Impressum

ISBN 978-3-86774-190-3

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Wolfgang Schmidbauer

Das Floß der Medusa

Was wir zum Überleben brauchen

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Das Floß der Medusa

1. Der Fortschritt des Konsums

2. Der Event als Ritual der Konsumgesellschaft

3. Das trojanische Pferd

4. Intelligenz und Politik

5. Fortschritt wohin, Wachstum wozu?

6. Die Evolution der Werkzeuge

7. Zum Faschismus der Ware

8. Die Trauer

9. Lob der Handarbeit

10. Bastelkünste als Zukunftswerkstatt

11. Ein sicherer Ort

12. Die Vorbereitung auf die Gefahr

13. Neue Allmenden

Anmerkungen

Der Autor

Impressum

Vorwort

Katastrophen sind interessant; Befürchtungen langweilig. Die Mutter nervt, wenn sie ihre Kinder nur mit einem »Passt auf!« die Autofahrt antreten lässt. Wenn dann auf der Autobahn tatsächlich etwas passiert ist, stauen auf der Gegenfahrbahn die Schaulustigen den Verkehr.

Wir sind derart von Gefahren umgeben, dass wir sie grundsätzlich verdrängen und sie uns nur widerwillig eingestehen. Eine dieser Gefahren betrifft die Stabilität der Welt, wie wir sie kennen, wie sie sich in der Art eines riesigen Transportmittels um uns herum aufgebaut hat, ein die Erde umspannendes System mit mentalen und materiellen Komponenten, das wir meist »globalisierte Wirtschaft« nennen. Wir wissen viel zu wenig über das Innenleben und die Beweglichkeit dieser Struktur. Nur eines ist klar: Sie ist instabil, sie kann in der bisherigen Bewegung nicht fortfahren. Wenn sie das tut, steuert sie auf einen Systemabsturz zu.

Die Großkatastrophe fehlt bisher; es gibt nur kleine, sich vielleicht etwas häufende Hinweise auf sie, die dann tage- oder wochenlang die Medien beschäftigen. Die Ödnis und Langeweile der Mahnungen erleben wir jeden Tag. So bittet der Autor, ihm zu verzeihen, dass er eine lang vergangene Katastrophe benutzt, um die geläufigen Mahnungen etwas interessanter zu machen. Wenn wir die Konsumgesellschaft mit der Titanic vergleichen, wählen wir ein krasses Bild. Wenn dieses Bild unsere Fantasie in die hier vorgeschlagene Richtung lenkt, fordern wir von den Konstrukteuren, ein Schiff zu bauen, das sich in taugliche Rettungsflöße auflöst, ehe es untergeht. Mit weniger Komfort, aber heiler Haut könnten dann Passagiere und Mannschaft ein Ufer suchen oder Rettung abwarten.

Eine derart wandelbare, sich dem Rückbau öffnende Großtechnik, die in Gefahr und Auflösung brauchbare Einzelteile und nicht nur verseuchten Schrott liefert, wäre dringend zu wünschen. Wir werden uns in den nächsten 100 Jahren in einem bisher noch kaum vorstellbaren Maß nicht nur mit Katastrophen, sondern auch mit Transformationen beschäftigen müssen. Diese werden sicher nicht so zielbewusst und stimmig ablaufen wie in den Hollywood-Filmen über die »Transformers«, in denen sich aus Autos oder Flugzeugen humanoide Giganten bilden, die in guter oder böser Mission die Erde heimsuchen.

Die Katastrophe der Fregatte Medusa aus dem Jahr 1816 scheint mir erheblich aussagekräftiger als die der Titanic. Die Titanic sank schnell, von einem Eisberg aufgeschlitzt, der mehr oder weniger unvorhersehbar ihren Weg kreuzte. Der Kapitän reagierte besonnen und professionell. Das Floß der Medusa hingegen ist ein Lehrbeispiel für die Verleugnung vermeidbarer Gefahren und den Zerfall sozialer Strukturen unter dem Druck von Eitelkeit und Egoismus. Deshalb scheint es mir so lohnend, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen und nicht nur nach ihren Hintergründen zu forschen, sondern auch deren Bedeutung für unser Überleben festzuhalten.

Einleitung: Das Floß der Medusa

Der Mensch, nicht der Strauß steckt angesichts einer Gefahr den Kopf in den Sand.

Unter den kritischen Aussagen zu unserer Konsumgesellschaft stimmt mich jene besonders nachdenklich, in der uns klargemacht wird, dass wir zu ihrem Betrieb mindestens drei (Europa), ja sogar sechs (USA) Planeten von der Größe der Erde bräuchten, um nicht mehr zu verbrauchen als nachwächst. Die globalisierte Konsumgesellschaft muss also scheitern. So macht es – jenseits aller gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen – Sinn, sich als Individuum, als Mensch schon jetzt vorzubereiten und sich Gedanken darüber zu machen, welche psychologischen Voraussetzungen uns helfen können, uns als Individuen in Sicherheit zu bringen, an Provisorien zu denken, die weiterhelfen, wenn diese Struktur zerbricht.

Was dann an Trümmern auf uns zutreiben wird, ist unmöglich vorauszusehen. Aber sollten wir nicht das Mögliche tun, uns geistig und emotional auf den Bau von Rettungsflößen vorzubereiten? Wie schwierig diese Aufgabe sein kann, zeigt der Bericht über das »Floß der Medusa«, im Gedächtnis der Menschheit erhalten durch Théodore Géricaults meisterhaftes Gemälde aus dem Jahr 1819.

Die dazugehörige Geschichte ging so: Die Fregatte Medusa wurde im April 1807 auf Kiel gelegt, rund 100 Jahre vor der Titanic, die 1912 vom Stapel lief und auf ihrer Jungfernfahrt sank. Beide Schiffskatastrophen sind Lehrstücke für die menschliche Unfähigkeit, Gefahren einzuschätzen. Die Titanic ist bekannter geworden als die Medusa, aber die französische Fregatte und ihre Besatzung erzählen eine reichere Geschichte, die jüngst in einer kommentierten Ausgabe des Berichts zweier Überlebender wieder zugänglich gemacht wurde.1

Die ritterlich gemeinte Geste »Frauen und Kinder zuerst« führte dazu, dass die befehlshabenden Offiziere der sinkenden Titanic Männer nicht einsteigen ließen, obwohl es an manchen Stationen gar nicht genug Frauen und Kinder gab, um alle Plätze zu besetzen. Später suchten die halbleeren Boote das Weite, statt schwimmende Opfer zu bergen: Die Besatzungen fürchteten, durch zu viele Schiffbrüchige überlastet zu werden. Diese Geschichte wird auch über das Wrack der Medusa erzählt: eine Geschichte von der Angst derer, die sich in Sicherheit bringen vor dem Neid und der Wut der Zurückgelassenen.

Wie die Titanic zählte auch die Medusa zu den modernsten und schnellsten Schiffen ihrer Zeit. Nach Napoleons Verbannung brachte sie 1816 Julien Schmaltz, den neuen Gouverneur des Senegal, in diese Kolonie, die soeben an die bourbonischen Könige zurückgegeben worden war. In Paris ebenso wie in ganz Frankreich waren die Gegensätze zwischen den Funktionsträgern der napoleonischen Herrschaft und denen der Restauration des Königs unversöhnt; die Katastrophe der Medusa wurde nicht nur durch diese Gegensätze ausgelöst, sondern auch entlang ihrer Konflikte interpretiert. Die Kritik am Verhalten des Kapitäns der Medusa und der Admiralität wurde von den fortschrittlichen bürgerlichen Zeitungen besonders energisch vorgetragen.

Zu den Gefahren der westafrikanischen Küsten zählen Sandbänke, die vor der Nordküste des Senegal mehr als 30 Seemeilen in den Atlantik hineinragen. Die Medusa sollte im Verband mit drei anderen Schiffen segeln, damit man sich in Notfällen helfen konnte. Aber sie war das schnellste Schiff, und der künftige Gouverneur an Bord wollte möglichst rasch ankommen. So wurde das in unsicheren Gewässern lebensrettende Segeln im Konvoi aufgegeben.

Der Kommodore der kleinen Flotte und Kapitän der Medusa, Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys, war ein Günstling des neuen feudalen Regimes – allerdings von zweifelhafter Vergangenheit. Er hatte den bourbonischen Königen im Exil die Treue gehalten und bombardierte den Hof mit Briefen, in denen er seine Verdienste und Opfer schamlos übertrieb. Er verlangte nach einem Kommando, obwohl er seit Jahrzehnten kein Schiff mehr betreten hatte und keinerlei Führungserfahrung hatte.

Die Offiziere an Bord hingegen waren erfahrene Seeleute aus napoleonischer Zeit, leistungsorientiert, von bürgerlicher Herkunft und nicht bereit, Eitelkeit und Inkompetenz eines adligen Kapitäns mit dem Gleichmut der Diener eines Feudalherrn hinzunehmen. Statt diese Konflikte zu versachlichen und die Fähigkeiten seiner Mannschaft zu nutzen, trieb sie der Vicomte auf die Spitze, blamierte sich durch ungeschickte Manöver und machte sich von einem Schmeichler abhängig, der noch weniger nautische Erfahrung hatte als er.

Dieser Antoine Richefort behauptete, die afrikanische Küste zu kennen und genau zu wissen, was er tat. Er stand dem Kapitän politisch nahe und sollte in Saint Louis im Senegal das Amt eines Hafenmeisters bekleiden. Er wusste dem Kapitän zu schmeicheln und war als Seemann ebenso unfähig wie dieser.

An Bord der Medusa befanden sich insgesamt rund 400 Menschen: 166 Seeleute, ebenso viele Soldaten sowie 61 Passagiere. Die Offiziere an Bord beschwerten sich über die riskanten Anordnungen von Richefort. Der Kapitän reagierte empört und ernannte Richefort zum Steuermann, dessen Anordnungen alle Dienstgrade Folge zu leisten hatten. Statt in sicherer Entfernung auf dem offenen Meer zu segeln, entschied sich Richefort für einen Kurs entlang der Küste. Der Kommodore und sein selbst ernannter Lotse trafen keinerlei Vorkehrungen, den Konvoi zusammenzuhalten. So waren sie auf der Medusa ganz allein, als sie in gefährliche Nähe einer Sandbank gerieten und das Wasser eine andere Färbung annahm. Ungewohnte Pflanzen und Fische verrieten, dass man sich Untiefen näherte.

Der diensthabende Leutnant ließ loten, obwohl de Chaumareys dies für unnötig hielt. Am frühen Nachmittag wies das Meer nur noch eine Tiefe von 18 Faden auf – gute 30 Meter. Jetzt wollte der Steuermann den Kurs korrigieren. Bei der nächsten Lotung maß man 6 Faden – nur noch 10 Meter! Aber noch bevor der Kommodore weitere Befehle geben konnte, erschütterte ein knirschender Ton das Schiff, Planken rissen, und Teile der Takelage stürzten aufs Deck. Die Fregatte saß fest, zum höchsten Gezeitenstand, was die Hoffnung zerstörte, bei der nächsten Flut das Schiff wieder freizubekommen.

Das Ruder war blockiert, der Kiel hatte sich tief in den Sand gebohrt, Planken waren gebrochen, aber noch konnten die Pumpen das Eindringen von zu viel Wasser verhindern. Die Seeleute hatten eine letzte Möglichkeit, das Schiff zu retten: Es galt, einen Anker mit dem Beiboot dorthin zu transportieren, wo das Wasser tief genug war, ihn auszuwerfen, die Flut abzuwarten und die Medusa mit Hilfe der Ankerwinde von der Untiefe zu ziehen.

Um diese Chance zu nutzen, musste das Schiff leichter werden. Was nicht lebensnotwendig war, musste über Bord. Aber der Kommodore wollte auf keinen Fall die Kanonen und Kugeln preisgeben. Der Gouverneur untersagte, die Mehlfässer über Bord zu werfen.

Die Besatzung war demotiviert und in sich uneins. Der Kapitän hatte einen Aufschneider zum Steuermann ernannt und die Gefahren der Sandbänke ignoriert, bis er auf einer festsaß. Er wurde nicht mehr respektiert. Der Gouverneur Schmaltz suchte die Lücke zu füllen, verstand aber nichts von Seefahrt und dachte vor allem daran, Passagiere und Mannschaft mit falschen Versprechungen bei Laune zu halten. Die Disziplin an Bord drohte sich aufzulösen. Saint Louis war im Prinzip nur noch zwei Tage entfernt, aber Duroy Vicomte de Chaumareys konnte sich ebenso wenig wie der künftige Gouverneur entscheiden, Hilfe zu holen oder mit den Beibooten die Passagiere an Land zu bringen.

So verging kostbare Zeit mit Warten und vergeblichen Versuchen, die immer noch viel zu schwere Medusa freizuwarpen. Am Abend des 4. Juli fiel ein Sturm über die festsitzende Fregatte her. Der Kiel brach, die Pumpen versagten. Aber viel verhängnisvoller war der menschliche Faktor: Die Soldaten meuterten und drohten, jeden zu erschießen, der sich mit einem der Boote in Sicherheit bringe und sie zurücklasse. Diese Truppe unterstand nicht dem Kapitän, sondern dem künftigen Gouverneur Schmaltz. Dieser beruhigte die Soldaten mit dem Schwur, dass er niemanden zurücklassen werde. Er plane, aus dem zerbrochenen Schiff ein Floß zu bauen, das durch die Beiboote an Land geschleppt werden solle.

Im Morgengrauen des 5. Juli verließen die Offiziere das Wrack der Medusa mit fünf unterschiedlich großen Booten. Die Barkasse nahm den Gouverneur, seine Familie sowie deren Gepäck an Bord. Sie hätte Raum für 50 Personen gehabt, es wurden jedoch nur 36 an Bord gelassen. Bewaffnete sorgten dafür. An Bord der Kommandantenpinasse befanden sich De Chaumareys sowie 27 weitere Personen. Auch dieses Boot hätte noch einmal so viel Passagiere aufnehmen können. Antoine Richefort, der die Fregatte auf die Sandbank gesteuert hatte, bekam ein neues Kommando auf dem kleinsten Beiboot. Die Schaluppe wurde vom Zweiten Offizier kommandiert. So waren rund 100 Menschen in Booten untergebracht. Das Problem war das Floß für die große Mehrheit der Passagiere. Die Führung hatte für sich gesorgt, der Rest der Besatzung sollte sehen, wo er blieb. Das in großer Hast gebaute Floß wurde nicht erprobt, sondern sofort dem Ernstfall ausgesetzt. Es wurde mit Proviant und Wasser beladen. Sogleich zeigte sich, dass es viel zu wenig Auftrieb hatte. Zwanzig Menschen hätten sich zur Not darauf halten können. Als sich mehr als hundert darauf drängten, tauchte es so tief ein, dass die meisten tief im Wasser standen. Für das Floß fühlte sich von den Offizieren und Matrosen niemand zuständig. Die schweren Masten und Rahen, aus denen es provisorisch gezimmert war, bewegten sich mit den Wellen. Wer zwischen zwei Balken geriet, erlitt Quetschwunden. Der Fähnrich, dem das Kommando auf dem Floß übertragen worden war, hatte sich am Unterschenkel so schwer verletzt, dass er keine Führung übernehmen konnte. Als 50 Mann auf das Floß gegangen waren, stand ihnen das Wasser bis zur Hüfte. Jetzt wurde ein Teil des Proviants ins Meer geworfen. Chaos brach aus.

Die Schaluppe nahm so viele Passagiere auf, dass Wasser über den Dollbord schwappte. Einige Menschen blieben auf dem Wrack. Rund 150 Passagiere vertrauten ihr Leben dem Floß und den Versprechungen des Gouverneurs an. Hüfttief im Wasser, stets in Gefahr, verletzt oder über Bord gespült zu werden, hofften sie, im Schlepptau der Boote das Ufer zu erreichen.

Das Floß sollte von vier Beibooten geschleppt werden. Die Schaluppe kam für diese Aufgabe nicht in Frage. Sie war ein reines Segelboot. An der Spitze der Schleppleine sollte die Kommandantenpinasse ziehen, ihr folgte das Hafenboot, danach die zweite Pinasse, zuletzt die Barkasse, auf der sich Gouverneur Schmaltz befand.

Der mitleidige Offizier, der die Schaluppe steuerte und die Not der Menschen erkannte, die einfach nicht auf das Floß passten, hatte viel zu viele Männer an Bord genommen. Er wollte sie auf die anderen, unterbesetzten Boote verteilen; die Kommandanten dieser Boote weigerten sich aber, sei es, dass ihnen das Manöver bei hohem Wellengang zu gefährlich erschien, sei es, dass sie fürchteten, überladen zu werden, oder dass sie ihre Vorräte nicht teilen wollten.

Noch ehe die Boote mit dem Schleppen begannen, führte der Streit über die Frage, wie die Lasten gerechter zu verteilen wären, zu einem Ausweichmanöver, bei dem das Hafenboot die Leine preisgab. Alle Ruderboote zusammen hätten vielleicht mit vereinten Kräften und großer Entschlossenheit das Floß bewegen können. Aber nachdem die Trosse gelöst war, trieb das Floß in der Strömung aufs offene Meer. Es drohte die Barkasse mit sich zu ziehen.

Der Erste Offizier Reynaud, dem die Barkasse mit dem Gouverneur an Bord anvertraut worden war, packte ein Beil und kappte die Schleppleine. Einige Besatzungsmitglieder protestierten. Gouverneur Schmaltz zog es vor, sein Versprechen zu vergessen. Er befahl, das Tau loszumachen.

Die Barkasse mit dem Gouverneur und die Kommandantenpinasse mit Kommodore de Chaumareys an Bord waren gut ausgerüstet und verproviantiert. Sie hatten Seekarten und nautische Instrumente, blieben dicht zusammen und trafen am 9. Juli wohlbehalten auf die anderen Schiffe des Konvois, die auf der Reede von Saint Louis ankerten.

Der Senegal war damals noch eine britische Kolonie. Er sollte den Franzosen übergeben werden, wenn die Gummiernte der Plantagen abgeschlossen war. Die britische Verwaltung bot Hilfe bei der Suche nach den restlichen Schiffbrüchigen an, die sogleich hätte eingeleitet werden müssen. Aber die französischen Honoratioren wollten diese Hilfe des ehemaligen Feindes nicht annehmen, und so dauerte es Tage, ehe die Suche nach dem Floß begann.

Den Ausgesetzten auf dem Floß waren Kompass und Seekarte nur versprochen worden. Angeblich um das Gewicht auf dem Floß zu reduzieren, hatten die Soldaten ihre Musketen und Säbel auf der Medusa zurücklassen müssen: Die Vorgesetzten in den Booten fürchteten wohl zu Recht die Kugeln der empörten Männer. Angesichts der weit überlasteten Tragkraft wurden die meisten Fässer mit Zwieback und Wasser über Bord geworfen.

Als das Floß im Stich gelassen wurde, befanden sich 146 Männer und eine Frau (eine Marketenderin) an Bord. Siebzehn Männer waren an Bord des Wracks der Medusa geblieben; voller Schrecken verfolgten sie, wie das Floß steuerlos abtrieb. Die Männer auf dem Floß der Medusa waren vorwiegend Söldner aus Europa, Asien und Afrika, ein buntes, ohne seine Vorgesetzten desorganisiertes Gemisch von Männern mit zweifelhafter Vergangenheit. Zwanzig Matrosen hatten keinen Platz in den Beibooten gefunden. Der Zweite Sanitätsoffizier der Medusa, Henri Savigny, übernahm die Führung der Seeleute. Der Ingenieur und Geograf Alexandre Corréard war auf das Floß gegangen, obwohl der Gouverneur ihm einen Platz in seinem Boot angeboten hatte. Er war als Kolonist angeworben worden und hatte zwölf Arbeiter mitgenommen, für die er sich verantwortlich fühlte. Diese beiden schlossen sich zusammen; sie standen an der Spitze noch einigermaßen organisierter Gruppen und versuchten, das Chaos auf dem Floß so gut wie möglich zu ordnen.

Die Schiffbrüchigen standen hüfthoch im Wasser. Sie mussten auf dem erbärmlich instabil gebauten Floß dauernd fürchten, von einer Welle mitgerissen oder durch Hölzer verletzt zu werden, die sich im Wellengang bewegten. Die Sonne glühte. Henri Savigny konnte einen Mast mit einem kleinen Segel auftreiben, um etwas Schatten zu finden, aber es gab keine Möglichkeit, das Floß zu steuern. Es gab ein Fass Wasser und zwei Fässer Wein sowie einen Sack nassen Schiffszwieback. Schon in der ersten Nacht gingen zwölf Männer über Bord. Unter den Überlebenden brachen Kämpfe aus.

Die Soldaten betranken sich sinnlos und wollten das Floß zerstören, um gemeinsam unterzugehen. Kämpfe zwischen den von Savigny geführten Matrosen, an deren Seite auch Corréard mit seinen Arbeitern trat, und Gruppen von Meuterern endeten in einem Gemetzel. Savigny verwaltete die Vorräte und verteidigte sie mit der blanken Waffe. Wer sich an ihnen vergriff, wurde sogleich niedergestochen und über Bord geworfen.

Die Männer konnten nur im Stehen schlafen und drängten sich dicht zusammen. Nach einem Tag gab es weder Trinkwasser noch Zwieback an Bord. Der Wein wurde strikt rationiert. Die Sonne brannte auf die ungeschützten Männer, die den eigenen Urin und Meerwasser tranken. In den folgenden vier Tagen zerfiel auf dem Floß jede menschliche Ordnung. Viele der Verzweifelten töteten sich selbst; andere starben in jähzornigen Raufereien.

Jonathan Miles2 hat jüngst den Hintergrund des Schiffbruchs beleuchtet und ihn mit der Entstehungsgeschichte des berühmten Gemäldes von Théodore Géricault verknüpft. Der junge Maler bezog viele seiner Informationen von den Überlebenden, ließ aber die drastischsten Szenen fort, die seine Zeitgenossen bewegten: den Kannibalismus auf dem Floß.

Miles beschäftigt sich ausführlich mit der politischen Seite der Ereignisse. Das katastrophale Versagen der nautischen wie der militärischen Führung (die Soldaten an Bord unterstanden dem Befehl des Gouverneurs) führte im Heimatland Frankreich dazu, dass die Liberalen den Schiffbruch als Symbol für die Korruption und den Dünkel der Royalisten deuteten, während diese versuchten, von einer Verkettung unglücklicher Umstände zu sprechen, aus denen die Verantwortlichen das Beste gemacht hatten.

Die Berichte der Überlebenden über das Geschehen auf dem Floß sind in vieler Hinsicht tendenziös. Sie betonen den Verrat des Gouverneurs, des Kapitäns, der Führung des Schiffes allgemein. Sie beklagen wortreich das Elend der Ausgesetzten, verschleiern aber, mit welchem Maß an Egoismus und Grausamkeit sie selbst ihren Platz in der Mitte des Floßes gegen die Männer an den Rändern verteidigt hatten.

Auch für das Floß der Medusa müssten wir wohl den melancholischen Grundton übernehmen, den Primo Levi3 in seinem Bericht über Auschwitz anschlägt: Die Geschichte Überlebender ist nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die typische Geschichte, sie ist nur die einzige, die erzählt wird. Die typische Geschichte würde von einem der Männer am Rand des Floßes handeln, die irgendwann zu schwach sind, um sich zu wehren, wenn sie nachts über Bord gestoßen werden.

Sie haben keine Ideen, wie den Kannibalismus oder das Trinken des eigenen Urins, die sie etwas länger am Leben halten, sie können nichts organisieren, sie können sich nicht mit anderen zusammentun, die sie unterstützen und über sie wachen. Diese Untergegangenen sind die ersten Helden solcher Geschichten. Ihr Opfer, ihr Verschwinden hält die zweiten Helden am Leben.

Vor allem nachts gibt es Raufereien mit zahlreichen Todesopfern, blutige Kämpfe um einen sicheren Platz und um die Vorräte. Fast alle Männer haben durch das ständige Stehen im Salzwasser Geschwüre an den Beinen. Unterlegene werden ins Meer gestoßen. Je mehr Menschen über Bord gehen, desto erträglicher werden die Bedingungen auf dem Floß. Nach drei Hungertagen beginnt der Kannibalismus. Als noch 27 Passagiere übrig sind, entscheiden die stärkeren angesichts der begrenzten Vorräte, die zwölf schwächsten hätten keine Überlebenschance. Sie werden von Bord gestoßen. Jetzt schwimmt das Floß so weit über Wasser, dass die Überlebenden sicheren Halt gewinnen.

Nach einer Woche wurde das Floß endlich von der Korvette Argus gefunden, die zu den gefährlichen Sandbänken zurückgesegelt war. Sie barg 15 Überlebende von ursprünglich 147 »Passagieren«. Auf dem Gemälde von Géricault ist das rettende Schiff ein Punkt am Horizont; auf dem Floß verknäulen sich Lebende und Tote. Fünf der Geretteten starben bald danach im Krankenhaus von Saint Louis.

Der französische Gouverneur empfängt seine Landsleute nicht sehr freundlich. Es gelingt ihm später, den meisten Überlebenden im Hospital Unterschriften abzupressen, er habe alles ihm Mögliche getan, die Passagiere zu retten. Nur der Ingenieur Corréard weigert sich standhaft, dem verhassten Royalisten diesen Gefallen zu tun.

Gouverneur Schmaltz lehnt die Hilfe der Briten ab, mit ihren Schiffen nach weiteren Überlebenden zu suchen. Er hat sich stattdessen mit einem reichen Kaufmann in Saint Louis zusammengetan, der einen klapprigen Schoner ausrüstet. Dieser kehrt zweimal wegen schlechten Wetters um. So dauert es lange 52 Tage, bis die Überlebenden auf dem Wrack der Fregatte ihre Chance bekommen.

Der Zustand dort ist nicht weniger gespenstisch als auf dem Floß: Von den 17 Männern, die weder in einem Boot untergekommen waren noch das Floß betreten hatten, lebten nur noch drei in einem desolaten Zustand. Jeder hatte sich in einem Winkel des zur Seite gekippten Schiffsrumpfs verschanzt und bedrohte die anderen mit blanker Waffe.

Anfangs waren die 17 Männer gut verproviantiert. Als die Vorräte zur Neige gingen und nur noch eine für den Organismus in den Tropen ruinöse Diät aus Salzfleisch und Branntwein blieb, bauten einige der an Bord des Wracks verbliebenen Männer ein Floß und versuchten die Küste zu erreichen. Sie verschwanden spurlos; das Floß wurde später von Eingeborenen an der Küste gefunden, ohne Ruder und ohne eine Spur der Besatzung. Von den fünf an Bord Gebliebenen hatte einer – vermutlich betrunken – versucht, einen Hühnerstall als Wasserfahrzeug zu verwenden; er war noch in Sichtweite der übrigen Schiffbrüchigen mit seinem Fahrzeug untergegangen. Die Überlebenden auf dem Wrack sahen aus wie Gespenster, sie hatten sich tagelang ausschließlich von Brandy ernährt.

Als Corréard in Saint Louis zum ersten Mal aufstehen und die Siedlung erkunden konnte, erschütterte ihn die Gleichgültigkeit des Gouverneurs hinsichtlich der Schiffbrüchigen ebenso, wie ihn dessen Habsucht wütend machte. Was aus dem Wrack an Wertvollem geborgen werden konnte, beanspruchte der Gouverneur zusammen mit seinem ortsansässigen Vertrauten als »Prise«. Die Hafenstadt wurde ein Wochenmarkt; Schwarze kauften Signalflaggen, um sich Kleider daraus zu machen, Vasen aus dem Besitz des Kapitäns schmückten den Haushalt des Gouverneurs.

So kommt es, dass Corréard auch seine mitgebrachten Instrumente, welche er für seine Arbeit als Ingenieur in der Kolonie gebraucht hätte, auf einem improvisierten Markt feilgeboten fand. Schmaltz zuckte die Achseln, als er sich beschwerte.

Henri Savigny verfasste mehrere Berichte über seine Erlebnisse, zunächst in regierungskritischen Zeitungen, später gemeinsam mit Corréard in einem Buch, das viele Auflagen erlebte. Obwohl das Marineministerium versuchte, den Skandal zu vertuschen, wurde der unfähige und eigennützige Kommandant zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. Der Kampf von Corréard und Savigny um eine Entschädigung für die Angehörigen der Opfer blieb ohne Erfolg.

Das Floß der Medusa steht, ähnlich wie später die fehlenden Rettungsboote der Titanic, für eine Selbstblendung der menschlichen Psyche angesichts des Zusammenbruchs von Erwartungen. Der Mensch, nicht der Strauß steckt angesichts einer Gefahr den Kopf in den Sand. Erst will er das Risiko nicht sehen. Wenn die Katastrophe dann eingetreten ist, leugnet er immer noch ihren Umfang und ihre möglichen Folgen.

Das Schicksal der gestrandeten Medusa gibt Rätsel auf. An Bord befanden sich viele fähige Männer. Jedes größere Segelschiff hatte mindestens einen Schiffszimmermann und einen Schmied in der Mannschaft. Viele Matrosen konnten mit Werkzeugen umgehen, unter den Soldaten gab es Handwerker und Bauern. Das Floß aber, das die Menschen retten sollte, die nicht in die Boote passten, war eine groteske Fehlkonstruktion.

Haben die Männer, die das beurteilen konnten, absichtlich geschwiegen, weil sie den verhassten Kommandanten bloßstellen wollten? Es ist schwer, sich so viel Zynismus vorzustellen. Die Bordhandwerker waren geschult, ihr Schiff zu reparieren, eine vorgegebene große Struktur. Sie konnten sich nicht auf die Aufgabe umstellen, diese große Struktur aufzulösen und aus den so gewonnenen Materialien kleine funktionsfähige Teile zu gewinnen. Die Experten hatten durch unfähige Führung ihre Fähigkeiten und Funktionen innerhalb der Organisation verloren.

Ein Polynesier baut mit viel schlechteren Werkzeugen als die Männer an Bord der Medusa aus Treibholz und Pflanzenfasern ein hochseetüchtiges Kanu, mit dem er Hunderte von Seemeilen zurücklegen kann. Die inkompetente Führung an Bord der Medusa aber suchte eine schnelle Lösung für die Panik unter den Passagieren und gab ein Versprechen ab, alle könnten zusammenbleiben und auch noch die Güter bergen, die an Bord waren. Das Floß der Medusa hatte die gleichen Qualitäten wie die Dörfer des Fürsten Potemkin – es war eine in die Horizontale verlegte Kulisse, der Anschein eines Transportmittels und deshalb auch eine Todesfalle. Wie der Fürst der Zarin schmeicheln wollte, so schmeichelte das Floß den Gescheiterten, versprach viel und hielt fast nichts.

Betrügerische Absicht und unbewusste Verblendung mögen zusammengewirkt haben. In Angst und Not klammern sich Menschen aneinander und an das Vertraute, auch wenn diese Suche nach Halt das Gefährlichste ist, was sie tun können. So lässt sich verstehen, weshalb die praktikable Lösung unterblieb, mehrere Flöße zu bauen und dafür zu sorgen, dass diese fähig waren, aus eigener Kraft das Ufer zu erreichen. Ein schmales Floß mit einem Ausleger, um es im Wind zu stabilisieren, hätte eine begrenzte Zahl von Männern und ihre Vorräte getragen. Es wäre mit Hilfe von improvisierten Segeln und Rudern beweglich genug gewesen. Mehrere dieser Flöße hätten sich gegenseitig unterstützen können. Das Baumaterial war da, nicht aber die geistige Beweglichkeit, aus einer hochdifferenzierten Fregatte mit ihrem komplexen Aufbau von Masten, Seilen, Rahen und Segeln einfachere Fahrzeuge zu bauen.

Der Schiffbruch der Medusa begann, lange ehe sie auf die Sandbank lief. Die Spannungen zwischen dem Kapitän und seinen Offizieren führten dazu, dass der schlechteste Kurs gesteuert und die in unsicheren Gewässern lebensrettende Fahrt im Konvoi bedenkenlos preisgegeben wurde. Auch angesichts des Notfalls fand die Mannschaft zu keiner gemeinsamen Lösung. Die Egoismen der Einzelnen, ermöglicht durch die völlige Entwertung des Kapitäns, führten dazu, dass nicht genug Ladung über Bord geworfen wurde, um das Schiff wieder flottzumachen und es so als Überlebenswerkzeug zu bewahren.

Das Schicksal der Medusa zeigt, wie schwer es ist, rechtzeitig zu erkennen, wann ein sicherer Ort diese Qualität verliert. Solange das Schiff nur festsaß und die Pumpen liefen, wollte niemand daran denken, mit den Beibooten an Land zu gehen und Hilfe zu holen. Das offene Meer und die Wilden an den Küsten schienen gefährlicher als die vertrauten Planken. Als diese dann zerbrachen und das Wrack auseinanderzufallen drohte, wollten plötzlich alle in die Boote. Man hatte in der Krise keine ernsthafte Strategie für den drohenden Notfall entwickelt.

Das wahnwitzige Unternehmen mit dem Floß entstand stattdessen aus dem Versuch, einen Kompromiss zu finden. Die Boote sollten die Privilegierten aufnehmen. Den anderen wurde eine Utopie verkauft. In ihrem manischen Entwurf war das Floß ein Wunderding, fähig, im Schlepptau der Boote von der Sandbank wegzukommen, zugleich solide wie ein Schiffsdeck, Passagiere und mitgebrachte Kostbarkeiten zu bergen, mit ihnen das Ufer zu erreichen, allen Sicherheit zu bieten, niemanden zurückzulassen. Nichts davon traf ein, aber die gemeinsame Illusion, den Anschein eines Ganzen zu retten, war mächtiger als jeder Versuch, angesichts der Katastrophe dieses Ganze in funktionierende Teile zu zerlegen.

In diesem Buch ziehe ich den Begriff des Konsumismus dem der Konsumgesellschaft vor, weil er – ähnlich dem Faschismus-Begriff – eine Verbindung von politischen und persönlichen Entwicklungen anzeigt. Die Psychologie kann nur einen Teil zu einer kulturellen Wende beitragen. Es gibt keinen Heiler und Helfer, der das System kurieren kann. Deshalb habe ich den 1983 geprägten Begriff der »Ökotherapie«4 wieder aufgegeben.

Der erste Teil des Textes beschäftigt sich mit den seelischen Veränderungen durch den Konsumismus; der zweite mit Modellen, wie wir andere Einstellungen gewinnen und sie auch die nächste Generation lehren können. Den Zustand der Krise haben wir erreicht, viele von uns sogar die Erkenntnis darüber. Wir müssen nun gemeinsam an der Lösung arbeiten. Auch wenn es unsere Fantasie überfordert, uns die Zukunft vorzustellen, scheint doch die Geschichte der Medusa lehrreich genug.

Besonders nachdenklich mag uns stimmen, dass die Katastrophe auf dem Floß damit zusammenhängt, dass die Medusa das schnellste Schiff war und der Kapitän nicht auf die langsameren Begleitschiffe warten wollte. Sie hätten die Fregatte freischleppen, mindestens die Besatzung retten können. Ganz ähnlich gewinnen wir den Eindruck, dass die moderne Gesellschaft sich in ihren Zentren so weit von den traditionellen Möglichkeiten der Selbstversorgung hinwegbeschleunigt, dass sie im Fall einer Katastrophe keine Alternativen findet. Wie wir sehen werden, wachsen aber inzwischen auch Bestrebungen, daran etwas zu ändern.

1. Der Fortschritt des Konsums

Der Alltag ist Propaganda für die Bereitschaft, abzuspalten, was nicht in das von einem naiven Warenglauben bestimmte Bild passt.

Immer höhere Komfortansprüche werden immer jüngeren Schichten der Bevölkerung selbstverständlich. Es darf in diesen Konsumfortschritten keine Pausen geben. Sie ersetzen schließlich den Glauben an eine menschenwürdige Zukunft.

Thomas Hobbes erläutert im Leviathan, dass die menschlichen Leidenschaften mächtiger sind als die Vernunft. Die Produkte des menschlichen Geistes sind Kundschafter und Spione der Wünsche.5 Während Hobbes annimmt, dass nur Gewalt die Leidenschaften zügeln kann und der Sicherheit halber die Staatsgewalt fordert, ist es gegenwärtig geboten, nicht mehr nur den Menschen in seiner Bedrohung für den anderen Menschen zu zügeln, sondern auch den Menschen als Bedrohung der Natur. Auch die Abhängigkeit von einem Konsumniveau, das mit den natürlichen Regenerationsprozessen des Planeten Erde auf Dauer unvereinbar ist, kann letztlich nur durch Formen staatlicher Gewalt eingedämmt werden.

Sobald ein Trinker Gefahr läuft, seine Ehefrau oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wird er versprechen, ja schwören, nie wieder rückfällig zu werden, obwohl er diesen Schwur bereits viele Male gebrochen hat. Dieses so oft gebrochene Versprechen wird geglaubt, solange die Illusion attraktiver ist als die Wirklichkeit. Auf einem ähnlichen Mechanismus beruht die Anziehungskraft von Politikern, die einen Kometenschweif gebrochener Versprechungen hinter sich herziehen.

Eine Lösung gelingt nur, wenn die Gefahr ernst genommen wird. Der Süchtige verleugnet seine Grenzen und gerät in einen schwer auflösbaren Teufelskreis: Die Sofort-Betäubung seiner Unlustspannungen schwächt seine Toleranz für Versagungen. Erst im Erleben der eigenen Todesgefahr findet er die Möglichkeit, diesen Größenwahn zu durchschauen. Diese Einsicht wird schwer, solange es zur herrschenden Kultur gehört, Grenzen zu verleugnen. Der Glaube, man könnte über seine Verhältnisse leben und keinen Preis dafür bezahlen, ist die zentrale Illusion der Konsumwelten.

Die ausbeutende und/oder »helfende« Beschäftigung mit anderen Kulturen ist inzwischen zu einer jener grandiosen Unternehmungen geworden, deren erstes Beispiel der Turmbau zu Babel ist. Es gibt kein Ziel mehr, aber die Anstrengungen werden gesteigert. Ehe es uns nicht gelingt, ökologische Stabilität in unserem eigenen Haus herzustellen, ist jeder Export eingefärbt und getrübt von den destruktiven Mechanismen, die wir eingeführt haben. Blinde Tätigkeit nach unseren eigenen Wertvorstellungen scheint genauso problematisch wie Untätigkeit angesichts des millionenfachen Elends. Die unreflektiert als humanitär gepriesene Aktion rettet 10 Hungernde, die 100 Hungernde zeugen, welche dann die Lebensgrundlagen für Tausende in ihrer verzweifelten Suche nach Nahrung zerstören.

Indem sich die Industrieländer als Geber aufspielen, können sie vor sich selbst verbergen, dass sie Parasiten sind. Die armen Länder hingegen fordern Betäubungsmittel für den Schmerz über den Verlust ihrer kulturellen Autonomie. Überall herrscht gegenwärtig eine Armutsfantasie, die nach den zerstörerischen Gütern der zum Untergang verurteilten Reichen streben lässt. Wie Moskitos an einem anämischen Opfer bohren die Petroleumkonzerne und die Wasserwerke der Metropolen ihre Saugrohre tiefer in die Erde fremder Länder. Anders als das Insekt besäßen sie zwar eigentlich die geistigen Voraussetzungen, die Absurdität ihrer Strategie zu erkennen. Dennoch ändern sie diese nicht, solange sie nicht durch äußeren Zwang dazu gebracht werden. Von selbst wird dieser Parasitismus erst dann aufhören, wenn das Opfer kein Blut mehr hat.

Die Konsumgüterentwicklung enthält verschlüsselte, längst selbstverständlich gewordene Botschaften. Sie zu erkennen und zu kritisieren kostet Mühe und wirkt seltsam deplatziert. Vor dem Gericht des Komfortschritts ist die Beweislast umgekehrt. Rechtfertigen muss sich, wer eine destruktive Ware anzweifelt, denn diese kann sich doch durch ihren Verkauf legitimieren.

Ein buchstäblich winziges Beispiel: Seit 1930 konnten zu günstigen Preisen mechanische Armbanduhren gebaut werden, die sich durch die Bewegung am Handgelenk selbst aufzogen. Diese Methode der Zeitmessung wurde aber durch die Massenproduktion von Quarzuhren verdrängt, deren Batterien die Umwelt belasten. Dass niemand solchen Entwicklungen Einhalt gebietet, zeigt die Unfähigkeit unserer Institutionen, mit den Bedingungen der Konsumgesellschaft umzugehen.

Nicht durch Zufall ist der Traum vom Perpetuum mobile in den vergangenen Jahrhunderten so wichtig geworden. Während unser Leben in parabolischer Bahn steigt und fällt, gaukelt die Maschine vor, ein einmal erreichtes Niveau für immer halten zu können. Diese Illusion fesselt den Menschen so, dass er viele Zerstörungen in Kauf nimmt. Gerät sie ins Wanken, hilft ihm die Maschine wieder: Sie verspricht eine wachsende Kraft, wo die Schwäche wächst, und kündigt an, sie könne ausgleichen, was unausweichlich ist: Verfall und Tod.

Das Streben, den Tod zu besiegen, bindet an ihn. Zur natürlichen Gier, zu Hunger und Liebe, tritt als gefährliche Neuerung die Angstgier