2Empathie gilt als Grundlage moralischen Handelns – und damit selbst als gut. Sieht man aber genauer hin, erweist sich die Fähigkeit, »sich in andere Menschen hineinzuversetzen«, auch als Voraussetzung für gezielte Erniedrigungen und Grausamkeiten. Zudem hat selbst das wohlmeinende Mitgefühl zahlreiche unbeabsichtigte Konsequenzen. Aus diesen Gründen sind es gerade die dunklen, bisher verdrängten Aspekte der Empathie, die auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft in den Blick genommen werden müssen. Fritz Breithaupt lädt seine Leser dazu ein, diese Seiten zu bedenken oder gar an sich selbst zu entdecken, und führt uns dabei von Narzissmus und Nietzsche bis zu den Helikopter-Eltern und Angela Merkels Flüchtlingspolitik.

Fritz Breithaupt ist Professor für Germanistik und Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington. Zuletzt bei Suhrkamp erschienen: Kultur der Ausrede (stw 2001) und Kulturen der Empathie (stw 1906).

3Fritz Breithaupt

Die dunklen Seiten der Empathie

Suhrkamp

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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eISBN 978-3-518-74858-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

1. Empathie als Mit-Erleben

2. Die dunklen Seiten der Empathie. Ein Überblick

3. Vier Ansätze der Empathie-Forschung

I. Selbstverlust

1. Der Gegensatz von Ich und Empathie
(Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

2. Das Paradox der Selbstbeobachtung. Frauen

3. Empathie als Ressentiment
(Nietzsche: Genealogie der Moral)

4. Nietzsche als Theoretiker des Stockholm-Syndroms

5. Das Leben für andere. Empathie-Mangel bei heutigen Studenten? O nein, Narzissmus! Oder doch:
Hurra, Befreiung vom Stockholm-Syndrom?

II. Schwarz-Weiß-Malerei

1. Die Architektur der Empathie

2. Das Drei-Personen-Modell der Empathie

3. Radikalisierung von Konflikten, Moralisierungen

4. Radikalisierung der Moral durch Fiktion

III. Falsche Empathie. Gefilterte Empathie

1. Helfer, Helden und Humanitarismus

2. Deutschland, Weltmeister der Empathie:
Angela Merkel und die Flüchtlinge

IV. Empathischer Sadismus:
Empathie um der Empathie willen

1. Das Paradox des Tragischen (Ästhetik)

2. Erste Bestandsaufnahme des empathischen Sadismus

3. Strafen als empathischer Sadismus (Vergangenheit)

4. Empathische Grausamkeit und sadistische Empathie (Gegenwart)

5. Manipulative Empathie (Zukunft)

6. Entwicklungsstadien der sadistischen Empathie

V. Vampirismus

1. Helikopter-Eltern, Stalker, Fans und das Leben durch andere

2. Helikopter-Eltern, Stage Mothers und Vampirismus

3. Stalker, Fans und obsessive Empathie (Identifikation)

4. Vampirismus

Ausblick: Gemischte Gefühle bei Empathie

Postskriptum: Präsident aus Empathie

Bibliographie

Danksagung

7Einleitung

Dieses Buch handelt von den scheinbar unmenschlichen Dingen, die wir tun oder empfinden, nicht obwohl, sondern gerade weil wir Empathie haben. Viele von diesen Dingen sind keine Fehlleistungen, sondern Folgen des Funktionierens und Überfunktionierens der Empathie. Es wird sich zeigen, dass Empathie in einer Reihe von hochproblematischen menschlichen Verhaltensformen eine zentrale Rolle spielt. Feindliche Verhärtungen bis hin zum Terrorismus, verschiedene Formen der Ausbeutung inklusive des Vampirismus, Schikanierungen und Sadismus, aber auch falsches Mitleid und fortdauerende Unterdrückung gehören zum Spektrum des durch Empathie ermöglichten Verhaltens. In vielen Fällen liefert Empathie dabei gerade die Motivation zur Tat, so dass wir sagen müssen, dass die Untaten nicht trotz, sondern aus Empathie geschehen.

Diese Bemerkungen widersprechen dem Alltagsverständnis. Wir sind es gewohnt, Empathie als eine besondere Fähigkeit des Menschen anzusehen, die zu moralisch richtigem Verhalten führt. Die guten Seiten der Empathie sollen nicht bestritten werden, doch wir müssen uns von einem zu einfachen Bild von Empathie befreien. Beginnen wir daher mit zwei Fällen von Empathie, die andere Ansichten erlauben.

Auf einem öffentlichen Diskussionsforum hat »Just_that_random_guy« im Dezember 2015 folgenden Kommentar veröffentlicht:

Da war dieses Zitat von »Bedelia«, dem Charakter eines Arztes und Psychologen in der Fernsehserie Hannibal: »Extreme Handlungen von Grausamkeit verlangen einen hohen Grad an Empathie.« Ich glaube, dass dies stimmt. Wann immer ich jemanden anschaue und anfange, sadistische Gedanken zu haben, bin ich in der Lage, zu verstehen und zu fühlen, was die andere Person durchmacht und welche Schmerzen und Ängste sie erlebt, und das ist es dann, was mich erregt. Je stärker und je intensiver der Schmerz und das Leiden sind, von denen ich mir vorstelle, sie der Person anzutun, desto stärker ist die Befriedigung, die ich erlebe.[1]

8Der anonyme Autor des ersten Zitats, der von sich behauptet, kein Psychopath, sondern eben nur »a random guy« zu sein, verbindet empathisches Verstehen mit extremen Emotionen eines anderen Menschen (Schmerz und Furcht). Ebendieses empathische Mitempfinden des Leidens erregt ihn, beschert ihm Befriedigung. Anscheinend kann er andere verstehen und mit ihnen mitfühlen, eben weil sie den Schmerz empfinden, den er ihnen andichtet. Und daher erfindet er auch imaginär den Schmerz und empfindet sadistische Gedanken: um sie zu verstehen und auch um mitzufühlen. Sadismus verdankt sich hier nicht dem Mangel an Empathie, sondern dem Wunsch nach ihrer Steigerung. Schreckliche Fantasien und vielleicht auch Taten sind möglich aufgrund von Empathie und um sie zu erleben.

Wie wir im Verlauf des Buches sehen werden, ist Derartiges nicht auf einige problematische Individuen beschränkt, sondern betrifft zahlreiche Alltagsphänomene. Dazu gehören auch Praktiken, die unsere Gesellschaft strukturieren, wie zum Beispiel das Denken in Kategorien von Gut und Böse.

Nehmen wir einen zweiten Fall hinzu. In meiner Schulzeit passierte mir regelmäßig etwas Sonderbares. Ich muss um die 12 oder 13 gewesen sein, als es anfing. Die Hansestadt Hamburg bot damals ein sehr großzügiges Schülerabonnement für alle staatlich geförderten Theater und Musikhäuser an, und ich danke meiner Mutter noch heute, dass sie mich einzig mit diesem Block Tickets bewaffnet allein oder mit Freunden abends in die Stadt ließ. Doch dann, meist inmitten der großartigsten Darbietungen, begann ich plötzlich zu schwitzen und stellte mir unwillkürlich vor, ich stände selbst auf der Bühne. Ich fühlte mich so, als wäre ich dort jetzt mit der Geige oder im Kostüm, nur dass ich eben weiter ich selbst wäre und nicht der geübte Künstler, unfähig einen Ton hervorzubringen oder meine Zeilen aufzusagen. Unweigerlich würde ich dann nach 9ein paar Sekunden die peinlichste Szene erleben. Ich sah mich, nein, fühlte mich verwirrt und hochrot von der Bühne stolpern und vor einem irritierten Publikum davoneilen. Meist stieß ich in Gedanken noch einen anderen Musiker oder Schauspieler an, was meine Qual nur steigerte. Diese Vorstellungen waren so intensiv, dass ich mindestens einmal tatsächlich während der Vorführung aufstehen musste, um mich auf dem Gang zu erholen. Dieses herrenlose Lampenfieber ist keine der »dunklen Seiten der Empathie«, die dieses Buch behandelt. Doch was mich diese Erfahrung gelehrt hat ist, dass ich nicht immer kontrollieren kann, wann ich aus der eigenen Haut schlüpfe.

Nach wohl allen Verständnissen des Begriffs handelt es sich bei meiner sonderbaren Erfahrung nicht um Empathie. Wäre es Empathie, könnte man erwarten, dass es einerseits ein Verständnis der Unterscheidung von Ich und anderen gäbe und andererseits dennoch die Möglichkeit, die Erlebnisse des anderen zu teilen.[2] Stattdessen sah ich mich als ich selbst unvorbereitet in die Situation eines anderen versetzt. Bei meiner Erfahrung kann weder von einem Teilen der Gefühle noch von einem Verstehen der Leistung des anderen die Rede sein. Es handelt sich also eher um eine Fehlfunktion oder vielleicht eine Vorstufe von Empathie. Tatsächlich werden wir später auf das mit Bühnen verbundene Phänomen der glühenden Haut zurückkommen, das den anderen im Zustand des Beobachtet-Werdens auszeichnet.

Der Titel dieses Buches scheint eine Abrechnung mit Empathie zu versprechen. Ist dieses Buch also letztlich gegen Empathie? Solche Generalabrechnungen wurden jüngst in je verschiedener Form von Paul Bloom und Jesse Prinz vorgetragen.[3] In eingeschränkter 10Form hat auch Peter Goldie dem Empathie-Begriff unter dem Titel »Anti-Empathy« fehlende Genauigkeit vorgeworfen.[4] Schon früher gab es Einsprüche gegen Empathie in bestimmten Bereichen wie etwa der Rechtsprechung[5] oder der Ästhetik.[6]

Doch was all diese Angriffe gegen die Empathie gemeinsam haben ist, dass sie einen Windmühlenkampf gegen einen falschen Begriff von Empathie führen. Wer etwa wie Peter Goldie von Empathie erwartet, dass sie ein wirklich akkurates Verstehen des anderen erlaube, wird enttäuscht. Das leistet Empathie trotz aller Annäherungen nicht. Wer von Empathie objektives, gerechtes moralisches Urteilen erwartet wie Jesse Prinz, kann entsetzt die Verzerrungen feststellen. Doch der Fehler liegt hier nicht bei der Empathie, gegen die diese Autoren sich wenden, sondern vielmehr in ihren überzogenen Ansprüchen. Wer so gegen Empathie wütet, muss aufpassen, 11nicht zum akademischen Schaumschläger zu werden. Immerhin wenden sich die genannten Autoren kritisch gegen die vielerorts erweckten Hoffnungen, Empathie sei Mittel für Weltfrieden und allgemeine Gerechtigkeit.

Der Vorwurf dieses Buches ist dagegen ein ganz anderer und, wie ich meine, substantiellerer: nämlich dass wir Schreckliches mit und aus Empathie tun. Dennoch ist es kein Buch »gegen« Empathie. Empathie macht uns zu Menschen. Wenn auch nicht alles Menschliche gut ist und nicht jede Form von Empathie zu begrüßen ist und wenn man auch vielleicht über die Berufung auf Empathie in bestimmten Kontexten wie dem juristischen oder medizinischen streiten kann, so bleibt doch fraglich, ob und wie Empathie überhaupt unterbunden werden kann. Deshalb will dieses Buch umkreisen, was wir als Menschen sind, weil wir über Empathie verfügen, und dabei vor allem die problematischen Aspekte des »homo empathicus« betonen.[7]

Wir werden daher am Ende vor einem gewissen Dilemma stehen. Einfach nur »gegen« Empathie zu sein, ist unsinnig oder schlicht Effekthascherei. Allerdings gibt es auch kein einfaches »Dafürsein« mehr.

Wie steht es überhaupt mit den Argumenten für die Empathie?

Wir leben im Verbund mit anderen, beobachten sie, werden von ihnen angeregt, schwingen mit und partizipieren nicht zuletzt durch sie an der Welt. Ihr Leiden ist auch unser Leiden, ihre Freude ist unsere. Umgekehrt bringen auch unsere Emotionen und Stimmungen andere zum Schwingen. Vielleicht ist Resonanz-Suche die Struktur unseres Daseins, wie Hartmut Rosa es vorschlägt.[8] Es liegt nahe, Empathie nahezu als Allheilmittel gegen Krieg, Leid und Ungerechtigkeit zu beschreiben, also als »engelhafte Seite unserer Natur«, wie Steven Pinker es tut.[9]

Empathie rettet Leben. Ein Teenager, der sich plötzlich anders benimmt, steht vielleicht am Rande des Selbstmords. Doch jemand, der ihn versteht und mitfühlt, kann auf ihn zugehen 12und intervenieren. Mütter lernen schon die Ausdrucksweisen ihrer Säuglinge zu lesen, erkennen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, und reagieren. Wenn wir verzweifelt sind, wünschen wir uns nichts so sehr wie einen anderen, der uns versteht. Eltern, Freunde und Liebende, aber auch Ärzte, Lehrer und Therapeuten kultivieren Empathie und sind zur Stelle, wenn es drauf ankommt, sich ganz für den anderen einzusetzen. Ohne die zahllosen Entwicklungshelfer, Pfleger, Spender, UNO-Soldaten oder Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen würden täglich viele Menschen sterben. Wahrscheinlich hat jeder von uns einmal eine Situation erlebt, in der Empathie einen entscheidenden, vielleicht gar lebensrettenden Unterschied bedeutet hat. Zunehmend werden wir sensibler für die meisten Formen von Benachteiligung und Gewalt, wie Steven Pinker nachzuweisen versucht. In historischer Perspektive kann daran erinnert werden, dass es nicht so lange her ist, dass die Sklaverei in weiten Teilen der Erde abgeschafft wurde.

Zugleich wissen wir, dass auch Empathie gelernt und eingeübt werden muss. Sie mag biologische Grundlagen haben, aber sie braucht zugleich eine Kultur, die Empathie fördert und ihr Formen vorgibt. In einem Zeitalter der Gewalt, der verhärteten Fronten, eines neuen Nationalismus, des Terrorismus, aber auch der zunehmenden Medialisierung und Isolierung der Menschen kann einem Empathie als zentrales Gegenmittel erscheinen. Leider gibt es Befunde, dass die Empathiefähigkeit bei Jugendlichen deutlich abnimmt.[10]

Wäre vielleicht sogar ein Medikament, das Empathie steigern könnte, wünschenswert? Noch allgemeiner gefragt: Ist Empathie tatsächlich gut und sollte gefördert werden?

Neben Steven Pinker spricht etwa auch Martha Nussbaum von der emotionalen Intelligenz der Menschen und ihrer politischen Gefühle.[11] Empathie hat dabei eine Schlüsselposition inne. Barack Obama fordert mehr Empathie von Richtern und macht sich Sorgen über das »Empathie-Defizit« unserer Epoche. Daniel Batson wertet seit Jahrzehnten die Belege dafür aus, dass empathische Sor13ge die Menschen immer wieder zu fürsorglichen Taten antreibt.[12] Die Liste der Fürsprecher von Empathie ist lang. Wie kann man da also gegen Empathie sein?

Das Buch wird die Gegenargumente sammeln und vorstellen. Eine leitende Annahme ist, dass Empathie nicht nur eine Eigenschaft oder Fähigkeit unter anderen ist, sondern wir als menschliche Wesen grundsätzlich von Empathie geprägt sind.[13] Empathie ist ein zentraler Teil des Menschseins, der nicht einfach abgezogen werden kann. Wir erleben unsere Umwelt auf eine Art und Weise, die von Empathie nicht nur gefärbt, sondern strukturiert ist. Empathie ist wie unser sechster Sinn. Sobald wir mit anderen Menschen (oder anderen Lebewesen oder von uns anthropomorphisierten Dingen) in Kontakt sind, beginnen wir, das Geschehen auch aus ihrer Sicht mitzuerleben. Darüber kann man erschrecken wie Jean-Paul Sartre, als er auf einer Bank im Park sitzt und sich plötzlich angeblickt weiß (Das Sein und das Nichts). Vor allem aber verdoppelt und vervielfacht Empathie unsere Wahrnehmungen. Wir partizipieren auf viele Arten und Weisen am anderen und seinen Emotionen, Vorstellungen und Intentionen und registrieren durch den anderen auch uns sowie unsere Umwelt anders. Das Befinden des anderen wird für uns ein Faktum, auf das wir reagieren – oft indem wir uns um sein Wohlbefinden sorgen.

Selbst die scheinbar empathielosesten Soziopathen bzw. die sogenannten Psychopathen können ein erstaunliches Maß an Einfühlung an den Tag legen und sind zudem gut im Erkennen (und Manipulieren) der Gedanken anderer.[14] Menschen im Spektrum des Autismus mögen durchaus deutliche Mängel an Empathie 14zeigen – sie sind aber nicht vollkommen empathielos.[15] Gäbe es einen Menschen, der ganz ohne Empathie leben würde, so würden wir ihn vermutlich nicht mehr als Menschen verstehen. In der Tat werden Menschen, deren moralische und emphatische Fähigkeiten plötzlich verändert sind, stärker als abweichend wahrgenommen als Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben.[16]

Beginnen wir also nüchtern: Wie die meisten menschlichen Fähigkeiten dient Empathie zunächst und vor allem demjenigen, der Empathie empfindet, und nicht dem, in den man sich einfühlt. Mit dieser Einsicht ist an sich noch nicht viel gewonnen. Allerdings schützt sie einen vor überzogener Hoffnung, dass Empathie an sich schon ein Mittel gegen Egozentrik, Narzissmus oder Eigennutz ist. Das Miterleben und Mitfühlen des empathischen Menschen bereichert zunächst einmal dessen Erlebniswelt und Wissen, bevor es, vielleicht, auch dem anderen hilft. Insofern ist dieses Buch auch eines über den Egoismus der Empathie oder die Ästhetik der Empathie, also über das ästhetische Wohlgefallen des Einfühlens und Mitfühlens.

Manche Leser mögen sich fragen, was mich zum Verfassen dieses Buches qualifiziert. Die eingangs berichtete Anekdote meines herrenlosen Lampenfiebers wird wenig dazu beigetragen haben, ihnen Zuversicht einzuflößen. Meine Ausbildung hat in einer Reihe von Fachbereichen von der Kunstgeschichte bis zur Rechtswissenschaft stattgefunden. Nach dem Studium hat es mich dann allerdings auch in die Kognitionswissenschaften verschlagen, in denen ich 15nun ebenfalls als Professor für Prüfungen und Unterricht zugelassen bin. Vor allem aber bin ich Literatur- und Kulturwissenschaftler. Zwar schreibe ich das Buch nicht für die Literaturwissenschaften im engeren Sinne, doch mit ihnen als Rüstzeug im Gepäck.[17] Als Literaturwissenchaftler lernt man nämlich, durchaus in Übereinstimmung mit neueren Befunden der Psychologie,[18] dass jedes menschliche Verhalten erzählbar, darstellbar und mithin vorstellbar ist. Man lernt sich auszumalen, unter welchen Umständen Menschen schlimmste Verbrechen begehen oder die scheinbar absurdesten Empfindungen haben könnten. Von diesem Standpunkt aus fällt es schwer, »schlechtes« oder »irrationales« Verhalten schlicht zu verteufeln. Daher geht es in diesem Buch nicht einfach um eine moralische Ausgrenzung der dunklen Seiten der Empathie, sondern um ein Nachvollziehen, wie auch diese dunklen Seiten Teil von Empathie und somit menschlich sind. Daraus folgt natürlich nicht, dass wir sie nun umgekehrt gutheißen oder in juristisch relevanten Fällen mildernde Umstände gelten lassen sollten.

1. Empathie als Mit-Erleben

In diesem Buch wird Empathie als Mit-Erleben (co-experience) definiert, wobei auch Forschungsergebnisse mit diversen anderen Definitionen berücksichtigt werden. Der Begriff des Mit-Erlebens hat eine weiter gefasste, aber auch spezifischere Bedeutung als 16das Teilen von Gefühlen (emotion-sharing), das von vielen Hirnforschern der letzten Jahrzehnte betont wurde. Den Hintergrund von Letzterem bilden wohl nicht zum geringsten Teil die neuen Möglichkeiten der Hirnforschung, mittels von fMRI (functional magnetic resonance imaging) oder MRI die spezifischen emotionalen Routinen an der Gehirnaktivität zu messen. In den Mustern der Gehirnaktivität drückt sich eine empirisch messbare und insofern scheinbar objektive Form von Empathie aus. Doch die Messbarkeit allein definiert Empathie nicht.

Im Gegensatz zum Teilen von Gefühlen betont das Mit-Erleben die Situation, in der sich der andere befindet. Gefühle spielen dabei natürlich eine zentrale Rolle, denn Situationen sind emotional aufgeladen. Die leiblichen Reaktionen sind ebenfalls von hoher Wichtigkeit, denn Situationen werden auch körperlich wahrgenommen. Mit-Erleben beinhaltet zudem deutlicher als das Teilen von Gefühlen und Affekten auch Aktionen und vor allem zahlreiche kognitive Prozesse wie das Vorausschauen, das Erwägen der Umstände und das Mitüberlegen, was zu tun ist. Mit-Erleben im Allgemeinen heißt, imaginär den Standpunkt eines anderen einzunehmen und seine oder ihre Reaktion auf die Situation zu teilen. Man schlüpft dort in die Haut eines anderen, wo sie auf ihre Umwelt trifft.

Was also konstituiert Mit-Erleben im Kontext von Empathie? Mit-Erleben bedeutet, dass man in die (kognitive, emotionale, leibliche) Situation eines anderen Wesens transportiert wird. Die Betonung liegt auf der Situation eines anderen. Der »Transport« beginnt mit einem mentalen Mitlaufen wie beim Schauen eines Films oder Lesen eines Romans,[19] führt dann aber auch zu einem aktiven Mittragen von Entscheidungen. Empathie bedeutet, dass man sich in der spezifischen Situation des anderen mit ihren spezifischen Anforderungen erlebt und also auch mitdenkt und mitempfindet, was jemand tun sollte oder könnte.

Imaginär in der Situation eines anderen zu sein, unterscheidet sich grundsätzlich davon, sich selbst direkt in der Situation zu befinden. Einer der Unterschiede besteht darin, dass (meistens) ein 17Bewusstsein einer Differenz zwischen Ich und anderen bestehen bleibt. Ein weiterer Unterschied ist natürlich, dass man nicht selbst auf die Situation reagieren muss oder kann. Ein zentraler Unterschied besteht zudem darin, dass wir von außen meist einen klareren Blick auf die Situation haben. Wer sich in die Situation eines anderen versetzt oder sich plötzlich miterlebend in der Situation eines anderen wiederfindet, reduziert diese Situation auf einige Kernmerkmale. Wenn wir uns dagegen selbst in einer Situation befinden, werden wir von zahlreichen sinnlichen Eindrücken und Überlegungen abgelenkt, selbst wenn sie sehr drückend und konkret ist. Unsere Gefühle und Eindrücke sind für uns selbst selten eindeutig, vielmehr stehen sie uns regelmäßig als gemischte Gefühle gegenüber. In wichtigen Situation wissen wir oft nicht ganz eindeutig, was wir fühlen und empfinden. Eine wichtige Aufgabe von Therapeuten besteht daher auch darin, zu sortieren, was man empfindet.

Wenn wir uns in der Situation eines anderen finden, wird diese jedoch purifiziert und auf einige Kernmerkmale reduziert. In den meisten Fällen ist dies eine Reduktion der tatsächlichen Wahrnehmung des anderen, doch es kann auch das Wahrnehmen von Dingen beinhalten, die der andere noch nicht registriert hat (eine drohende Gefahr wie etwa einen Tiger im Busch, den der Beobachter bereits gesehen hat). Auch in diesem Fall hat der empathische Beobachter einen Klarheitsvorteil. Der Beobachter kann Konsequenzen erwägen, die der andere in seiner Situation noch nicht im Blick hat.

Der empathische Beobachter hat, wie ich es nennen möchte, einen »ästhetischen« Vorteil. Der Bergiff des Ästhetischen wird hier im Sinne von Alexander Gottlieb Baumgarten verwendet, der ihn im 18. Jahrhundert als Kunstbegriff eingeführt hat, um die Klarheit sinnlicher Wahrnehmung zu bezeichnen. Wir können uns in die Haut des anderen versetzen, weil seine oder ihre Situation uns als klar erscheint. Oder anders formuliert: Man hat Empathie, weil man die Situation des anderen ästhetisieren und damit klären kann. Die Klarheit einer menschlichen Situation, die uns bei uns selbst meist abgeht, verdankt sich einem Medium, nämlich einem anderen Wesen als Medium der Erfahrung. Emotional intensive Situationen, dramatische Erlebnisse voller Handlung und Momente der Entscheidung sind dabei besonders gut für 18Empathie geeignet, denn in ihnen ist der Druck auf den anderen, der in dieser Situation steht, besonders klar, wahrnehmbar, imaginierbar und also ästhetisierbar. Wir können mit-erleben, weil die indviduellen Differenzen zum anderen in dieser Situation geringer werden.[20]

Mit-Erleben muss den anderen allerdings nicht ausblenden, zumindest nicht den anderen in seinen Eigenarten, Erfahrungen und Erlebnismustern. Der empathische Beobachter kann all dies als Teil der Situation aufnehmen. So ist etwa das Mit-Erleben der Rede eines schüchternen Menschen besonders intensiv, da wir die Scham oder den Stolz über die Überwindung mitfühlen.

Heißt dieses Mit-Erleben, dass wir akkurat empfinden, was der andere fühlt? Natürlich nicht. Zwar kann die Intensität des Mitfühlens mit der Intensität der Situation und des Empfindens des anderen korrelieren. Doch was genau empfunden und gefühlt wird, kann sehr verschieden sein. Wer weiß, was der schüchterne Redner wirklich empfindet und wie er es empfindet? Freude ist nicht gleich Freude und Trauer nicht gleich Trauer (auch wenn die Gehirnströme ähnlich sind). Und außerdem bringt auch der empathische Beobachter seinen persönlichen Hintergrund, seine Wunden und Traumata mit ins Spiel.

Insofern kann man sagen, dass der andere im Mit-Erleben gewissermaßen ausgeblendet wird. Er wird überschattet vom eigenen Erleben. Das heißt aber nicht, dass der andere verschwindet. Es kann sein, dass das Mit-Erleben zur Mahnung wird, das Beste für ihn oder sie zu wollen. Es kann sein, dass wir uns ihm besonders ähnlich und vielleicht verbunden fühlen. Es kann aber auch sein, dass wir uns von ihm distanzieren wollen. Hier liegen einige der Komplikationen, die dieses Buch behandeln wird.

Betrachten wir ein Beispiel der Differenz zwischen der Person in einer Situation und einem empathischen Beobachter, der die Situation mit-erlebt. Jemand stolpert geräuschvoll in einem guten Restaurant über einen Stuhl, zerbricht dabei ein Glas und schneidet sich die Hand an den Scherben. Dieser Mensch kann, so ist anzunehmen, ein Durcheinander von emotionalen Reaktionen bezüglich seiner Situation erleben. Er spürt einen Schmerz in der 19Hand, weiß sich aber zugleich an einem öffentlichen Ort. Vielleicht ist ihm die Aufmerksamkeit, die er erregt hat, peinlich. In diesem Fall wird er den Schmerz in der Hand herunterspielen, den er vor Schreck und Scham vielleicht noch nicht einmal richtig gespürt hat. Er könnte versuchen, das Glas schnell aufzuheben, während er mit den Kellnern redet, wobei er womöglich weiter Blut verschmiert. Vielleicht will er jemand anderem die Schuld geben, um von sich abzulenken, denn wer hat diesen Stuhl in seinen Weg gestellt? Oder vielleicht ist er vor allem um seinen Tischgenossen besorgt, möglicherweise ein wichtiger Geschäftspartner. Oder es könnte ihm durch den Kopf gehen, dass ihm ähnliche Unfälle vor kurzem mehrfach passiert sind, dass seine Geschwister ihn früher wegen seiner Ungeschicktheit aufgezogen haben oder dass er zum Arzt gehen sollte, hatte er doch etwas von Parkinson gelesen.

Der empathische Beobachter dagegen ist wohl weniger durcheinander und kann die Situation in die eine oder andere Richtung schnell auflösen. Dabei kann es dem Beobachter um die Versorgung der Verletzung gehen oder aber um die Auflösung der leicht peinlichen sozialen Szene. Der Beobachter fühlt also vielleicht unwillkürlich den Schmerz in der Hand, den der andere selbst kaum registriert. Und der Beobachter sieht auch die soziale Szene klarer, kann das Mißgeschick zugleich als harmlos einstufen.

In beiden Fällen plant der Beobachter wohl umstandsloser, wie die Situation aufgelöst wird oder werden sollte. Im Fall der Wunde geht es schlicht um die adäquate Behandlung, im Fall der sozialen Szene um eine schnelle Rückkehr zur Normalität. Der Mensch in der Situation ist vermutlich weniger zielgerichtet, weil er durch zu viele Stimuli auf einmal aufgeregt wird. Vielleicht verschafft er sich Luft, indem er den Kellner anschimpft, dass der Stuhl falsch gestanden habe, und macht damit alles nur schlimmer. Der Weg aus der Situation heraus ist ihm weniger klar.

Dieses etwas umständliche Beispiel zeigt, dass der Mit-Erlebende nicht einfach nur fühlt, was der andere fühlt. Er fühlt mehr und weniger. Das Mit-Erleben besteht in einer emotionalen und kognitiven Reaktion auf die Situation des anderen und die mit ihr verbundenen Emotionen.[21] In der Mit-Erfahrung nimmt man die 20Position eines anderen ein (oder wird unwillkürlich imaginär in sie hineinversetzt), reagiert dann mental auf die direkt beobachtete, aber auch die darüber hinausgehende imaginierte Situation und projiziert die künftige Entwicklung der Situation. Die Situation wird vorgestellt in dem Sinne, dass man sie vor sich stellt. Sie ist insofern durchaus real, nicht schlicht imaginär, auch wenn es der andere ist, der sich »real« in ihr befindet. In vielen Fällen werden die tatsächlichen Gefühle des Menschen in der Situation und die des empathischen Beobachters ähnlich sein, viele der basalen Emotionen etwa könnten simuliert werden. Manche starke Emotion ist zudem schon Teil der Situation, weil sie unmittelbar zu ihr gehört. Doch gibt es daneben eine weite Spannbreite an Differenzen zwischen den Wahrnehmungen, Emotionen sowie vergangenen Erfahrungen und Plänen des Menschen in der Situation und denen des empathischen Beobachters.

Natürlich sieht der empathische Beobachter nicht in jedem Falle einen klaren Weg in die Zukunft. Wenn ein mir Nahestehender in Not ist, kann auch ich darüber verzweifeln, dass die glückliche Zukunft derzeit verstellt ist. Das Fehlen eines Weges verstärkt das Leiden. Doch auch in diesem Fall hat der Außenstehende in der Regel eine klarere Sicht als der Mensch in der Situation, da auch diese Schwierigkeit bzw. Hoffnungslosigkeit ihm vor Augen steht.

Eine der Konsequenzen dieser Auffassung von Empathie besteht darin, dass wir vermuten müssen, eine gewisse Lebenserfahrung gehöre zu ihren Voraussetzungen. Mit-Erleben wird möglich, weil man Situationen versteht, sich in sie versetzen kann und von den Situationen aus zu einem Blick in die Zukunft in der Lage ist. Kinder können dies durchaus auch leisten, doch ihr Repertoire ist eingeschränkter. Märchen und andere Geschichten können ein Repertoire von Situationen narrativ einüben und künftige Reaktionen projizieren. Zu viel Lebenserfahrung kann aber auch ins Gegenteil umschlagen. Wer in jeder Situation schon ihre Auflösung voraussieht, ist weniger involviert.

21Abb.: Selbst-Wahrnehmung und Wahrnehmung durch einen Dritten (Empathie). Der Beobachter übersetzt die unklare Situation des Beobachteten dabei typischerweise in eine zeitliche Abfolge und Problemlösung.

Ein weiterer Faktor des Mit-Erlebens besteht in dem unterstellten Selbst-Interesse oder Eigennutz[22] des anderen. Wer sich in die Situation eines anderen aus dessen Perspektive versetzt, blickt damit auch in eine noch unentschiedene und also offene Zukunft. Diese Zukunft muss eine gewisse Dringlichkeit haben, denn sonst ist die Situation des anderen wenig interessant und wird auch weniger empathische Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das unterstellte Selbst-Interesse des anderen fundiert die Erfahrung des empathischen Beobachters, da es ihm einen Vergleichsmaßstab gibt (etwa: »Ist die Situation gut oder schlecht?«) und einen Maßstab zur Bewertung der möglichen künftigen Entwicklungen (»Was ist wünschenswert und was nicht?«). Selbst-Interesse ist dabei sicherlich nicht eindeutig und universell gleich ausgeprägt. Es gibt vielfältige Standards, was im Interesse eines Menschen sein kann (emotiona22les Wohlbefinden, tiefe Erfahrung, ökonomischer Reichtum, Aufmerksamkeit, Ruhm etc.).

Wir können nun unsere Defintion von Empathie genauer fassen: Empathie besteht im Mit-Erleben mit einem anderen, wobei sich der empathische Beobachter in die Situation des anderen versetzt sieht und diese Situation zumindest mit einem minimalen Aspekt von Selbst-Interesse aus der Perspektive des anderen betrachtet sowie emotional erlebt. Eine direkte Simulation von Gefühlen und Empfindungen ist nicht notwendig Voraussetzung oder Resultat dieses Prozesses. Empathie führt zudem nicht notwendig zu einem Einsetzen für den anderen. Die Ausnahmen, Sonderfälle und Einsprüche zu letzterem Zusatz sind Thema dieses Buches.

2. Die dunklen Seiten der Empathie.
Ein Überblick

Von hier aus können wir nun bereits eine erste Übersicht über die These des Buches für einen ungeduldigen Leser wagen. Das Buch sieht die Bedrohungen, die von der Empathie ausgehen, vor allem in fünf Tendenzen. Die Übersicht entspricht der Anordnung der Kapitel des Buches.

I. Empathie kann zum Selbstverlust führen. Mithilfe von Friedrich Nietzsche werden die Prämissen und Konsequenzen von »Selbst« und »Selbstverlust« erörtert. Dies führt zu einer Diskussion neuer statistischer Daten, die anzeigen, dass Empathie heutzutage möglicherweise am Abnehmen ist.

II. Empathie tendiert zu einem Schwarz-Weiß- bzw. Freund-Feind-Denken. Konflikte können nicht trotz, sondern aufgrund von Empathie eskalieren, da Menschen Partei ergreifen und die gewählte Seite empathisch beschönigen. Die Kapitel erötern die Architektur von Empathie, Empathie-Blockaden sowie einige strukturelle Zusammenhänge von Empathie und Moral. Vielleicht handeln wir nicht moralisch, weil wir Empathie empfinden, sondern moralisieren, weil wir vorschnell empathisch Partei ergreifen. Auch eine Fallstudie eines Schulversuchs in Nordirland wird uns beschäftigen.

III. Empathie wird regelmäßig mit bloßer Identifikation verwechselt und dann falsch deklariert. Statt mit einem notleidenden Menschen mitzufühlen, identifiziert man sich etwa mit dem Ret23ter und Helfer. Das fördert das Wohlbehagen des empathisierenden Menschen, aber auf Kosten des Menschen in Not. Diskutiert werden unter anderem die Frage der Entwicklungshilfe und die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel.

IV. Es ist wohl keine Ausnahme, daß Menschen den Schmerz anderer empathisch genießen können. Der empathische Sadismus umfasst dabei nicht nur Handlungen von sogenannten Psychopathen, sondern auch das Strafen und viele leider alltägliche Verhaltensformen wie das Demütigen, Herabsetzen oder Bloßstellen. Es wird erwogen, inwiefern ein Sadist den Schmerz eines anderen wünscht oder herbeiführt, um mit ihm mitfühlen zu können.

V. Eine andere moralisch gefährliche Variante von Empathie findet sich in den Formen des Vampirismus, wenn ein Mensch mittels anderer sein Erleben zu erweitern sucht. Ein derartiger Vampirismus kann sich bei Helikopter-Eltern und Bühnen-Müttern finden, die in ihren Zöglingen erleben wollen, was ihnen vielleicht selbst abgeht.

Abschließend wird die Frage aufgegriffen, ob Empathie unter diesen Umständen gelehrt und gelernt werden sollte. Die Antwort lautet: ja, aber weniger zur direkten Verbreitung von Moralität, sondern aus Gründen der Komplexitätssteigerung. Unsere Wahrnehmung sozialer Situationen wird genauer und vielfältiger, wenn wir die emotionalen Perspektiven vieler Beteiligter teilen.

Es gibt natürlich noch andere dunkle Seiten der Empathie, die hier erwogen werden könnten. Empathie verausgabt. Darunter können Menschen in helfenden Berufen wie etwa Ärzte leiden.[23] Empathie eignet sich sehr gut zur Manipulation, was an einigen Stellen im Buch wie in den Kapiteln zur Parteinahme zur Sprache kommt. Auch hierzu könnte man mehr sagen. Zudem wird Empathie, wie bereits erwähnt, manchen der an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht, wie dem akkuraten Verstehen anderer, dem gerechten Urteilen und der Moralität im Allgemeinen. Doch dies sind keine wirklichen dunklen Seiten von Empathie und überhaupt keine Effekte von Empathie, sondern schlicht begriffliche Fehleinschätzungen.

24Jedes Buch und fast jedes Argument überzeichnet seine Sache. Im Falle dieses Buches handelt es sich um das, was man als Ästhetik der Empathie bezeichnen könnte, nämlich die Betonung der Klarheit in der Wahrnehmung. Wer Empathie empfindet, erhält Einsichten in andere Wesen. Dabei geht es weniger um die Frage, wie akkurat diese Einsichten sind, sondern erst einmal darum, dass die Gefühle des anderen zum Faktum werden, einsichtig erscheinen und auf eine je bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden. Daraus kann sich ein Interesse an dieser Klarheit und Wahrnehmbarkeit bilden sowie an bestimmten Formen der Wahrnehmbarkeit. Wahrnehmbarkeit wird gewollt, gewünscht und zum Wert; selbst ein empathischer Sadist genießt und wünscht diese Einsehbarkeit des anderen. Die Schwarz-Weiß-Malerei erleichtert die Wahrnehmung ebenso wie die Bühnen-Sicht im Vampirismus. Dass dieses Buch derartige ästhetische Effekte nicht nur berücksichtigt, sondern besonders hervorhebt, kann wohl zugleich als eine Schwierigkeit und eine Chance verstanden werden.

3. Vier Ansätze der Empathie-Forschung

Als ich ein Student war, hat mich nichts so sehr fasziniert wie die methodischen Prämissen einer jeden Arbeit. Meine Annahme war, ganz im Geist der 1990er Jahre, dass die Ergebnisse dem Forscher, wenn er seine methodischen Annahmen und Vorgehensweisen erst einmal geklärt hat, wie von selbst zufliegen. Die methodische Perspektive bestimmt die Ergebnisse, dachte ich, und also lohnt sich der Streit eigentlich nur um sie. Heute, 20 Jahre später, scheint es mir genau umgekehrt zu sein: Angezogen werde ich von den Ergebnissen. Die Methoden, so scheint es mir nun immer häufiger, tanzen im Takt der Befunde und Ergebnisse. Ähnliches gilt für manche theoretischen Unterscheidungen, die zwar an sich berechtigt sein mögen, aber selten oder nie zum Zuge kommen. Über Methoden zu streiten, scheint mir nun häufig Zeitverschwendung zu sein. Erst wenn es Ergebnisse gibt, ist der Blick auf Methoden und feinere Unterscheidungen hilfreich, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen diese sichtbar werden konnten.

Letzteres ist im Bereich der Empathie-Forschung in der Tat der Fall. Es liegen nicht nur einige, sondern sehr viele bemerkenswerte 25Ergebnisse vor, die aber nicht alle zusammenpassen. Deshalb ist der Blick auf die Methoden notwendig, um zu verstehen, wie man je zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen konnte.

Ziel des folgenden Überblicks ist nicht eine Darstellung des aktuellen Forschungsstands, sondern vielmehr eine Beschreibung, welche methodischen Ansätze zu welchen Auffassungen von Empathie führen und welche Art von Ergebnissen sie befördern. Vier Methoden sollen im Folgenden hervorgehoben werden:

1) Evolutionäre Erwägungen und Spekulationen.

2) Modellierungen des Verstehens anderer (Mind Readings, Theory of Mind).

3) Gehirnforschung mittels empirischer Messverfahren (fMRI).

4) Phänomenologische Ansätze.

1. Evolutionsbiologische Ansätze gehen von der Frage aus, welche Vor- oder Nachteile eine Eigenschaft oder Fähigkeit wie Empathie einer Tierart hinsichtlich ihrer Überlebenschancen beschert. Soziale Zusammenarbeit und soziale Intelligenz erweisen sich dabei als zentrale Faktoren des Erfolgs von Arten und Gruppen. Biologen fragen, was zur Zusammenarbeit innerhalb von Gruppen notwendig ist. Empathie kommt hier als Kandidat in Frage. Ein mit Empathie begabtes Wesen ist dazu in der Lage, die Bedürfnisse eines anderen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Besonders wichtig sind derartige Fähigkeiten bei der Aufzucht von Jungtieren. Reziproker Altruismus kann natürlich ebenfalls von Empathie angeregt werden, wenn ein Individuum dem anderen hilft und dadurch die Wahrscheinlichkeit von Gegenleistungen steigt. Derartiges Verhalten kann den Zusammenhalt der Gruppe fördern. Möglicherweise erlaubt Empathie dabei auch die Vergrößerung von Gruppen über Familienclans hinaus. Empathie kann zudem zur Deeskalierung von Konflikten beitragen. Dies beginnt damit, dass die Individuen etwa den Unterschied zwischen einem aggressiven Verhalten und einem Schubser aus Versehen verstehen. Eine unabsichtliche Tat sollte bei Wesen mit Empathie weniger häufig zu aggressiver Vergeltung führen. Es wird insofern gerne angenommen, dass Empathie und Kooperation sich wechselseitig befördern und vielleicht sogar bedingen.

Doch die Sache hat einen Haken: Die Fähigkeit zur Empathie verlangt anscheinend ein hohes Maß an Energie. Damit ein Gehirn andere Wesen simulieren, verstehen oder ihre Gefühle mitfühlen 26kann, muss der gesamte Energiehaushalt des Gehirninhabers auf die Ernährung eines vergrößerten Gehirns ausgerichtet sein.[24] Der Fokus auf das Gehirn wird, trotz einer Reihe von Vorteilen, insofern teuer erkauft und birgt eine Vielzahl von Nachteilen. Beim Menschen gehören zu den Nachteilen die Geburt vor der vollständigen Entwicklung des Gehirns und die langsame Enwicklung der Jungtiere zur Geschlechtsreife, die körperliche Schwäche im Vergleich zu vielen anderen Tieren ähnlicher Größe und der große Energie- und Nahrungsbedarf. Hinzu kommt, dass die möglichen Vorteile der Empathie für die Ausbildung von Kooperationsbereitschaft weniger deutlich ausfallen, als man hoffen könnte. Kooperation ist offensichtlich vielen Tierarten möglich, die, obwohl sie wenig oder keine Empathie zu haben scheinen, dennoch in Verbänden leben, Futtersuche koordinieren, Jungtiere gemeinsam beschützen und etwa mittels Lautäußerungen wichtige Ereignisse kommunizieren.

Die spezifische Fragestellung der Evolutionsbiologen bestimmt, wie sie Empathie definieren, wo sie Empathie suchen und was für Experimente sie entwickeln. Aus Sicht der Evolutionsbiologen verlangt Empathie einen kognitiven Akt und eine Handlung, die in der Regel dem anderen zugutekommt.[25] Denn damit Empathie sich als Überlebensvorteil erweisen kann, muss sie sich in tatsächlichem Verhalten niederschlagen. Säugetiere und vor allem Affen, die in sozialen Verbänden leben, sind der bevorzugte Forschungsgegenstand (aber auch Delfine, Elefanten, Hunde und seit kurzem gewisse Vögel). Daher sind manche Arten wie zum Beispiel der Orang-Utan, die uns als Menschenaffen zwar evolutionsbiologisch besonders nahestehen, aber eben nicht in Verbänden leben, lange Zeit ignoriert worden. Der Anthropozentrismus hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass uns fernstehende Arten wie Vögel und Oktopusse eher stiefmütterlich behandelt wurden. Von besonderem Interesse sind daneben natürlich auch Hunde, mit ihrer Sonderrolle als menschliche Begleiter seit mehr als 10 000 Jahren.

Natürlich kann Empathie als Verstehen der anderen auch der Konkurrenz zwischen den Individuen dienen. Doch ob dies der Spezies als ganzer zugutekommt, ist ungewiss, da dadurch immer 27Gewinner und Verlierer entstehen. Die zwischenmenschliche Konkurrenz könnte aber zum Beispiel zu einem kognitiven Wettrüsten führen, das der Spezies trotz interner Reibungen in ihrer Umwelt Vorteile verschafft.

Ein Forschungsgegenstand von hohem Interesse ist das sogenannte altruistische Verhalten.[26] Berühmt sind Versuche, in denen zwei Individuen einer Art in Käfigen nebeneinanderstehen. In diesen Käfigen bekommen die Tiere Nahrung, etwa indem sie beide zusammen an einem Hebel ziehen. Ein anderer typischer Versuchsaufbau besteht darin, dass das eine Individuum nur bekommt, was es will, wenn das andere einen Knopf drückt, ohne dass Letzteres selbst einen Vorteil davon hätte. Das den Knopf drückende Individuum könnte sogar, je nach Versuchsaufbau, einen Nachteil haben, etwa wenn das Knopfdrücken schmerzhaft ist oder mit Arbeit verbunden ist. Die Frage bei diesen Versuchen ist, welche Tiere unter welchen Umständen bereit sind, für das andere Individuum zu handeln, zu arbeiten oder zu leiden.[27]

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