Nagel & Kimche E-Book
Milena Moser
Das wahre Leben
Roman
Nagel & Kimche
© 2013 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
ISBN 978-3-312-00587-1
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Umschlagmotiv: Spiegelbild, © Gabriele Latzke, Euskirchen
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Die Mädchen standen im Krieger. Stämmige Beine, Knie gebeugt, Arme hochgereckt, zitternde Hände, grimmige Mienen.
«Noch einmal», sagte Nevada. «Einatmen: ein-, zwei, drei – und ausatmen: aus-, zwei, drei.»
Mit beiden Händen trieb sie den Rollstuhl zwischen den Yogamatten hindurch, drückte da ein Knie tiefer, zog hier eine Hand höher. Nevada dachte an ihre erste Stunde mit diesen Mädchen zurück. Sie hatte nicht gewagt, sie anzufassen. Drei Wochen später hatte das tägliche Üben sie einander nähergebracht. Der Saal war überhitzt, Schweißgeruch hing in der Luft.
Sie wusste, dass sie heute eine bessere Yogalehrerin war als vor dem Ausbruch ihrer Krankheit. Wenn sie nicht müde war, wenn sich die Schmerzen an den Rand ihres Bewusstseins zurückgezogen hatten. Die Krankheit hatte sie gelehrt, dass es um die Wirkung einer Übung geht, um ihren Inhalt und nicht um die Form. Diese Wirkung konnte auf viele Arten erzielt werden. Statt sich auf den Kopf zu stellen, konnte man sich auch einfach im Rollstuhl nach vorne beugen und den Kopf über die Knie hängen lassen.
Früher hatte sie ihren Anspruch, den Körper zu beherrschen, auf ihre Schüler übertragen. Sie hatte ihnen vorgemacht, dass die Ausführung einer schwierigen Asana eine Leistung war, die sie auszeichnete. Eine Leistung, die belohnt würde. Sie hatte das Unmögliche von ihnen verlangt. Diese innere Stimme, die sie antrieb, solange sie denken konnte, und der sie nie genügte, war verstummt. Die Krankheit hatte sie zum Schweigen gebracht.
Der Stuhl war schmal und wendig. Ihre erste Stunde hatte sie noch auf Krücken gegeben. Damals war sie kaum aufgestanden. Sie war den Mädchen nicht nähergekommen. Der Stuhl war eine echte Hilfe, gestand Nevada sich ein, wenn auch ungern.
Sie rollte zwischen den schwitzenden Kriegerinnen hindurch. «Bildungsferne Umgebung», hatte die Schulpflegerin gesagt. «Kulturell bedingte Verhaltensauffälligkeiten», die Sozialarbeiterin.
«Wir müssen die Jugendlichen erwischen, bevor sie ganz aussteigen», sagte der Schulleiter, der sich diesen Versuch ausgedacht hatte und einer ihrer langjährigen Yogaschüler war. «Solange sie noch in der Schule sind. Bevor sie durch alle Maschen fallen.»
Was heißt bildungsfern?, wollte Nevada fragen. Was heißt verhaltensauffällig? Nevada war am Zürichberg aufgewachsen, sie hatte das Gymnasium besucht, nicht lange zwar, aber immerhin. Trotzdem wusste sie, wie es sich anfühlte, durch die Maschen zu fallen. Durch die Maschen fiel man in einem unbeobachteten Moment. Vielleicht war das ihre eigentliche Aufgabe: diese Mädchen im Blick zu behalten.
Rebecca, siebzehn, magersüchtig, die dünnen Arme bedeckt von Schnittwunden, kurze Striche in ordentlichen Reihen, die älteren schon weiß verblasst, die neueren rot leuchtend. Rebecca hielt die Stellung perfekt, obwohl sie kaum noch Muskeln hatte. Oder Fleisch. Als Einzige schwitzte sie nicht, sie lächelte beifallheischend, als Nevada an ihr vorbeikam. Nevada vermied es, sie zu berühren, sie fürchtete, die spröden Knochen würden unter ihren Händen brechen.
Deniz, Zahnspange, rosa Plastikschmetterlinge in den Haaren, vierzehn Jahre alt, im zweiten oder dritten Monat schwanger. Nevada legte eine Hand auf ihren Schenkel und drückte ihn in den rechten Winkel. Tief im weichen Fleisch zitterte ein Muskel.
«Und noch einmal: ein-, zwei, drei …»
Die Mädchen stöhnten. Arme schwankten in der Luft wie Schilf. Gebeugte Knie streckten sich unwillkürlich wieder, Oberschenkel zitterten. Elma, in der hintersten Reihe, Schultern aus Stahl. Bei der geringsten Berührung würde sie ausschlagen wie ein Pferd. Elma keuchte.
«Durch die Nase atmen», murmelte Nevada. «Langsam. Ein-, zwei, drei, vier – und aus-, zwei, drei, vier …» Sie wollte die Mädchen im Alltag begleiten, sie wollte ihnen zeigen, wie sie während einer Prüfung weiteratmen, wie sie gerade in der Schulbank sitzen können. Wie sie ihr Essen Bissen für Bissen genießen, wie sie einer Drohung ausweichen.
«Fuck», stöhnte es aus der hintersten Reihe. Das war Suleika, das neue Mädchen, rotgesichtig und verschwitzt in ihrem schwarzen, zeltartigen Überwurf. Unmöglich zu sagen, ob ihre Knie gebeugt waren. Nur schon die Arme über den Kopf zu heben war bei ihrem Gewicht eine Herausforderung. Die Arme hatten neben ihrem Gesicht zu wenig Platz. Ihrem schönen Gesicht. Was für ein Klischee. Das Mädchen schaute sie direkt an, abschätzend, na, was sagst du dazu?
Nevada sagte nichts. Sie hatte noch nie ein so dickes Mädchen gesehen. Sie wusste nicht genau, was sie mit ihm anfangen konnte.
Zwischen Elma und Suleika stand klein und zierlich, aber unverrückbar, Stefanie, die Vernünftige, Stefanie, die Vermittlerin. Nevada wünschte sich, sie würde sich entspannen, sie würde ihr die Verantwortung für diese zusammengewürfelte Gruppe überlassen. Stefanies Blick huschte rastlos von einem Mädchen zum anderen.
«Drishti zu den Fingerspitzen», sagte Nevada. «Lenkt euren Blick nach oben!» Widerwillig gehorchte Stefanie und konzentrierte sich wenigstens einen Augenblick lang nur auf sich selbst.
«Virabhadrasana, die Stellung des tapferen Kriegers Virabhadra, der aus dem Schmerz geboren ist, aus dem Kummer des Gottes Vishnu über den Tod seiner Frau, aus seinen vor Trauer ausgerauften Haaren auferstanden …» Nevada wusste nicht genau, was sie da erzählte, der Singsang sollte die Mädchen ablenken, sie noch etwas länger aushalten lassen, noch einen Atemzug oder zwei. Die meisten von ihnen kannten diese Art von Schmerz, der einen die Haare ausraufen, den Kopf gegen die Wand schlagen lässt – den eigenen oder einen anderen. Die Yogastellungen sollten ihnen Werkzeug sein, mit diesem Schmerz umzugehen, mit starken Gefühlen aller Art. So stand es wenigstens in dem Projektbeschrieb, den die Schulleitung entworfen hatte.
Gewaltprävention bei gefährdeten Jugendlichen. Ein ähnliches Programm wurde seit einigen Jahren in einer anderen Siedlung erfolgreich durchgeführt. Doch dieses Programm richtete sich zum ersten Mal ausschließlich an junge Mädchen.
«Mit Gewalt unter Mädchen haben wir wenig Erfahrung», hatte die Schulpflegerin zugegeben. «Es war ein Fehler, Mädchen ausschließlich als Opfer zu sehen. Gewalt unter Mädchen ist versteckter, selten wird eine offen verprügelt oder abgestochen …»
«Abgestochen?»
«Willkommen in der Realität!»
Seit Beginn des Sommerprogramms war ein Mädchen ausgestiegen und ein anderes in der Notaufnahme gelandet. Es war fraglich, ob das Projekt fortgesetzt wurde.
«Shit, Sie! Die Fette fällt um!»
Suleika fiel aus der Stellung, krachte zu Boden, zuckte, mit Schaum vor dem Mund. Nevada starrte. Was hatte sie getan?
«Fuck, Frau, tun Sie was!»
Om Chandraka Namah
Sie setzte sich im Bett auf. Es war dunkel. Sie wusste nicht,
was sie geweckt hatte. Draußen schien der Mond.
Er schob sich in das schwarze Viereck ihres Fensters,
dick und gelb und voll. Das Licht, das in der Nacht scheint,
dachte sie. Ich grüße den Mond, das Licht,
das im tiefsten Dunkel der Nacht scheint.