DIETER HORNEMANN
MIT DER ERDE ATMEN LERNEN
EINE HINFÜHRUNG ZU
RUDOLF STEINERS SEELENKALENDER
URACHHAUS
Vorwort zur Jubiläumsausgabe
Vorwort zur 1. Auflage
Hinführung zu den Wochensprüchen
Nachbemerkung
Anmerkungen
Impressum
Rudolf Steiner hat mit dem anthroposophischen Seelenkalender ein erstaunliches Kunstwerk geschaffen. Dieses Staunen wächst mit eingehender Beschäftigung immer weiter. Am Anfang versteht man ja herzlich wenig von den Sprüchen. Ich erinnere mich gut an die ersten Begegnungen, daran, wie seltsam es war, zu hören und nichts zu verstehen. Im Lauf der Jahre zeigten sich mehr und mehr durch die Sprüche angeregte Gedanken. Es ist weniger eine Information, die zu verstehen wäre, als vielmehr eine seelische Erweiterung des Gedankenraumes, die ein Verständnis für Mensch und Welt fördern kann. Die Sprüche stehen in Beziehung zur Welt als Ganzes, der ich mit meinem Seelenleben angehöre und kraft meines Mitvollzugs zunehmend zur Offenbarung verhelfen kann. Zur Anregung der Gedanken gesellt sich eine große Bewunderung für die Schönheit dieses Wort-Kunstwerkes hinzu. Es bietet ein unerschöpfliches Feld für eigene Entdeckungen.
Rudolf Steiners Ehefrau Marie schrieb ihm zu seinem 61. Geburtstag: »Du, ein geborener Künstler …« Sie erkannte hier ein Signum seines wahren Wesens. Es steht der Menschheit noch bevor, zu entdecken, welch großer und umfassender Künstler da gewirkt hat. Sein Werk ist dazu angelegt, Gut der ganzen Menschheit zu sein. Aus dieser Kunst können wir Kraft für die Seele schöpfen. Hierzu möchte dieses Buch beitragen, das nun in einer weiteren Auflage erscheinen kann.
Bernau am Chiemsee, Frühling 2015 Dieter Hornemann
LEBEN MIT DEM JAHRESLAUF
Wer erinnerte sich nicht daran, wie viel ihm als Kind die Verschiedenheit der Jahreszeiten bedeutete? Welcher Jubel, wenn der erste Schnee fiel. Und wenn er dann liegen blieb, wie schön war es, dick vermummt mit den Freunden Schlitten zu fahren. Oder man musste plötzlich mitten im Winter an den Sommer denken und erglühte in Vorfreude. Wie wird es sein, wenn ich wieder baden gehen kann, wenn die Vögel allenthalben singen und die roten, gelben, blauen Blumen leuchten? So lebte die kindliche Seele ganz hingegeben an die jeweilige Jahreszeit. Und ein Jahr – von Weihnachten bis Weihnachten – erschien einem unendlich lang zu sein. Wie abstrakt ist dagegen unser Verhältnis zu den Jahreszeiten im späteren Leben geworden. In modernen Berufen – den ganzen Tag im künstlichen Licht, in klimatisierten Räumen – merken wir oft nicht einmal mehr, in welcher Zeit des Jahres wir leben. Das aber macht uns seelisch arm. Wir verlieren den lebendigen Zusammenhang mit dem Leben der Erde.
Einen solchen Zusammenhang auf bewusste Weise wiederzugewinnen, dafür sollen diese Zeilen von Woche zu Woche eine Anregung geben. Sie sind hervorgegangen aus der Beschäftigung mit dem Anthroposophischen Seelenkalender, einer Sammlung von Meditationssprüchen von Rudolf Steiner aus dem Jahr 1912/13. Diese Sprüche sollen in keiner Weise ausgedeutet werden. Es soll ein Motiv, das durch sie angeregt wurde, bewegt werden, als Hinleitung zum Meditationsspruch.
Dabei kommt es weniger auf einen erkenntnismäßigen Zugang an als auf das seelische Mitempfinden des Jahreslaufes, wonach ja die Seele ein Verlangen trägt, »wenn sie sich nur selbst recht versteht«.1
Stuttgart, im November 1996 Dieter Hornemann
■ HINFÜHRUNG ZU DEN WOCHENSPRÜCHEN
OSTERWOCHE
Ostern ist ein Fest der Morgenfrühe.
Die drei Frauen gingen zum Grab, als im Westen der fast noch volle Mond stand und im Osten die Sonne sich gerade zum Aufgehen schickte. Eine Waage ist im Gleichgewicht in ihrer sensibelsten Stellung. So ist die Gleichgewichtslage zwischen Sonne und Mond, den beiden großen Weltpolaritäten, die Voraussetzung für Ostern. Sie tritt ein am Tag der Sonne in der Gleichgewichtslage zwischen Nacht und Tag in der sensiblen Morgenstunde. Was aber geschieht?
Der Leichnam Jesu war in das Grab gelegt worden. Er war bis in die Tiefen des Stoffes vom göttlichen Sonnenwesen Christi durchgeistigt. Er war vom Feuer des Geistes von innen her verbrannt. So wurde er in kürzester Zeit zu Staub. Der Ätherleib aber, der sonst beim Menschen sich nach drei Tagen auflöst, verdichtete sich und nahm die Gestaltungskräfte des irdischen Leibes in sich auf.
Jesus erschien den Jüngern nicht nur als verstorbene Seele. Aus dem Grab erhob sich der vergeistigte Leib, der Vollmacht hat über die physischen Gesetze. So konnte er in den verschiedensten Gestalten erscheinen und wieder entschwinden, konnte essen und konnte sogar berührt werden.
Das hat eine unermessliche Bedeutung für uns Menschen – aber auch für die Erde. Davon wird noch die Rede sein.
Der Wochenspruch Rudolf Steiners trägt die Überschrift Oster-Stimmung.
■ Wenn aus den Weltenweiten
Die Sonne spricht zum Menschensinn
Und Freude aus den Seelentiefen
Dem Licht sich eint im Schauen,
Dann ziehen aus der Selbstheit Hülle
Gedanken in die Raumesfernen
Und binden dumpf
Des Menschen Wesen an des Geistes Sein.
ERSTE APRIL-WOCHE
Die Bedeutung des Ereignisses der Auferstehung für die Erde als großes Wesen soll heute angeschaut werden. Die Erde hat, wie auch der Mensch, eine differenzierte übersinnliche Aura. In ihr leuchten ihre Seelenstimmungen und Lebenszustände in mannigfaltigen Farb- und Lichterscheinungen.
Als nun das durchgeistigte Blut Jesu aus den Wunden floss, teilte sich der Erde etwas mit, was ihre Aura veränderte. Ein Goldton ist hinzugekommen, der den im Kosmos einzigartigen blauen Planeten noch einzigartiger werden lässt. Die Erde ist seit der Auferstehung nicht mehr dieselbe. War doch der Leib Jesu ein Teil ihrer selbst. Er ist von der Sonnenwesenheit Christi verwandelt worden und gibt der Erde einen Zukunftskeim. Die Pflanze bildet im Samen etwas, was zwar äußerlich klein ist, aber doch mehr in sich enthält als die ausgebreiteten Stengel und Blätter. So hat auch die Erde durch die Christustat und ihr Fortwirken etwas in sich, was ihr eine Zukunftsaussicht eröffnet.
Rudolf Steiners Seelenkalender beginnt mit der ersten April-Woche. Liegt Ostern früher oder später, dehnen oder verkürzen wir die folgenden Wochen, so dass wir Ende April, Anfang Mai wieder übereinstimmen.
■ Wenn aus den Weltenweiten
Die Sonne spricht zum Menschensinn
Und Freude aus den Seelentiefen
Dem Licht sich eint im Schauen,
Dann ziehen aus der Selbstheit Hülle
Gedanken in die Raumesfernen
Und binden dumpf
Des Menschen Wesen an des Geistes Sein.
ZWEITE APRIL-WOCHE
Es ist gar nicht leicht, sich lebendig an die frühe Kindheit zurückzuerinnern. Wie war mein Welterleben damals? Schon dass man so klein war, ist von Bedeutung. Denn alles um einen her war gewaltig groß. Ein Garten, in dem man gespielt hat, erscheint in der Erinnerung sehr groß. Sieht man ihn als Erwachsener wieder, so erstaunt man, wie klein er ist.
Aber nicht nur groß waren die Grashalme, die Büsche, die Bäume; alles war auch so unendlich geheimnisvoll. Das Welterleben war noch durchtränkt von Gotteserleben.
Im Märchen von Dornröschen heißt es, das Mädchen stach sich an ihrem 15. Geburtstag im Turmstübchen an der Spindel, worauf es und alle Bewohner des Schlosses in tiefen Schlaf fielen. Erst als der helfende Königssohn von außen die Dornenhecken durchdrang, war die Rettung da.
Im Heranwachsen steigen wir alle ins »Turmstübchen«, ins Verstandesleben im Kopf und fallen für das Gotteserleben mehr und mehr in Schlaf. Bis der Königssohn, der Gottessohn an uns herankommen kann.
Die Winterzeit hat uns in unser Eigenleben geführt. Jetzt sollen wir uns der Welt wieder zuwenden.
■ Ins Äußere des Sinnesalls
Verliert Gedankenmacht ihr Eigensein,
Es finden Geisteswelten
Den Menschensprossen wieder,
Der seinen Keim in ihnen,
Doch seine Seelenfrucht
In sich muss finden.
DRITTE APRIL-WOCHE
Das Wort »eigen« ist durchaus doppelsinnig. Einerseits sagen wir von einem Menschen, den wir bewundern, er habe etwas »Eigenes« zu bieten. Andererseits können wir auch von jemandem sagen: »Der ist etwas eigen.« Dann meinen wir, er sei etwas sonderbar. Das griechische Wort für »eigen«, »idios«, ist sogar zu unserem »Idiot« geworden. Wenn wir also einen anderen oder uns selbst als Idioten bezeichnen, heißt das »ein Eigener«.
Wir können gar nicht anders, als allerhand Eigenheiten im Laufe unseres Lebens zu entwickeln. Sie werden allzu leicht zu Fesseln, zu »Befangenheiten«. Aus ihrem Gefängnis befreien wir uns nur durch Hingabe an das, was wir nicht sind. Karl Rahner sagte: Liebe ist, sich an einen andern ganz wegzuwagen.
Die Schönheiten des aufsteigenden Jahres rufen uns dazu auf, uns von uns selbst wegzuwagen.
■ Es spricht zum Weltenall,
Sich selbst vergessend
Und seines Urstands eingedenk,
Des Menschen wachsend Ich:
In dir, befreiend mich
Aus meiner Eigenheiten Fessel,
Ergründe ich mein echtes Wesen.
VIERTE APRIL-WOCHE
Es gibt brillante Denker, die einem ausgezeichnet etwas darlegen können. Alles ist logisch zwingend. Wir kommen nicht gegen sie an. Aber irgendetwas bleibt unbehaglich. Ihrem Denken fehlt die Wärme.