Bernd Köstering

Goetheruh

Kriminalroman

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GOETHES ERBEN Ganz Weimar fiebert den Feierlichkeiten zur „Kulturhauptstadt Europas“ entgegen. Doch mitten in den Vorbereitungen werden aus dem Goethehaus wertvolle Exponate gestohlen, die in direktem Zusammenhang mit dem Leben des berühmten Dichters stehen. Die einzigen Hinweise sind Goethe-Zitate, die der Täter – einem Rätsel gleich – an Stadtrat Kessler sendet. Hendrik Wilmut, Dozent für Literaturgeschichte an der Universität Frankfurt am Main und ausgewiesener Goethe-Kenner, wird von Kessler gebeten, diese Zitate zu analysieren. Langsam und geduldig tastet sich Wilmut durch die Literatur und die Psyche des Täters. Als er sich fast am Ziel wähnt, muss er erkennen, dass er sich auf gefährliches Terrain begeben hat: Die Frau, die ihm mehr bedeutet als die deutsche Klassik, ist durch sein Verschulden in höchste Gefahr geraten …

 

Bernd Köstering wurde 1954 in Weimar/Thüringen geboren und lebt heute in Offenbach am Main. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und drei Enkelkinder. Die Romane und Kurzgeschichten des Autors leben von seinem feinen Gespür für die Beweggründe seiner Figuren. Gemeinsam mit dem Gmeiner-Verlag entwickelte er das Genre des Literaturkrimis, in dem ein bekanntes Werk der Weltliteratur den jeweiligen Fall auslöst oder auflöst. Kösterings Goethekrimis um den Privatermittler Hendrik Wilmut haben unter Fans inzwischen Kultcharakter. »Goethespur« ist der vierte Band der Reihe. www.literaturkrimi.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Goethespur (2019)

Falkentod (2018, E-Book only)

Mörderisches Oberhessen (2017)

Düker ermittelt in Offenbach (2016)

Falkenspur (2016)

Falkensturz (2014)

Von Bänken und Banken in Frankfurt am Main (2013)

Goethesturm (2012)

Goetheglut (2011)

Goetheruh (2010)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

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Alle Rechte vorbehalten

8. Auflage 2019

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Sven Lang, Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Viola Boxberger / PIXELIO

Karte auf S. 6 wurde gestaltet von: Felix Volpp, www.fevo-design.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3462-4

Widmung

Meinem Vater

1. Die Leiden
des jungen Werther

Bis zu den Ereignissen dieses Sommers hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, die Wahrheit sei eindeutig und unbestechlich. Diese Wahrheit, die seit meiner frühen Kindheit feststand wie in Stein gemeißelt, eine unumstrittene Landmarke des Lebens, immun gegen jegliche schizophrene Angriffe.

Alles begann an einem heißen Julitag im Jahr 1998, als ich mit meinem alten roten Volvo die Reise von Frankfurt am Main nach Osten antrat. Etwa drei Stunden später verließ ich die Autobahn und hielt vor einer roten Ampel. Ich drehte das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen. Stattdessen schlug mir die Mittagshitze entgegen. Eine Klimaanlage wäre jetzt Gold wert gewesen. Ich freute mich auf eine kalte Dusche, doch zuvor stand eine kurze Stadtrundfahrt auf dem Programm. Das hatte ich mir nach der Wiedervereinigung so angewöhnt. Jedes Mal, wenn ich zurückkehrte.

Als die Ampel auf Grün sprang, bog ich ab Richtung Gelmeroda. Ich sah die kleine Verkehrsinsel auf der anderen Seite der Autobahn, auf der zu DDR-Zeiten immer die Volkspolizei gelauert hatte. Noch lange nach der Wende beschlich mich an dieser Stelle ein Gefühl der Unsicherheit.

Hinter Gelmeroda konnte ich rechts durch die Bäume bereits Teile des städtischen Krankenhauskomplexes erkennen, ein paar Minuten später erreichte ich das Ortsschild meiner Stadt. Dieser Augenblick gibt mir jedes Mal innere Ruhe und Zufriedenheit. Warum? Weil dies meine Geburtsstadt ist? Weil ich hier so viele prägende Dinge erlebt habe? Oder einfach nur weil es eine unvergleichliche Stadt ist? Ich weiß es nicht. Aber es ist meine Stadt: mein Weimar.

Nachdem ich den historischen Friedhof erreicht hatte, winkte ich kurz nach links, so, als ob mein Großvater mich noch sehen könnte. Ich fuhr die Berkaer Straße entlang und meine Weimarer Stimmung umfing mich. Geradlinig und beschützend, klare, unverblümte Zeugen jeder Epoche: Goldenes Zeitalter, Silbernes Zeitalter, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Sozialismus und Wendezeit. Weitgehend ohne Bausünden in der Innenstadt, ein von mir hoch geschätzter Vorteil gegenüber den westdeutschen Städten, in denen ich nach dem Verlassen der DDR gelebt hatte.

Ohne anhalten zu müssen, fuhr ich links in die Belvederer Allee hinein. Wenig später öffnete sich der Wielandplatz vor mir. Links an der Ecke gab es immer noch das RTF Radio- und Fernsehgeschäft, das bereits zu meiner Jugendzeit existierte, in der ich regelmäßig die Sommerferien bei meinen Großeltern in Weimar verbrachte. Bei RTF konnte man einen Tuner fürs Westfernsehen kaufen. Wenn man genug Geld hatte – oder Beziehungen. So konnten wir die Fußball-WM 1966 verfolgen, mit dem berühmten Wembley-Tor, Uwe Seeler und allem Drum und Dran.

Ich bog rechts ab in die Ackerwand. Hier wohnten einst die Frau von Stein und Großmutters Putzfrau, beide sind schon längst tot. Ein kurzer Blick auf den Park an der Ilm, und schon ging es Richtung Schloss, auf schwerem Kopfsteinpflaster, fast wie zu Goethes Zeiten. Linkerhand stand das ›Residenz Café‹, im Volksmund ›Café Resi‹ genannt – Jugenderinnerungen an dicke Sahnetorten. Überall erhoben sich Baugerüste, sogar an der Anna-Amalia-Bibliothek und am Residenzschloss. Weimar bereitete sich mit viel Enthusiasmus auf das nächste Jahr vor, um sich 1999 als Kulturhauptstadt Europas zu präsentieren. Ich passierte das Schloss und den Marstall. Kurz vor der Kegelbrücke spürte ich den kühlen Luftzug, der von der Ilm heraufwehte. Ich rollte langsam über die Brücke und atmete tief ein. Gerade als mein Volvo mit dem typischen Dieselgeräusch den kurzen Anstieg zur Jenaer Straße hinaufkroch, sprang die Ampel auf Rot. Ich hatte es nicht eilig. Ich saugte die Stadt in mich auf und genoss ihren vertrauten Geruch.

Als die Ampel Grün zeigte, nahm ich die Jenaer Straße stadteinwärts. Am ehemaligen Gauforum bog ich links ab. In der ›Halle des Volkes‹, einem riesigen Betonklotz, sollten einst 20.000 Menschen einem gewissen Adolf Hitler zugejubelt haben. Bei diesem Gedanken schüttelte ich instinktiv den Kopf.

Einen Moment lang war ich versucht, mir in der ›Brasserie Central‹ am Rollplatz einen Milchkaffee zu gönnen. Aber ich wollte noch einige Vorbereitungen für die nächsten Tage treffen, und deshalb zog es mich zunächst in meine Wohnung in der Hegelstraße. Ich war aus mehreren Gründen nach Weimar gekommen. Zum einen hatte mich mein Cousin Benno eingeladen, an seinem privaten Literaturkreis teilzunehmen, und heute Abend sollte ich den anderen vorgestellt werden. Außerdem hatte er mich gebeten, ihm bei einer dringenden Angelegenheit zu helfen, die er nicht näher erklärt hatte und die mir etwas mysteriös vorkam. Ich wusste lediglich, dass es mit seiner Arbeit zu tun hatte. Er war bei der Stadt Weimar beschäftigt. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen langweiligen Beamtenkram, doch für Cousin Benno tat ich alles. Weiterhin hatte ich von der ›Frankfurter Presse‹ den Auftrag erhalten, eine Buchbesprechung zu schreiben. Solche Rezensionen sind zwar nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber es ging um Goethes Feinde, und als anerkannter Goethe-Spezialist konnte ich das kaum ablehnen, ohne meinen Ruf zu gefährden. Für solche Aufträge nahm ich mir gerne Urlaub vom Universitätsalltag und zog mich aus dem hektischen Frankfurt ins ruhigere Weimar zurück.

Ich passierte zügig die Weimarhalle, folgte der Straße nach links durch den Park, ließ das Schwanseebad rechter Hand liegen und bog einige Minuten später schließlich in die Steuben­straße ein. In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich meldete mich über die Freisprechanlage: »Hier Hendrik Wilmut.«

»Wo bist du?«, wollte Benno wissen.

»Steubenstraße …«

»Wir warten auf dich!«

Ich stieg auf die Bremse und schoss in halsbrecherischer Manier in eine Parklücke. »Wieso wartet ihr auf mich, wann waren wir denn verabredet?«

»Vor 20 Minuten!«

Ich sah auf die Uhr. »Oh, tut mir leid.«

»Macht nichts, ich kenn dich ja.« Seine Wahrheitsliebe war manchmal frappierend. »Nur heute warten drei weitere Leute auf dich«, meinte er betont gelassen.

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wieso, wer denn noch?«

»Das erzähle ich dir, wenn du hier bist.«

»Gut, gib mir zehn Minuten!«

Ich schoss wieder aus der Parklücke heraus, wendete und gab Gas. Wenn etwas für Benno so dringend erschien, dann war es auch wirklich dringend, dann konnte es sich nicht um langweiligen Beamtenkram handeln.

Während ich mich geduldig durch den dichten Verkehr am Goetheplatz quälte, sah ich meinen Cousin in Gedanken vor mir.

Benno Kessler war ein Mann, der sofort jeden Raum einnimmt. Seine imposante Erscheinung mit den schwarzen Haaren, dem dunklen, akkurat geschnittenen Vollbart und dem lebhaften, von einer dünnen Goldrahmenbrille getragenen Blick vermittelte eine starke physische Präsenz. Zusammen mit seiner Fähigkeit zur analytischen Denkweise und seinen Führungseigenschaften ließ ihn das in den Augen vieler Mitbürger als eloquenten Macher erscheinen. Doch kaum einer wusste, dass ihm auch ein sensibler, nachdenklicher Geist innewohnte. Einen Großteil der zum Menschsein notwendigen seelischen Befriedung zog er aus seiner beruflichen Tätigkeit, die er weniger als Arbeit denn als Dienst an der Gemeinschaft verstand. Und aus seinem Engagement für Familie und Freunde. Dieses Verhalten war ein Relikt aus der DDR-Zeit, in der man nicht anders existieren konnte. Ich mochte das sehr. Er wusste das und dies ist Teil einer unausgesprochenen Verbindung zwischen uns.

Bennos Büro lag im Westflügel eines großen Gebäudekomplexes in der Schwanseestraße, aus seinem Fenster hatte man einen wunderschönen Blick über den Weimarhallenpark. Ich kannte den Weg. ›Benno Kessler – Stadtrat für Kultur und Bildung‹ stand an der Tür. Ich ging ins Vorzimmer, seine Sekretärin erwartete mich bereits.

»Hallo, Herr Wilmut, gehen Sie bitte gleich durch, es sind schon alle da.«

Mit einem kurzen Nicken und ohne zu fragen, wer denn alle wären, öffnete ich die Tür. Am Besprechungstisch saßen vier Männer. Außer Benno kannte ich nur einen – und den lediglich aus der Zeitung: Hans Blume, der persönliche Referent des Oberbürgermeisters. Benno erklärte kurz, dass Blume diesen Fall im Auftrag des OB übernommen hatte, und stellte mich vor. Blumes Hand fühlte sich schwammig an. Ich betrachtete ihn interessiert.

Hans Blume war ein blasser, gestresst wirkender Endvierziger, rundes verschwitztes Gesicht, weißes Hemd, Ärmel hochgeschlagen, biedere Krawatte, schwarz mit weißen Punkten.

Die beiden anderen Herren begrüßten mich ebenfalls. Martin Wenzel, eleganter 60-Jähriger im Nadelstreifenanzug, volles grau meliertes Haar, spitze Nase, Leiter des Goethe-National­museums, und Siegfried Dorst, immergebräunter, verlebter Mittfünfziger, Glatze, drahtiger Typ, hessischer Dialekt, Hauptkommissar bei der Kripo Weimar.

Ich war verwirrt.

Der Referent ergriff sofort das Wort: »Herr Wilmut, wir haben Sie auf Wunsch von Herrn Stadtrat Kessler zu dieser Besprechung eingeladen. Ich kann nicht verhehlen, dass ich dagegen war, einen Amateur hinzuzuziehen, aber ich wurde sozusagen … überstimmt.«

Für den Moment war ich sprachlos. Benno wollte noch etwas einwenden, doch Blume überging es einfach.

»Da der Hauptkommissar mit anwesend ist, können Sie sich wahrscheinlich denken, dass es sich um eine Straftat handelt. Wir brauchen äh … bitten Sie um Ihre Hilfe. Ich muss Sie aber darauf hinweisen, dass dies ein ehrenamtlicher Job ist, Sie können sich keine goldene Nase damit verdienen, maximal eine Erwähnung im Stadtarchiv.«

Benno verdrehte die Augen.

Ich sagte nichts.

»Sind Sie dabei?«, fragte Blume.

»Herr Blume …«

»Herr Referent reicht!«

Toller Typ.

»Also, Herr Referent, bevor ich zusage, möchte ich doch gern wissen, unter welcher Rubrik ich ins Stadtarchiv komme, unter Beleidigungen, Mordfälle oder Parteispendenaffären?«

Blume sah Hauptkommissar Dorst auffordernd an.

»Gut, Herr Wilmut, ich gebe Ihnen einen kurzen Abriss der Situation.«

Bevor Dorst weiterreden konnte, stand Blume unvermittelt auf und sagte im Hinausgehen: »Kommen Sie später in mein Büro, Wilmut, und geben Sie mir Bescheid!«

Als er draußen war, sahen sich die vier Männer ungläubig an. Wenzel öffnete das Fenster, Dorst schüttelte den Kopf.

»Entschuldige, Hendrik«, sagte Benno langsam und strich sich durch seinen Bart, »sein Weltbild ist so wie seine Krawatte: schwarz mit einigen weißen Punkten.«

Ich nickte.

»Es geht um das Goethehaus«, begann Hauptkommissar Dorst, »dort werden seit einiger Zeit Ausstellungsstücke gestohlen.«

»Oh nein!«, entfuhr es mir.

»Leider ist es so. Den ersten Diebstahl bemerkte Herr Wenzel im Mai dieses Jahres, den zweiten vor vier Wochen, den dritten gestern. Die Stücke haben keinen hohen Materialwert, für das Goethemuseum sind sie allerdings von großer historischer Bedeutung.« Er ließ das Gesagte einen Moment wirken. »Das Goethehaus ist nur während der Öffnungszeiten zugänglich, sonst ist es durch eine Alarmanlage gesichert. Bisher ist völlig unklar, wie die Stücke nach draußen geschmuggelt werden konnten. Um es offen zu sagen, wir sind ratlos.«

Martin Wenzel ergriff das Wort: »Wir haben statt der verschwundenen Exponate Schilder aufgestellt, mit dem Hinweis, dass diese restauriert werden. Aber so langsam befürchte ich, dass uns das niemand mehr glaubt. Ich musste schon die Presse abwimmeln.«

»Und nun«, schaltete sich auch Benno ein, »drängt die Zeit, weil wir auf das Europäische Kulturjahr zusteuern und bis dahin alle Exponate wieder im Museum sein müssen. Außerdem kommt im September eine UNESCO-Kommission, die besonders das Goethemuseum und Goethes Wohnhaus unter die Lupe nehmen will.«

»UNESCO-Kommission …?«

»Ja, in ein paar Monaten, am 2. Dezember, findet in Japan eine Sitzung des Welterbekomitees statt, auf der entschieden werden soll, ob das sogenannte Ensemble ›Klassisches Weimar‹ ab Januar 1999 in die Liste des Welterbes aufgenommen werden soll. Zusätzlich zum Domizil des Bauhauses, das bereits vor zwei Jahren anerkannt wurde.«

»Im Übrigen befürchten wir, dass weitere Stücke gestohlen werden könnten«, ergänzte Dorst.

Ich ging zum offenen Fenster, um Luft zu holen. Das Goethehaus hatte für mein kulturelles Bewusstsein einen sehr hohen Stellenwert. Ich hatte viel Zeit dort verbracht, mit Studien und Forschungsarbeiten, aber auch mit Träumen und Nachdenken über die Person Goethes und seine Zeit.

In meinem Kopf drehte sich alles. Nur langsam wurde mir die Tragweite der Angelegenheit bewusst. Ich sah in Gedanken schon ein leeres Goethehaus vor mir und empörte Touristen, die uns vorwarfen, die deutsche Klassik nicht geschützt zu haben.

Meine Zunge klebte am Gaumen. Ich sah mich nach etwas Trinkbarem um. »Was, äh … was soll ich denn tun?«, fragte ich umständlich.

»Wir haben eine Sonderkommission eingesetzt«, antwortete der Hauptkommissar, »die Kommission ›JWG‹. Wir brauchen Sie als Berater. Wir … naja, wir können uns nicht so richtig in den Täter hineinversetzen, wissen nichts von seinen Beweggründen, seinen Motiven. Er hat bisher weder eine Lösegeldforderung gestellt noch sonstige Bedingungen genannt, unter denen er bereit wäre, das Diebesgut wieder zurückzugeben. Das Einzige, was wir von ihm haben, sind diese seltsamen Verse …«

Ich wurde sofort hellhörig: »Was für Verse?«

»Tja, Hendrik«, antwortete Benno, »das ist etwas ganz Spezielles. Jeweils einen Tag, nach dem ein Exponat gestohlen wurde, bekam ich eine E-Mail mit merkwürdigen Texten beziehungsweise … Versen oder was auch immer.«

»Wie bitte?«

»Ja, so ist es«, bestätigte Hauptkommissar Dorst, »wir wissen nicht, was die Verse bedeuten. Einer sei von Goethe, sagt Herr Wenzel, er hat aber keine Zeit, sich näher damit zu befassen. Benno …, also Herr Kessler sagt, Sie seien Spezialist für Literaturgeschichte und ein profunder Goethe-Kenner, somit der ideale Mann für uns. Wir brauchen Interpretationen und Zusammenhänge, die uns zum Täter führen. Würden Sie die Texte für uns analysieren?«

Erwartungsvolle Blicke waren auf mich gerichtet.

»Bitte!«, fügte Benno auffordernd, aber höflich hinzu.

Ich dachte einen Moment nach, obwohl mein Entschluss eigentlich schon feststand. »Für mich hört sich das eher so an, als bräuchten Sie ein Täterprofil«, warf ich ein. »Ist das nicht Aufgabe eines Psychologen?«

»Wir brauchen Sie hauptsächlich für die Auswertung der Texte, das Täterprofil erstellt natürlich unser Polizeipsychologe.« Der Hauptkommissar schien bereits alles durchdacht zu haben.

Ich sah die drei Männer der Reihe nach an. »Gut, ich werde Ihnen helfen«, sagte ich mit fester Stimme, »für Weimar und für Herrn Kessler.«

Benno lächelte.

Dorst war sichtlich erleichtert. »Danke, Herr Wilmut.«

Ich setzte mich und Martin Wenzel reichte mir ein handbeschriebenes Blatt.

»Hier finden Sie die Auflistung der drei verschwundenen Exponate mit dem Raum, aus dem sie gestohlen wurden, und den E-Mail-Kommentaren des Täters. Ich kann Ihnen gerne noch ein paar Details geben.«

»Ja bitte, ich brauche vor allem Informationen über die Zeit, aus der die Stücke stammen, und deren Beziehung zu Goethe.«

Die Sekretärin brachte Kaffee und ein paar Kuchenstücke – in Thüringen geht nichts ohne Kuchen. Ich ging aufmerksam die Liste durch.

 

1.

Bucht von Palermo und Monte Pellegrino

Kleines Esszimmer

›Wie ich hereingekommen, ich kann’s nicht sagen‹

»Das Erste ist eine Zeichnung von Christoph Heinrich Kniep«, erklärte Wenzel, als diktiere er einem imaginären Schreiber, »er begleitete Goethe teilweise auf seiner ersten Italienreise und erhielt von ihm den Auftrag, seine Sizilien-Eindrücke in Bildern festzuhalten. Dargestellt wird die Bucht von Palermo und der Monte Pellegrino, Entstehungsdatum 1788.«

 

2.

Goethes Gartenhaus von der Rückseite

Christianes Wohnzimmer

›Sag ich’s euch, geliebte Bäume‹

»Das Zweite ist eine Tuschezeichnung von Goethe selbst, die sein Gartenhaus von der Rückseite darstellt. Er verwendete hier zur Kolorierung zusätzlich blaue Wasserfarbe. Die Zeichnung entstand 1779/80. Das Dritte …«, Wenzel hustete nervös, »das Dritte ist ein besonders bekanntes Exponat – der Fußschemel aus Goethes Sterbezimmer.«

Ungläubig sah ich ihn an und schüttelte den Kopf.

 

3.

Fußschemel vor Sterbestuhl

Goethes Schlafzimmer

›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche hier wird’s Ereignis;

Das Unbeschreibliche hier ist’s getan.‹

»Alles ist gesichert«, beteuerte Martin Wenzel und hob entschuldigend die Arme, »in Goethes Arbeits- und Sterbezimmer sogar mit Lichtschranken.«

Ich las nochmals aufmerksam die Tabelle und ließ meine Gedanken durch das Goethehaus schweifen. Wie konnte es nur möglich sein, einen Fußschemel dort hinauszuschmuggeln?

»Sagen dir die Verse etwas?«, fragte Benno ungeduldig.

»Der erste Text im Moment noch nicht«, erklärte ich, »da muss ich erst nachschlagen. Da die beiden anderen von Goethe stammen, gehe ich allerdings davon aus, dass auch dieser von ihm geschrieben wurde. Das Gedicht ›Sag ichs euch, geliebte Bäume‹ stammt ungefähr aus der Zeit, aus der auch die Zeichnung von Goethe stammt, ich prüfe das später genau. Zu dieser Zeit lebte er im Gartenhaus im Ilmpark, noch nicht am Frauenplan. Der dritte Text stammt aus ›Faust II‹ und passt insofern gut zu dem verschwundenen Fußschemel.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Dorst wissen.

»Nun, der Fußschemel ist ein Relikt, das in engem Zusammenhang mit Goethes Tod steht. Seine Füße lagen darauf, als er starb. Eines der zentralen Themen von ›Faust II‹ ist das Sterben, außerdem hat Goethe bis kurz vor seinem Tod daran gearbeitet, und veröffentlicht wurde das Drama erst posthum.«

Benno machte eine nachdenkliche Miene. »Hast du irgendeine Idee, was der Täter uns damit sagen will?«

»Spontan nicht, aber ich werde mich heute Abend in Ruhe damit beschäftigen, morgen wissen wir hoffentlich mehr.«

»Sehr gut!«

»Übrigens, woher kamen denn diese E-Mails?«, erkundigte ich mich.

»Gute Frage«, meinte Dorst, »die Kripo ist leider erst nach dem dritten Diebstahl, also gestern, informiert worden …«, kurzer, strafender Blick zu Wenzel, »… während dieser Zeit haben wir festgestellt, dass die Mails aus einem Internetcafé in der Steubenstraße gesendet wurden. Wir konnten feststellen, von welchem Rechner die jeweilige Nachricht abgeschickt wurde, aber natürlich kann sich keiner mehr daran erinnern, wer zur fraglichen Zeit an diesem Rechner gesessen hat. Der Täter schreibt immer abends zwischen 19 und 21 Uhr, wenn es dort nur so vor jungen Leuten wimmelt.«

Ich machte mir einige Notizen. »Hm, also keine Chance, über diesen Weg etwas herauszufinden?«

»Nein, nichts zu machen«, antwortete Siegfried Dorst. »Gesendet wurden die E-Mails übrigens alle von … Moment bitte«, er blätterte in seinen Papieren, »ja hier, von ›jwg2@fun.de‹. Das Kürzel jwg soll wahrscheinlich für Johann Wolfgang Goethe stehen, die Zahl Zwei in diesem Zusammenhang ist unklar. Den Absendernamen kann man sich selbst aussuchen, viele von den dort verkehrenden Jugendlichen haben eine feste E-Mail-Adresse, so auch der Täter. Es muss allerdings keine Personenidentifikation hinterlegt werden. Man kann sich grundsätzlich auch nur über den Provider ›fun.de‹ einloggen, diesbezüglich besteht ein Vertrag mit dem Internetcafé, damit kommen wir also nicht weiter.«

»Benno, woher hatte der wohl deine E-Mail-Adresse?«, fragte ich. Benno lächelte. Ich konnte seine Gedanken fast lesen. Und er hatte recht: Das Jagdfieber hatte mich bereits gepackt.

»Er schickt die Mails auf meine dienstliche Adresse hier im Amt«, antwortete er, »die steht auf unserer Website.«

»Oh, sehr bürgerfreundlich!«

»Ja, ja …«

»Immerhin ist es der einzige Kommunikationsweg mit dem Täter, den wir derzeit haben«, bemerkte der Hauptkommissar, »leider nur in eine Richtung.«

Martin Wenzel meldete sich: »Herr Stadtrat, wir müssen unbedingt etwas tun, damit nicht wieder etwas gestohlen wird!«

»Das stimmt«, pflichtete Benno ihm bei, »wir müssen etwas tun. Dazu ist allerdings ein Ortstermin notwendig. Wir sehen uns das Goethemuseum an, besonders die Räume, aus denen etwas entwendet wurde, und entscheiden dann vor Ort zusammen, was zu tun ist, einverstanden?«

Alle stimmten zu.

»Gut«, sagte Benno, stand auf und sah mich an. »Hast du morgen Vormittag Zeit?«

»Klar«, erwiderte ich, ohne zu zögern.

»Dann treffen wir uns um 10 Uhr am Frauenplan. Und bitte keinerlei Informationen an die Öffentlichkeit!«

Ich atmete tief durch und versuchte mir vorzustellen, was in den nächsten Tagen auf mich zukommen würde. Aber es gelang mir nicht.

Vom Auto aus rief ich Blume an.

Nach dem dritten Klingeln hob er ab: »Referent Hans Blume!«

»Hallo, Blume, hier Wilmut, ich bin dabei!« Dann legte ich wieder auf. Benno hätte mich jetzt bestimmt strafend angesehen und seinen bärtigen Kopf missbilligend geschüttelt. Ich stehe doch nicht auf seiner Gehaltsliste, hätte ich ihm entgegnet. Ich konnte mir Bennos breites Grinsen lebhaft vorstellen.

*

 

Die Gegenwart war ihm zuwider. Er liebte die Vergangenheit. Und er liebte seine Stadt. Die Vergangenheit war hier allgegenwärtig mit all den berühmten Literaten, Musikern und Philosophen. In Gedanken wiederholte er manchmal die Inschrift der kleinen Anzeigetafeln unter den Straßenschildern, zum Beispiel: ›Franz Liszt, Komponist, 1811–1886‹. Er prahlte gern vor sich selbst mit seinem Wissen. Das gab ihm Sicherheit. Die anderen konnten das nicht verstehen. So behielt er sein Wissen für sich, nur der Großvater, der hatte ihn verstanden, und sogar mehr als das: Er hatte ihn respektiert.

Die großen Söhne seiner Stadt bewegten ihn, die Berühmten, die Geistreichen. Am liebsten hätte er sich selbst in diese sagenumwobene Kette von kunstdurchtränkten Männern eingereiht. Sein eigener Name auf einem Straßenschild, dieser Gedanke sorgte für eine Gänsehaut auf seinen dünnen Unterarmen. Er bewunderte vor allem die Wortgewandten, die Schriftgewaltigen. Goethe war sein absoluter Favorit, sein Stern am Himmel der Vergangenheit.

Er hatte alle seine Werke gelesen. Goethe konnte mit seinen Worten bewegen, ja sogar mit seinen Worten liebkosen. Doch er konnte auch mit Worten Menschen zum Äußersten treiben.

*

Ich musste wie immer weit entfernt von meiner Wohnung parken. Ein Wunder, dass die Rollen meines Koffers die zehnminütige Tortur über das holprige Pflaster bis zum südlichen Ende der Hegelstraße überstanden. Meine gemütliche Dachwohnung hatte alles, was ein eingefleischter Junggeselle und ein schreibender Mensch braucht. Das große Arbeitszimmer war mein ganzer Stolz. Besonders das riesige Dachfenster mit dem wunderbaren Blick ins Grüne. Ich hätte zwar lieber in der Humboldtstraße gewohnt oder im Silberblick, direkt neben dem ehemaligen Haus meiner Großeltern, doch so war es auch gut, fast wie zu Hause. Und in Hannas Nähe.

Ich packte meinen Koffer aus und schaltete den Laptop ein, um meine E-Mails abzurufen. Während der Aktualisierung nahm ich eine kurze Dusche. Ich entschied mich für ein kurzärmliges hellblaues Hemd mit dezentem Muster, eine schwarze Jeans und helle Sommerschuhe. Für den Fall, dass wir später noch draußen auf dem Rollplatz saßen, musste ein dünner Pull­over herhalten.

Dann prüfte ich meinen Posteingang. Eine Mitteilung vom Feuilleton-Redakteur der ›Frankfurter Presse‹, mit der Bitte, die Buchrezension in zwei Wochen vorzulegen. Daran hatte ich bei der Vereinbarung des morgigen Ortstermins im Goethehaus gar nicht mehr gedacht. Doch bevor ich mir dazu weitere Gedanken machen konnte, fiel mein Blick auf eine andere E-Mail: Nachricht von Hanna.

›Lieber Hendrik, bin heute noch in Eisenach unterwegs, wie wäre es morgen Abend mit einer Pizza bei Pepe? Deine Hanna.‹

Ich hatte schon seit einiger Zeit versucht, wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen, doch Hanna war sehr zurückhaltend. Vorgestern hatte ich ihr eine Mail geschickt, lediglich mit der Information, dass ich ab heute in Weimar sei. Ohne Fragen. Ohne Druck. Deine. Dieses Wort war etwas Besonderes, das wusste ich.

Der Rest war unwichtig. Auf dem Anrufbeantworter war ein kurzer Gruß meiner Mutter, sie wünschte mir eine schöne Zeit in Weimar. Wie Mütter so sind. Vor ein paar Jahren hätte ich das missbilligt und als Einmischung betrachtet, inzwischen freute ich mich darüber. Weimar lag auch ihr sehr am Herzen, sie war hier aufgewachsen. Ich antwortete nicht, das war nicht nötig – wir wussten inzwischen miteinander umzugehen. Nachdem der Rechner heruntergefahren war, verließ ich die Wohnung.

Als ich unten auf die Hegelstraße trat, war es nach wie vor heiß, keine Spur von Abkühlung. Der Literaturkreis traf sich um 20 Uhr in der ›Brasserie Central‹ und ich wollte zuvor noch Benno und Sophie besuchen. Ohne Hast schlenderte ich durch das Viertel. Nach zehn Minuten hatte ich die Lisztstraße erreicht.

Bennos Haus war eines dieser alten Mietshäuser aus der Zeit der Jahrhundertwende: drei bis vier Stockwerke, hohe Räume, Versuche eines aristokratischen Äußeren. Zu Zeiten des real existierenden Sozialismus waren diese Häuser schwer zu halten gewesen, niedrige Mieten und hohe Reparaturkosten prägten den Alltag. Inzwischen erstrahlten viele wieder in bescheidenem Glanz, so auch Bennos Haus. Nach der Wende war es an die Familie Kessler zurückgegeben worden, ohne Proteste – keiner wollte den alten Kasten haben. Cousin Benno hatte es von Onkel Leo und Tante Gesa übereignet bekommen, mit allen Vor- und Nachteilen. Er hatte bereits viel Geld, Zeit und Arbeit investiert. So etwas lag ihm: Projekte mit hohen Anforderungen, Aktivität, Handwerksarbeit, ein hoher Lebenstonus. Dafür sah das Haus jetzt fast wieder aus wie vor dem Zweiten Weltkrieg – meinte jedenfalls Onkel Leo.

Benno und Sophie saßen gerade beim Abendbrot.

»Hallo, Hendrik«, rief Sophie sogleich, »willst du mit uns essen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, lief sie in die Küche.

»Ich dachte, wir essen im Café bei Thomas!«, wunderte ich mich.

»Nein«, brummte Benno, »während des Literaturtreffens wird nicht gegessen, das lenkt nur ab. Die körperlichen müssen hinter den geistigen Freuden zurückstehen. Trinken ist allerdings erlaubt.« Er grinste mir zu.

Nach drei Leberwurstbroten mit Senf und Gurke fühlte ich mich besser.

»Hast du dir ein Diskussionsthema für heute Abend überlegt?«, fragte Benno neugierig.

»Ja, natürlich!«, antwortete ich.

»Und?«

»Erfährst du später, wie alle anderen.«

Sophie lächelte.

»Mach aber keinen Mist!«, warnte Benno.

»Na, du kennst mich doch.«

»Eben.«

Sophie hatte sich als Fahrerin angeboten, weil sie Bereitschaftsdienst hatte und nichts trinken durfte. Wie fast immer war sie guter Laune und erzählte von ihrem Tag.

Sophie Kessler arbeitete als chirurgische Oberärztin im Weimarer Krankenhaus. Eine attraktive Frau mit schwarzen, kinnlangen Haaren, die eine ungemeine Wärme und Fröhlichkeit ausstrahlte. Manchmal erinnerte sie mich an die Schauspielerin Barbara Rütting, die sich selbst oft als ›Trainerin fürs Lachen und Weinen‹ bezeichnet hatte. Dieses Prädikat passte wunderbar zu Sophie.

Sie parkte direkt auf dem Rollplatz. Wir waren die ersten in der Brasserie, Benno wollte das so, weil er den Literaturkreis ins Leben gerufen hatte und sozusagen der Vorsitzende war. Sozusagen – denn das stand nirgends geschrieben, nein, es war auch niemals ausgesprochen worden.

Thomas stand hinter dem Tresen und begrüßte uns wie immer sehr herzlich. Langsam trafen die anderen Mitglieder ein. Der Erste war Professor Karl Bernstedt, der Einzige, den ich schon kannte.

»Hallo, Bernstedt«, begrüßte ich ihn freudig. Er wurde von seinen Freunden immer so genannt, verbunden mit einem gewissen Ausdruck an Respekt, denn Bernstedt war ein kluger und erfahrener Mann, ein gemütlicher Endfünfziger mit einem großen Schnauzbart und einem deutlichen Bauchansatz, einen ganzen Kopf kleiner als ich. Er lehrte an der Weimarer Bauhaus-Universität. Vor zwei Jahren hatte er die Gelegenheit ergriffen und sich im Bereich Altbausanierung selbstständig gemacht. Zudem war er äußerst belesen, in allen Bereichen, nicht so ein Schmalspurgelehrter wie ich. Wir hatten uns bei Onkel Leo kennengelernt.

Dann kam Felix Gensing. Felix war ein untersetzter mittelgroßer Mann mit dunklen, wirren Haaren und einem Gesicht, dem man ein bewegtes Leben ansah. Wie mir Benno später berichtete, war er ein verarmter Künstler, der mit seiner Familie auf dem Lindenberg im Osten Weimars wohnte und sich mit Parkbänken aus Beton über Wasser hielt, denen er versuchte, eine künstlerische Seele einzuhauchen. Er war verheiratet mit der esoterisch orientierten Anna und hatte einen 19-jährigen Sohn. Ich musste zugeben, dass mir Felix auf den ersten Blick nicht sonderlich sympathisch war.

Kurz darauf rauschte Cindy herein. »Hi, sorry, ich bin so spät, musste noch etwas telefonieren!«

Die Wortwahl und der Akzent ließen keinen Zweifel: Amerikanerin. Während meiner Zeit am Goetheinstitut in Boston hatte ich etwas Erfahrung mit der amerikanischen Lebensweise gesammelt.

»Hi, Cindy, I’m Hendrik, how’re you doing?«

Sie sah mich erstaunt an. »Hallo, Hendrik, ganz schön, dass du da bist!«

Ich war gerührt. Sie setzte sich neben mich. Während die Getränke bestellt wurden, erfuhr ich, dass sie aus Texas stammte und als Expertin für Musikgeschichte an der Musikhochschule Weimar arbeitete. Cindy war einer der Menschen, die während des Sprechens ständig in Bewegung waren. Sie gestikulierte unentwegt, zeigte immer wieder auf einen imaginären, fernen Punkt, drehte ihren Kopf dorthin, anschließend sofort wieder zu mir zurück, und ihre kurzen blonden Haaren wippten dabei aufgeregt hin und her. Ich mochte sie sofort.

Es war drückend schwül im Raum und nur die weit geöffneten Glastüren sorgten für etwas frische Luft und machten es einigermaßen erträglich. Nachdem Thomas für Cindy einen Eistee gebracht hatte, richtete Benno das Wort an die Runde: »Liebe Freunde, wie bereits besprochen, wollen wir heute ein neues Mitglied in unserem Kreis willkommen heißen. Es ist mein Cousin Hendrik Wilmut, den ich hiermit herzlich begrüße!«

Ich nickte kurz. Hoffentlich dachten die anderen nicht, dass ich mir als Cousin einen Vorteil verschaffen wollte, und hoffentlich … Ach Quatsch, nichts als dumme Gedanken eines Hessen in Thüringen.

»Ich möchte ihn kurz vorstellen. Hendrik ist Weimarer, er wurde hier geboren.« Das war ein kluger Schachzug, die Gesichter entspannten sich.

»Im Sophienhaus!«, ergänzte ich und alle lachten. Außer Felix Gensing. Das Sophienhaus war damals ein Krankenhaus. Einst eine Weimarer Institution, ist es heute lediglich ein Altersheim.

»Hendrik hat in Frankfurt am Main Literaturwissenschaften studiert und war danach einige Jahre für das Goetheinstitut in Boston tätig. Später ging er zurück an die Universität Frankfurt und arbeitet dort nun als Dozent für Literaturgeschichte. Er interessierte sich schon immer für die Weimarer Klassik, hat mehrere Bücher veröffentlicht und gilt als Kenner des Lebens und Werks von Johann Wolfgang von Goethe.«

Die Aufmerksamkeit stieg.

»Er hat eine Zweitwohnung in Weimar und hält sich mehrere Wochen im Jahr hier auf. Er ist 43 Jahre alt, sieht aber aus wie – 42 …«, ein leichtes Grinsen umspielte Bennos Mund, »und er ist ledig.« Das Grinsen wurde breiter. »Im Alter von vier Jahren verließ er mit seinen Eltern Weimar und lebt seitdem in Hessen. Hab ich noch was vergessen?« Er sah mich an.

»Ich spiele gern Tennis!«

»Ach ja, das ist natürlich sehr wichtig.«

Sophie fügte an, dass mich doch alle duzen sollten, das sei ja so üblich im Kulturkreis. Die anderen hatten nichts einzuwenden, woraufhin alle mir die Hand gaben und zusammen darauf anstießen. Benno fuhr fort: »Wie üblich bringt jedes Mal einer von uns ein Diskussionsthema mit. Heute kommt es natürlich von Hendrik!«

Er sah mich auffordernd an. Die Einzelheiten hatte er mir vorher erklärt. Es ging nur um ein Thema, zu dem die Diskussion angestoßen werden sollte, eventuell ein paar kleine Zusatzinformationen, mehr nicht. Der Rest ergab sich aus der Gruppe. Ich muss gestehen, dass ich doch etwas aufgeregt war, obwohl ich bereits viele Referate und Vorlesungen gehalten hatte, aber dies war etwas Besonderes.

»Ja«, begann ich zögernd, »ich hoffe, das Thema interessiert euch. Ich möchte gerne zur Diskussion stellen, ob Goethe mit seinem Werther nicht einige Selbstmorde verursacht hat und somit für verlorene Menschenleben verantwortlich ist.«

Keine Reaktion. Stille. Verunsicherung.

»Äh … ist das in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig nach.

Anscheinend nicht. Keiner sah mich an. Schließlich ergriff Bernstedt das Wort. »Entschuldige, Hendrik, aber dieses Thema ist so oft besprochen worden, dass wir es kaum mehr hören können, auch wir haben es hier schon einige Male diskutiert. Und es gibt dazu dermaßen viel Sekundärliteratur, dass man ganz Weimar damit pflastern könnte.«

»Ja, ja, genau!«, rief Felix Gensing laut.

Ich war sprachlos. Offensichtlich hatte ich den Anspruch dieser Leute unterschätzt.

Benno kraulte sich den Bart. »Vielleicht sollten wir es einfach noch einmal versuchen, ich meine, vielleicht hat Hendrik ja ein paar neue Aspekte?«

Ich nickte heftig, ohne ihn zu unterbrechen.

»Und wenn sich herausstellt, dass wir bereits alles diskutiert haben, dann wissen wir zumindest, dass wir genauso gut sind wie ein Literaturexperte.«

Nicht schlecht. Jetzt wusste ich auch, warum Benno Politiker geworden war. Nach einigem Gemurre und Gebrumme stimmte man zu.

»Wisst ihr eigentlich, dass Goethe später eine zweite Version des Werther veröffentlichte, die die besagten Vorwürfe erneut schürte?«, fragte ich. So schnell ließ ich nicht locker.

Die meisten sahen mich erstaunt an, nur Cindy schien davon gehört zu haben. »Well, ja«, begann sie, »mit dieser zweiten Version ging er aber weg von dieser individuellen Lösung, die der Kerl, der Werther, für sein Problem suchte. Er konzentrierte sich mehr auf den gesellschaftspolitischen – wie sagt man – Aspekt?«

»Aspekt, ja, richtig!«, antwortete ich verblüfft. Selten hatte ich eine solch gute Argumentation zu diesem Thema gehört – Respekt! Damit war der Bann gebrochen, die Diskussion in Gang.

»Jedenfalls«, meinte Bernstedt, »ist es erwiesen, dass viele Menschen nach der Veröffentlichung des Werther die sehr … wie soll ich sagen … schicksalhafte Art der Liebesbeziehung übernahmen, Werthers blau-gelbe Kleidung kopierten und sich in einigen Fällen sogar das Leben nahmen.«

»Soviel ich weiß, hat der Werther ja erst Goethes Weltruhm begründet«, warf Sophie ein, »vielleicht hatte er ja gar nicht mit solch einer weitreichenden Wirkung gerechnet?«

»Das glaube ich auch nicht. Ich meine, dass er das richtig geplant hatte«, ereiferte sich Felix Gensing.

»Aber vielleicht hat er es zumindest billigend in Kauf genommen!«, antwortete ich.

»Wie kommst du darauf?«, wollte Benno wissen. Alle starrten mich an.

»Na ja, ganz sicher bin ich nicht, wir können den großen Meister ja nicht mehr fragen und es gibt keine eindeutigen Nachweise. Jedenfalls sagte Goethe viel später zu seinem Freund Eckermann: ›Ich habe das Buch‹ – gemeint war der Werther – ›nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu tun. Es sind lauter Brandraketen!‹.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja.«

»Und die Brandraketen sind …?«

»Eine Menge Dinge, die die damalige Gesellschaft erregt haben. Er erhob die Liebe zu Lotte in eine religiöse Dimension, benutzte Worte wie göttlich oder Engel, was für die Kirche damals an Blasphemie grenzte. Er griff den Adel an, der in Regeln und Konventionen erstarrte und für Emotionen und Individualismus keinen Raum ließ. Und er rüttelte das Bürgertum auf, sich aus seiner Resignation zu erheben. Drei gefährliche Brandraketen.«

»Stimmt.«

»Und er erhob den Suizid gewissermaßen … in einen mystischen Status«, ergänzte Benno.

Bernstedt bewegte abwägend den Kopf hin und her.

Sophie strich sich ihre dunklen Haare hinter das Ohr. »Vielleicht musste er aber zu solch drastischen Beispielen greifen, um überhaupt Gehör zu finden und etwas zu bewirken.«

»Interessante Theorie«, antwortete ich nachdenklich, »auf jeden Fall war es Goethes Ziel, nach Vorbild des römischen Dichters Catull, die Individualität gegen die Anpassung an zeitgenössische Strömungen zu verteidigen. Dazu benutzte er eine geänderte Sprache mit einer sogenannten radikalen Emotionalität, die auch zur Überwindung von gesellschaftlichen Zwängen und Schablonen dienen sollte. Und die Verdammung des Suizids war und ist auch heute immer noch eine gesellschaftliche Schablone.«

»Das hat sich jetzt ein bisschen angehört wie ein Teil deiner Vorlesung«, meinte Benno lakonisch.

»Oh, tut mir leid.« Ich hatte das Gefühl, etwas rot zu werden.

»Ist ja nicht schlimm«, beschwichtigte er, »aber ich weiß nicht, ob solche Zusammenhänge nicht eher Interpretationskonstrukte von euch Literaturforschern sind.«

Cindy sah ihn an. »In diesem Fall glaube ich nicht, man kann nämlich lesen, dass unser Goethe, kurz bevor er den Werther schrieb, die Schriften von diesem Catull studiert hat. Und der Kerl hatte ähnliche Theorien.«

Ich nickte anerkennend.

»Gibt es eigentlich Werke von anderen Dichtern, in denen der Selbstmord als Lösung von persönlichen Problemen propagiert wurde?«, fragte Bernstedt.

»Ja, es gab durchaus welche«, antwortete ich, »zum Beispiel ›Emilia Galotti‹ von Lessing. Dort ging es um eine Frau, die den Suizid als einzige moralische Rettung betrachtete. Auch sonst taucht dieses Thema als Ehrenrettungstat in vielen anderen Kulturen auf, insbesondere als Harakiri in Japan. Insofern ist das Thema keine Erfindung von Goethe. Es passte aber irgendwie in die Stimmung der damaligen Zeit.«

»›Emilia Galotti‹ soll einen erheblichen Einfluss auf den Werther gehabt haben, oder?«

»Ja«, antwortete Sophie, »angeblich soll ein Exemplar auf dem Pult des realen Werther-Vorbilds … wie hieß der noch?«

»Carl Wilhelm Jerusalem«, half ich ihr aus.

»Genau, auf seinem Schreibtisch soll es gelegen haben, als er sich umbrachte. Behauptete zumindest der, der ihn fand.«

»Außerdem ist es besser, sich selbst umzubringen als irgendeinen anderen Menschen«, sagte Felix Gensing.

»Was meinst du damit?«

»Na, an einer Stelle erzählt Werther doch von einem Bauernburschen, dem dasselbe widerfuhr wie ihm, dieser Liebeskummer und so. Der aber hat in seiner Not seinen Rivalen getötet!«

»Guter Punkt«, entgegnete ich beeindruckt. Thomas kam mit neuen Getränken. Wir diskutierten noch eine ganze Weile über mögliche Gründe für einen Selbstmord, ob dieser einen Einfluss auf die Hinterbliebenen ausübte und inwiefern Krankheiten einen Selbstmord induzieren konnten.

»Könnt ihr euch vorstellen«, fragte ich, »dass ein Mensch wirklich solche seelischen Qualen erleidet, dass diese wie Symptome einer körperlichen Krankheit wirken und er daran stirbt?«

»Wieso fragst du das?«

»Weil Goethe Werther diese Begründung für seinen Suizid in den Mund legt, ich glaube, in einem Gespräch mit Albert.«

»Ja, ich denke, das ist möglich.« Sophie machte ein ernstes Gesicht. »Ihr müsst nur mal auf unsere Intensivstation kommen und sehen, wie schädlich sich fehlender seelischer Beistand auf die Genesung auswirkt.«

»Ja, schon«, entgegnete Bernstedt, »aber seelischer Kummer als alleinige Todesursache?«

»Das halte ich durchaus für möglich. Es gibt extreme Fälle von psychosomatischen Erkrankungen. Die Gürtelrose ist ein gutes Beispiel. Die hat weitgehend psychische Ursachen und führt zu starken Schmerzen.«

»Au ja, das hatte ich auch mal, tat höllisch weh!«, meinte Felix Gensing und man konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, wie stark die Schmerzen gewesen sein mussten.

»Ich denke, niemand kann einen Menschen dafür verantwortlich machen, dass er krank ist«, sagte Bernstedt langsam. Alle waren damit einverstanden.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Sophie etwas skeptisch.

»Na ja, wenn Selbstmord auf einer Krankheit beruht oder zumindest beruhen kann, dann sollte man den Selbstmörder nicht verurteilen und somit auch nicht Goethe!«

Ich hatte das Gefühl, dies sei ein schöner Endpunkt unserer Diskussion. Benno schien das Gleiche zu empfinden.

»Gut«, sagte er ein wenig feierlich, »ich danke euch sehr für die lebhafte Diskussion. Und ich danke Hendrik für seine interessanten Beiträge. Es hat viel Spaß gemacht.«

Ich freute mich über dieses Lob.

Benno fuhr sanft, aber bestimmt fort: »Zum Abschluss halte ich also fest, dass Goethe den Suizid von Werther als Metapher benutzt hat, um die Emanzipation des Individualismus und des Gefühls gegenüber der Konvention zu unterstützen.«

Wahr oder nicht wahr – jedenfalls gefiel mir diese Formulierung. Wir hoben die Gläser und stießen an. Es wurde still an unserem Tisch. Draußen war es dunkel geworden, wir waren die letzten Gäste, nur Thomas stand noch hinter seinem Tresen und hörte uns zu.

In diesem Moment ahnte ich nicht, welch wichtige Rolle der Inhalt unserer Diskussion in den nächsten drei Wochen für mich spielen sollte.