Umgekehrt haben Staat und Institutionen leichteren Zugriff auf die Gesellschaft, da sie Nachrichten effizienter und schneller verbreiten können. Die Chancen staatlicher Gewaltmaßnahmen erhöhen sich dadurch, denn die Behauptung, Gefährder zu bekämpfen, rechtfertigt staatliche Zwänge.12
Die Frage nach dem Ausmaß des Gruppendrucks innerhalb eines Verbandes ist zentral, berührt viele Forschungsfelder, ist aber gleichzeitig schwer zu beantworten. Mit Blick auf die paramilitärischen deutschen und italienischen Kampfverbände zeigt der Konstanzer Historiker Sven Reichhardt, wie Gewalt zur Gruppenbildung innerhalb faschistischer Verbände und zur propagandistischen Verwertung nach außen dienen konnte. Gewalt wurde zum Moment erfolgreicher Kommunikation.13 Doch am Ende tragen sowohl Gruppen als auch Einzelne die Verantwortung dafür, Grenzen zu überschreiten. Gewalthandlungen sind oft selbstbestimmte Entscheidungen. Indem Akteure Gewalt als Mittel der Exklusion nutzen, beanspruchen sie, die bestehende politische, soziale oder kulturelle Ordnung zu sichern oder in Frage zu stellen. Innerhalb dieser Prozesse ist die Handlungsmacht der Akteure, vor allem die Genese von Gewaltlegitimationen, nicht zu übersehen. Erfolgreiche Täterinnen und Täter (und ihre Anhänger) festigen ihre Stellung oder versuchen, ihren Rang in der Gesellschaft aufzuwerten. Eine Aufgabe der Forschung sollte es sein, die bewusste Entscheidung gerade von neuen Tätergruppen zu untersuchen. Gewaltgemeinschaften entstehen durch Aushandlungen in Situationen, auf die sich die Handelnden wiederum beziehen. Deutungen, Bewertungen und Verhalten sind oft untrennbar miteinander verknüpfte Elemente. Insofern sind auch die Alternativen im jeweiligen Kontext zu untersuchen.14 Diese Deutungsoffenheit und Handlungsfreiheit betont auch Peter Imbusch: »Dadurch, dass der Mensch nicht Gewalt ausüben muss, aber immer gewaltsam handeln kann, gewinnt Gewalt ihren beunruhigenden Charakter: Als eine Handlungsoption, als Möglichkeit des Handelns ist Gewalt jederzeit einsetzbar, sie setzt keine dauerhaft überlegenen Machtmittel voraus, weil ihre Mächtigkeit ganz elementar aus der Verletzbarkeit des menschlichen Körpers resultiert.«15
Die Gewaltforschung sollte daher verstärkt das Zusammenspiel zwischen Situation, Handlungsmöglichkeit und Gruppendruck untersuchen. Zwar gibt es in der Geschichte der Gewalt keine automatischen Verschärfungen. Aber mit jeder Ausschreitung können die Regelhaftigkeit und die Wahrscheinlichkeit von Gewalt zunehmen. Der Rückgriff auf bestehende aggressive Weltbilder (Nationalismus, Antisemitismus, Militarismus, Sexismus usw.), die Wiederholung eingeübter Verhaltensmuster sowie die erprobten motorischen Fähigkeiten der Tätergruppen erleichtern die körperliche Verletzung ihrer jeweiligen Gegner. Gewaltbereite Menschen scheinen zunächst jenseits der eigenen Handlung, keine Alternative erkennen zu können. Doch können reflektierte Vergleiche von Kosten und Nutzen der Taten oder die Versuche, einzelne Situationen konkret zu bewerten, manche gewaltsame Entscheidungen verhindern. Die Wiederholung erfolgreicher Verhaltensmuster und Wissensbestände lassen sich als Regeln deuten.
Bei der Beschreibung der unterschiedlichen spezifischen Situationen, die zur Entstehung gewaltbereiter Gruppen führten, wird in den vorliegenden Aufsätzen der Fokus zudem auf den Aspekt Kommunikation gelegt. Die Kommunikation ist der Ausgangspunkt einer Gewaltgemeinschaft, d.h. einer sich bildenden Gruppe. Darauf beziehen sich die folgenden fünf Faktoren, die genau genommen Glieder in einer Kommunikationskette sind: Situationen, Handlungsspielräume, Regeln, Legitimation und Emotionen. So werden verschiedene Formen und Wirkungen der Kommunikation deutlich.16 Im Fokus dieses Sammelbandes stehen daher die Beziehungen zwischen Gewalt und Kommunikation. Die Kommunikation zwischen (einander ja nicht notwendigerweise bekannten) Personen ist die Voraussetzung für die Bildung von Gewaltgemeinschaften. Gewalt ist aber auch eine Form dieser Kommunikation. Durch eine Analyse der Kommunikation soll in diesem Band das Konzept der Gewaltgemeinschaften methodisch geschärft und empirisch genauer beschrieben werden. Die Verbreitung der Gewalt (bei Staatsvertretern, bei bewaffneten Gruppen, aber auch innerhalb der zivilen Gesellschaft) lässt sich vor allem durch die Untersuchung einer wirksamen Kommunikation – genau genommen einer Kette der Kommunikation, zwischen Akteuren, ihren Gegnern und ihren Beobachtern – aufzeigen. Eine solche Beziehungsgeschichte hat den Vorzug, dass sie die herkömmliche heuristische Trennung von staatlichen und sozialen Strukturen, von öffentlichen und privaten Praktiken, von Eliten- und Alltagskultur, von Militärs und Zivilpersonen relativiert. Randall Collins bringt diese Beziehung auf den Punkt: »Gewalt ist gleichsam ein Wegenetz, das Konfrontationsanspannung und Angst umgibt«.17 Durch die Kommunikation innerhalb einer oder zwischen verschiedenen Gruppen werden manche Deutungen und Entscheidungen wahrscheinlicher als andere. Einzelne Geschichten, erworbenes Wissen und eingeübte Praktiken bauen folgerichtig aufeinander auf. Gewalt an sich ist zudem bereits ein Teil der Kommunikation und der Strategie, um mit gemeinschaftsverstärkenden Praktiken eine weiterführende Wirkung in der Durchsetzung von politischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Interessen zu erzielen. Es lässt sich also fragen, auf welche Art und Weise sich gewaltbereite Gruppen mit bestehenden Herausforderungen auseinandersetzten und wie sie darüber kommunizierten.
Gewaltoffene Räume entstehen oft durch den kommunizierten Zweifel an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Jörg Baberowski und Gabriele Metzler verweisen in ihrem gemeinsamen Sammelband auf einen alltäglichen Ausnahmezustand in gewaltoffenen »Ermöglichungsräumen« mit ihren die Ordnung in Frage stellenden Kommunikationsformen.18 Gruppen können die bestehende Ordnung in Gefahr sehen und deutlich machen, dass sie es für zwingend halten, in bestimmten Situationen gewaltsam zu handeln. Ewald Frie und Mischa Meier betonen, dass die dann angewendete Bedrohungskommunikation von Gruppen durch starke Emotionen gekennzeichnet ist.19
In der Geschichte der Gewalt sind Emotionen ein einflussreiches Mittel der Kommunikation. Sie ermöglichen, verändern oder beenden die Verständigung zwischen Individuen und Gruppen. Das zeigen vermeintliche Nichtigkeiten, durch die Menschen in Kontakt kommen und gemeinsam für Aspekte in ihrer Umwelt sensibilisiert werden. Die Mitglieder einer Gruppe und mögliche Beobachter können körperliche oder sinnliche Botschaften, attraktive Deutungen und legitime Interpretationen aussenden oder empfangen. Das heißt aber auch, dass diese Gruppen gerade durch ihre eigenen Wahrnehmungen und Weltbilder motiviert wurden.20 Damit sind nicht nur die selektive Wahrnehmung oder spontane Erregungen gemeint. Um ihre Ziele zu verwirklichen, um neue Verbündete zu finden oder alte Gegner zu besiegen, nutzen und erzeugen manche Gewalttäterinnen und Gewalttäter bestimmte Emotionen. Ihnen kommt es darauf an, einen eigenen Raum zu schaffen, den sie selber kontrollieren. Diese Entwicklung ist gut an der vermeintlich gefestigten Heimatfront, wie das zu Beginn der Einleitung beschriebene Beispiel aus London zeigt, zu erkennen, weil dort innerhalb von neu entstehenden Gewaltgemeinschaften primär Zivilpersonen aktiv wurden.
Die Wirkung bestimmter Emotionen erleichtert Gewalttaten. Individuen und Gruppen haben Emotionen nicht einfach, sondern handeln mit diesen und durch diese. Doch wie genau schärft die Emotionsforschung die Erkenntnisse in der Gewaltgeschichte des Ersten Weltkrieges? Es gibt viele Emotionen, die hier mitspielen, von Liebe und Gier, über Freude und Begeisterung. Angst und Wut sind Emotionskomplexe, die Menschen verunsichern und die Gewaltbereitschaft erhöhen.21 Um die Angst zu bekämpfen und die persönliche Ambivalenz aufzulösen, schließen sich Personen mit anderen zusammen. Für einige der sich so findenden Menschen führt die Verunsicherung zu gemeinsamer Angst und Wut. So bilden sich aggressive Gruppen, die tatsächliche oder vermeintliche Feinde rücksichtslos verspotten, verprügeln oder töten.
Die Beziehung zwischen Gruppenbildung und Emotionen ist in der Gewaltgeschichte im Ersten Weltkrieg bisher wenig untersucht worden. Aufschlussreich wäre es, die Verständigung der Täter untereinander, ihre Suche nach sozialer Bestätigung, politischer Sicherheit oder persönlicher Geborgenheit innerhalb einer Gruppe zu erfassen. Gleiches gilt für die Warnungen oder die Angriffe derjenigen, welche die Ausschreitungen gewaltsamer Akteure verurteilten und andere Ziele verfolgten. Tatsächlich eröffnet eine Geschichte der Emotion eine Vielzahl unterschiedlicher methodischer und inhaltlicher Zugänge. Gemeint sind hier nicht naturwissenschaftliche Methoden (etwa der Neurologie oder der Psychologie). Die historische Emotionsforschung könnte helfen, die Beobachtungen, Bewertungen und Handlungen von Gruppen in den Blick zu nehmen. Gewalt gilt hier nicht als körperlicher Automatismus, sondern auch als ein durch Gefühle begünstigtes Moment kollektiver Handlungen, die öffentlich beobachtet und politisch bewertet werden können. Durch Emotionen sind so auch gezielte Entscheidungen und rationale Prozesse leichter erkennbar.22
Nach dem heutigen Kenntnisstand ist es noch unklar, inwieweit durch bestimmte Emotionen neue Verbände in der Gesellschaft entstanden – oder ob umgekehrt bereits existierende Gruppen sich dadurch verständigten. Kollektive Gewalt kann auch als Ergebnis einer emotionalen Gruppenbildung unter Zivilisten bzw. zur Festigung innerhalb der Armee interpretiert werden. Emotionen, so die Vermutung, erleichtern durch soziale Einflüsse, politische Interessen oder akzeptierte militärische Befehle die Entstehung einer neuen Gewaltgemeinschaft und strukturieren deren Handlungsspielraum. Manche Ereignisse könnten präziser erfasst werden, würde man Gewalt stärker als bislang als eine sinnliche Erfahrung der Gewalttätigen untersuchen und zeigen, wie manche Emotionen die Menschen motivierten, gewaltsam einzugreifen – andere dagegen dazu führten, nicht einzugreifen. Untersuchen ließe sich, wie Emotionen Wahrnehmungen strukturierten, Handlungen beschleunigten und zwischenmenschliche Beziehungen verstärkten. Manchmal wurden tatsächliche oder scheinbare Bedrohungen erst durch Emotionen wahrnehmbar. Deshalb sollte man Täter, Opfer und vermeintlich passive Beobachter nicht kategorisch voneinander trennen.23 Die Analyse der Emotionen könnte eine veränderte Sicht auf die radikal sinkende Gewaltschwelle, auf tödliche und nicht-tödliche Gewaltakte bieten. Viele Gewalttäter erweiterten ab 1914 ihren Handlungsspielraum, indem sie die erst durch die Bedingungen des Krieges legitim gewordenen Grenzüberschreitungen nutzten. Weil gewaltsame Handlungen öffentliche Aufmerksamkeit erregten, verbreitete sich Panik auch unter größeren Gruppen, bildeten sich häufiger als zuvor emotionale Beziehungen in der Gesellschaft und unter Menschen, die sich nicht kannten.24
Um verschiedene Tätergruppen oder Schwerpunkte von Gewalt zu erfassen, scheint es aussichtsreich, stärker als bislang nach dem »Was« und dem »Wie« zu fragen und seltener nach dem klassischen »Warum«. Die Geschichtswissenschaft könnte von diesem Wechsel der Perspektive und der Verschiebung der Prioritäten profitieren, ohne dabei einen bestehenden Erklärungsansatz zu trivialisieren. Nach Auffassung des Siegener Soziologen Trutz von Trotha ist eine Ablösung der Frage nach dem »Warum« durch die Frage nach dem »Wie« in diesem Fall »nichts anderes als die Relativierung einer vergleichsweise statischen und deterministischen Sicht menschlicher Erfahrungswirklichkeit durch eine dynamische und – darin eingeschlossen – historische Sicht, die den sozialen Akteuren und dem sozialen Handeln einen gewissen Vorrang in der Grundlegung der soziologischen Analyse einräumt«. Die »Wie-Frage«, so argumentiert auch der Soziologe Peter Imbusch, unterscheide sich von der »klassischen ›Warum?‹-Frage dadurch, dass sie den prozessualen und konstitutiven Charakter menschlichen Handelns in den Blick nimmt«.25
In den hier vorliegenden Fallbeispielen stehen daher die Beziehungen zwischen Gewalt, Kommunikation und Emotion in ganz spezifischen Situationen im Vordergrund. Bestimmte Situationen gaben Akteuren die Gelegenheit, sich neu zu verständigen. Gewaltsames Handeln ergab sich nicht zwangsläufig, sondern aus den von Gewalteingriffen erwarteten Wirkungen in politischen, sozialen und kulturellen Lagen. Situationen verändern sich oft schneller und deutlicher als die Interessen oder die Ideologien der Gewalttäter. Deshalb sollte die Gewaltforschung nicht nur auf die gesellschaftlichen Weltbilder von Gruppen oder die persönlichen Wünsche einzelner blicken, sondern vor allen auf die Momente und die Kontexte, in denen sie handeln.26 Gewalttäterinnen und Gewalttäter verfügen über Handlungsspielräume. Sie sind dafür verantwortlich, sich gewaltsam oder friedlich zu verhalten und oft in der Lage zu wählen. Ein Ziel der Autorinnen und Autoren ist es daher in diesem Band zu prüfen, ob und wie sich Gewaltgemeinschaften herausbilden und wie diese sich von anderen Gruppen unterscheiden. Die Untersuchung der Kommunikation ermöglicht es, ähnliche und unterschiedliche Gewaltausbrüche zwischen zivilen Gruppen und staatlichen Akteuren, zwischen Tätern und Opfern deutlicher als bislang zu erfassen, in verschieden Regionen und Nationen zu untersuchen und besser zu begründen.27
Arbeiten zum radikalen Nationalismus, zur Vergesellschaftung von Gewalt, zur Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg, zur Perzeption von ethnischer Gewalt und zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik – alle verorten ihre Ergebnisse auch im Rahmen der wissenschaftlichen Debatte um Kontinuitäten und Wandel.28 Zu dieser Debatte gehört auch der vor allem von englischsprachigen Historikerinnen und Historikern geprägte Begriff des »German Way of War«.29 Dieser beschreibt eine spezifische Art der deutschen Militärkultur im Deutschen Kaiserreich, die durch fehlende Kontrolle des Militärs durch zivile Instanzen vor allem zu einer radikalen Kriegführung besonders gegenüber Zivilpersonen geführt habe. Auch wenn in vielen Forschungsarbeiten vor zu straff gezogenen Kontinuitätslinien gewarnt wird,30 werden die Massenmorde an der Ostfront und die Besatzungsherrschaft in Litauen oft durch den Blick auf den Zweiten Weltkrieg gedeutet.31
Die militärhistorische Perspektive greifen in diesem Sammelband die Beiträge von Peter Lieb und Christin Pschichholz auf. Beide Aufsätze verdeutlichen, dass das Konzept der Gewaltgemeinschaften auch für die Militärgeschichte nutzbar gemacht werden kann, die spezifische Kriegssituation allerdings als Ausgangspunkt der Analyse im Blick behalten werden muss. Peter Lieb legt durch den Vergleich der Kriegshandlungen in der Ukraine mit denen im Baltikum in den Jahren 1918/19 dar, dass der Antibolschewismus sich als wichtige Kontinuitätslinie von 1918 bis 1945 durch alle Konflikte mit deutscher Beteiligung zog und ein entscheidender Grund für die Enthemmung der Gewalt war. Die Formierung von Gewaltgemeinschaften sei allerdings eher für den weitgehend staatenlosen Gewaltraum im Baltikum 1918 zu erkennen als in der Ukraine.
Christin Pschichholz widmet sich der Einwilligung der deutschen Offiziere zu den Deportationen der armenischen Bevölkerung aus dem Operationsgebiet an der osmanisch-russischen Grenze, die in der Forschung bisher kontrovers diskutiert und auch als Ausdruck einer radikalen und spezifisch deutschen Militärkultur bewertet wurde. Die Analyse der zeitlichen Abläufe und die Rezeption der Situation beider Verbündeter legt allerdings nahe, dass die Entscheidung im Frühjahr 1915 auf unterschiedliche Erfahrungshorizonte traf und die Lage eher als eine Verflechtung unterschiedlicher Militärkulturen zu verstehen ist.32
Matthew Stibbe betont in diesem Band, wie wenig hilfreich es sei, die Zwänge in der Armee kategorisch von den Möglichkeiten der Zivilbevölkerung zu trennen und Soldaten die eigenen Wahrnehmungs- oder Handlungsspielräume zu rasch abzuerkennen. Die Analyse gemeinsamer Bezugspunkte und Praktiken sei aufschlussreicher. Stibbe richtet den Blick auf die Etappengebiete der deutschen Armee in Nordfrankreich und beleuchtet die Entrechtung von Zivilistinnen und Zivilisten unter der Besatzung und die Entwicklung gewaltsamer Praktiken, die auch eine Rückwirkung auf zivile Beamte im Umgang mit sogenannten Arbeitsverweigerern in Südbayern hatten.
Das Verhältnis von Emotion und Gewalt ist der Schwerpunkt des Aufsatzes von Sven Oliver Müller. Er untersucht die Übergriffe von Zivilisten auf andere Zivilisten nach der Bombardierung britischer Städte durch deutsche Zeppeline. Die Opfer gewaltbereiter britischer Zivilpersonen stammten in der Regel aus Deutschland. Müller argumentiert, dass Emotionen bei diesen sich meist spontan bildenden Gruppen wichtige Faktoren waren, die Kommunikation in der Öffentlichkeit beschleunigten und die Handlungen der Täter und Täterinnen legitimierten. Faszination, vor allem aber Angst und Wut, seien die stärksten Formen emotionaler Mobilisierung und wichtige Ursachen für die Unkontrollierbarkeit des Konfliktes und der Gewalthandlungen. Staatliche Akteure hätten bei ihren Forderungen zur Einhegung des Konfliktes weit häufiger rechtsstaatliche und soziale Grenzen gewahrt als Zivilpersonen. Die Verfolgungen von tatsächlichen und vermeintlichen Feinden durch zivile Gruppen ließ sich als ein Wille zum Kontrollverlust verstehen.
Durch die Analyse von Emotionen werden Netzwerke der Kommunikation auch jenseits großer Versammlungen oder Pressekampagnen sichtbar. Die Erschaffung von Bedrohungen und Ängsten, aber auch von Freude und Geborgenheit, geschah häufig durch die persönliche Vermittlung von Nachrichten. Verständigungsformen waren Briefe, Geschichten, Gerüchte, Symbole, Fotografien oder Witze. Sie setzten und veränderten Maßstäbe – etwa wie öffentlich über Ziele und Verhaltensmuster geredet werden konnte – und halfen, zwischen legitimer und illegitimer Gewalt zu unterscheiden.33 Manchen Gruppen gelang es, in Interaktionssituationen auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, durch Emotionen eigene Handlungen zu legitimieren und damit neue Maßstäbe in einer vermeintlich friedlicher werdenden Gesellschaft zu setzten. In den USA, so der Beitrag von Jörg Nagler, wirkten Staat und Propaganda nicht als regulierende Instanzen, sondern als eskalierende. Die durch enthemmte Gewaltexzesse bedrohten Opfer waren Deutsche und – vor allem in der Nachkriegszeit – Afroamerikaner. Der emotionale Erregungszustand an der US-amerikanischen Heimatfront während des Ersten Weltkrieges wirkte noch in die Nachkriegszeit hinein. Die allgegenwärtige »Red Scare« ging eine Symbiose mit dem Rassismus ein und führte zu Gewaltexzessen in Form von Rassenunruhen, Massakern und Lynchmorden, bei denen sich aus divergierenden Motivlagen sehr unterschiedlich zusammengesetzte Gewaltgemeinschaften herausbildeten.
Gewalttätige Ausschreitungen können die Regelhaftigkeit von Gewalt erhöhen. Ein kontrastierendes Beispiel ist der von Wim Klinkert dargestellte Umgang mit Gewalt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in den Niederlanden. Die revolutionären Ereignisse in Deutschland und Russland wurden hier sorgfältig beobachtet und führten zu einer Verstärkung des Sicherheitsapparates. Einige von ausländischen Zäsuren inspirierte Formen der Gewalt, die von linken und ab den 1930er Jahren auch von rechten Parteien und Gruppen ausgeübt wurden, galten bei breiten Bevölkerungsschichten als existenzielle Bedrohung der niederländischen Gesellschaft. Sowohl die geringere ideologische Aufladung als auch das schnelle Handeln des Staates beendeten viele Konflikte rasch.
Die Kriegsdeutung und Erinnerung waren in der deutschen Nachkriegszeit von einer deutlich größeren und eben auch gegensätzlicheren Bandbreite bestimmt. Sie reichte vom Krieg als Inbegriff des sinnlosen Opfers von Millionen bis hin zu heroischen Interpretationen des männlichen Kämpfers, der nach dem Krieg den Wiederaufbau der Nation anführen sollte. Der Beitrag von Florian Schreiner zeigt in diesem Zusammenhang die deutschen Universitäten als militär- und gewaltaffine Komplexe während des Ersten Weltkrieges. Aber auch in der Frühphase der Weimarer Republik wurden durch die Freiwilligenformationen die akademischen und die militärischen Akteure handlungsmächtig. Das galt sowohl für regionale als auch für überregionale Spektren. Dementsprechend vereinten sie die politischen wie militärischen Denkstile, die die Strukturen der Universitäten auch über das Kriegsende hinaus bestimmten und zu einem Spannungsverhältnis zwischen organisierter Arbeiterschaft und Bildungsbürgertum führten. Das entlud sich folgenschwer in den Gewalteruptionen der Märzunruhen 1920 sowie im Oberschlesischen Aufstand des Jahres 1921.
Gewaltbereite Gruppen oder bewaffnete Verbände sind in der Lage, ihre politische Legitimation zu festigen. Sie nutzen ihre Härte als Demonstration, hoffen durch selbst verübte Gewalt auf legitime Anerkennung. Vielleicht verbindet die Täterinnen und Täter schon die Bereitschaft zur Gewalt. Jan Philipp Reemtsma nennt das »Gewaltpartizipation«. Die Rede ist von der Chance auf politische Partizipation von Millionen von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern. Zehntausende versuchten, in der Öffentlichkeit unverkennbare Wegmarken zu setzten, das heißt, vom persönlichen Spott über politische Forderungen bis hin zur körperlichen Gewalt, Erfolge in der Gesellschaft zu erzielen. Loyale Bürgerinnen und Bürger, aber auch manche oppositionellen Gruppen rechtfertigten ihre Handlungen durch einen Gerechtigkeitsanspruch. Gewaltbereite Gruppen beanspruchten durch die Berufung auf den eigenen militärischen Einsatz oder durch persönliches Engagement einen scheinbar »gerechten« Anteil am politischen Gemeinwesen. Dadurch lassen sich sowohl die soziale Öffnung gewaltbereiter Gruppen als auch die Entstehung neuer Handlungsmöglichkeiten erkennen. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus profitierten im frühen 20. Jahrhundert von dieser Entwicklung.34 Selbst brutale Gewalt von Zivilisten gegen andere Zivilisten konnte öffentlich als mutige und legitime Handlung gerechtfertigt oder sogar als freudiges Ereignis gefeiert werden.35
Nach dem Urteil von Max Weber charakterisiert gerade das Monopol der Gewalt den modernen Staat. In seinem Hauptwerk »Wirtschaft und Gesellschaft« ordnet er alle Alternativen dieser Rechtsform unter: »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und inwieweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.« Und weiter unten heißt es »Der Staat ist ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politische Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (d.h. als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen … er gilt als alleinige Quelle des ›Rechts auf Gewaltsamkeit‹«.36 Für Sebastian Elsbach sind die Arbeiten Max Webers der methodische Schlüssel, um in seinem Aufsatz die politisch motivierte Gewalt der Weimarer Republik anhand Rotfrontkämpferbund, Stahlhelm, Sturmabteilung und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zu untersuchen. Max Webers methodische Befunde über Macht und Gewalt hätten vor allem dann Geltung, wenn man zusätzlich den mikrosoziologischen Ansatz von Randall Collins nutze.
Die Forschung über die Geschichte der Gewalt arbeitet in den letzten Jahren verstärkt mit der Kategorie des Raums und sieht darin einen Faktor der Mobilisierung von kollektiver Gewalt. Damit verbunden ist das Interesse an der Gewaltmobilisierung in totalitären Staaten und sich rasch verändernden Gesellschaften. Doch das Räumliche gilt nicht als gegebene und konstante Größe. Die jeweiligen Städte, Strafanstalten, Verkehrswege oder Schlachtfelder, für deren Kontrolle Menschen ihr Leben aufs Spiel setzten, sind nicht die Bezugspunkte in diesem Ansatz. Räume sind kulturelle Konstrukte, versehen mit verschiedenen Bedeutungen für jene, die diese Räume schaffen und durch diese ihre Gewalt legitimieren. In vielen Situationen ermöglichten veränderte Wahrnehmungen und neue Handlungsmöglichkeiten bewaffneten zivilen Gruppen oder Freikorps, Räume zu betreten, die ihnen bislang verschlossen geblieben waren. Jörg Baberowski lenkt den Blick auf »ungeordnete« Gewalträume. In seiner Studie über »Räume der Gewalt«, hebt er hervor, dass Gewalt gerade in diesen unkontrollierten und sanktionsfreien Räumen wirke. »Wenn wir verstehen wollen, wie Gewalt entsteht und was sie anrichtet, müssen wir die Situationen genau beschreiben und die Räume, in denen sie zur Entfaltung kommt«. Es gehe auch um »jene unsichtbaren Räume, die durch die Vorstellungen einer gemeinsam geteilten Welt entstehen. Sie steuern das Verhalten von Gruppen und geben ihnen eine Kontur. Nicht Ideen und Gründe, sondern die Räume, ihre Situationen und Handlungszwänge entscheiden darüber, was mit uns geschieht, wenn die Gewalt ausgebrochen ist. Über sie haben Täter und Opfer keine freie Verfügung«.37
Nach Auffassung der Hamburger Historikerin Ulrike Jureit liege die Gefahr dieses Raumkonzeptes allerdings darin, dass manche Forschenden sich mit Gewalträumen beschäftigen, die sie durch ihre eigenen Zuschreibungen selbst erschaffen haben und die Gewalt an sich so zum Erklärungsmuster wird. Erkenntnismöglichkeiten schwänden dadurch, dass »in den neuen Gewalträumen die Gewalt selbst zur Klammer zwischen ansonsten in jeder Hinsicht heterogenen Konfliktlagen« wird. Die entscheidende Aufgabe bleibe es zu prüfen, ob die Existenz kollektiver Gewalt tatsächlich das entscheidende Moment für die Entstehung von Gewalträumen ist. Eine methodische Bereicherung der Gewaltforschung wäre es, zu untersuchen, dass in diesen zunächst leeren Räumen Wissen generiert, Zusammenhänge legitimiert werden. Diese Verfügung bilde ein wichtiges Element in der »Tradierung von Gewaltwissen«.38