Im Gedenken an Ruth,
einen natürlichen Schutzfaktor im Leben von Kindern

Vorwort

Vor etwa 40 Jahren zog es mich magisch in die noch im Aufblühen begriffene Resilienzwissenschaft, als ich an der University of Minnesota mit meiner Promotion im Fach Klinische Psychologie begann. Eine Arbeitsgruppe führte dort eine Untersuchung an aus diversen Gründen gefährdeten Kindern durch und war auf erstaunliche Abweichungen gestoßen: Obwohl alle Kinder Widrigkeiten erlebt hatten oder aufgrund ihrer Herkunft hochgradigen Risiken ausgesetzt waren, gab es einige, denen es gut oder sogar sehr gut erging. Neugierig fragten wir uns nach den Wurzeln dieser beobachteten Resilienz. Wie konnte es sein, dass manche es schaffen, während andere sich abquälen? Könnte man jungen gefährdeten Menschen zu mehr Resilienz verhelfen, wenn man Genaueres darüber in Erfahrung brächte?

Drei Forschungswellen löste die Suche nach Erklärungen für Resilienz in der menschlichen Entwicklung aus, wobei sich die ersten Beschreibungen der Anpassungsunterschiede unter riskanten oder belastenden Bedingungen schließlich zu Studien ausweiteten, die sich mit den möglichen Ursachen für die Abweichungen und für die positiven Ergebnisse befassten. Das ultimative Ziel war jedoch, Einfluss auf resilienzfördernde Maßnahmen zu nehmen. Mit dem neuen Jahrhundert und den neuen Technologien – wie etwa bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns oder Gentests und Statistikmethoden zur Modellierung komplexer Systeme – wurde die vierte Phase der Resilienzwissenschaft eingeläutet, die sich vor allem durch die systemebenenübergreifende Integration auszeichnet, mit der sich die positive Anpassung in widrigen Kontexten prognostizieren bzw. fördern lässt.

2001 fasste ich meine diesbezüglichen Schlussfolgerungen aus 25 Arbeitsjahren – angefangen mit meiner Studienzeit – in einem Artikel zusammen: „Ordinary Magic: Resilience Processes in Development“. Da er von all meinen Veröffentlichungen am häufigsten zitiert wurde, wollte ich ihn weiter ausführen. Ich begann mit der Planung dieses Buches, doch meine fortlaufenden Forschungsarbeiten, Unterrichtsverpflichtungen und administrativen Aufgaben verzögerten das Ganze – bis die Integration der Ideen und Erkenntnisse über Resilienz bei Kindern und Jugendlichen schließlich keinen Aufschub mehr duldete. Ich hatte drei große Wellen der Resilienzwissenschaft miterlebt und wusste, eine neue rollte heran. Sicher würde sich die Wissenschaft weiter entwickeln und noch weiter verbessern. Doch mit der vierten Welle war die Zeit reif für eine Zusammenfassung aller bis dato gemachten Fortschritte – und zwar in Buchlänge.

Mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Abweichungen bei den Reaktionen komplexer Systeme auf Herausforderungen erfährt die Resilienzwissenschaft derzeit international auf vielen verschiedenen Gebieten einen regelrechten Boom. Terroranschläge, Naturkatastrophen, Klimawandel, Pandemien, Wirtschaftskrisen und Kriege – die Welt ist voller Desaster, was Menschen dazu motiviert, sich auf vielen Interventions- und Gesetzesebenen für den Schutz des Lebens einzusetzen, das globale Wohlbefinden zu fördern und von Widrigkeiten bedrohten Bevölkerungsgruppen zu mehr Resilienz zu verhelfen. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass die Resilienz von Kindern mit der der Eltern, der Kommunen, der Regierungen und der Ökonomie verzahnt ist.

Herangehensweise des Buches

Als Beobachterin und Mitakteurin der ersten Stunde möchte ich beschreiben, was die Erforschung der Resilienz von Kindern und Jugendlichen bis heute gebracht hat. Es geht um die Ursprünge und Fortschritte der entwicklungsbasierten Resilienzwissenschaft, ihre Forschungsmodelle und Strategien, die exemplarischen Arbeiten und Erkenntnisse sowie die daraus abgeleiteten Implikationen für die Praxis und die zukünftige Forschung. Grundsatzkonzepte werden sorgfältig definiert und durch empirische Beispiele verdeutlicht. Im Vordergrund stehen drei Forschungsbereiche: erstens Längsschnittstudien der kindlichen Anpassung im Zusammenhang mit Stress und Widrigkeit, zweitens die Untersuchung sozioökonomisch benachteiligter Kinder und drittens Studien von Massentraumata im Zusammenhang mit Kriegen und Katastrophen.

Viele verschiedene Studien an vielen unterschiedlichen Orten zu diversen Arten von Widrigkeiten deuten alle auf ein und dieselbe Gruppe fundamentaler adaptiver Systeme hin, die zum großen Teil für die gelungene Bewältigung von bzw. der Regeneration nach Widrigkeiten verantwortlich ist. Eine von mir zusammengestellte „Shortlist“ dieser Systeme liefert wichtige Hinweise auf die essenziellen Schutzfaktoren im Leben junger Menschen, aus denen sich präventive Interventionen ableiten lassen.

Ich konzentriere mich zwar hauptsächlich auf die individuelle Resilienz auf der Verhaltensebene, doch da schon während der ersten Forschungswelle auch Studien zu anderen Systemebenen einen wichtigen Beitrag leisteten, befasse ich mich außerdem mit dem rasant fortschreitenden Gebiet der Neurobiologie sowie mit der Erforschung von drei für das Leben und die Resilienz von Kindern wichtigen Kontexten der Kindesentwicklung: Familie, Schule und Kultur. Da inzwischen viel mehr global geforscht wird als früher und sich die Aufmerksamkeit auf den kulturellen Kontext und die Resilienz in wirtschaftlich unterentwickelnden Gebieten verlagert, habe ich, so weit möglich, internationale Perspektiven und Forschungsbeispiele mit einbezogen.

Die Resilienzwissenschaft hat mit ihrem Fokus auf Stärken und Ziele die Modelle und Interventionsstrategien zahlreicher Praxisbereiche verändert. Wie solch ein resilienzbasierter Handlungsrahmen aussehen könnte, erfahren Sie im vorletzten Kapitel. Das Buch schließt mit einer Erläuterung der andauernden Kontroversen und einem Ausblick auf die Richtung, die die Resilienzforschung meiner Meinung nach ansteuert.

Da ich immer schon der Ansicht war, dass man Komplexität auch mit einfacher Sprache beschreiben kann, habe ich einen Stil gewählt, der für verschiedene Leser und Leserinnen verständlich ist und gleichzeitig den wissenschaftlichen Ideen und provokanten Erkenntnissen gerecht wird. Ich habe stringente Fallbeispiele mit einbezogen, auch solche aus nicht westlichen Kulturen und Ländern wie Sierra Leone und Kambodscha. Diese individuellen Lebensläufe dienen einem doppelten Zweck: Sie illustrieren wichtige Punkte der Resilienzliteratur und machen das Phänomen der Resilienz greifbarer. Im Anhang finden Sie ein Glossar, eine Liste mit Abkürzungen sowie nach Themen geordnete Literaturempfehlungen.

Zielgruppe

Das Buch richtet sich sowohl an Wissenschaftler, die sich bereits mit dem Thema Resilienz beschäftigen, als auch an jene, die damit beginnen möchten, also auch an Studierende und Menschen, die etwas dafür tun wollen, damit Kinder, die aufgrund von Traumata oder widrigen Kindheitserlebnissen gefährdet sind, ein besseres Leben haben. Die Förderung der Resilienz ist ein multidisziplinäres Unterfangen: In der Psychologie, Psychiatrie, Sozialarbeit, Pädagogik, Pädiatrie, Gesundheitsversorgung, Volkswirtschaft, humanitären Hilfe und Katastrophenplanung Tätige werden hier nützliche Anregungen und Hintergrundinformationen für ihre Arbeit finden.

Danksagung

Mein Weg in die Resilienzforschung wurde über die Jahre von vielen Menschen und Erlebnissen geprägt. Dass ich im Armeeumfeld aufgewachsen bin, hat zweifellos mein persönliches Interesse für Anpassungsfähigkeit, Mobilität und die Beeinträchtigung von Kindern durch Krieg beeinflusst. Als Studentin hatte ich das Glück, nacheinander eine Reihe von großartigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen als Mentoren zu haben. Am Smith College schrieb ich meine erste größere Semesterarbeit für ein Psychologieseminar bei Professor Elsa Siipola. Nach dem College empfahl diese mich an David Shakow, und so kam es, dass ich drei Jahre lang als dessen Forschungsassistentin am National Institute of Health (NIH) arbeitete. Der renommierte Schizophrenieforscher, der damals bereits 73 und meines Wissens der erste emeritierte Wissenschaftler des NIH war, gehörte zu den Gründervätern der modernen klinischen Psychologie und inspirierte mich, auf diesem Gebiet zu promovieren. Zu seinen häufigen Besuchern gehörte auch Norman Garmezy, der ebenfalls jahrelang zum Thema Schizophrenie geforscht hatte, sich später jedoch dem Ursprung psychischer Erkrankungen in der Kindheit zuwandte. Mit seiner ansteckenden Forschungsleidenschaft erzählte Garmezy mir von seiner neuen Arbeit über Risikokinder, die trotzdem gut zurechtkamen, seine „stressresistenten Kinder“, wie er zu sagen pflegte. Ich biss an. Viele Jahre während und nach meiner Promotion war seine enthusiastische Unterstützung von unschätzbarem Wert – für mein Denken und meine Ausdauer in der Erforschung der Resilienz. Über Garmezy lernte ich weitere Pioniere in der Psychologie und Psychiatrie kennen, die die im Entstehen begriffene Risiko- und Resilienzwissenschaft prägten und von denen ich viel gelernt habe, vor allem Michael Rutter, Arnold Sameroff und Emmy Werner.

An der University of Minnesota profitierte ich von hervorragenden Lehrern wie Irving Gottesman, Alan Sroufe und Auke Tellegen und einer Gruppe bemerkenswerter Doktoranden. Zu den Studierenden in Garmezys Team gehörten meine Langzeitmitarbeiterinnen Margaret O’Dougherty Wright und Patricia Morison. In den folgenden Jahrzehnten war es mein Kommilitone und frühreifer Mentor Dante Cicchetti, der mich und viele andere in Bezug auf Resilienz und Entwicklungspsychopathologie beeinflusste.

Als ich einen Block weiter ans Institute of Child Development zog und selbst unterrichtete, lernte ich weiter, sowohl von meinen Kollegen und Kolleginnen als auch von meinen Studierenden. Wie alle Mentorinnen sicher wissen, ist diese Beziehung ja ein dynamischer Austausch, aus dem wir meist mehr Erkenntnisse gewinnen als unsere Mentees. Diese haben durch ihre Forschungsarbeiten über Risiko und Resilienz, auf die ich überall in diesem Buch hinweise, Großartiges geleistet und gleichzeitig mein Denken geschärft. Was ich über Entwicklungstheorien weiß, habe ich mir größtenteils von meinen genialen und resoluten Kollegen und Kolleginnen an der Uni abgeschaut.

Frosso Motti-Stefanidi und Joy Osofsky und viele andere Kolleginnen aus den USA und anderen Ländern haben meine Ansichten über Resilienz bereichert. Dankbar bin ich außerdem für den erhellenden Austausch mit Jack Block, Tom Boyce, Emory Cowen, Ron Dahl, Glenace Edwall, Glen Elder, Vivian Faden, Xiaojia Ge, Lance Gunderson, Stuart Hauser, Mavis Hetherington, Elizabeth Hinz, Rich Lerner, Jeff Long, Pat Longstaff, Suniya Luthar, Michael Maddaus, Danny Pine, Rainer Silbereisen und Joe White. Dante Cicchetti, Catherine Panter-Brick und Michael Rutter sowie meine Lektorinnen beim Verlag The Guilford Press, Rochelle Serwator, Kristal Hawkins und C. Deborah Laughton, steuerten einfühlsame Kommentare bei, die dem Buch sehr zugute kamen. Bei der Fertigstellung des Buches war mir Zoe Jacobson eine begeisterte und scharfsinnige Lektorin und Assistentin.

Die in diesem Buch beschriebene Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne den großzügigen Einsatz und das Vertrauen vieler Mitwirkender, Lehrer und weiterer Mitarbeiter an Schulen und anderen kommunalen Institutionen, die ihre Zeit opferten, damit andere etwas über Resilienz erfahren können. Des Weiteren danke ich denjenigen, die meine und andere Forschungsprojekte, die in diesem Buch erläutert werden, finanziert haben, besonders den Unterstützern der Längsschnittdatensammlung. Danken möchte ich vor allem auch den Organisationen, die die hier vorgestellten Arbeiten unterstützt haben: der William T. Grant Foundation, dem National Institute of Mental Health, der National Science Foundation, dem National Institute of Child Health and Human Development, dem Center for Urban and Regional Affairs, dem Institute of Education Sciences, der Jacobs Foundation, der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation sowie der University of Minnesota. Selbstverständlich sind die in diesem Buch vertretenen Meinungen ausschließlich meine eigenen und geben nicht unbedingt die der Sponsoren oder anderen Forscher wieder.

Ich widme diesen Band dem Andenken an meine Mutter Ruth, die mir und vielen anderen bewies, dass ein erwachsener Mensch, der an einen glaubt und daran, dass man in den schlimmsten Momenten am besten lacht, Wunder wirkt. Sie, mein Vater Charlie und eine kleine Truppe findiger Verwandter lehrten mich, wie viel Menschen, die einen beschützen, vermögen. Und zu guter Letzt möchte ich vor allem meinem Mann Steve und unseren Töchtern Carrie und Madeline für ihre Unterstützung danken, die sie mir während all der Jahre meines Forschens und Schreibens gewährt haben und die schließlich zu diesem Buch führte.

2. Resilienzmodelle

Um zu sehen, wie Resilienz unter natürlichen Gegebenheiten auftritt und wie man sie in Interventionsstudien mobilisieren kann, braucht man Forschungsmodelle, Methoden und Strategien. Jede Herangehensweise lässt sich in eine von zwei klar voneinander abgegrenzten Gruppen oder als Mischform klassifizieren und beinhaltet immer eine Vielzahl analytischer Modelle (Masten 2001). Bei personenfokussierten Studien werden Personen mit einer vermutlich resilienten Lebensgeschichte identifiziert und auf Indizien für Ressourcen oder Schutzprozesse untersucht, die eine Erklärung für ihre Resilienz liefern könnten. Dieser Ansatz umfasst Einzel- oder aggregierte Fallstudien von passiv beobachteter Resilienz, Untersuchungen von einzelnen Menschen und ihren Veränderungen über einen längeren Zeitraum sowie die Erforschung von Resilienz erzeugenden Interventionen für Menschen mit einem Risiko in Bezug auf schwere Anpassungsprobleme.

In variablenfokussierten Studien untersucht man die in variablen Gruppen auftretenden Muster empirisch, testet sie statistisch und verknüpft die gemessenen Attribute der Personen, ihrer Beziehungen und ihres Umfelds mit deren Erfahrungen. Auch hier ist das Ziel, herauszufinden, was ausschlaggebend für Resilienz ist und wie sie funktioniert. Die mit diesem Ansatz getesteten Modelle korrelieren die Gefahren mit spezifischen Ergebnissen und berücksichtigen dabei potenziell einflussreiche Attribute oder Prozesse im Menschen, in seinen Beziehungen, Ressourcen oder Interaktionen mit der Umwelt, die als Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse infrage kommen. Seit man neuerdings zur Untersuchung der Gemeinsamkeiten bei langfristig auftretenden Verhaltensmustern hoch entwickelte Statistikinstrumente verwendet, gibt es auch Mischformen, die Eigenschaften der personen- und variablenfokussierten Methoden miteinander kombinieren.

Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile (Luthar 2006, Masten 2001). Personenfokussierte Studien liefern aussagekräftige und fesselnde Fallbeispiele und erfassen die Resilienz in ihrer Ganzheitlichkeit. Sie folgen der vernünftigen Sichtweise, dass als resilient gilt, wer sich im Gesamten auf vielfältige Weise anpasst, aber nicht unbedingt in sämtlichen Bereichen auch erfolgreich ist. Demnach würde jemand, der ein Trauma überlebt hat und in der Schule oder im Beruf Erfolg hat, aber Familienangehörige misshandelt, nicht als resilient bezeichnet werden. Personenfokussierte Ansätze respektieren außerdem die empirische Evidenz, dass Hauptmerkmale der Resilienz oder damit assoziierte Schutzfaktoren häufig gemeinsam, aber, wie es scheint, nicht zufällig auftreten. Das lässt vermuten, dass hier vielschichtige Anpassungssysteme am Werk sind, wo das Ganze größer als die Summe seiner Einzelteile bzw. untrennbar mit seinen Komponenten oder Prozessen verbunden ist.

Will man spezifische Prozesse oder Schutzfaktoren auf bestimmte Aspekte des adaptiven Funktionierens hin testen, sind variablenfokussierte Strategien besser geeignet. Da diese mit schon lang etablierten und leistungsfähigen multivariaten Techniken arbeiten, hat man sie bis vor Kurzem für statistische Tests von Resilienzmodellen bevorzugt. Nun haben Fortschritte in der personenfokussierten Forschung und deren Instrumenten zu neuen, spannenden Methoden geführt, die die Komplexität menschlichen Verhaltens im Kontext erfassen. Sie beachten nicht nur die Ganzheitlichkeit des Menschen im Lauf der Zeit, sondern ermöglichen auch eine feinmaschigere Analyse, was wann und für wen einen Unterschied ausmacht. Dafür werden in diesen Methoden die auf individueller Unterschiedlichkeit basierenden und statistisch aussagekräftigen Informationen des variablenfokussierten Ansatzes mit berücksichtigt (Bergman & Magnusson 1997, Nagin 1999).

2.1 Personenfokussierte Resilienzmodelle

2.1.1 Der Einzelfall

In der Geschichte der Resilienzwissenschaft wird oft berichtet, dass die Motivation zur Erforschung dieses Phänomens durch die Lebensgeschichten junger Menschen ausgelöst wurde, denen es gelungen war, große Widrigkeiten zu bewältigen. Die ersten Wissenschaftler, die Kinder mit einem Risiko (in Bezug auf Fehlanpassung oder psychische Probleme aufgrund von Widrigkeiten oder Nachteilen) untersuchten und mehr erfahren wollten, waren meist Psychologen und Psychiater. Zu ihnen gehörte auch Norman Garmezy (1982), der in seinem Artikel „The Case for the Single Case“ den heuristischen Wert von Einzelfallstudien erläuterte.

Einzelfallstudien zur Resilienz sind meist Biografien oder Autobiografien von Menschen, die tatsächlich eine außerordentliche Vielfalt an Widrigkeiten beschreiben, aber auch Erfolge – minuziöse Chronologien, die zeigen, wie reichhaltig und vielschichtig das Leben ist. Wie Sie an den folgenden Beispielen sehen, verlaufen resiliente Lebenswege selten geradlinig oder einfach. In der leuchtenden Prosa ihrer autobiografischen Serie, die mit Ich weiß, daß der gefangene Vogel singt beginnt, schildert Maya Angelou (1983) das komplexe Auf und Ab ihres Lebens. Sie berichtet, wie sie als Afroamerikanerin in den USA aufwuchs und was sie alles ertragen musste: die Trennung von den Eltern, Vergewaltigung und Armut. Eine von Entbehrungen und Widrigkeiten gezeichnete Kindheit hat auch Oprah Winfrey überstanden, eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der amerikanischen Unterhaltungsbranche. JoAn Criddle (1998) berichtet in ihrem nach einem Slogan der Khmer Rouge benannten Buch To Destroy You Is No Loss von dem fünfjährigen Überlebenskampf eines jungen Mädchens namens Thida Butt Mam und deren Familie, die nach der Eroberung von Phnom Penh nach Thailand flüchteten. Antwone Fishers Autobiografie Finding Fish – Vorlage für einen mehrfach ausgezeichneten Film – erzählt die bewegende Vergangenheit eines Mannes, der seine Kindheit in Heimen und bei Pflegeeltern verbrachte, missbraucht wurde und wiederholt Verluste erlitt, bis er schließlich zur Marine ging. Dort traf er auf einen Psychiater, mit dessen Hilfe er seinem Leben eine neue Richtung geben konnte (Fisher & Rivas 2001). Der Film Homeless to Harvard zeigt die Geschichte von Liz Murray, Tochter drogenabhängiger Eltern, die mit 15 Waise wurde, völlig mittellos war, ein Harvard-Stipendium der New York Times gewann und nach ihrem Studienabschluss im Jahre 2010 die Autobiografie Breaking Night veröffentlichte (Murray 2011). Elizabeth Smart wurde entführt und neun Jahre in meist notdürftigen Unterkünften gefangen gehalten, immer wieder angekettet und vergewaltigt. Sie litt Hunger und lebte in ständiger Angst, bis sie endlich gerettet wurde. Zehn Jahre später berichtet sie über dieses Trauma und die anschließende Wiedervereinigung mit ihrer Familie, die Umgewöhnung an das Leben zu Hause und den Prozess ihrer Entführer (Smart & Stewart 2013). Heute ist sie verheiratet und Präsidentin einer Stiftung, die sich um Kinder kümmert, die Opfer eines Verbrechens wurden.

Mein Mentor Norman Garmezy hielt solche Fälle für sehr wertvoll, weil sie der Veranschaulichung von Resilienz dienten und neue Forschungsideen anregten. In seinen Vorlesungen sprach er gerne über resiliente Menschen, von denen einige berühmt, die meisten jedoch unbekannt waren. Eine seiner Lieblingsgeschichten hatte er in einem Lokalblatt aus dem Jahre 1978 entdeckt. Ein elfjähriges Mädchen – ein Fan der fiktiven Detektivin Nancy Drew – war entführt und im Kofferraum eines Autos eingesperrt worden. Doch wie ihre Heldin bewahrte sie in dieser scheinbar ausweglosen Situation die Ruhe und schaffte es, sich zu befreien, indem sie ein Rücklicht auseinandernahm (Garmezy 1982). Gerne erwähnte Garmezy auch eine historische Berühmtheit, deren Vater ihre Mutter getötet und die von ihrer Halbschwester im Tower von London gefangen gehalten wurde. Diese Frau wurde später zur Königin gekrönt und hieß Elisabeth I.

In einer seiner Schriften nimmt Garmezy (1985) Bezug auf einen Beitrag, den Manfred Bleuler – Sohn des Mitbegründers der Psychiatrie, Eugen Bleuler – für einen Band über die ersten Risikostudien (Watt, Anthony, Wynne & Rolf 1984) verfasst hatte und der vom „paradoxen Fall“ der Verena Maurer handelt. Diese hatte eine schwierige Kindheit und Jugend gehabt, weil ihr Vater alkoholabhängig und ihre Mutter schizophren war und sie ihre jüngeren Geschwister so gut wie allein versorgen musste. Bleuler blieb in Kontakt mit ihr und erlebte, wie aus ihr eine gesunde und glückliche Ehefrau und Mutter wurde. Seinem Eindruck nach verfügte sie über keine besonderen Begabungen und war zu Aufgaben berufen, die ihr gut gelangen, Spaß machten und am Herzen lagen.

2003 las ich im Alumni-Magazin der University of Minnesota einen Artikel über die Lebensgeschichte von Michael Maddaus (Broderick 2003). Er war in einer chaotischen, von Alkoholismus und Gewalt geprägten Familie aufgewachsen, als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten und dann aber ein erfolgreicher Chirurg geworden. Dr. Maddaus repräsentiert den klassischen Fall des „Spätzünders“, der am Übergang zum Erwachsenenalter – also in einer Phase, in der sich bei entgleisten jungen Menschen Resilienz abzeichnen könnte (Masten, Obradović & Burt 2006) – doch noch die Kurve kriegt. An der Schwelle zum Erwachsenenalter, wenn das Gehirn und dessen Funktionen entsprechend ausgereift sind, sind viele Menschen motiviert, zukunftsorientiert und planungsfähig. Zeitgleich stützt die Gesellschaft oft das positive Wachstum durch Angebote wie höhere Bildung, Wehrdienst oder Lehrstellen sowie die gesetzliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben (Masten, Obradović et al. 2006; Masten et al. 2004).

Mit der Entwicklung des Gehirns wird man auch fähig zur Selbstreflexion. Dies entspricht den Berichten vieler Spätzünder, die mit 18, 19 Jahren zu der Einsicht gelangen, dass sie ihr Leben ändern sollten. So auch Maddaus. Er ging zum Militär, machte dort vom Gesetz zur Wiedereingliederung von Soldaten ins Berufsleben Gebrauch und ließ sich ehrenvoll entlassen, um wieder zur Schule zu gehen. Seine Mentoren rieten ihm zum Medizinstudium. Doch der Weg vom kriminellen Jugendlichen zum Arzt verlief weder glatt noch gradlinig. Der Wehrdienst sei nur ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, sagt er. Dem folgten weitere, aber auch Probleme und Rückschläge. So hatte er nicht lange nach der Entlassung aus dem Militär einen Autounfall wegen Trunkenheit am Steuer. Als er auf der Intensivstation aufwachte, beschloss er, das Ruder wieder herumzureißen.

Maddaus holpriger Lebensweg ist eine spannende Resilienzgeschichte, die er gerne mit jungen Menschen teilt, etwa mit Teenagern, die riskante Wege gehen, oder mit Assistenzärzten in der Chirurgie. Seine Geschichte ist auch Thema einer Folge der populärwissenschaftlichen Fernsehserie Nova, die 2010 unter dem Titel This Emotional Life auf dem US-amerikanischen TV-Sender PBS lief.

Vor Kurzem führte Mikes Weg wieder einmal über größere Stolpersteine. Als ich mit ihm sprach, wurde uns beiden klar, dass seine Resilienz bei allem Auf und Ab immer da ist, aber schwankt. Er ist eben in mancher Hinsicht verletzbar, was wohl auf seine Kindheit zurückgeht. Wie man an seinem Lebenslauf sehen kann, bedeutet Resilienz weder Unverwundbarkeit noch Reibungslosigkeit. Daher erzählt er jungen Menschen nicht nur über Erfolge und Triumphe, sondern auch über Fehler und Kämpfe. Als er kürzlich in einem meiner Grundstudiumsseminare einen Vortrag über die Höhen und Tiefen seines Werdegangs hielt, waren die Studierenden fasziniert von seiner Ehrlichkeit. Als ich sie bat, über die Schutzfaktoren zu schreiben, auf denen seine Resilienz gründete, nannten sie Intelligenz, Kontaktfreudigkeit, Entschlossenheit, Mentoren, Chancen und Optimismus.

Man sollte einmal überlegen, was die Betroffenen davon haben, wenn sie „Geschichten über Resilienz erzählen“, schreiben, malen, Filme drehen oder anregende Vorträge vor jungem Publikum halten. Es könnte eine Form der Transformation oder Therapie sein, durch die man traumatische Erfahrungen einigermaßen in den Griff beziehungsweise unter Kontrolle bekommt.

In JoAn Criddles (1998) Biografie über die Frau, die die Brutalitäten der Khmer Rouge überlebte, erreicht Thida Butt Mam im Teenageralter einen Punkt, an dem sich ihr Leben von der Verzweiflung zur Hoffnung wendet. Als sie und ihre Freundinnen erfahren, dass eine von ihnen in ein Arbeitslager verschleppt und dort zu Tode vergewaltigt worden ist, haben sie furchtbare Angst, dass ihnen dasselbe passieren könnte. Sie schwören einander, sich lieber umzubringen, als Opfer zu werden, und tragen von nun an immer Gift bei sich. Thida Butt Mam glaubt sich dem Untergang nahe und verfällt in eine Depression: „Ich fühlte mich in meinem Inneren wie abgestorben und ertappte mich dabei, wie ich mehrmals täglich nach dem Fläschchen tastete“ (S. 156). Doch hat sie eine Art Erleuchtung. Sie stellt fest, dass die brutalen Soldaten nicht die ganze Welt unter Kontrolle haben. Die folgende Passage soll dies veranschaulichen (NB: Der Begriff Angka Loeu bezieht sich auf die Vorherrschaft der Khmer Rouge).

„Dann, eines Morgens auf meinem Weg zur Reisplantage, blickte ich, genau in dem Moment, als die Sonne über den Feldern aufging, unversehens hoch. Die reine Schönheit der schwer reifen Ähren, deren Silhouette sich gegen den prächtigen orangefarbenen Himmel abzeichnete, nahm mir den Atem. Ein wuchtiger Büffel trottete schwerfällig durch diese Szene. Da war mir zumute, als hätte das Leben einen durchgehenden Zusammenhang, von früher bis heute – ein Augenblick, der mich Geduld und Beharrlichkeit lehrte. Die ganze Natur bestätigte, dass es Dinge gab, über die Angka Loeu keine Macht hatte. Weder über den Sonnenaufgang noch über die Wolke, weder über den Wind noch über den Bambus hatte Angka Macht, und auch nicht über mich. Angka Loeu war nicht allmächtig. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass das Leben noch immer irgendwie lebenswert war.“

(S. 156–157; mit Genehmigung der Autorin, JoAn D. Criddle)

Der Holocaustüberlebende Viktor E. Frankl (2008) beschreibt in seinem Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen einen Moment, in dem er und andere Häftlinge im Konzentrationslager einen ungebrochenen Lebenswillen und eine starke Dankbarkeit für die Schönheit der Natur verspüren:

„Oder es kam einmal dazu, dass eines Abends, als wir todmüde von der Arbeit, die Suppenschüssel in der Hand, in den Baracken auf dem Erdboden schon hingestreckt lagen, plötzlich ein Kamerad hereinstürzte, um uns aufzufordern, hinauszueilen auf den Appellplatz, trotz aller Müdigkeit und trotz der Kälte draußen, nur um uns den Anblick eines Sonnenuntergangs nicht entgehen zu lassen.

Und wenn wir dann draußen die düster glühenden Wolken im Westen sahen und den ganzen Horizont belebt von den vielgestaltigen und stets sich wandelnden Wolken mit ihren phantastischen Formen und überirdischen Farben von Stahlblau bis zum blutig glühenden Rot und darunter kontrastierend, die öden grauen Erdhütten des Lagers und den sumpfigen Appellplatz, in dessen Pfützen noch sich die Glut des Himmels spiegelte, dann fragte der eine den anderen, nach Minuten ergriffenen Schweigens: ‚Wie schön könnte die Welt doch sein!‘“(S. 69).1

Im Gegensatz zur Literatur enthalten wissenschaftliche Zeitschriften bisher nur selten Fallstudien, wie beispielsweise die von „Sara“ (Masten & O’Connor 1989). Sara (ein Pseudonym) wurde im Alter von 30 Monaten mit einer Gedeihstörung ins Krankenhaus eingeliefert (Größe, Gewicht und Kopfumfang lagen unter der 2. Perzentile). Es wurden eine umfassende Untersuchung sowie eine Diskussion über den zukünftigen Verbleib des Kindes angeordnet. Das interdisziplinäre Team stand vor der verantwortungsvollen Entscheidung, ob Sara zur Adoption freigegeben oder in ein Heim überwiesen werden sollte. Offensichtlich hatte sie traumatische Verluste erlitten und war anschließend bei ungeeigneten Pflegeeltern untergebracht gewesen. Da ihre biologische Mutter psychisch krank und häufig obdachlos war, wurde Sara bereits einen Tag nach ihrer Geburt in Pflege gegeben. Laut Berichten verliefen Wachstum und Entwicklung im ersten Lebensjahr normal. Die Probleme begannen nach dem Tod ihres Pflegevaters. Mit 15 Monaten brachte man sie auf Wunsch der überforderten Witwe überstürzt zu neuen Pflegeeltern. Man muss sich das so vorstellen: Eine fremde Person kam und nahm sie an einen fremden Ort mit, wo sie mit weiteren fremden Menschen zusammenleben sollte – für ein Kind in diesem Alter eine ziemliche Katastrophe. Obendrein entsprach ihr neues Zuhause nicht den Bedürfnissen eines tief erschütterten Kleinkindes. Darauf reagierte Sara mit einer deutlichen Regression: Sie sprach nicht mehr, hörte mit dem Laufen auf, saß weinend am Fenster und wartete darauf, dass ihre Eltern sie abholten. Da sie im Lauf des folgenden Jahres fast gar nicht wuchs, brachte ihre besorgte Ärztin sie ins Krankenhaus. Dem Untersuchungsteam war klar, dass Saras Leben einen kritischen Punkt erreicht hatte und entscheidende Veränderungen erforderlich waren. Nachdem sie einen Monat zur diagnostischen Beobachtung in einem stimulierenden und altersgerechten therapeutischen Umfeld verbracht hatte, kam das Team zu dem Schluss, dass Saras Wachstums- und Entwicklungsschwierigkeiten nicht krankheitsbedingt waren, und empfahl die Adoption durch eine bedürfnisgerechte Familie.

Abbildung 2.1: Die Wachstumskurve aus dem Fallbericht „Sara“ zeigt eine markante Verlangsamung im Wachstum nach dem Tod ihres ersten Pflegevaters und der abrupten Trennung von ihrer ersten Pflegemutter im Alter von 15 Monaten sowie die drastische Genesung infolge der Adoption durch eine ihren Bedürfnissen angemessene Familie. Aus Masten und O’Connor (1989, S. 276), mit Genehmigung von Elsevier.2

Dieses Evaluationsteam hatte in der Hoffnung auf Resilienz und im Glauben an die Wirksamkeit „der liebevollen Fürsorge“ die seltene Gelegenheit, einem Kind quasi „auf Rezept“ eine neue Umgebung „zu verschreiben“. Nach reiflicher Überlegung fand ein motivierter Sozialarbeiter die ideale Familie: stabil, mit zwei größeren Kindern und einer optimistischen Einstellung hinsichtlich Saras Zukunft. Sara zog vom Krankenhaus direkt in ihr neues Zuhause und machte im Lauf des folgenden Jahres in jeder Hinsicht große Fortschritte, wobei sich diese in Bezug auf ihre Körpergröße am leichtesten dokumentieren ließen (siehe Abb. 2.1). Bald darauf verlief ihre Entwicklung wieder normal.

Mit sechs wurde Sara einer standardisierten und anonymen Nachuntersuchung unterzogen. Trotz der Anzeichen für Vulnerabilität in Form von traurig gestimmten Reaktionen schien sie in mehreren Bereichen gut zu gedeihen. Ihre physische und kognitive Entwicklung war normal. Sie schnitt in allen altersgemäßen Entwicklungsaufgaben gut ab, sowohl in der Schule als auch in ihrem Sozialleben. Offensichtlich war sie in ihrer Familie glücklich.

2.1.2 Die Nachteile von Einzelfallstudien

Bei aller Faszination werfen Einzelfallstudien immer Fragen nach ihrer Verallgemeinbarkeit auf. Sicher gibt es fallübergreifende Themen, die Rückschlüsse darüber zulassen, welche Faktoren ausschlaggebend sein könnten, wie etwa die Anwesenheit kompetenter und liebevoller Eltern, türöffnende Gelegenheiten, eine schnelle Auffassungsgabe, eine anziehende Persönlichkeit, Überlebenswille oder Optimismus hinsichtlich der Zukunft. Da man aber unmöglich wissen kann, ob der einzelne Fall oder die bestimmte Situation vielleicht eine Ausnahme darstellt, haben sich Forscher auf der Suche nach Indizien für Resilienz den Zahlen zugewandt. Dafür wurden die Einzelfälle in aggregativen Verfahren zu größeren Gruppen zusammengefasst, die wahrscheinlich repräsentativer für größere Gruppen der Bevölkerung sind und darüber hinaus das Austesten von Hypothesen zur Resilienz ermöglichen.

2.1.3 Aggregierte Fälle

In mehreren personenfokussierten Resilienzmodellen werden Menschen zu Gruppen zusammenfasst, um herauszufinden, wodurch sich die Resilienten von den Gestrandeten und den von bedeutsamen Widrigkeiten unbehelligt Gebliebenen abheben. Das klassische Modell beginnt mit hoch gefährdeten Probanden, die so schwere Widrigkeiten erlebt haben, dass ihre Entwicklung gestört oder sie ein oder mehrere, mit einer fehlangepassten Entwicklung assoziierte Risikofaktoren aufweisen. Aus dieser Risikogruppe bildet man anschließend eine Untergruppe mit Menschen, denen es gut geht oder deren Ergebnis(se) mit „okay“ bewertet wurde(n) (siehe Abb. 2.2). Um Indizien für Resilienz zu finden, kann man die resiliente Untergruppe dann mit dem Rest der Risikogruppe vergleichen.

Abbildung 2.2: Klassisches aggregiertes Resilienzmodell: Bestimmung der Mitglieder einer Hochrisikogruppe, denen es gut geht.

In einer der wichtigsten klassischen personenfokussierten Studien, der „Kauai Longitudinal Study of Resilience“ (Werner 1993; Werner & Smith 1982, 1992, 2001), wurde die Entwicklung einer Geburtskohorte von Einwohnern der Hawaii-Insel Kauai des Jahrgangs 1955 (anfänglich 698 Säuglinge) nachverfolgt. Zuerst drehte sich die Studie um Vulnerabilität und Risiko, doch dann interessierten sich die Forscherinnen immer mehr für die Frage, warum einige der Kinder mit dem höchsten Risiko gut gediehen, und so verwandelte sich das Ganze in eine Resilienzstudie.

In ihrem bahnbrechenden Band Vulnerable but Invincible: A Study of Resilient Children erläuterten Werner und Smith (1982) die Unterschiede zwischen zwei Untergruppen, die aus Kindern mit einem hohen kumulativen Risiko bestanden. Die Einstufung wurde auf der Basis von biologischen und umweltbedingten Risiken vor dem zweiten Lebensjahr vorgenommen, darunter Armut, chronische familiäre Disharmonie, psychische oder physische Störung der Eltern und mäßige bis schwere Belastungen während der Schwangerschaft. Bei etwa einem Drittel (201) der Überlebenden dieser Geburtskohorte wurden vier oder mehr solcher Risikofaktoren festgestellt und diese Gruppe wurde als hochgradig gefährdet eingestuft. Die Mehrheit der Kinder dieser Hochrisikogruppe (etwa zwei Drittel) hatte im Alter von 10 oder 18 signifikante Probleme. Doch einem Drittel (72 Kinder) schien es im Hinblick auf die Entwicklungsaufgaben, die zur Bewertung der Anpassungsfähigkeit herangezogen werden, zum Zeitpunkt der ersten Einstufung gut zu gehen. Sie waren erfolgreich in der Schule, sozial kompetent, gehorsam, psychisch gesund und zeigten Gemeinschaftsgeist.

Anhand einer Vielzahl von im Lauf der mehrjährigen Längsschnittstudie gesammelten Variablen wurden beide Gruppen, die resiliente und die nicht resiliente, miteinander verglichen. Dies offenbarte viele Unterschiede, die sich schon früh im Leben abzeichneten und bei beiden Gruppen bestehen blieben, auch viele fördernde und schützende Einflüsse: bessere Fürsorge von der frühen Kindheit an; mehr positive und bestärkende Beziehungen zu Verwandten, Lehrern und anderen Mentoren; bessere kognitive Fähigkeiten und eine angenehme Persönlichkeit; mehr Selbstwirksamkeit, Optimismus und Motivation zum Erfolg; und später eine stärkere religiöse Bindung.

Bei der Nachfolgeuntersuchung der Kohorte (im Alter von etwa 32) gedieh die resiliente Gruppe weiterhin gut. Außerdem hatte sich das Leben eines beträchtlichen Teils der Hochrisikogruppe (vor allem das der problematischen weiblichen Teenager) erheblich zum Besseren verändert (Werner & Smith 1992, S. 193). Werner (1993) schrieb die Veränderung dieser Spätzünder der „Eröffnung von Chancen“ am Übergang zum Erwachsenenalter zu, und zwar in Form von weiterführender Schulbildung, Arbeitsmöglichkeiten, Wehrdienst, einer positiven / stabilen Liebesbeziehung oder Ehe oder der aktiven Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinde.

Das klassische Resilienzmodell konzentriert sich auf eine Gruppe von Menschen, die alle einem oder mehreren signifikanten Risikofaktoren für die Anpassungsfähigkeit oder die Entwicklung ausgesetzt waren. Vergleicht man Untergruppen der bei den Ergebnissen gut Abschneidenden mit der schlechter abschneidenden Untergruppe und stellt bei einem Faktor einen Unterschied fest, ist allerdings immer noch nicht klar, ob dieser Faktor nur bei einem hohen Risiko wichtig ist oder unabhängig vom Risikostatus allgemein mit besseren Ergebnissen assoziiert ist, weil sich die Risikospanne auf Hochrisikopersonen beschränkt. Daher hat man das klassische Modell variiert und eine Niedrigrisikogruppe hinzugefügt (z. B. Masten et al. 1999).

Bei dem erweiterten klassischen Modell kommen die Gruppen durch Kreuzklassifikation der Kategorien Risiko / Widrigkeit (z. B. hoch, mittel / gemischt oder niedrig) und Anpassung (z. B. gut, mittel / gemischt oder schlecht in Bezug auf ein bestimmtes Ergebnis) zustande. Wird eine Niedrigrisikogruppe hinzugefügt, kann man resiliente Personen mit Menschen vergleichen, die in Bezug auf die relevanten Kriterien gut abschneiden, jedoch weder hohe Risiken noch Widrigkeiten aufweisen. Damit kommen umgekehrt auch Menschen infrage, denen es trotz Risikofreiheit nicht gut geht – was eine starke Vulnerabilität oder eine Störung nahelegt.

Mit der Aufnahme von Niedrigrisikopersonen in die Analyse lassen sich protektive Faktoren, die nur während einer Bedrohung eintreten oder unter riskanten Bedingungen eine Rolle spielen, von Einflüssen unterscheiden, die eigentlich allen Menschen, unabhängig von der Lebenssituation, guttun. Kinder mit guten Eltern oder einer hohen Auffassungsgabe haben unabhängig von Risiko oder Widrigkeiten in Bezug auf viele Ergebnisse Vorteile. Es gibt jedoch gewisse Hilfsmittel oder Vorteile, die nur unter riskanten Bedingungen von Wichtigkeit sind, beziehungsweise deren Wichtigkeit bei starken Widrigkeiten steigt.

Bei der Project Competence Longitudinal Study werden personen- als auch variablenfokussierte Strategien angewandt (Masten & Tellegen 2012; siehe Kapitel 3). Die personenfokussierte Analyse wurde mit einem erweiterten klassischen Modell durchgeführt, bei dem die Kohorte aufgrund der kumulativen aversiven Erfahrung sowie der Kompetenz in mehreren altersspezifisch vorrangigen Entwicklungsaufgabenbereichen klassifiziert wurde (siehe Abb. 2.3). Beim Vergleich ging es um die Unterschiede zwischen den Untergruppen „niedriges Risiko und kompetent“, „hohes Risiko und resilient“ sowie „hohes Risiko und maladaptiv“ (die Ergebnisse werden im nächsten Kapitel vorgestellt).

Die Gruppe „niedriges Risiko und maladaptiv“ einer Regelschulkohorte war statistisch gesehen zu klein. Diese fast „leere Zelle“ wurde auch in anderen Studien beobachtet. Was hier zum Ausdruck kommt, ist unserer Meinung nach die evolutionäre Bevorzugung der Anpassungsfähigkeit (Masten et al. 1999): Es gibt selten Menschen, die weder Risiken noch Widrigkeiten ausgesetzt sind, aber schlecht abschneiden. Die biologische und kulturelle Evolution hat uns so ausgestattet, dass wir uns unter normalen Umständen einigermaßen gut anpassen können. Vermutlich ist ein Mensch, der unter gutartigen Umständen schlecht abschneidet, in mancher Hinsicht ungewöhnlich und den normalen Herausforderungen der menschlichen Entwicklung nicht gewachsen. Natürlich könnte es aber auch daran liegen, dass es in dieser Gruppe Widrigkeiten gibt, die unbekannt oder verborgen sind oder nicht gemessen wurden.

Abbildung 2.3: Erweitertes klassisches aggregiertes Resilienzmodell: Einteilung in Niedrig- und Hochrisikogruppen je nach Abschneiden in Bezug auf die Kriterien für Anpassungsfähigkeit, in der Regel mithilfe von Cut-off-Werten. Gemischter oder mittlerer Grad der Widrigkeit und / oder der Anpassungsfähigkeit werden oft außer Acht gelassen, um relativ einheitliche oder stark kontrastierende Teilgruppen zu vergleichen (siehe die vier Teilgruppen in den Ecken der Grafik).

2.1.4 Modernisierte Klassik: Resiliente Entwicklungsverläufe

Mit dem Aufkommen statistischer Methoden zur Langzeitanalyse von Wachstums- und Veränderungsmustern (Bergman & Magnusson 1997; Fitzmaurice, Laird & Ware 2004; Grimm, Ram & Hamagami 2011; Nagin, 1999) wurde das klassische Resilienzmodell überarbeitet, um individuellen Unterschieden im Wachstumsprozess gerecht zu werden. So ist es beispielsweise möglich, über einen längeren Zeitraum individuelle Verhaltensmuster einer Gruppe von Menschen zu untersuchen, die einen gemeinsamen Risikofaktor wie etwa Wohnungslosigkeit aufweisen. Abbildung 2.4 veranschaulicht die Werte für den schulischen Erfolg von Zweitklässlern innerhalb eines bestimmten Bezirks. Die Behörden hatten die Kinder als „HHM“ eingestuft („homeless or highly mobile“, d. h. wohnungslos oder mit sehr häufig wechselndem Wohnsitz; siehe Obradović et al. 2009). Diese Einstufung erfolgte meistens bei Aufnahme in eine Notunterkunft.

Die Grafik zeigt die einzelnen Ergebnisse bei einem in den USA weitverbreiteten Standardtest zu drei Zeitpunkten zwischen der zweiten und vierten Schulklasse, wobei der Landesdurchschnitt und der Mittelwertbereich mit durchgezogenen Linien dargestellt sind. Man konnte die Kinder, deren Testergebnisse sich konstant nahe am Landesdurchschnitt oder darüber befinden, als „resiliente Gruppe“ bezeichnen und sie mit wohnungslosen Kindern vergleichen, die offensichtlich über längere Zeit eher Schwierigkeiten haben. Mit den entsprechenden Daten konnte man die resiliente Gruppe anhand von multiplen Kriterien wie Zensuren und Betragen klassifizieren.

Abbildung 2.4: Ergebnisse eines Standardlesetests in einer Kohorte von Kindern, die nach US-Richtlinien als HHM eingestuft worden waren und im Frühjahr der zweiten und dritten Klasse und dann noch einmal im Herbst in der vierten Klasse getestet wurden. Die Daten wurden in einem innerstädtischen Schulbezirk erhoben. Die durchgezogenen Linien symbolisieren den Landesdurchschnitt sowie die Standardabweichungen nach oben und unten, also den „Mittelwertbereich“. Obwohl der Durchschnittswert der HHM-Kinder erheblich niedriger als der Testmittelwert und deutlich niedriger als der ihrer bevorteilten Mitschüler ausfällt – wobei die Werte zahlreicher Kinder sogar sehr niedrig sind (im Bereich der letzten 5 %) –, befinden sich die Ergebnisse vieler wohnungsloser Kinder im Mittelwertbereich und bessern sich im Lauf der Zeit. Aus Obradovic´ et al. (2009, S. 511).

Mithilfe der von Nagin (1999) entwickelten Methoden kann man auch Daten von Personen mit einem ähnlichen Lebenslauf empirisch in Untergruppen teilen. Abbildung 2.5 zeigt solche aus den Daten derselben Kohorte extrahierten Verlaufsmuster. Die Analyse ergab vier Gruppen: eine stärker resiliente, eine schwächer resiliente, eine sich verbessernde maladaptive sowie eine persistierend maladaptive Gruppe. Ähnlichkeiten und Unterschiede konnten verglichen werden. Allerdings sammeln Schulen nicht regelmäßig die Daten, die für die meisten Resilienzforscher interessant sind, wie z. B. Informationen zur Rolle der Eltern, zur Lernmotivation oder zur Beziehung zu kompetenten und fürsorglichen Erwachsenen. Außerdem können Kinder, die alle denselben Risikofaktor der Wohnungslosigkeit aufweisen, sich durchaus im Hinblick auf andere Lebensbereiche unterscheiden. Wahrscheinlich haben Kinder in derselben Risikogruppe unterschiedliche Dinge erlebt, die erklären, weshalb einige besser zurechtkommen als andere. So wurden manche wohnungslose Kinder misshandelt oder schlecht ernährt, andere hingegen nicht. Mischformen aus personen- und variablenfokussierten Ansätzen (siehe Ende dieses Kapitels) erklären individuelle Lebensläufe durch Variablen, mit denen sich nicht nur das Ausmaß der Exposition gegenüber Risiken oder Widrigkeiten, sondern auch Ressourcen und potenzielle Schutzfaktoren messen lassen. Mehr zum Thema Risiko und Resilienz finden Sie in Kapitel 4.

Abbildung 2.5: Vier Verlaufskurven der Lesefähigkeit, die empirisch mithilfe einer semi-parametrischen Mischverteilung aus den Leseergebnissen derselben Kohorte aus Abbildung 2.4 abgleitet wurden (PROC TRAJ of SAS Version 9.1; Jones, Nagin & Roeder 2001; Nagin 1999). Die gestrichelte Linie zeigt den Landesdurchschnitt beim Test mit Standardabweichungen darüber und darunter. Es zeichnen sich vier Verläufe für die Schüler ab: (1) eine extrem maladaptive Gruppe, deren Lesekompetenz sich mit der Zeit nicht verbessert, (2) eine maladaptive Gruppe, die sich verbessert, (3) eine schwach resiliente Gruppe und (4) eine stark resiliente Gruppe. Nachgezeichnet mit Genehmigung von Jelena Obradovic´.

2.2 Variablenfokussierte Resilienzmodelle

Die Forschung zur Resilienz in der menschlichen Entwicklung beschäftigt sich grundsätzlich mit der Unterschiedlichkeit von Lebensläufen und den Prozessen, die die entwicklungsgefährdenden Anpassungsmuster im Kontext der Erfahrung erklären. Letztendlich geht es darum, die Variationsmuster und die für die Kovariation verantwortlichen Prozesse zu verstehen und herauszufinden, welche Bedeutung die Kovariation für Zukunftsprognosen oder Interventionen hat. Dafür sind variablenfokussierte Methoden und Modelle aus der multivariaten Statistik vorteilhaft. Die erstaunlichen Abweichungen, die die Pioniere der Resilienzforschung im Leben von Risikokindern beobachteten, haben Generationen von neuen Forschungsprojekten angeregt, die die Korrelate und Prädiktoren in der Kindesentwicklung identifizieren und die zugrunde liegenden Ursachen guter bzw. schlechter Anpassung im Kontext eines variierenden Risikos aufdecken. Daraus sind wichtige Modelle entstanden, zunächst zur Beschreibung von natürlich auftretender Resilienz und dann zur Entwicklung von Interventionen. In diesem Abschnitt werden die elementaren variablenfokussierten Risiko-Resilienzmodelle erläutert, in Kapitel 11 die Interventionsmodelle.

2.2.1 Risiko- und Asset-Gradienten

Schon früh in der Geschichte der Resilienzforschung wurde erkannt, dass das Ausmaß des Risikos sich meist auf einem Kontinuum befindet, egal ob es an einer einzigen Variablen wie dem sozioökonomischen Status gemessen wird, ob die Risikofaktoren im Leben eines Kindes kumuliert oder die Zahlen aus einer Messung der Lebensereignisse summiert werden. Sameroff (2006) fasst die Geschichte solcher Risikoberechnungen in der Medizin und in den Sozialwissenschaften zusammen. Die berühmte Framingham-Herzstudie, bei der es um das Risiko von Herzkrankheiten ging, ergab, dass kein Einzelfaktor bei allen Menschen die Prognose einer Herzkrankheit zuließ, sondern vielmehr mehrere variierende Risikofaktoren gleichzeitig vorlagen. In einer Reihe von Artikeln wiesen Sameroff und Kollegen darauf hin, dass psychosoziale Risikofaktoren für die Verhaltensentwicklung eine ähnliche Rolle spielen (Sameroff 2006; Sameroff, Seifer, Barocas, Zax & Greenspan 1987). Forscher, die mit diesem Ansatz arbeiten, zählen in der Regel die vorhandenen Risikofaktoren, die mit dem jeweiligen Ergebnis zusammenhängen. Dazu gehören normalerweise Statusindikatoren (wie etwa Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit), Elternfaktoren (fehlender Schulabschluss, minderjährige Mutter, psychische Krankheit, Substanzmissbrauch, Kriminalität), Familienfaktoren (alleinerziehender Elternteil, überfüllte Unterkunft, Sozialhilfeempfänger, Wohnungslosigkeit) und Umweltfaktoren (Kriminalität, Armut). Wurde die Ergebnisvariable (z. B. Verhaltensprobleme, Symptome, schulischer Erfolg, IQ des Kindes) als Funktion der kumulativen Risikovariablen dargestellt, zeichnete sich oft ein Risikogradient ab, in dem sich die Assoziation zwischen der kombinierten Risikovariablen und der Ergebnisvariablen widerspiegelt. Mit ansteigendem Risikowert erhöht sich der Durchschnittswert für Probleme, wobei der Kompetenzwert im Fall eines positiven Ergebnisses sank. Ein einfacher Risikogradient ist in Abbildung 2.6 dargestellt.

Abbildung 2.6: Dieser Risikogradient zeigt einen generellen linearen Anstieg des Mittelwerts für Probleme als Funktion des höheren Risikogrades oder Exposition gegenüber einem Trauma oder Widrigkeiten. Die weißen Punkte stehen für Personen, die bei einem bestimmten Risikograd überdurchschnittlich gut abschneiden (was auf Resilienz hinweist); die schwarzen Punkte stehen für Personen, die bei einem bestimmten Risikograd viel schlechter als der Durchschnitt abschneiden (was auf Vulnerabilität hinweist). Aus Masten und Narayan (2012, S. 236). Abdruck mit Genehmigung von Annual Reviews.

Kapitel 5