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Für Linda

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Stephan Steeger

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-95777-9

© 1996 Jon Krakauer

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Into the Wild«, Villard, New York 1996

Deutschsprachige Ausgabe:

© 1997 Piper Verlag GmbH, München

erschienen im Verlagsprogramm Malik

Umschlaggestaltung: Petra Dorkenwald

Umschlagabbildung: clipdealer

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

VORBEMERKUNG

Im April 1992 trampte ein junger Mann, der aus einer wohlhabenden Familie von der Ostküste stammte, nach Alaska und zog allein in die Wildnis nördlich des Mount McKinley. Vier Monate später stieß eine Gruppe von Elchjägern auf seinen stark verwesten Leichnam.

Kurz nach dem Leichenfund wurde ich vom Chefredakteur der Zeitschrift inside gebeten, über die rätselhaften Umstände zu berichten, die zu dem Tod des Jungen geführt hatten. Es stellte sich heraus, daß er Christopher Johnson McCandless hieß und in einem reichen Vorort von Washington, D. C., aufgewachsen war. An der Schule ein Überflieger, war er auch im Sport einer der Besten seines Jahrgangs.

Unmittelbar nachdem er im Sommer 1990 mit Auszeichnung von der Emory University abgegangen war, verschwand McCandless. Er nahm einen anderen Namen an und spendete seine gesamten Ersparnisse – vierundzwanzigtausend Dollar – der Wohlfahrt. Er ließ seinen Wagen und den größten Teil seiner Habe zurück und verbrannte auch noch sein letztes Reisegeld. Und dann machte er sich daran, das Leben für sich neu zu erfinden. Er mischte sich unter die Randexistenzen der Gesellschaft, wanderte quer durch Nordamerika, auf der Suche nach ungefilterten Erfahrungen. Seine Familie hatte keine Ahnung, wo er war, was aus ihm geworden war – bis zu dem Tag, als man seine sterblichen Überreste in Alaska fand.

Unter großem Termindruck schrieb ich einen etwa fünfseitigen Artikel, der in der Ausgabe vom Januar 199; von Outside erschien. McCandless’ Schicksal hielt mich jedoch weiter in seinem Bann, auch nachdem die Ausgabe an den Kiosken schon längst durch das journalistische Tagesgeschäft ersetzt worden war. Der Junge war verhungert, und die Einzelheiten seines Todes ließen mich nicht mehr los, zumal ich zwischen den Ereignissen seines und meines eigenen Lebens beunruhigende entfernte Parallelen entdeckte. Ich konnte und wollte die Sache nicht so einfach ad acta legen, und über mehr als ein Jahr hinweg verfolgte ich die verschlungene Spur, die zu seinem Tod in der Taiga Alaskas führte. Ich recherchierte die Details seiner Wanderschaft mit einer Neugierde, die fast an Besessenheit grenzte. Indem ich versuchte, McCandless zu begreifen, stieß ich unwillkürlich in andere, tiefergehende Themenbereiche vor: der Mythos der Wildnis, der nach wie vor die Phantasie der Amerikaner gefesselt hält, der Reiz der Gefahr, der immer mehr junge Männer zu hochriskanten Freizeitunternehmungen verführt, das komplexe, spannungsgeladene Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner auf Wegen und Nebenwegen wandelnden Recherche.

Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, ein unvoreingenommener Beobachter zu sein. McCandless’ Geschichte berührte mich zutiefst, daher war mir eine leidenschaftslose Darstellung der Tragödie nicht möglich. Größtenteils habe ich mich – hoffentlich erfolgreich – bemüht, mich als Autor möglichst rauszuhalten. Aber der Leser sei gewarnt: Ich unterbreche McCandless’ Geschichte mit der Erzählung von Vorfällen und Ereignissen aus meiner eigenen Jugend. Ich tue dies in der Hoffnung, daß meine Erfahrungen das Rätsel Chris McCandless etwas erhellen werden.

Er war ein unter ständiger Hochspannung stehender junger Mann, besessen von einem sturen Idealismus, der mit den Ansprüchen der heutigen Zeit nicht leicht zu vereinbaren war. Lange Zeit fesselten ihn die Werke des großen russischen Romanciers Leo Tolstoi, den er vor allem dafür bewunderte, die Annehmlichkeiten eines Lebens in Reichtum und privilegierter Bequemlichkeit aufgegeben zu haben, um sich unter die Armen und Entrechteten der Gesellschaft zu mischen. Auf dem College begann McCandless, Tolstois Asketentum und ethische Unbeugsamkeit nachzuahmen, und zwar in einem Maße, das seine nahe Umgebung zuerst verblüffte und dann alarmierte. Als der Junge in die Wildnis Alaskas zog, gab er sich keineswegs der Illusion hin, in ein Paradies einzukehren, in dem er unbeschwert umhertrecken konnte; vielmehr sehnte er sich nach Gefahren, Widrigkeiten und nach tolstoianischer Enthaltsamkeit – und genau dies sollte er auch zur Genüge vorfinden.

Trotz aller Schwierigkeiten schlug sich McCandless den größten Teil seiner sechzehnwöchigen Prüfung mit Bravour durch. Hätte er sich nicht ein, zwei scheinbar belanglose Schnitzer geleistet, wäre er im August 1992 ebenso anonym aus den Wäldern gewandert, wie er hineingewandert war. Statt dessen stellten sich seine in aller Unschuld begangenen Fehltritte als fatal und unumkehrbar heraus. Sein Name kam in die Schlagzeilen, und seine bestürzten Angehörigen sahen sich dem Scherbenhaufen einer grimmigen und schmerzhaften Liebe gegenüber.

Eine erstaunlich große Anzahl von Menschen fühlte sich von der Geschichte von Chris McCandless’ Leben und Sterben zutiefst betroffen. Der Outside-Artikel verursachte in den Wochen und Monaten nach der Veröffentlichung eine Flut von Leserbriefen, mehr als irgendein anderer Artikel in der Geschichte der Zeitschrift. Diese Briefe spiegeln, wie nicht anders zu erwarten war, höchst kontroverse Ansichten wider: Einige Leser brachten dem Jungen für seinen Mut und die hehren Ideale, von denen er sich leiten ließ, all ihre Bewunderung entgegen; andere dagegen wetterten, daß er ein leichtsinniger Idiot gewesen sei, ein Spinner, ein narzißtischer Traumtänzer, der aufgrund seiner Dummheit und Arroganz umkam – und der die große Aufmerksamkeit, die ihm in den Medien zuteil wurde, nicht verdient hatte. Meine eigenen Ansichten werden im Laufe des Buches deutlich zutage treten, doch der Leser möge sich sein eigenes Urteil über Chris McCandless bilden.

Jon Krakauer
Seattle

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IN DIE WILDNIS

KAPITEL EINS

Im Herzen Alaskas

27. April 1992

Grüße aus Fairbanks! Dies wird meine letzte Nachricht an Dich sein, Wayne. Bin vor zwei Tagen hier angekommen. Das Trampen in der Gegend um den Yukon lief nicht so gut. Aber jetzt bin ich endlich hier.

Schicke bitte all meine Post an den Absender zurück. Es kann noch lange dauern, bis ich wieder im Süden bin. Dieses Abenteuer geht vielleicht tödlich aus, und es kann sein, daß Du nie wieder von mir hören wirst. Ich möchte aber, daß Du weißt, wie sehr ich Dich bewundere. Ich breche nun in die Wildnis auf. Alex.

Postkarte an Wayne Westerberg,
Carthage, South Dakota

symbol

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Vier Meilen hinter Fairbanks sah Jim Gallien den Tramper. Er stand schlotternd im Schnee am Straßenrand, den Daumen in das fahle Morgengrauen Alaskas gereckt. Er schien noch recht jung zu sein: achtzehn, höchstens neunzehn. Aus seinem Rucksack ragte ein Gewehr, aber er machte einen ganz freundlichen Eindruck. Im neunundvierzigsten Staat ist ein Tramper mit einer halbautomatischen Remington kein ungewöhnlicher Anblick. Gallien hielt an und bedeutete dem Jungen, einzusteigen.

Der Tramper warf seinen Rucksack auf die Ladefläche des Fords und sagte, daß er Alex hieß. »Alex?« erwiderte Gallien, der gerne auch den Nachnamen gewußt hätte.

»Einfach Alex«, blockte der Junge ab. Er war etwa einssiebzig groß und von drahtiger Gestalt. Wie sich herausstellte, war er vierundzwanzig Jahre alt und stammte aus South Dakota. Er wollte bis zum Denali-Nationalpark mitfahren. Von dort aus, sagte er, wolle er in die Wälder wandern und »ein paar Monate lang von dem, was das Land so hergibt, leben«.

Gallien, ein Elektriker, war auf dem George Parks Highway unterwegs nach Anchorage, zweihundertvierzig Meilen über Denali hinaus. Er sagte Alex, er könne so weit mitfahren, wie er wolle. Der Rucksack des Jungen sah aus, als würde er gerade einmal zehn, fünfzehn Kilo wiegen. Dies erschien Gallien – einem erfahrenen Jäger und Waldarbeiter – für einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem fast menschenleeren Gebiet als viel zu dürftig, vor allem da der Frühling gerade erst angebrochen war. »Der Junge hatte für solch eine Tour nicht annähernd genug Verpflegung und Ausrüstung dabei«, erinnert sich Gallien.

Die Sonne ging auf. Als sie die bewaldeten Hügel oberhalb des Tanana River hinabrollten, starrte Alex über das windgepeitschte, sich endlos nach Süden erstreckende Tundramoor hinweg. Gallien fragte sich, ob er womöglich an einen dieser durchgeknallten Spinner aus dem Süden geraten war, die es immer wieder in den Norden zieht, um ihre naiven Jack-London-Phantasien auszuleben. Alaska übte schon seit langem eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf Träumer und Aussteiger aus: Typen, die sich einbildeten, daß eine Reise in die unberührte, endlose Weite des Last Frontier ihr zerrissenes Leben flicken würde. Die Wildnis ist jedoch unerbittlich und schert sich nicht um Wünsche und Sehnsüchte.

»Die Leute von außerhalb«, erzählt Gallien in seiner tiefen, melodischen Stimme, »sehen eine Ausgabe von Alaska, blättern drin rum, und dann denken sie, ›Mann, da fahr ich jetzt hin, ernähr mich von Mutter Natur und leb ’n schönes, heiles Leben‹. Aber wenn sie dann hier sind und die Wildnis hautnah erleben – tja, so, wie das in den Zeitschriften ausgemalt wird, is’ es nun mal nicht. Die Flüsse hier sind riesengroß und können ganz schön tückisch sein. Die Moskitos fressen einen bei lebendigem Leibe. In den meisten Gegenden gibt es einfach nicht viel zu jagen. In der Wildnis zu leben ist was anderes als ’n Weekend auf dem Land.«

Die Fahrt von Fairbanks bis an die ersten Ausläufer des Denali-Parks dauerte zwei Stunden. Sie unterhielten sich und lernten sich ein wenig kennen. Der Junge schien nun doch nicht so durchgeknallt zu sein, wie Gallien anfangs befürchtet hatte. Er war sympathisch und machte einen gebildeten Eindruck. Er durchlöcherte Gallien mit detaillierten Fragen über die verschiedenen Arten von Niederwild, welche Beeren man essen könne – »und all solche Sachen«.

Und dennoch war Gallien beunruhigt. Alex mußte zugeben, daß seine Verpflegung nur aus einem Fünf-Kilo-Sack Reis bestand. An Kleidung und Ausrüstung hatte er nicht einmal das in Anbetracht des rauhen Klimas Allernotwendigste dabei. Es war April und das Landesinnere lag immer noch unter einer dichten Schneeschicht begraben. Alex’ billige Wanderstiefel waren weder wasserdicht noch ausreichend gefüttert. Die .22 Remington war ein Kaliber zu klein; man konnte sich nicht darauf verlassen, wenn man auch größeres Wild wie Elche und Karibus erledigen wollte. Und darauf wäre er angewiesen, wenn er tatsächlich länger bleiben wollte. Er hatte weder Axt noch Insektenkiller, weder Schneeschuhe noch Kompaß. Seine einzige Orientierungshilfe war eine zerfledderte Straßenkarte von Alaska, die er an einer Tankstelle geschnorrt hatte.

Einhundert Meilen hinter Fairbanks steigt der Highway in die unteren Ausläufer der Bergkette der Alaska Range hoch. Als der Pick-up über eine Brücke des Nenana River ruckelte, blickte Alex in die reißende Strömung hinab. Er fürchte sich vor Wasser, gestand er Gallien. »Vor einem Jahr bin ich unten in Mexiko mit einem Kanu aufs Meer hinausgepaddelt. Dann ist ein Sturm aufgezogen, und ich wäre beinahe ertrunken.«

Ein wenig später nahm Alex seine Straßenkarte heraus und zeigte auf eine gestrichelte rote Linie, die den Highway in der Nähe von Healy, einer kleinen Kohlebergbaustadt, durchschnitt. Es handelte sich um den Stampede Trail, eine unbefestigte, kaum benutzte Straße, die auf den meisten Karten Alaskas nicht einmal eingezeichnet ist. Auf Alex’ Karte jedoch schlängelte sich die Linie vom Parks Highway etwa vierzig Meilen weit nach Westen, um sich schließlich inmitten der unwegsamen Wildnis nördlich des Mount McKinley zu verlieren. Dort, verkündete Alex, wolle er hin.

Gallien hielt die Pläne des Trampers für zu waghalsig und versuchte immer wieder, ihn davon abzubringen. »Ich hab ihm gesagt, daß es dort, wo er hin will, nicht so leicht ist, was zu jagen, daß er vielleicht tagelang nichts erlegen wird. Als das nicht wirkte, hab ich versucht, ihm mit Bären-Storys Angst einzujagen. Ich hab ihm gesagt, daß er einem Grizzly mit ’nem Zweiundzwanziger nichts anhaben kann, daß er ihn damit wahrscheinlich nur noch wütender macht. Hat den Jungen aber alles nicht sonderlich beeindruckt. ›Dann klettere ich eben auf einen Baum‹, hat er nur gemeint. Also hab ich ihn darüber aufgeklärt, daß die Bäume in der Gegend nicht besonders groß werden und daß so ein Bär eine von diesen dürren, kleinen Schwarzfichten mit einem Schlag umhaut. Aber der Knabe hat sich einfach nichts sagen lassen. Auf alles hatte er eine Antwort.«

Gallien bot Alex an, ihn bis nach Anchorage mitzunehmen, ihm eine anständige Ausrüstung zu kaufen und ihn wieder zurückzufahren.

»Nein, aber vielen Dank fürs Angebot«, antwortete Alex. »Ich werd mit dem, was ich hab, schon zurechtkommen.«

Gallien fragte, ob er eine Jagdlizenz habe.

»Nee, natürlich nicht«, sagte Alex spöttisch. »Wie ich mich ernähre, geht die Regierung einen Dreck an. Die können mich mal mit ihren blöden Regeln.«

Als Gallien fragte, ob seine Eltern oder ein Freund von seinem Vorhaben wüßten – ob es da irgend jemanden gibt, der Alarm schlägt, falls er in Schwierigkeiten gerät oder sich längere Zeit nicht meldet –, antwortete Alex seelenruhig, nein, daß niemand von seinen Plänen weiß, daß er ehrlich gesagt seit beinahe zwei Jahren mit seiner Familie kein Wort mehr gewechselt hat. »Wenn’s Schwierigkeiten gibt, werd ich damit schon allein fertig, hundertpro«, versicherte er Gallien.

»Es hatte überhaupt keinen Sinn, dem Jungen was ausreden zu wollen«, erinnert sich Gallien. »Er war felsenfest entschlossen. Durch nichts mehr zu bremsen. Richtig aufgeregt, wenn ich heute so drüber nachdenke. Er konnte es kaum erwarten, loszulegen und in die Wälder abzutauchen.

Drei Stunden hinter Fairbanks bog Gallien vom Highway ab und lenkte seine klapprige Allradkiste in eine tiefverschneite Nebenstraße. Die ersten paar Meilen war der Stampede Trail noch ganz passabel. Er führte an Blockhütten vorbei, die zwischen kümmerlichen Fichten und Espen verstreut standen. Als sie jedoch die letzte der Hütten hinter sich gelassen hatten, wurde es immer schlimmer. Der Trail war von Erlen überwuchert und verwandelte sich immer mehr in einen ruckeligen Pfad, der offensichtlich nicht instand gehalten wurde.

Im Sommer wäre der Trail zwar auch nicht viel besser, aber zumindest befahrbar. Jetzt, unter dem fünfzig Zentimeter hohen, matschigen Frühlingsschnee, war er praktisch unpassierbar. Als sie nach zehn Meilen eine leichte Anhöhe erreichten, hielt Gallien seinen Pick-up an. Er hatte Angst, steckenzubleiben. Die eisigen Gipfel des höchsten Bergmassivs Nordamerikas schimmerten am südwestlichen Horizont.

Alex bestand darauf, Gallien seine Uhr, seinen Kamm und etwas Kleingeld zu geben, das, wie er betonte, sein ganzes Vermögen darstellte: fünfundachtzig Cents. »Ich will dein Geld nicht«, protestierte Gallien, »und eine Uhr hab ich selber.«

»Wenn Sie’s nicht nehmen, werfe ich’s weg«, erwiderte Alex fröhlich. »Ich will nicht wissen, wie spät es ist. Ich will nicht wissen, welchen Tag wir haben oder wo ich bin. All das ist unwichtig.«

Bevor Alex ausstieg, langte Gallien hinter den Sitz, holte ein paar alte, robuste Gummistiefel hervor und überredete den Jungen, sie zu nehmen. »Sie waren ihm zu groß«, erinnert sich Gallien. »Aber ich sagte: ›Zieh dir zwei paar Socken über, dann müßten die Füße halbwegs warm und trocken bleiben.‹«

»Wieviel schulde ich Ihnen dafür?«

»Ist schon gut«, antwortete Gallien. Dann gab er dem Jungen einen kleinen Zettel mit seiner Telefonnummer, den Alex sorgfältig in einer kleinen Brieftasche aus Nylon verstaute.

»Ruf mich an, falls du hier lebend wieder rauskommst. Dann sag ich dir, wie du mir die Stiefel wieder zurückgeben kannst.«

Galliens Frau hatte ihm zwei gegrillte Sandwiches mit Käse und Thunfisch und eine Packung Maischips eingepackt. Er überredete den jungen Tramper, auch das Essen anzunehmen. Alex holte eine Kamera aus seinem Rucksack und bat Gallien, noch schnell ein Foto von ihm zu machen. Er schulterte das Gewehr und stellte sich vor dem Trail auf. Schließlich verschwand er mit breitem Lächeln den verschneiten Pfad hinunter. Es war Dienstag, der 28. April 1992.

Gallien wendete den Pick-up, fuhr zum Parks Highway zurück und setzte seinen Weg nach Anchorage fort. Nach ein paar Meilen kam er an Healy vorbei, wo die Alaska State Troopers einen Posten unterhalten. Gallien spielte kurz mit dem Gedanken, anzuhalten und die Leute dort von Alex zu unterrichten, ließ es dann aber bleiben. »Ich dachte, es wird schon irgendwie gutgehen«, erklärte er. »Ich dachte, wahrscheinlich wird er ziemlich schnell hungrig werden und einfach zum Highway zurückgehen. So wie jeder normale Mensch.«

KAPITEL ZWEI

Der Stampede Trail

Jack London is King

Alexander Supertramp

Mai 1992

Inschrift auf einem Stück Holz, entdeckt an dem Ort, an dem Chris McCandless starb.

Dunkler Tannenwald dräute finster zu beiden Seiten des Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift, so daß sie aussahen, als drängten sie sich unheimlich finster in dem schwindenden Tageslicht aneinander. Tiefes Schweigen lag über dem Lande, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, so einsam, so kalt, daß die Stimmung darin nicht einmal traurig zu sein schien. Vielmehr lag ein Lachen darüber, ein Lachen schrecklicher als jede Traurigkeit, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und grimmig wie die Notwendigkeit. Die unerbittliche, unerforschliche Weisheit des Lebens und seiner Anstrengungen. Es war die echte Wildnis, die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.

Jack London, »Wolfsblut«

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Am Nordrand der Alaska Range, kurz bevor die mächtgen Felswände des Mount McKinley und seiner Ableger sich der Kantishna-Ebene ergeben, liegt die sogenannte Outer Range, eine kleinere Bergkette, die von fern an die zerwühlte Decke eines ungemachten Betts erinnert. Zwischen den steinernen Gipfeln ihrer beiden äußersten Steilhänge verläuft von Osten nach Westen ein schmaler, etwa fünf Meilen langer Streifen sumpfiges Schwemmland. Durch dieses hügelige, von Erlenbüschen und lichten Fichtenreihen bestandene Gebiet schlängelt sich der Stampede Trail, den Chris McCandless auf seinem Weg in die Wildnis nahm.

Der Pfad war in den dreißiger Jahren von Earl Pilgrim, einem sagenumwobenen Bergarbeiter, erkundet und markiert worden. Pilgrim hatte am Stampede Creek, etwas oberhalb der Stelle, an der sich der Toklat River gabelt, eine Reihe von Antimongruben abgesteckt. 1961 wurde eine Firma aus Fairbanks, die Yutan Construction Company, beim Bundesstaat von Alaska vorstellig (dem Land war erst zwei Jahre zuvor volle Souveränität verliehen worden) und erwarb das Recht, den Trail auszubauen. Der Pfad mußte gerodet und für Lastwagen befahrbar gemacht werden. Nur so konnte das Mineralgemenge abtransportiert und die Grube ganzjährig bewirtschaftet werden. Zur Unterbringung der Bauarbeiter legte sich die Yutan drei ausrangierte Omnibusse zu, stattete sie mit Kojen und einfachen Heizöfen aus und karrte sie mit einer D-9-Planierraupe in die Wildnis hinaus.

1963 wurde das Projekt fallengelassen. Inzwischen waren etwa fünfzig Meilen Straße fertiggestellt worden, allerdings ohne die erforderlichen Brücken – das Gebiet war von zahllosen Flüssen durchschnitten. Auftauendes Erdreich und jahreszeitlich bedingte Überschwemmungen machten den Trail schon wenig später unpassierbar. Die Yutan schleppte zwei der Busse wieder zum Highway zurück. Der dritte wurde etwa auf halber Höhe des Trails stehengelassen und sollte schon bald zu einem Zufluchtsort für Jäger und Trapper werden. In den folgenden drei Jahrzehnten wurde das Straßenbett durch die immer wiederkehrenden Überschwemmungen weiter ausgehöhlt. Der Trail wurde von Büschen und Sträuchern überwuchert, Biberteiche taten ihr übriges. Der Omnibus jedoch blieb.

Der aus den Vierzigern stammende International Harvester hat mittlerweile fast Museumswert. Er steht gleich hinter der Grenze zum Denali-Nationalpark, etwa fünfundzwanzig Meilen Luftlinie westlich von Healy. Zwischen halbhohen Berufkrautsträuchern am Straßenrand rostet er, seltsam deplaciert, vor sich hin. Der Motor ist nicht mehr vorhanden. Fensterscheiben sind zersprungen oder fehlen gänzlich, und das Businnere ist mit den Scherben zerschlagener Whiskeyflaschen übersät. Die grünweiße Lackierung ist stark oxydiert. Eine verwitterte Beschriftung verweist noch auf den alten Besitzer: Fairbanks City Transit System, Bus 142. Heutzutage können gut und gerne sechs, sieben Monate vergehen, bevor irgendein einsamer Waldbesucher sich zu der Stelle mit dem alten Gefährt verirrt. An einem Nachmittag Anfang September 1992 fanden sich dort jedoch gleich sechs Personen dreier verschiedener Gruppen ein.

Der Denali-Nationalpark war 1980 um die Kantishna Hills und einen Gebirgszug am Nordrand der Outer Range erweitert worden. Inmitten des neuen Parkareals liegen jedoch auch die sogenannten Wolf Townships, die von der Neuordnung unberührt blieben. Es handelt sich dabei um eine langgezogene Niederung, durch die die erste Hälfte des Stampede Trail führt. Das sieben mal zwanzig Meilen große Areal wird an drei Seiten von Nationalparkgelände umschlossen und weist daher einen ungewöhnlich hohen Wildbestand auf. Wölfe und Bären, Karibus und Elche, aber auch andere Tierarten haben hier ihr Revier. Unter den Jägern und Trappern der Gegend ist dies ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Sobald also im Herbst die Elchjagd beginnt, schauen immer ein paar von ihnen an der alten Busruine vorbei, die sich am Sushana River am westlichen Zipfel der Wolf Townships befindet, nur zwei Meilen von der Parkgrenze entfernt.

Ken Thompson, der Besitzer einer Karosseriewerkstatt in Anchorage, sein Angestellter Gordon Samel und ihr gemeinsamer Freund Ferdie Swanson, ein Bauarbeiter, brechen am 6. September 1992 zur Elchjagd in Richtung Bus auf. Dorthin zu gelangen ist allerdings leichter gesagt als getan. Etwa zehn Meilen nach dem befestigten Teil der Straße kreuzt der Stampede Trail den Teklanika River, einen reißenden, eiskalten Fluß, der weißlichen Glazialschutt mit sich führt. Gleich stromabwärts von der Stelle, an der der Trail auf das Flußufer stößt, liegt eine enge Schlucht, durch die der weiß brodelnde Teklanika geschossen kommt. Die Aussicht, diese milchfarbene Wasserflut überqueren zu müssen, schreckt die meisten Leute davon ab, weiterzuwandern.

Bei Thompson, Samel und Swanson handelt es sich jedoch um drei halsstarrige Alaskaner, die eine besondere Vorliebe dafür haben, mit ihren Autos genau die Stellen zu durchqueren, die als unpassierbar gelten. Kaum waren sie am Teklanika angekommen, entdeckten sie bereits eine breite, gewundene Furt, an der die Wasserflut sich in kleine, relativ seichte Flüßchen teilt. Und schon lenkten sie ihre Autos geradewegs in die Fluten.

»Ich bin vorangefahren«, sagt Thompson. »Der Fluß war an der Stelle an die fünfundzwanzig Meter breit, und die Strömung war richtig wild. Ich fahr ’nen getunten ’82er Dodge Pick-up. Die Reifen sind fast ’nen Meter hoch, und das Wasser ist immer noch leicht bis an die Motorhaube gekommen. Dann kam der Moment, als ich gedacht hab, ich schaff’s nicht. Gordon hat an seiner Kiste vorne ’ne Viertausend-Kilo-Hebe. Hab ihn gleich hinter mir fahren lassen, falls was schiefgeht und ich absaufe.«

Die drei gelangten ohne Zwischenfall ans andere Ufer. Zwei der Pick-ups hatten Geländefahrzeuge geladen: ein dreirädriges und ein vierrädriges. Sie fuhren ihre bulligen Allradbrummer auf eine Kiesbank, holten die Geländefahrzeuge von der Ladefläche und setzten die Fahrt mit den kleineren, wendigeren Maschinen in Richtung Bus fort.

Ein paar hundert Meter weiter versackte der Trail in einer Reihe brusttiefer Biberteiche. Die drei Alaskaner fackelten jedoch nicht lange und steckten ein paar Stangen Dynamit in die lästigen Holz- und Reisigdämme, sprengten sie in die Luft und legten die Teiche trocken. Sie fuhren weiter, erklommen ein steiniges Flußbett und manövrierten ihre Maschinen durch dichtes Erlengebüsch. Am späten Nachmittag erreichten sie endlich den Bus. Bei ihrer Ankunft stießen sie »auf ’nen Jungen und ’n Mädchen aus Anchorage. Die beiden haben zwanzig Meter vom Bus weg gestanden und sahen so aus, als hätten sie ’n Gespenst gesehen.«

Das junge Paar hatte den Bus zwar nicht betreten, war aber nahe genug dran herangegangen, um »einen echt üblen Geruch« zu bemerken. Aus dem Heck des Busses, an einen Erlenast geknotet, hing ein roter, gestrickter Wadenwärmer von der Art, wie Tänzer ihn tragen. Das Ganze wirkte wie eine notdürftig improvisierte Signalflagge. An der Tür, die nur angelehnt war, klebte ein Zettel mit einer seltsamen, beunruhigenden Nachricht. Auf einer aus einer Gogol-Erzählung gerissenen Buchseite stand dort in sauberer Blockschrift:

S.O.S. ICH BRAUCHE IHRE HILFE: ICH BIN SCHWER VERLETZT, DEM TODE NAH. ICH BIN ZU SCHWACH, UM HIER WEGZUKOMMEN. ICH BIN GANZ ALLEIN. DIES IST KEIN SCHERZ. IN GOTTES NAMEN, BITTE GEHEN SIE NICHT WEG, BITTE RETTEN SIE MICH. ICH BIN NICHT WEIT, GEHE JETZT BEEREN SAMMELN. BIN GEGEN ABEND WIEDER DA. DANKE, CHRIS MCCANDLESS. AUGUST?

Das Paar aus Anchorage war von dem Inhalt der Nachricht und dem penetranten Fäulnisgeruch viel zu verängstigt, um in den Bus zu steigen und nachzusehen. Und so war es Samel, der sich, auf das Schlimmste gefaßt, zu einem der Fenster schlich und hineinspähte. Sein Blick fiel auf eine Remington und eine Plastikdose mit Patronen, dann auf acht oder neun Taschenbücher, eine zerrissene Jeans, Kochgeschirr und schließlich auf einen hochwertigen Rucksack. Auf einer aus billigem Holz zusammengezimmerten Koje im hinteren Teil entdeckte er einen blauen Schlafsack, in dem scheinbar irgend etwas oder irgend jemand lag, obwohl, sagt Samel, »man es nicht genau sehen konnte«.

»Ich hab mich auf einen Baumstumpf gestellt«, fährt Samel fort, »durch eines der Rückfenster gelangt und den Schlafsack ein bißchen geschüttelt. Irgendwas war drin, soviel war sicher, aber es war nichts Schweres. Erst als ich rumgegangen bin zur anderen Seite und den Kopf gesehen hab, der ein Stück rausgeguckt hat, da wußte ich’s.« Chris McCandless war bereits zweieinhalb Wochen tot.

Samel, kein Mann großer Umstände, befand, daß die Leiche sofort weggeschafft werden müsse. Aber weder in seinem noch in Thompsons kleinem Geländeflitzer war genügend Platz, und auch das Geländefahrzeug des jungen Paares war zu eng. Bald darauf fand sich eine sechste Person am Schauplatz ein, Butch Killian, ein Jäger aus Healy. Killian fuhr einen Argo – ein schweres, achträdriges Amphibienfahrzeug –, und Samel schlug vor, daß Killian die Leiche bergen solle. Der war jedoch der Ansicht, daß dies eher Sache der Alaska State Troopers sei.

Killian, ein Bergarbeiter, der auch als Notarzthilfe für die Freiwillige Feuerwehr von Healy jobbt, hatte in seinem Argo ein Funkgerät. Von seinem Standort aus schaffte er es jedoch nicht, eine Verbindung herzustellen, und er fuhr ein Stück in Richtung Highway zurück. Nach fünf Meilen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, gelang es ihm endlich, das Kraftwerk von Healy anzufunken. »Dringende Nachricht«, meldete er, »hier spricht Butch. Ruft die Troopers, Leute. In dem Bus drüben am Sushana liegt ein Mann. Sieht aus, als wär er schon ’ne Weile tot.«

Am nächsten Morgen um halb neun dröhnten Rotorblätter über dem Bus, und ein Hubschrauber setzte in einem Wirbelsturm aus Staub und Espenlaub zur Landung an. Die Troopers suchten die Gegend ringsum kurz nach Spuren ab, um ein Verbrechen auszuschließen. Kurz darauf verschwanden sie wieder. Als sie abhoben, hatten sie neben Chris McCandless’ Leiche die Kamera des Toten mit fünf Rollen belichteten Films, den SOS-Zettel und ein paar Tagebuchnotizen dabei. Diese waren auf die beiden letzten Seiten eines Handbuchs über eßbare Pflanzen gekritzelt und hielten in einhundertdreizehn dichtgedrängten, kryptischen Einträgen die letzten Wochen im Leben des Jungen fest.

Die Leiche wurde nach Anchorage gebracht, wo im gerichtsmedizinischen Institut eine Autopsie durchgeführt wurde. Die Verwesung war zu weit fortgeschritten, um den genauen Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Es konnten jedoch weder Anzeichen innerer Verletzungen noch irgendwelche Knochenbrüche festgestellt werden. An der Leiche war kaum noch subkutanes Fett. Der Muskelschwund muß in den Tagen und Wochen vor dem Exitus beträchtlich gewesen sein. McCandless’ Gebeine wogen zum Zeitpunkt der Autopsie dreiunddreißig Kilo. Man ging davon aus, daß der Tod durch Verhungern eingetreten war.

McCandless hatte seinen Hilferuf zwar unterschrieben, und die Fotos, die man entwickeln ließ, enthielten viele Selbstporträts, da er aber keine Personalien bei sich getragen hatte, wußten die Beamten weder, wer er war, noch woher er kam und was er hier wollte.